Istanbul als Drehscheibe frühneuzeitlicher europäischer Diplomatie
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Istanbul als Drehscheibe frühneuzeitlicher europäischer Diplomatie von Christine Vogel Spätestens seit dem 16. Jahrhundert war Istanbul zu einer Drehscheibe frühneuzeitlicher Diplomatie geworden, die weit über Europa hinauswies. Die Hauptstadt des sich über drei Kontinente erstreckenden Osmanischen Reichs war ein Knotenpunkt west-östlicher Handels- und Kommunikationsrouten und damit zugleich ein wichtiger Schauplatz transkultureller Verflechtung und grenzüberschreitender Politik. Wenn es in der Frühen Neuzeit überhaupt so etwas wie eine 'diplomatische Welthauptstadt' gab, dann war es wohl eher Istanbul als Wien oder Versailles. Auf jeden Fall aber war die Hauptstadt des Osmanischen Reichs ein dynamisches Experimentierfeld für transkulturelle diplomatische Verfahren und Praktiken, von dem wesentliche Impulse für die Entwicklung der neuzeitlichen Diplomatie ausgingen. INHALTSVERZEICHNIS 1. Osmanische Diplomatie 2. Spielarten europäischer Diplomatie in Istanbul 1. Das westeuropäische Modell 1. Galata/Pera: Europäisches Botschaftsviertel und "urban middle ground" 2. Die westlichen Botschaften als Zentren diplomatischer Soziabilität 2. Das osteuropäische Modell 3. Das 18. Jahrhundert: Vereinheitlichung als "Verwestlichung"? 3. Die Stadt als Bühne: Das diplomatische Zeremoniell am Sultanshof 1. Einzug und Empfang 2. Geschenke 4. Diplomatie als transkulturelle Praxis 1. Vielfalt diplomatischer Akteure 2. Institutionalisierte Vermittler: Die Dragomane 3. Diplomatische Netzwerkbildung im multikulturellen Setting 5. Istanbul als Zentrum transkultureller diplomatischer Praxis in der Frühen Neuzeit 6. Anhang 1. Quellen 2. Literatur 3. Anmerkungen Indices Zitierempfehlung Osmanische Diplomatie Die methodischen und konzeptionellen Innovationen, die seit einigen Jahren unter anderem von globalgeschichtlichen und praxeologischen Ansätzen in der historischen Forschung ausgegangen sind, haben unseren Blick auf das Osmanische Reich und die osmanische Diplomatie radikal verändert. Zuvor hatte sich die Geschichtswissenschaft – zumeist unter Voraussetzung einer vermeintlich unüberwindbaren kulturellen Differenz zwischen Osmanen und Europäern – lange Zeit schwer damit getan, den "muslimische[n] Koloß"1 am Rande Europas in die eurozentrische Meistererzählung von der parallelen Herausbildung des internationalen Staatensystems und der modernen Diplomatie auf plausible Weise zu integrieren. Mittlerweile betont die Forschung dagegen bei allen Unterschieden im Detail der sozialen und politischen Organisationsformen die strukturellen Ähnlichkeiten der politischen Kulturen, die Anpassungsfähigkeit der imperialen Eliten sowie die vielfältigen sozialen, ökonomischen und politischen Verflechtungen in einer zwischen Osmanen und Europäern geteilten mediterranen und südosteuropäischen Welt.2 ▲1
Dass die osmanische Diplomatie aus europäischer Sicht über so lange Zeit zumindest als "unkonventionell"3 galt, hatte allerdings auch wesentlich mit dem imperialen Selbstverständnis des Reichs zu tun – sah es sich doch seit der Eroberung Konstantinopels (➔ Medien Link #ab)durch Mehmed II. (1432–1481) (➔ Medien Link #ac) in der Nachfolge Roms, was sich nicht zuletzt im diplomatischen Zeremoniell am Sultanshof niederschlug. Im Konkurrenzkampf mit den persischen Safawiden im Osten und den Habsburgern im Westen verfestigte sich im 16. Jahrhundert der Weltherrschaftsanspruch der osmanischen Dynastie und lud sich unter den Sultanen Selim I. (1470–1520) (➔ Medien Link #ad) und Süleyman I. (ca. 1494–1566) (➔ Medien Link #ae) auch mit religiöser Bedeutung auf.4 Die imperiale Herrschaftsauffassung der Osmanen fand ihre sakrale Legitimation im islamischen Recht, wobei ihnen durchaus daran gelegen war, die Beziehungen zu christlichen Mächten nicht allein mit Waffengewalt, sondern auch diplomatisch zu regeln.5 ▲2 Tatsächlich verfolgten Osmanen wie Europäer in der Frühen Neuzeit bei der Gestaltung ihrer Außenbeziehungen einen pragmatischen Ansatz, bei dem die Religion zwar eine wichtige, aber keineswegs die einzige Rolle spielte. Wie ihre christlichen Pendants setzten auch die osmanischen Sultane vor allem auf eine Strategie des dynastischen Machterhalts und der territorialen Expansion, wobei Vertragsschlüsse mit nicht-muslimischen Herrschern ein Gebot der Vernunft bzw. der Staatsräson darstellten. Zahllose Friedens- und Handelsverträge zwischen Osmanen und Europäern zeugen von der Intensität der diplomatischen Kontakte. Diese Verträge waren das Ergebnis einer Überlagerung islamischer Rechtsnormen mit sultanischem Recht, byzantinischen Traditionen, vielfältigen lokalen Gewohnheitsrechten sowie nicht zuletzt auch mit westeuropäischen Vorstellungen von Präzedenzrecht und ius gentium.6 ▲3 Der Blick auf diplomatische Verträge und Verhandlungen zwischen Osmanen und Europäern macht also vor allem eines deutlich: Zumindest für die Frühe Neuzeit stellt das Konzept der "Verwestlichung", verstanden als Prozess eines unidirektionalen Kulturtransfers, keinen adäquaten Ansatz zum Verständnis der osmanischen Diplomatie dar.7 Eine stärkere und immer einseitigere Orientierung an lateineuropäischen Völkerrechtsnormen und Verfahrensweisen seitens der politischen Elite des Osmanischen Reichs lässt sich erst ganz am Ende des 18. Jahrhunderts konstatieren, als das Reich unter Sultan Selim III. (1762–1808) (➔ Medien Link #af) dazu überging, ständig residierende Botschafter nach westeuropäischem Modell in europäische Hauptstädte zu entsenden (➔ ➔ Medien Link #ag).8 Bis dahin waren die diplomatischen Beziehungen zwischen Osmanen und Europäern (➔ Medien Link #ah) durch eine Vielfalt transkultureller Verfahren und Praktiken gekennzeichnet, die in Istanbul ihren zentralen Schauplatz fanden:9 Erst im multikulturellen Setting der osmanischen Hauptstadt erhielten sie ihre charakteristische Ausprägung.10 ▲4 Spielarten europäischer Diplomatie in Istanbul Europäische Diplomatie war im frühneuzeitlichen Istanbul durch Vielfalt und Konkurrenz gekennzeichnet, denn die Emissäre der verschiedenen europäischen Mächte agierten mindestens bis zum Ende des 17. Jahrhunderts auf der Grundlage sehr unterschiedlicher Voraussetzungen. Für ihren Status, ihre Handlungsspielräume, ihre Bewegungsfreiheit und selbst den Ort ihrer Residenz innerhalb der Hauptstadt war entscheidend, in welcher Beziehung ihre Auftraggeber zum osmanischen Sultan standen. Ihrer Funktion und historischen Entwicklung nach lassen sich deshalb vor dem 18. Jahrhundert idealtypisch zwei Modelle europäischer Diplomatie in Istanbul unterscheiden: Die westeuropäische Vertretung nach dem historischen Modell des venezianischen Bailo, der eine Doppelfunktion als Botschafter und Konsul innehatte; und das osteuropäische Modell, das auf anlassbezogene, repräsentative Großbotschaften setzte und das alltägliche Geschäft durch einfache Residenten abwickelte. Nach 1700 verschwammen allmählich die Grenzen zwischen beiden Modellen. ▲5 Das westeuropäische Modell Die westeuropäischen Handelsmächte Venedig, Frankreich, England und die Niederlande handelten mit dem Sultan sogenannte Kapitulationen (ʿahdnāme) aus, die den rechtlichen Status ihrer im Osmanischen Reich lebenden Untertanen regelten und die Rechte und Pflichten ihrer Botschafter definierten.11 Unter dem Schutz der Kapitulationen konstituierten sich in den osmanischen Hafenstädten privilegierte westeuropäische Handelskolonien: Im zeitgenössischen europäischen
Sprachgebrauch war zum Beispiel von der französischen nation in Konstantinopel oder von der englischen nation (bzw. factory) in Smyrna (Izmir) die Rede.12 Die Angehörigen einer nation13 waren von der Kopfsteuer (jizya/ cizye) befreit, wodurch sie sich von den nicht-muslimischen Untertanen des Sultans unterschieden, mit denen sie nicht selten Kirchen oder Schulen teilten. Darüber hinaus genossen sie Zoll- und Gerichtsprivilegien sowie weitere Sonderrechte, die in den Kapitulationen jeweils im Detail festgelegt wurden. Während Venedig bereits 1454 von Mehmed II. Kapitulationen erhalten hatte, handelte Frankreich 1569 als erste christliche Monarchie eigene Kapitulationen aus; England und die Niederlande folgten 1580 resp. 1612. Im 17. und 18. Jahrhundert stellten die regelmäßige Erneuerung und Erweiterung der Kapitulationen sowie die Überwachung ihrer Einhaltung ein zentrales Tätigkeitsfeld der westeuropäischen Diplomaten in Istanbul dar. Die Verhandlungen waren dabei durch die innereuropäische Konkurrenz um die jeweils günstigsten Bedingungen im Levantehandel (➔ Medien Link #ai) geprägt. Doch es ging nicht ausschließlich um Wirtschaftspolitik: Auch Präzedenz- und Religionsfragen wurden im Rahmen der Kapitulationserneuerungen verhandelt. Außerdem verfolgten die westeuropäischen Mächte an der Hohen Pforte immer auch machtpolitische Ziele.14 ▲6 Unter dem rechtlichen Schirm der Kapitulationen fungierten die westeuropäischen Botschafter als verantwortliche Ansprechpartner für die osmanische Regierung in allen Belangen, die Angehörige ihrer nation, aber auch das politische Verhältnis zu ihren Auftraggebern betrafen. Damit waren nicht nur weitreichende richterliche, polizeiliche, administrative und fiskalische Rechte verbunden, sondern auch steuerliche Privilegien und Immunitäten für die Botschafter selbst und ihre Haushalte. Die Kapitulationen verschafften den europäischen Handelskolonien (➔ Medien Link #aj) im Osmanischen Reich damit faktisch so etwas wie einen extraterritorialen Status. Die permanente Residenz der westeuropäischen Diplomaten in Istanbul war ebenso sehr dem islamischen Fremdenrecht und der in ihren Wurzeln bereits in die Antike (➔ Medien Link #ak) zurückreichenden mediterranen Konsularsfunktion geschuldet wie den gerade erst entstehenden neuen diplomatischen Gepflogenheiten innerhalb der lateinchristlichen Fürstengesellschaft.15 Ihre charakteristische Doppelfunktion als Botschafter/Konsuln behielten die westeuropäischen Vertreter in Istanbul über die gesamte Frühe Neuzeit.16 Im Falle Frankreichs und Englands zeigte sich dies nicht zuletzt im Finanzierungsmodell: So wurde der englische Botschafter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von der Levant Company bezahlt und der französische erhielt die Hälfte seiner Gratifikationen direkt von der Handelskammer in Marseille. Das änderte freilich nichts daran, dass beide Kronen wie auch Venedig ihre Vertreter am Sultanshof mit dem Rang eines Ambassadeurs versahen. Da in der europäischen Völkerrechtspraxis (➔ Medien Link #al) der Frühen Neuzeit mit der Vorstellung verschiedener diplomatischer Rangstufen auch ein kompliziertes Präzedenzrecht verknüpft war und die Funktion des Ambassadeurs in diesem Kontext auf den Souveränitätsanspruch des entsendenden Monarchen verwies, entstand hier ein erhebliches Konfliktpotenzial sowohl zwischen den europäischen Diplomaten vor Ort als auch im Verhältnis zu den Osmanen.17 ▲7 Galata/Pera: Europäisches Botschaftsviertel und "urban middle ground" Die westeuropäischen Botschafter residierten in den Weinbergen von Pera oberhalb von Galata (heute Stadtteil Beyoğlu), in unmittelbarer Nähe zu ihren Handel treibenden Landsleuten (➔ Medien Link #am). Es war also der engen Verflechtung von Handel und Politik geschuldet, dass das europäische Botschaftsviertel ausgerechnet in Galata/Pera entstand, obwohl es damit weit entfernt von den Palästen des Sultans und des Großwesirs lag und man für jede Verhandlung mit einem osmanischen Amtsträger eigens eine Bootspassage über das Goldene Horn organisieren musste. Schon in byzantinischer Zeit hatte sich an diesem Ort eine genuesische Handelskolonie angesiedelt. Nach der osmanischen Eroberung wurde die bis dahin autonome italienische Kommune in die neuen Verwaltungsstrukturen der Hauptstadt integriert und entwickelte sich zum multikulturellen Zentrum des Fernhandels und der Diplomatie, das mit seinem Hafenviertel, seinen Märkten, Tavernen und anderen einschlägigen Etablissements in der osmanischen Gesellschaft bald die ebenso zweifelhafte wie faszinierende Reputation eines "fränkischen" Sündenpfuhls erlangte.18 Christen bildeten allerdings in der Frühen Neuzeit nur eine Minderheit unter den Einwohnern dieses Stadtteils: Eine kleine katholische Gemeinde aus alteingesessenen italienischen Familien, die seit dem 15. Jahrhundert als Magnifica Communità di Pera vom Sultan anerkannt war, umfasste um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert nur noch rund zwei Dutzend Familien, also wenige hundert Individuen. Die Mehrzahl der Einwohner von Galata/Pera waren armenische, griechische, jüdische und muslimische Untertanen des Sultans (➔ Medien Link #an), die hier Seite an Seite mit den zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallenden Angehörigen der westeuropäischen Handelskolonien sowie vielleicht einigen Tausend christlichen Sklaven lebten und arbeiteten.19 Ab Mitte des 16. Jahrhunderts siedelten sich darüber hinaus vermehrt auch spanische Morisken an, die vor der Verfolgung unter Philipp II. (1527–1598) (➔ Medien Link #ap) ins Osmanische Reich flohen. Schon ab 1600 bestand die Einwohnerschaft von Galata/Pera mehrheitlich aus Muslimen.20
▲8 Religiös-konfessionelle, ethnische, sprachliche und soziale Grenzen verliefen hier wie auch in den anderen urbanen Zentren des osmanischen Mittelmeers allerdings weder kongruent, noch waren sie undurchlässig oder eindeutig zu definieren (➔ Medien Link #aq). So gab es im frühneuzeitlichen Istanbul zwar konfessionell bzw. ethnisch geprägte Wohnviertel, aber keine scharfe Trennung der Einwohnerschaft im Sinne von "Ghettos". Die westlichen Botschaften lagen in unmittelbarer Nähe zueinander, die venezianische und die französische waren sogar durch eine Pforte miteinander verbunden. In der Nachbarschaft befanden sich aber auch private Wohnhäuser wohlhabender osmanischer Renegaten, eine Moschee und ein Hamman, ein Derwischkonvent sowie die von Sultan Bayezid II. gegründete Galata-Palastschule.21 Galata/Pera war also nicht einfach nur ein europäisches Botschaftsviertel, sondern ein "urban middle ground", ein Ort der grenzüberschreitenden Begegnung (➔ Medien Link #ar).22 ▲9 Die westlichen Botschaften als Zentren diplomatischer Soziabilität Die Botschaften waren Zentren multikultureller Soziabilität, transimperialer Netzwerkbildung und sozialer Durchlässigkeit. Hier liefen die Fäden all jener personalen Netzwerke zusammen, die für das diplomatische Alltagsgeschäft unabdingbar waren und deren Qualität und Reichweite über Erfolg oder Misserfolg einer Mission entscheiden konnten. Die inmitten ihres multikulturellen Umfelds gelegenen Botschaftsgebäude beherbergten nicht nur den Botschafter und seine Familie, sondern auch ihren oftmals mehrere Dutzend Personen umfassenden Haushalt und den von diesem nicht immer klar getrennten diplomatischen Mitarbeiterstab. Der französische Botschafter Pierre Girardin (gest. 1689) (➔ Medien Link #as) z.B. reiste 1685 mit mehr als 50 Bediensteten aus Frankreich an, darunter Sekretäre, Pagen, Stallburschen, Lakaien, Sänftenträger, Kammerdiener und -zofen für sich selbst und seine Frau, aber auch Köche, Gärtner, ein Polsterer und ein Schneider.23 Vor Ort wurden in der Regel weitere Bedienstete rekrutiert. Ebenfalls zu den ständigen Bewohnern des Palais de France gehörten einige Janitscharen (➔ Medien Link #at) und seit dem späten 17. Jahrhundert auch die "jeunes de langue", für das Studium der orientalischen Sprachen ausgewählte Jungen, die später als königliche Dolmetscher in der Levante arbeiten sollten. Dazu konnte eine Vielzahl weiterer Personen kommen, die nur vorübergehend im Palast Quartier bezogen: durchreisende Kavaliere (➔ Medien Link #au), befreite Sklaven (➔ Medien Link #av), untergetauchte osmanische Würdenträger,24 Künstler (➔ Medien Link #aw) und Forschungsreisende (➔ Medien Link #ax). Dass die französische Botschaft in dieser Hinsicht keine Ausnahme darstellte, zeigt das berühmte Zeugnis von Lady Mary Wortley Montagu (1689–1762) (➔ Medien Link #ay), die Anfang des 18. Jahrhunderts als Gattin des britischen Botschafters in Istanbul lebte: ▲10 "I live in a place that very well represents the Tower of Babel; in Pera they speak Turkish, Greek, Hebrew, Armenian, Arabic, Persian, Russian, Slavonian, Wallachian, German, Dutch, French, English, Italian, Hungarian; and what is worse, there are ten of these languages spoke in my own family. My grooms are Arabs, my footmen French, English, and Germans; my nurse an Armenian; my housemaids Russians; half a dozen other servants Greeks; my steward an Italian; my janissaries Turks, that I live in perpetual hearing of this medley of sounds, which produces a very extraordinary effect upon the people that are born here. They learn all these languages at the same time and without knowing any of them well enough to write or read in it."25 Ein Anfang des 18. Jahrhunderts angefertigter Grundriss des Palais de France zeigt einen größeren Gebäudekomplex auf einer terrassenförmig abfallenden Fläche von umgerechnet etwas mehr als einem Hektar.26 Die zugehörige Beschreibung listet neben Wohn- und Repräsentationsräumen, Höfen und Gärten, Ställen, Waschräumen und Küchen auch eine Kanzlei und eine Krankenstation auf sowie eine Kapelle, Schulräume und einen direkt an die Botschaft anschließenden Kapuzinerkonvent. Der Empfangssaal der Botschaft war so angelegt, dass er den Gästen einen Ausblick auf den Sultanspalast am gegenüberliegenden Ufer des Goldenen Horns ermöglichte (➔ Medien Link #az).27 ▲11 Die komplexe architektonische Struktur des Palais de France spiegelt die Multifunktionalität der europäischen Botschaften als repräsentative Residenzen sowie Zentren diplomatischer Soziabilität und transkultureller Netzwerkbildung wider. In den repräsentativeren Räumen fanden diplomatische Verhandlungen sowie die Visiten und Gegenvisiten statt, die sich die
christlichen Botschafter gemäß dem europäischen Präzedenzrecht gegenseitig bei Ankunft und Abreise abstatteten. Hier empfing der Botschafter außerdem zu bestimmten Anlässen ausgewählte Mitglieder seiner nation sowie der multikulturellen Oberschicht von Galata/Pera zum Festbankett – etwa im Anschluss an seine Antrittsaudienzen beim Sultan und beim Großwesir oder auch zur Feier eines militärischen Sieges, aus Anlass der Geburt eines Thronfolgers oder eines anderen dynastischen Ereignisses. Die Gästelisten der Istanbuler Botschaften spiegelten dabei stets auch die gerade herrschenden innereuropäischen Konfliktlinien wider.28 ▲12 Der Botschaftspalast diente aber nicht nur repräsentativen Zwecken, sondern bildete auch das soziale, administrative, ökonomische und kulturelle Zentrum für die jeweilige nation: Hier liefen Informationen zusammen, fanden Versammlungen der nation statt, wurden deren Sprecher gewählt, Streitfälle entschieden, Pässe ausgestellt, Posten vergeben, Reisende empfangen, Petitionen überbracht, aber auch Feste gefeiert, Theatervorstellungen organisiert und Wettkämpfe veranstaltet. Dabei kamen oft nicht nur die Angehörigen der jeweils eigenen nation zusammen, sondern auch andere Europäer sowie Untertanen des Sultans – entscheidend war im Zweifelsfall nicht die konfessionelle Zugehörigkeit, sondern der soziale Status. Zahlreiche Zeugnisse belegen, dass europäische Botschafter – und gegebenenfalls auch ihre Ehefrauen – in ihren Palästen nicht nur osmanische Amtsträger empfingen und sich wechselseitig Besuche abstatteten, sondern auch mit muslimischen Gelehrten debattierten und mit Vertretern armenischer oder griechischer Christen zusammentrafen.29 Ähnliche Begegnungen dürfte es auch auf den – quellenmäßig weniger gut dokumentierten – niedrigeren sozialen Rängen gegeben haben. ▲13 Das osteuropäische Modell Die zentral- und osteuropäischen Diplomaten agierten in Istanbul dagegen zunächst unter ganz anderen Voraussetzungen als ihre westeuropäischen Pendants, denn das Verhältnis ihrer Auftraggeber zum Osmanischen Reich stand im 16. und 17. Jahrhundert überwiegend im Zeichen kriegerischer Konfrontation. Im Zuge der osmanischen Expansion nach Südosteuropa gerieten die besiegten Fürsten in den Rang von Vasallen- bzw. Tributärstaaten – oder wurden im Fall der Habsburger zumindest analog behandelt. Die Waffenstillstands- und Friedensverträge mit den Osmanen beinhalteten unter anderem die Verpflichtung, einen diplomatischen Residenten in Istanbul zu unterhalten. Seit dem habsburgisch-osmanischen Friedensvertrag von 1547 gab es dementsprechend einen habsburgischen Residenten am Bosporus. Zusätzlich trafen aus Wien auch regelmäßig repräsentative Sondergesandtschaften in der osmanischen Hauptstadt ein.30 Deren Hauptaufgabe bestand in der zeremoniellen Übergabe der im Friedensschluss vereinbarten Geldzahlungen, wobei sowohl die Zeitgenossen als auch spätere Historiker darüber stritten, ob es sich bei diesen Zahlungen um Tribute oder um Ehrengeschenke handelte.31 ▲14 Obwohl der Waffenstillstand von Zsitvatorok (1606) den Habsburgern das faktische Ende ihrer Tributpflicht brachte, hielten sie auch weiterhin an dieser Form der "doppelten" diplomatischen Repräsentation durch einen niederrangigen kaiserlichen Residenten für das diplomatische Tagesgeschäft sowie anlassbezogene, dafür aber besonders prunkvolle und hochrangige Großbotschaften fest.32 Das war aus Sicht des Kaisers vor dem Hintergrund der imperialen Konkurrenz zwischen Habsburgern und Osmanen sowie der europäischen Vorstellungen von diplomatischer Repräsentation auch durchaus sinnvoll, denn eine einseitige hochrangige diplomatische Vertretung am Sultanshof wäre mit seinem eigenen universellen Herrschaftsanspruch kaum vereinbar gewesen. Außerdem war es auch im Hinblick auf die innereuropäische Mächtekonkurrenz zweckdienlich: So konnte ein Sondergesandter wie Wolfgang Graf zu Oettingen-Wallerstein (1626–1708) (➔ Medien Link #b0), der im Februar 1700 zur Besiegelung des Friedens von Karlowitz in feierlicher Prozession als kaiserlicher Großbotschafter in Istanbul einzog, gemäß dem europäischen Präzendenzrecht den hervorgehobenen Rang eines ambassadeur extraordinaire beanspruchen – sehr zum Leidwesen des französischen Botschafters, der in Istanbul traditionell den ersten Rang unter allen christlichen Diplomaten für sich reklamierte, als residierender Botschafter aber eben nur ambassadeur ordinaire war und deshalb auf explizite Anweisung seines Königs ein Zusammentreffen mit Oettingen-Wallerstein tunlichst zu vermeiden hatte.33 ▲15 Strukturell ähnelte die diplomatische Präsenz der Habsburger in Istanbul damit allerdings auch lange nach dem Ende ihrer Tributpflicht noch der Art und Weise, wie die Osmanen die Beziehungen zu ihren europäischen Tributärstaaten diplomatisch gestalteten: So waren z.B. auch die Fürstentümer Siebenbürgen, Moldau und Walachei sowie das islamische Krimkhanat (➔
Medien Link #b1) nicht nur dazu verpflichtet, alljährlich diplomatische Delegationen zur Überreichung der Tributzahlungen an den Sultanshof zu entsenden, sondern auch dauerhaft einen Repräsentanten in Istanbul zu stationieren, der zugleich Ansprechpartner für die osmanische Regierung und potentielle Geisel war.34 Und genau wie die Repräsentanten der Tributärstaaten waren auch die habsburgischen Residenten zunächst im Elçi (oder auch: Nemçe) Han untergebracht, einer speziellen Unterkunft für auswärtige Diplomaten in der Nähe des Topkapı Sarayı. Seit dem 17. Jahrhundert mieteten sie in der Regel Unterkünfte im Stadtteil Fener und blieben damit weiterhin nahe am politischen Zentrum der Hauptstadt – aber weit entfernt von den westeuropäischen Vertretern in Galata/Pera.35 Von den alltäglichen und niederschwelligen Praktiken diplomatischer Soziabilität, wie sie im westeuropäischen Botschaftsviertel gepflegt wurden, blieben sie in der Regel also ausgeschlossen, und zwar sowohl aufgrund der räumlichen Entfernung als auch aus Ranggründen und wohl auch aufgrund von machtpolitischen Erwägungen. ▲16 Ganz ähnlich verhielt es sich auch mit den polnischen Emissären, die bereits seit dem 15. Jahrhundert anlassbezogen und meist mit besonderem Prunk in Istanbul eintrafen: Auch sie residierten zunächst im Elçi Han und zogen nach vollendeter Mission wieder ab. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts bezogen die polnischen wie auch die habsburgischen Vertreter feste Residenzen – dann jedoch genau wie ihre westeuropäischen Kollegen im Stadtteil Pera.36 ▲17 Das 18. Jahrhundert: Vereinheitlichung als "Verwestlichung"? Die räumliche Trennung und zugleich rangmäßige Differenzierung von osteuropäischen Residenten in Fener und westeuropäischen Ambassadeuren in Pera wurde bereits von den Zeitgenossen als intendierte Maßnahme der Osmanen gedeutet: Sie habe eine stärkere Kontrolle der diplomatischen Aktivitäten der Habsburger ermöglicht und sie überdies zumindest symbolisch in die Nähe der abhängigen Tributärstaaten gerückt. Die westeuropäischen Diplomaten dagegen seien im Grundsatz als Vertreter souveräner Mächte anerkannt gewesen und hätten dementsprechend im entfernten Galata/Pera weitaus größere Freiheiten genossen.37 Da allerdings die Kategorie der Souveränität zwar im europäischen Völkerrecht, nicht aber im Rechtsverständnis der Osmanen verankert war, ist diese Deutung zumindest problematisch. Ob bewusste Intention oder schlicht historischer Zufall: Die offenkundige räumliche Trennung von west- und osteuropäischen Diplomaten in Istanbul markierte im 16. und 17. Jahrhundert auch eine funktionale und symbolische Differenzierung zwischen zwei Spielarten europäischer Diplomatie in der osmanischen Hauptstadt. Erst als sich nach dem Frieden von Karlowitz (1699) die machtpolitische Balance in Südosteuropa zugunsten der Habsburger und ihrer Verbündeten verschob und mit dem russischen Zarenreich zudem ein neuer, mächtiger Akteur auf der Bildfläche erschien, verschwammen zunehmend auch die funktionalen wie symbolischen Grenzen zwischen ost- und westeuropäischer Diplomatie in Istanbul. Es kam häufiger zu Absprachen und gemeinsamen Interventionen der europäischen Diplomaten, es bildete sich so etwas wie ein europäisches diplomatisches Corps heraus und westeuropäische Normen prägten mehr und mehr die diplomatische Praxis.38 ▲18 Ob dies alles jedoch ausreicht, um von einer "Verwestlichung" der diplomatischen Praxis in Istanbul vor dem späten 18. Jahrhundert zu sprechen, bleibt zumindest diskutabel – zumal ein wesentlicher Impuls für diese Entwicklungen vom russischen Zarenreich (➔ Medien Link #b2) ausging. Durch die Annäherung und die zunehmenden wechselseitigen Absprachen der west- und osteuropäischen Diplomaten vor Ort konnte aber geschlossener gegenüber den osmanischen Gesprächspartnern aufgetreten und so ein gewisser Verhandlungsdruck erzeugt werden; die beschriebene funktionale Differenzierung der beiden europäischen Diplomatiemodelle wurde jedenfalls im Verlauf des 18. Jahrhunderts allmählich obsolet. Äußerlich sichtbar wurde diese Vereinheitlichung der diplomatischen Praxis in Istanbul unter anderem daran, dass sich im Laufe des 18. Jahrhunderts nicht nur die habsburgischen und die polnischen Vertreter, sondern auch alle neu hinzukommenden europäischen Botschafter, etwa aus Russland, Schweden und Preußen, in Galata/Pera niederließen – auch wenn sie, anders als ihre französischen oder englischen Pendants, gar keine Handelskolonien beaufsichtigten und keine konsularischen Funktionen wahrnahmen. ▲19 Die Stadt als Bühne: Das diplomatische Zeremoniell am Sultanshof
Im Rahmen der imperialen Herrschaftsstrategie der osmanischen Sultane kam dem Empfang auswärtiger Diplomaten eine zentrale Funktion zu, denn das diplomatische Zeremoniell war das Medium, durch das die Osmanen ihren Weltherrschaftsanspruch symbolisch geltend machten und sich als sakral entrückte Herrscher inszenierten.39 Zwei Momente spielten dabei eine besonders hervorgehobene Rolle: Öffentliche Audienzen und der Austausch von Geschenken. ▲20 Einzug und Empfang Der urbane Raum der osmanischen Hauptstadt war integraler Bestandteil der Empfangszeremonien für auswärtige Repräsentanten. Istanbul und der von Mehmed II. erbaute Topkapı-Palast (➔ Medien Link #b3) an der Landspitze zwischen Goldenem Horn und Marmarameer fungierten dabei als Bühne, während Einwohnern und Besuchern die wichtige Rolle als Zuschauer zufiel: Sie säumten Straßen und Plätze, wenn die Abgesandten asiatischer, europäischer oder afrikanischer Herrscher in feierlicher Prozession mit zahlreichem Gefolge und wertvollen Geschenken über die zentrale Prachtstraße (heute: Divan Yolu Caddesi) in den Topkapı-Palast zogen. Dabei war von außen kaum zu unterscheiden, ob es sich um die aus freien Stücken entsandte Delegation eines souveränen Fürsten oder um die erzwungene Huldigung tributpflichtiger Kriegsverlierer handelte: Sie alle mussten auf ihrem Weg zum Sultan auf vorgeschriebene Weise verschiedene architektonische wie zeremonielle Schwellen überschreiten, bevor sie die "Pforte der Glückseligkeit" erreichten, das dritte und letzte Tor zum streng abgeschirmten Innersten der weitläufigen Palastanlage. Dort angekommen kleidete man die Gäste in Ehrengewänder (hil'at), womit man sie symbolisch in die osmanische Weltordnung eingliederte, und führte sie dann in den direkt hinter der Pforte liegenden Audienzsaal, um "den Rocksaum des Sultans zu küssen", wie es schon bald metonymisch verkürzt in europäischen Berichten hieß.40 Tatsächlich wurden die christlichen Botschafter von zwei Bediensteten des Sultans an den Armen festgehalten und mehr oder weniger sanft zum Kniefall vor den Sultan geführt. Im Zentrum der Hauptstadt und im Innersten des Palastes erheischten sie so einen Blick auf das personifizierte Machtzentrum des Reiches: Hier zeigte sich der Sultan umgeben von seinen ranghöchsten Dienern und wichtigsten Würdenträgern in regungsloser Stille auf seinem Thron, als "Sultan der Sultane", "Kronenspender der Erde", "Herrscher der Länder der Rhomäer, der Perser und der Araber", "Held des Kosmos" und "Schatten Gottes auf Erden" (➔ Medien Link #b4).41 ▲21 Das osmanische Empfangszeremoniell war die perfekte symbolische Inszenierung von Weltherrschaft – und entsprach damit genau wie die zitierten Titulaturen Süleymans I. aus seinen Schreiben an die Habsburgerkaiser einem Selbstverständnis, demzufolge es so etwas wie "Außenbeziehungen" eigentlich gar nicht geben konnte. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass das diplomatische Zeremoniell keineswegs unflexibel war. Denn obgleich sich am Ablauf der Empfangszeremonien für auswärtige Diplomaten im Grundsatz in der gesamten Frühen Neuzeit kaum etwas änderte, konnten sie im Detail doch erheblich variieren: Die Dauer von Wartezeiten, die Positionen im Raum, die Größe des Gefolges, die Pracht der Ausschmückung, Art und Umfang von Geschenken, die Modalitäten ihrer Übergabe – all das und noch vieles mehr wurde von den Europäern in die Sprache ihres eigenen Präzedenzrechts übersetzt und im Vorfeld der Zeremonien jeweils genauestens mit den osmanischen Gesprächspartnern aushandelt. Noch ehe ein diplomatischer Vertreter offiziell empfangen und "akkreditiert" war, fanden also bereits intensive Verhandlungen auf verschiedenen offiziellen wie informellen Kanälen statt. Zudem war der Empfang beim Sultan nur die letzte und prächtigste Etappe des komplexen und sich zum Teil über Wochen hinziehenden osmanischen Empfangsrituals: Zuvor musste der Emissär nämlich noch in feierlicher Audienz vom Großwesir begrüßt werden – eine Zeremonie, die mindestens seit dem 17. Jahrhundert ebenso detailliert im Vorfeld ausgehandelt wurde wie jene beim Sultan. Reiste er gar, wie z.B. die habsburgischen Vertreter, auf dem Landweg an, dann waren ähnliche Zeremonien bereits während der Anreise bei den osmanischen Provinzgouverneuren fällig.42 ▲22 Dessen ungeachtet konnte jede konkrete Zeremonie Anlass zu Streitigkeiten und Zwischenfällen geben. Als beispielsweise der französische Botschafter Charles de Nointel (1635–1685) (➔ Medien Link #b5) im Mai 1677 zur Antrittsaudienz bei Kara Mustafa Pascha (1634/35–1683) (➔ Medien Link #b6) erschien, verließ er den Audienzsaal noch vor Ankunft des Großwesirs unter Protest, weil er mit der ihm zugedachten Sitzgelegenheit nicht einverstanden war.43 Rund zwanzig Jahre später provozierte sein Amtsnachfolger Charles de Ferriol (1652–1722) (➔ Medien Link #b7) mitten im Topkapı-Palast auf der Schwelle zum Audienzsaal ein lautstarkes Handgemenge, weil er darauf bestand, mit seinem Degen vor Sultan Mustafa II. (1664–1704) (➔ Medien Link #b8) zu erscheinen. Er verließ den Palast schließlich ohne Audienz.44 Hatte man diese und andere Ritualkonflikte lange Zeit auf die mangelnde interkulturelle Kompetenz der beteiligten Akteure zurückgeführt, sie dementsprechend als
kulturelle Missverständnisse gedeutet und damit die These einer vermeintlich grundsätzlichen Inkompatibilität der politischen Sinnsysteme untermauert, so werden sie heute mit den Methoden der historischen Ritualforschung untersucht und ebenso wie innereuropäische Ritualkonflikte als gezielte Versuche zur Durchsetzung politischer Geltungsansprüche in ihren jeweils konkreten historischen Kontexten analysiert.45 ▲23 Geschenke Ein zentraler und besonders konfliktreicher Aspekt des diplomatischen Zeremoniells am Sultanshof war die Frage der Geschenke. Wie bereits berichtet, mussten Vasallenstaaten und unterlegene Kriegsgegner dem Sultan alljährlich ihre als "Ehrengeschenk" bezeichneten Tributzahlungen im Rahmen öffentlicher Zeremonien überbringen. Doch auch die Botschafter der mit Kapitulationen versehenen westeuropäischen Handelsmächte mussten im Rahmen ihrer Antrittsaudienzen nach genau reglementierten Verfahren und in zuvor ausgehandeltem Umfang Geschenke an den Sultan, die höchsten Würdenträger und deren Bedienstete verteilen. Überhaupt beschrieben die Osmanen bereits die Aufnahme diplomatischer Beziehungen in der Sprache des Schenkens und Beschenkt-Werdens: Frieden, so ließ der Sultan die westlichen Monarchen wissen, gebe es nur unter Freunden, und Freundschaft werde durch Geschenke begründet. Als Voraussetzung für die Gewährung von Kapitulationen wurde deshalb das schriftliche und von angemessenen Geschenken flankierte Freundschaftsgesuch eines Herrschers betrachtet.46 ▲24 Sowohl am Sultanshof als auch in den westlichen Botschaften in Istanbul ließ man detaillierte Geschenkregister anfertigen. Dabei ging es beiden Seiten nicht nur um die Dokumentation des materiellen Wertes der Geschenke, sondern auch um ein Verzeichnis von Präzedenzfällen. Die westlichen Geschenkregister unterschieden in der Regel sorgfältig zwischen dem sogenannten Pflichtgeschenk und dem außerordentlichen Geschenk. Beim Pflichtgeschenk handelte es sich um Textilien, die am Tag der Audienz an den Sultan und alle hochrangigen Würdenträger (➔ Medien Link #b9) sowie deren Bedienstete bis hinab zum Stallburschen verteilt wurden, und zwar jeweils in unterschiedlicher Qualität und Quantität entsprechend dem jeweiligen Rang. Das außerordentliche Geschenk war dagegen nur den höchsten Würdenträgern vorbehalten. In der Regel fielen darunter besonders wertvolle Uhren, Schmuck, technologische Innovationen wie nautische Messinstrumente, aber auch Tiere oder exotische Waren, die zugleich dem Schenkenden und dem Beschenkten zur Ehre gereichten. Hier waren die Botschafter durchaus mit sehr spezifischen "Bestellungen" seitens der Osmanen konfrontiert, was immer wieder zu Irritationen führte, da sich dies mit europäischen Vorstellungen vom Schenken nur schlecht vereinbaren ließ.47 ▲25 Die europäischen Diplomaten erhielten im Gegenzug bei ihren Audienzen zeremonielle Ehrengewänder (hil'at), die einen hohen Symbolwert hatten und nach osmanischem Verständnis den Empfangenden als hierarchisch untergeordnet markierten (➔ Medien Link #ba).48 Anzahl und Qualität dieser Gewänder galten als Gradmesser für die Ehrerbietung, die den jeweiligen Botschaftern bzw. ihren Auftraggebern seitens der Osmanen entgegen gebracht wurde. Die Europäer hatten dies schnell begriffen, und die Behauptung, mehr Ehrengewänder erhalten zu haben als jeder andere europäische Diplomat zuvor, wurde zu einem verbreiteten Topos in ihren Berichten.49 Die Frage der Ehrengewänder gab immer wieder Anlass zu komplizierten und langwierigen Verhandlungen im Vorfeld der Zeremonien, denn die Europäer nutzten dieses Element auch als Medium der Prestigekonkurrenz, um ihre internen Präzedenzstreitigkeiten auszutragen.50 ▲26 Das diplomatische Geschenkwesen in Istanbul war also in die sehr spezifische und ritualisierte osmanische Ökonomie des Schenkens eingebettet: Pflichtgemäße Ehrengeschenke zum Amtsantritt oder zu regelmäßig wiederkehrenden Terminen hatten in der osmanischen Kultur einen festen Platz und bildeten als Bestandteil von Ritualen der Investitur eine eigene Kategorie von Geschenken (pīşkeş).51 Sie mussten im Übrigen von den europäischen Diplomaten nicht nur den höchsten Würdenträgern wie dem Sultan oder dem Großwesir im Rahmen öffentlicher Audienzen gemacht werden, sondern auch allen anderen Funktionsträgern, mit denen sie zu tun hatten, wie etwa Schreibern oder Zollbeamten. Geschenke stellten in den Etats der Botschafter deshalb einen erheblichen Kostenfaktor dar und gaben immer wieder Anlass zu Klagen, zumal die Europäer für diese Art von Geschenken keine andere Gegenleistung erwarten durften, als dass die Amtsträger ihres Amtes walteten.52 Immer wieder versuchten einzelne europäische Diplomaten deshalb, ihre Amtskollegen zu einem konzertierten
Vorgehen gegen diese kostspielige und auch ehrenrührige Praxis zu überreden – was jedoch meistens an der innereuropäischen Konkurrenz scheiterte.53 ▲27 Diplomatie als transkulturelle Praxis Die europäische Diplomatie in Istanbul umfasste ein breites Spektrum unterschiedlicher Akteure und ein Kontinuum von Praktiken, das von ritualisierten und hoch formalisierten offiziellen Begegnungen vor großem Publikum über alltägliche Interaktionen im überschaubaren Rahmen bis hin zu informellen oder gar geheimen Treffen im kleinsten Kreis reichte. Dabei galt: Je höher der soziale Rang der Beteiligten und je größer die Öffentlichkeit der Interaktion, desto mehr prägten konkurrierende imperiale Geltungsansprüche von Europäern und Osmanen Form und Gestalt des Austauschs. Das multikulturelle Setting der osmanischen Hauptstadt prägte die diplomatische Praxis ebenso sehr wie die besondere Topographie der Stadt, in der räumliche Nähe oder Distanz stets auch eine symbolische Dimension hatten. Dabei war die diplomatische Praxis in Istanbul keine Einbahnstraße, auch wenn es zunächst die Osmanen waren, die vor Ort den Rahmen festlegten. In der alltäglichen Interaktion wurden Spielregeln immer wieder neu verhandelt, Grenzen verschoben und überschritten. ▲28 Vielfalt diplomatischer Akteure Um den Ablauf offizieller diplomatischer Zeremonien, aber auch den Inhalt von Verträgen und Vereinbarungen auszuhandeln, um Konflikte anzubahnen und wieder auszuräumen, Informationen einzuholen oder Desinformation zu streuen, kurz: um das diplomatische Alltagsgeschäft zu bestreiten, trat eine Vielzahl von Akteuren in Aktion, von denen nur wenige ein offizielles Amt bekleideten. Die feierliche Begegnung zwischen dem Botschafter und dem Sultan oder auch dem Großwesir im Rahmen einer öffentlichen Audienz war nur die zeremonielle Spitze des diplomatischen Eisbergs – das Tagesgeschäft lief über verschiedene, teils offizielle und öffentliche, teils informelle und geheime Kanäle. Allerdings war das diplomatische Ritual insofern grundlegend, als es auf dem komplexen Feld der diplomatischen Praxis im frühneuzeitlichen Istanbul einen Bereich der offiziellen Interaktion gleichsam performativ abgrenzte: All jene Akteure, die im Rahmen feierlicher Antrittsaudienzen nach den Regeln des Rituals miteinander interagierten, konnten auch in der Folge miteinander verkehren, indem sie entweder "en cérémonie" oder inkognito zusammentrafen: Das Ritual diente also gewissermaßen dazu, die Gruppe der offiziellen diplomatischen Akteure sichtbar zu machen.54 ▲29 Zu den offiziellen Gesprächspartnern des Botschafters auf Seiten der Osmanen gehörten damit neben dem Sultan und dem Großwesir all jene Würdenträger, denen er bei seinem oder ihrem Amtsantritt im Rahmen öffentlicher Audienzen seine feierliche Aufwartung machte. Dieser Personenkreis variierte im Verlauf der Frühen Neuzeit: Gegebenenfalls waren dies z.B. der kaimakam, der Stellvertreter des Großwesirs in Istanbul, der kapudan paşa, der Oberbefehlshaber der Flotte, oder auch der şeyhülislam, der oberste islamische Rechtsgelehrte des Reichs.55 ▲30 Im diplomatischen Alltag konnte und musste allerdings auch vieles auf der Arbeitsebene geklärt werden. Eine wichtige Funktion hatte auf der Seite der Osmanen etwa der reisülküttâb, der "Vorsteher der Kanzleischreiber", der für die Abfassung von Schriftstücken zuständig war. Ursprünglich nur ein Bediensteter des Divans, fielen seit dem 18. Jahrhundert zunehmend die diplomatischen Beziehungen zu den europäischen Mächten in seinen Zuständigkeitsbereich, bis er im 19. Jahrhundert schließlich die Funktion eines Außenministers wahrnahm.56 Auch die Sekretäre des Botschafters oder der kethüda des Großwesirs oder des reisülküttâb wurden für kleinere Verhandlungen eingesetzt. ▲31 Institutionalisierte Vermittler: Die Dragomane
Eine hervorgehobene und absolut zentrale Funktion hatten die Dragomane (➔ Medien Link #bb) (aus dem osmanischen "tercüman"), offiziell bestellte Dolmetscher, die sowohl am Sultanshof als auch an den Botschaften tätig waren. Sie traten nicht nur im diplomatischen Zeremoniell in Erscheinung, sondern waren praktisch in jeder Unterredung zwischen Osmanen und Europäern präsent und führten mitunter auch selbst Verhandlungen im Namen ihrer Auftraggeber. Diese Allgegenwart der Dragomane war zunächst einmal der Tatsache geschuldet, dass die Sprache eine der großen Hürden in der osmanisch- europäischen Diplomatie darstellte.57 Zwar diente zur alltäglichen Verständigung auf Istanbuls Straßen und Märkten wie auch in anderen mediterranen Hafenstädten ein Pidgin aus Italienisch, Spanisch, Arabisch, Türkisch und Provenzalisch; und de facto beherrschten viele osmanische Würdenträger ebenso wie auch die meisten westeuropäischen Diplomaten, die sich länger im Osmanischen Reich aufhielten, mehrere Sprachen, so dass sie sich nicht selten zumindest im Prinzip auch ohne Dragomane – beispielsweise auf Italienisch – hätten verständigen können.58 Doch das Osmanische hatte als Verwaltungs- und Elitensprache nicht nur ein besonderes kulturelles Prestige innerhalb des Osmanischen Reichs, sondern auch eine zentrale Funktion für die Integration des Imperiums und seiner multikulturellen politischen Eliten, so dass ihm insbesondere im diplomatischen Verkehr ein hoher symbolischer Stellenwert zukam.59 Der Einsatz offiziell bestallter Dragomane in diplomatischen Verhandlungen und feierlichen Audienzen war deshalb nicht allein einer pragmatischen Notwendigkeit geschuldet, sondern bildete ebenso einen wichtigen Bestandteil imperialer Repräsentation. ▲32 Es ist deshalb nur folgerichtig, dass das Amt des Pfortendolmetschers im 16. Jahrhundert unter Süleyman dem Prächtigen zeitgleich mit der Durchsetzung des Osmanischen als imperialer Amtssprache entstand. In dieser frühen Zeit wurde es ausschließlich an Konvertiten vergeben, die die nötigen sprachlichen Fähigkeiten aus ihren Herkunftskulturen mitbrachten und zugleich der Dynastie loyal verbunden waren.60 Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert rekrutierte das Reich die Pfortendolmetscher unter den Mitgliedern der griechisch-orthodoxen Oberschicht Istanbuls, der sogenannten Phanarioten. Ihr bedeutendster Vertreter war Alexander Mavrocordatos (1641–1709) (➔ Medien Link #bc), der dieses Amt von 1673 bis zu seinem Tod innehatte und erheblich zur Ausweitung der politischen Funktionen des Pfortendolmetschers beitrug.61 Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Nicolas Mavrocordatos (1680–1730) (➔ Medien Link #bd) das Amt und begründete später als erster griechischer Fürst der Moldau und der Walachei die Phanariotenzeit in den Donaufürstentümern. Der eindrucksvolle Aufstieg der Familie Mavrocordatos erfolgte also im Kontext der osmanisch- europäischen Diplomatie und prägte zugleich deren Strukturen nachhaltig: Die griechisch-orthodoxen Pfortendolmetscher etablierten sich als unentbehrliche Vermittler, bauten umfangreiche und weit verzweigte grenzüberschreitende Patronage- und Klientelnetzwerke auf und setzten diese Schlüsselposition konsequent zugunsten des eigenen Familienclans ein. ▲33 Dies funktionierte ganz ähnlich, wenn auch auf einer niedrigeren sozialen Ebene, für die an den europäischen Botschaften angestellten Dragomane.62 Sehr häufig rekrutierten sich diese aus den alteingesessenen italienischstämmigen Familien der magnifica comunità di Pera, also aus den Reihen der katholischen Untertanen des Sultans, mitunter aber auch unter den orthodoxen oder jüdischen Familien Galatas. Durch den Eintritt in den Dienst eines westlichen Botschafters wurden die Dragomane Mitglieder in dessen Haushalt, standen unter seinem Schutz und erlangten damit einen besonderen Rechtsstatus, der ihnen durch ein Dragomanpatent (berat) des Sultans auch offiziell bestätigt wurde. Damit genossen sie im Vergleich zu anderen osmanischen Untertanen umfangreiche rechtliche und fiskalische Privilegien und erlangten gleichsam einen "extraterritorialen Status im eigenen Land".63 Als Einheimische brachten sie für die Botschafter wichtige soziale Kontakte mit, und da sie häufig über Generationen derselben Botschaft verpflichtet waren, verkörperten sie gewissermaßen deren institutionelles Gedächtnis: So waren sie meist die ersten Ansprechpartner der mit den ortsüblichen Gepflogenheiten bei ihrer Ankunft zumeist wenig vertrauten Diplomaten. Die Aufgabe der Dragomane erschöpfte sich also keineswegs in rein linguistischen Translationsleistungen, sondern bestand in kulturellen Übersetzungsleistungen im weitesten Sinne. ▲34 Aufgrund ihrer zutiefst ambivalenten Loyalitätsverhältnisse schlug den osmanischen Botschaftsdragomanen allerdings seitens ihrer westlichen Patrone notorisches Misstrauen entgegen: Klagen über die Unfähigkeit, Illoyalität und Ängstlichkeit der levantinischen Dragomane gehören zu den verbreitetsten Topoi in westlichen Botschaftsberichten. Da sie allerdings durch ihre Übersetzungstätigkeit auch Geheimnisträger der Botschaft waren und somit immer die Gefahr bestand, dass andere Botschaften sie als Spione anwerben könnten, konnte man sich unfähiger oder widerständiger Dragomane auch nicht ohne Weiteres entledigen. Frankreich und Venedig unternahmen denn auch wiederholt Versuche, vor Ort "eigene" bzw. "nationale" Dolmetscher auszubilden: Diese venezianischen und französischen "Sprachknaben" ("jeunes de langue", "giovani di lingua") gingen allerdings alsbald durch Heirat oder Konversion in der "transnationalen und auch interkulturellen Elite" der
osmanischen Metropole auf: Durch immer komplexere und dichtere Verwandtschaftsbeziehungen, die quer lagen zu ethnischen, sprachlichen, politischen und auch ständischen Abgrenzungen, etablierten sich in Istanbul die Dragomane nach und nach als eigene soziale Gruppierung, in der einige besonders einflussreiche Dynastien wie die Testa, Grillo oder Fornetti dominierten und den Markt der westlichen Botschaften mit ihren lukrativen Beschäftigungsmöglichkeiten unter sich aufteilten.64 ▲35 Diplomatische Netzwerkbildung im multikulturellen Setting Ganz so wie an den christlichen Fürstenhöfen Europas lag auch am Sultanshof die eigentliche politische Macht nicht immer bei den offiziellen Amtsinhabern. Es war für die westlichen Diplomaten deshalb wichtig, neben ihren offiziellen Gesprächspartnern auch die weiteren relevanten und politisch einflussreichen Personen am Sultanshof zu identifizieren und mit ihnen in Kontakt zu kommen: etwa mit den zeitweise politisch besonders einflussreichen Sultansmüttern oder mit hochrangigen Palastdienern aus dem abgeschirmten Inneren des Topkapı Sarayı.65 Nicht anders als in Wien oder Versailles war deshalb auch im frühneuzeitlichen Istanbul der Aufbau eines effizienten Netzwerks die Voraussetzung für eine erfolgreiche diplomatische Arbeit, und hier wie dort waren Verwandtschaft, Freundschaft und Patronage die grundlegenden Modi sozialer Vernetzung und Vertrauensbildung. Allerdings unterschieden sich die Rahmenbedingungen und die Spielregeln des sozialen Miteinanders im multikonfessionellen Setting der osmanischen Hauptstadt durchaus von den Gepflogenheiten an den christlichen Höfen Europas. Dafür bot sich hier aber auch ein besonders großes und vielfältiges Reservoir an potentiellen Informanten, Spionen und Vermittlern von Kontakten zwischen westlichen Botschaftern und osmanischen Würdenträgern. ▲36 Einen ersten Ansatzpunkt für den Aufbau eines eigenen lokalen Klientel- bzw. Informantennetzwerks bildete für die westlichen Botschafter die jeweils eigene nation, deren Mitglieder häufig bereits seit Generationen vor Ort lebten. Die englischen, französischen, venezianischen und niederländischen Kaufleute und Handwerker, die in Galata/Pera wohnten, waren durch Geschäfts- und Verwandtschaftsbeziehungen nicht nur untereinander, sondern auch mit osmanischen Untertanen unterschiedlicher Konfessionen verbunden. Ihre grenzüberschreitenden personalen Verflechtungen machten sie zu wichtigen Maklern im Prozess der diplomatischen Netzwerkbildung. Die Botschafter wiederum konnten durch geschickte Klientelpolitik diese bestehenden Netzwerke in ihre eigenen integrieren und sie so für diplomatische Zwecke nutzbar machen. 66 Für die westlichen Botschafter in Istanbul gehörten solche Dragoman-Patente zu den wichtigsten Patronageressourcen, weil sie die Möglichkeit boten, sich nicht-muslimische Untertanen des Sultans als Klienten zu verpflichten und so Zugang zu den wichtigen politischen Haushalten im osmanischen Reich zu erhalten. ▲37 Die Logik des Gabentauschs und das Patronageethos bestimmten also auch die diplomatische Netzwerkbildung in Istanbul, und beides war den westlichen Diplomaten aus ihrer eigenen Kultur im Prinzip bestens bekannt.67 Allerdings folgte die konkrete Ausgestaltung hier den Spielregeln der Osmanen, die soziale Beziehungen durch Praktiken des Schenkens ausdrückten. Bereits erwähnt wurden die pflichtgemäßen Geschenke an Amtsinhaber (pīşkeş), die – für europäische Akteure gewöhnungsbedürftig – keine persönliche Beziehung zwischen Schenkendem und Beschenktem stifteten und deshalb auch keine weitergehenden Verpflichtungen seitens des Beschenkten beinhalteten. Insofern waren diese Geschenke nur für die "offizielle" Seite der diplomatischen Netzwerkbildung relevant. Davon klar zu unterscheiden waren Freundschaftsgaben, die ausschließlich der Beziehungsbildung dienten und als eine eigene, wichtige Geschenkkategorie in der osmanischen Kultur ebenfalls begrifflich fest verankert war (hibe). Diese Art des Schenkens hatte eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die diplomatische Praxis, ist allerdings aufgrund ihres informellen Charakters und ihres Übergangs zur Korruption in den Quellen oftmals nur schwer zu fassen.68 Anders als die pflichtgemäßen Geschenke an Würdenträger kam es bei dieser Geschenkkategorie nicht primär auf den materiellen Wert an, sondern auf die Geste des Schenkens selbst. Häufig wurden deshalb Verbrauchsgüter verschenkt, die eher symbolischen als materiellen Wert hatten: bestickte Taschentücher, leicht exotische Lebensmittel, Duftwasser (➔ Medien Link #bf) oder Pharmazeutika. Auf diese Weise ließen sich Kontakte an der offiziellen Amtshierarchie vorbei bis in die unmittelbare Umgebung des Sultans knüpfen.69 ▲38 Istanbul als Zentrum transkultureller diplomatischer Praxis in der Frühen Neuzeit
Zu wahrer Freundschaft mit Europäern seien die Türken nicht fähig, so ließ es Ende des 17. Jahrhunderts der langjährige englische Botschaftssekretär Paul Rycaut (1629–1700) (➔ Medien Link #bg) sein europäisches Publikum wissen.70 Die Verfasser der einschlägigen Traktatliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts ließen keinen Zweifel daran, dass der Botschafterposten in Istanbul eine Zumutung war: Wer von seinem Fürsten an den Sultanshof entsandt wurde, müsse auf jeden Fall mit der "Tyranney und [dem] Hochmuth" der "Türcken" rechnen und sich auf Erniedrigungen und Beleidigungen aller Art einstellen.71 Auch die offizielle diplomatische Korrespondenz bediente spätestens seit dem 17. Jahrhundert immer wieder den Topos der orientalischen Despotie und bewegte sich damit im Diskursfeld der Türkengefahr (➔ Medien Link #bh).72 Vieles spricht dafür, dass dieser Alteritätsdiskurs für die europäischen Diplomaten ein probates Mittel zur Kompensation der symbolischen Erniedrigungen war, die sie im Empfangszeremoniell am Sultanshof ertragen mussten: Nur wenn die Osmanen als Barbaren markiert und damit aus dem Kreis der zivilisierten Völker ausgeschlossen wurden, ließen sich die symbolischen Praktiken am Sultanshof mit dem Ehrverständnis der europäischen Fürstengesellschaft und der dort herrschenden Souveränitätslehre vereinbaren. Die diskursive Abgrenzung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf der Interaktionsebene die osmanisch-europäische Diplomatie jahrhundertelang funktionierte und sich im urbanen Raum der osmanischen Hauptstadt ein Set von transkulturellen Praktiken herausbildete, das die Verständigung über konfessionelle und sprachliche Grenzen sicherstellte. ▲39 Dabei erfüllten für die diplomatische Praxis in Istanbul jene Menschen eine besonders wichtige Funktion, die als Grenzgänger zwischen den Religionen, den Sprachen und den konkurrierenden Imperien der Habsburger, Venezianer und Osmanen vermittelten. In der neueren Forschung wurde der Begriff "transimperiale Subjekte" geprägt, um zu betonen, dass diese Menschen zwar durch Mobilität, Verwandtschaft oder Patronageverhältnisse politische, sprachliche und religiöse Grenzen überschritten, dabei zugleich aber zu deren institutioneller Festschreibung beitrugen, indem sie sich im imperialen Grenz- und Konkurrenzraum auf ihre Expertise für das Fremde und ihre "Andersartigkeit" beriefen.73 Paradigmatisch hierfür waren die Dragomane als institutionalisierte Vermittler in der osmanisch-europäischen Diplomatie; dazu zählten aber eben auch all jene informellen Akteure, die das multikulturelle Umfeld der europäischen Botschaften in Istanbul prägten: befreite Sklaven, Konvertiten, Kaufleute und nicht zuletzt Juden, die wegen ihrer transimperialen Verwandtschaftsnetzwerke (➔ Medien Link #bi) besonders häufig in diplomatischen Kontexten auftauchen.74 In gewisser Weise trifft diese Definition allerdings letztlich auf alle diplomatischen Akteure in Istanbul zu, und zwar bis hinauf zu den Botschaftern, die zumindest in der Kommunikation mit ihren höfischen Auftraggebern genau diese Rolle als Experten der Vermittlung und Agenten einer Institutionalisierung von Grenzziehungen wahrnahmen. Insofern stellt sich die osmanisch-europäische Diplomatie in Istanbul insgesamt als ein wesentlich von transimperialen Akteuren getragener Praxiskomplex dar. ▲40 Christine Vogel (➔ Medien Link #bj) Anhang Quellen Ungedruckt: Archives du Ministère des affaires étrangères (MAE), La Courneuve: Correspondances politiques (CP) Turquie 13, 33; Mémoires et documents (MD) Turquie 105, Nantes: Ambassade de France à Constantinople, Fonds Saint-Priest 166 PO/A/252. Bibliothèque nationale de France (BNF), Paris: Fonds Français (FR) 7162-7175 (Pierre Girardin, Journal de mon ambassade à la Porte). Gedruckt: Duparc, Pierre (Hg.): Recueil des instructions aux ambassadeurs et ministres de France, Paris 1969, vol. 29: Turquie. Heffernan, Teresa u.a. (Hg.): Lady Mary Wortley Montagu: The Turkish Embassy Letters, Peterborough 2013. Lünig, Johann Christian: Theatrum ceremoniale Historico-Politicum, Leipzig 1719, vol. 1. URL: http://nbn-resolving.de /urn:nbn:de:bsz:16-diglit-19481 [2020-08-28]
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