Jahrbuch der gesellschaft für kinder- und jugendliteratur-forschung | gkjf 2017 - gesellschaft für kinder- und ...
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jahrbuch der gesellschaft für kinder- und jugendliteratur- forschung | gkjf 2017 rezensionen | Jahrbuch der GKJF 2017 | 152
Verzeichnis Einzelrezensionen 173 Giesa, Felix: Graphisches Erzählen von Adoleszenz. Deutschsprachige Autorencomics 156 Ansari, Christine (Hrsg.): Adoleszenz in nach 2000 (michael staiger) Medienkontexten. Literaturrezeption, Medienwirkung und Jugendmedienschutz 175 Hahn, Heidi / Laudenberg, Beate / (judith mathez) Rösch, Heidi (Hrsg.): »Wörter raus!?« Zur Debatte um eine diskriminierungsfreie 158 Bachmann, Christian A. / Emans, Laura / Sprache im Kinderbuch (julia benner) Schmitz-Emans, Monika (Hrsg.): Bewegungsbücher. Spielformen, Poetiken, 177 Haug, Christine / Frimmel, Johannes (Hrsg.): Konstellationen (gundel mattenklott) Schulbücher um 1800. Ein Spezialmarkt zwischen staatlichem, volksaufklärerischem 160 Ballis, Anja / Schlachter, Birgit (Hrsg.): und konfessionellem Auftrag Schätze der Kinder- und Jugendliteratur (ortwin beisbart) wiederentdeckt. Frühe Lektüreerfahrung und Kanonbildung im akademischen Kontext 179 Hollerweger, Elisabeth / Stemmann, Anna (ernst seibert) (Hrsg.): Narrative Delikatessen. Kulturelle Dimensionen von Ernährung (sonja loidl) 162 Benner, Julia: Federkrieg. Kinder- und Jugendliteratur gegen den Nationalsozialis- 180 Hopp, Margarete: Sterben, Tod und Trauer mus 1933 – 1945 (linde storm) im Bilderbuch seit 1945 (iris schäfer) 164 Born, Stefan: Allgemeinliterarische 182 Huemer, Georg: Mira Lobe. Doyenne der Adoleszenzromane. Untersuchungen zu österreichischen Kinder- und Jugendliteratur Herrndorf, Regener, Strunk, Kehlmann (andreas schumann) und anderen (lena hoffmann) 183 Josting, Petra (Hrsg.): Andreas Steinhöfel, 166 Börnchen, Stefan: Poetik der Linie. Bielefelder Poet in Residence 2014 Wilhelm Busch, Max und Moritz und die (heinke kilian) Tradition (lukas sarvari) 185 Josting, Petra / Roeder, Caroline / Dettmar, Ute 168 Burwitz-Melzer, Eva / O’Sullivan, Emer (Hrsg.): (Hrsg.): Immer Trouble mit Gender. Gender- Einfachheit in der Kinder- und Jugendlitera perspektiven in Kinder- und Jugendliteratur- tur. Ein Gewinn für den Fremdsprachen forschung und -medien (jana mikota) unterricht (roland alexander issler) 187 Kurwinkel, Tobias / Schmerheim, Philipp / 169 Emde, Oliver / Möller, Lukas / Wicke, Andreas Sevi, Annika (Hrsg.): Michael Ende interme- (Hrsg.): Von »Bibi Blocksberg« bis »TKKG «. dial. Von Lokomotivführern, Glücksdrachen Kinderhörspiele aus gesellschafts- und und dem (phantastischen) Spiel mit Medien- kulturwissenschaftlicher Perspektive grenzen (michael stierstorfer) (anika ullmann) 188 Mikota, Jana / Pecher, Claudia Maria / 171 Ferstl, Paul / Walach, Thomas / von Glasenapp, Gabriele (Hrsg.): Literarisch- Zahlmann, Stefan (Hrsg.): Fantasy Studies kulturelle Begegnungen mit dem Judentum. (maren bonacker) Beiträge zur kinderliterarischen Fach öffentlichkeit (susanne blumesberger) | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 153
190 Müller, Karla / Decker, Jan-Oliver / Krah, Hans / 210 Ruzicka Kenfel, Vejka (Hrsg.): New Trends in Schilcher, Anita (Hrsg.): Genderkompetenz Children’s Literature Research. Twenty-first mit Kinder- und Jugendliteratur entwickeln: Century Approaches (2000–2012) from the Grundlagen – Analysen – Modelle University of Vigo (Spain) (annette kliewer) (susanne blumesberger) 192 Nikolajeva, Maria: Reading for Learning. 212 Schäfer, Iris: Von der Hysterie zur Magersucht. Cognitive Approaches to Children’s Literature Adoleszenz und Krankheit in Romanen (sabine fuchs) und Erzählungen der Jahrhundert- und der Jahrtausendwende (philipp schmerheim) 194 Paul, Lissa / Johnston, Rosemary R. / Short, Emma (Hrsg.): Children’s Literature 214 Scherer, Gabriela / Volz, Steffen (Hrsg.): and Culture of the First World War. Im Bildungsfokus: Bilderbuchrezeptions (julia benner) forschung (margarete hopp) 195 Payrhuber, Franz-Josef / Meier, Bernhard 216 Schmitt, Susann Sophie: Nachwuchs für die (Hrsg.): Franz, Kurt: Kinderlyrik. Geschichte, Literatur. Kinder- und Jugendprogramme Formen, Rezeption (ludger scherer) ausgewählter Literaturhäuser Deutschlands, Österreichs und der Schweiz 197 Payrhuber, Franz-Josef: Gedichte entdecken. (renate grubert) Wege zu Gedichten in der ersten bis sechsten Klasse (andreas schumann) 217 Seelinger Trites, Roberta: Literary Conceptu- alizations of Growth. Metaphors and Cogni 198 Pohlmann, Carola (Hrsg): Kinder- und tion in Adolescent Literature (iris schäfer) Jugendliteratur. Sammeln und Erwerben (wolfgang wangerin) 219 Seifert, Martina: Die Bilderfalle. Kanada in der deutschsprachigen Kinder- und Jugend 200 Pompe, Anja (Hrsg): Kind und Gedicht. literatur: Produktion und Rezeption Wie wir lesen lernen (sabine planka) (heinz-jürgen kliewer) 222 Stein, Daniel / Thon, Jan-Noël (Hrsg.): 202 Preindl, Nadia: Russische Kinderliteratur From Comic Strips to Graphic Novels. im europäischen Exil der Zwischenkriegszeit Contributions to the Theory and History of (verena rutschmann) Graphic Narrative (anna stemmann) 204 Richter, Karin: Die Kinder- und Jugend- 223 Tomberg, Markus (Hrsg.): Alle wichtigen literatur der DDR. Entwicklungslinien – Bücher handeln von Gott. Religiöse Spuren Themen und Genres. Autorenporträts in aktueller Kinder- und Jugendliteratur und Textanalysen (maria becker) (martin anker) 206 Riemhofer, Andra: Interkulturelle Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. Lesen auf eigene Gefahr (roger meyer) 208 Roeder, Caroline (Hrsg.): Himmel und Hölle. Raumerkundungen – interdisziplinär & in schulischer Praxis (claudia blei-hoch) | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 154
Sammelrezensionen 225 Anders, Petra / Staiger, Michael (Hrsg.): Serialität in Literatur und Medien. Bd. 1: Theorie und Didaktik; Bd. 2: Modelle für den Deutschunterricht. – Reimer, Mavis / Ali, Nyala / England, Deanna / Unrau, Melanie Dennis (Hrsg.): Seriality in Texts for Young People. The Compulsion to Repeat (sonja loidl) 227 Richter, Karin / Fuhs, Burkhard: Erich Kästners literarische Welten und ihre Verfilmungen. »Emil und die Detektive« und »Die Konferenz der Tiere« im historischen und medialen Kontext. Modelle und Materialien für den Literaturunterricht (Klasse 3 bis Klasse 7) unter Mitarbeit von Susanne Heinke und Leonore Jahn. – Schmideler, Sebastian / Zonneveld, Johan (Hrsg.): Kästner im Spiegel (sonja müller-carstens) 230 Weiss, Simone: Sick-Lit. Untersuchung eines Phänomens. – Holst, Nina / Schäfer, Iris / Ullmann, Anika (Hrsg.): Narrating Disease and Deviance in Media for Children and Young Adults: Krankheits- und Abweichungsnarra tive in kinder- und jugendliterarischen Medien. – Foss, Chris / Gray, Jonathan W. / Whalen, Zach (Hrsg.): Disability in Comic Books and Graphic Narratives (philipp schmerheim) | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 155
gegenstand? Stellen Medien ein Gefährdungs- potenzial für Kinder und Jugendliche dar, und wie soll ein wirkungsvoller Jugendmedienschutz ausgestaltet sein? Diesen Fragen gehen die Aufsät- ze in dem vom Christine Ansari herausgegebenen Sammelband nach. Er ist entstanden im Rahmen einer internationalen Arbeitstagung zum Thema »Kinder und Jugendliche in Literatur, Medien und Unterricht«, die anlässlich des 60. Geburtstags von Achim Barsch stattfand. Hans Merkens zeichnet quasi präludierend nach, wie die Sozialwissenschaften den Jugendbegriff im Lauf des 20. Jahrhunderts ausgebildet haben. Besonderes Augenmerk legt er auf das Jugendal- ter im Spannungsfeld zwischen Transition und Moratorium sowie zwischen Protest und kreativer Innovation. Norbert Groeben hält unter dem Titel »Das erzählende Sachbuch als eierlegende Woll- milchsau der Literaturdidaktik« ein Plädoyer für die Berücksichtigung dieses jugendliterarischen Ansari, Christine (Hrsg.): Adoleszenz in Medien Genres für den schulischen Unterricht. Nicht nur kontexten. Literaturrezeption, Medienwirkung legt er dar, wie mit diesen Texten die Lernziele und Jugendmedienschutz. Frankfurt a. M.: Lang, des Literaturunterrichts erreicht werden können, 2016 (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und sondern weist auch darauf hin, dass so auch männ- -medien. Theorie – Geschichte – Didaktik; 102). liche Jugendliche und SchülerInnen aus bildungs- 256 S. fernen Schichten besser erreicht werden können. Historischen Sachtexten wendet sich Endre Hárs in K indheit und Jugend findet immer auch in Auseinandersetzung mit Medien statt. Das ist nicht erst seit einigen Jahren oder Jahrzehnten der seinem Beitrag zu medienarchäologischen Aspek- ten von Naturgeschichten für Kinder und Jugend liche um 1800 zu. Géza Gárdonyi vollzieht detail- Fall, sondern schon seit Jahrhunderten. Welche Me- liert die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte dien dabei eine gewichtige Rolle spielen, wie diese des ungarischen Klassikers Sterne von Eger nach. ausgestaltet sind und welche Chancen und Risiken Dieser wurde breit rezipiert und erfuhr vielgestal- Erwachsene in ihnen sehen, ist im Lauf der Zeit tige mediale Umformungen: Der ursprüngliche allerdings starken Veränderungen unterworfen. Zeitungsroman von mehr als 120 Folgen wurde Die Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich später als Buch aufgelegt, erschien aber auch als mit der Zeit um 1800 ebenso wie mit den neuesten Comic, als Bildband Rollfilm, als Kinofilm, Musical Entwicklungen im Bereich der sozialen Medien und digitales Spiel. und der digitalen Spiele: Die Actionspielserie Unter dem Titel »Jugend ohne Plot« nähert sich Grand Theft Auto findet ebenso Erwähnung wie die Andreas Wicke dem Thema der Adoleszenz aus Naturgeschichte von Georg Christian Raff mit den literaturwissenschaftlicher Sicht an. Er schlägt einleitenden Worten »Was Neues für euch, Liebe einen Bogen zwischen den Spezifika der Jugend- Kinder! Ein Buch mit Bildern von allerhand kleinen phase der Zeit um 1900 und deren Abbild in Arthur und großen Thieren, von Bäumen, Pflanzen und Schnitzlers Dramenzyklus Anatol. Die radikale Kräutern, und vielen andern Dingen aus der Natur- Gegenwarts- und Ichbezogenheit – nicht selten geschichte.« (70) heutigen Jugendlichen wegen ihres Umgangs Doch welche Rolle spielen Medien als Sozialisati- mit sozialen und mobilen Medien vorgeworfen – onsinstanz, als didaktisches Mittel, als Unterrichts- kumulieren zu Beginn der letzten Szene von | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 156
Anatol, in der der Protagonist sagt: »Ich bin heute senschaft und Medienpädagogik etabliert ist, nicht entschieden nicht in der Stimmung zum Heiraten. gerecht wird. Helmut Schanze macht sich unter der Ich möchte absagen.« (96) Gegenwärtiger Jugend- Ausgangsfrage »Machen Medien dumm?« für literatur, deren Darstellung von Adoleszenz und einen interaktiven und produktiven Medienum- ihres literaturdidaktischen Potenzials wendet sich gang stark. Judit Szabó legt eine profunde Analyse Gudrun Marci-Boehnke in ihrem differenzierten rund um gewalthaltige Videospiele, im Speziellen Beitrag zu. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen First Person Shooter, vor. Dabei berücksichtigt ist Nicolai Lilins Sibirische Erziehung. Christoph sie sowohl die psychologische Forschung als auch Müller untersucht aus linguistischem Blickwinkel medientheoretische Zugänge. Sie legt dar, dass die Adressierung in verschiedenen an Kinder und moralische Bedenken gegen solche Spiele häufig Jugendliche gerichteten Medienerzeugnissen: in in Unkenntnis der medialen Spezifika von Games Fotoromanen, der Kinderhörspielreihe TKKG sowie gründen und schließt mit einer differenzierten in Jugendromanen. Sicht auf die kulturelle Darstellung von Gewalt. Die letzten Beiträge des Sammelbandes kreisen um Den Schluss der Beiträge bildet ein Projektbericht Fragen von Medienwirkung(en) und Jugendme- von Christine Ansari. Neben Ausführungen zum dienschutz. In seinem »Praxisbericht einer Landes- Medienkompetenzbegriff werden die Resultate medienanstalt« führt der Jurist Wolfgang Thaenert einer quantitativen Befragung zur Mediennutzung in den »Jugendmedienschutz als Risikomanage- von SchülerInnen der Sekundarstufe 1 präsentiert. ment« (179) ein. Er klärt Begriffe, stellt Akteure wie Der Sammelband unter der Klammer »Adoleszenz die Kommission für Jugendmedienschutz und ihre in Medienkontexten« bildet ein Stückweit die brei- Aufgaben vor und zeigt Herausforderungen auf: te Forschungs- und Lehrtätigkeit von Achim Barsch Beispielsweise können Anbieter von Internet- ab. Die Setzung mehrerer Schwerpunkte erlaubt Inhalten, die außerhalb Deutschlands ansässig eine vertiefte Beschäftigung mit dem Gegenstand, sind, nicht so leicht zur Verantwortung gezogen der gewählte interdisziplinäre Zugang ist angemes- werden. Auch Achim Barsch selbst hat einen sen und macht die thematische Breite sichtbar. Beitrag beigesteuert: »Medienwissenschaftliche Für ein rascheres Erschließen der Inhalte wäre Problematisierung des rechtlichen Jugendmedien- eine Zusammenfassung der Beiträge zu Themen schutzes«. Ausgehend von der Annahme, dass schwerpunkten hilfreich gewesen. Die Artikel rechtlicher Jugendmedienschutz und Literatur bieten vielfältige didaktische Anregungen und zwei verschiedene Systeme darstellen, legt er eine Skizzen für den Literatur- oder Medienunterricht, erhellende systemtheoretische Analyse vor. Dabei obwohl sie nicht für eine direkte Umsetzung in der arbeitet er Konfliktbereiche heraus wie beispiels- Schule konzipiert sind. Christine Ansari gelingt weise die von Jugendschützern vertretene Auffas- mit dem Sammelband ein nuancierter Blick auf ein sung von passiven RezipientInnen, die dem akti- hochaktuelles Themenfeld. ven Bild von Medienrezeption, die in Medienwis- judith mathez | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 157
August Bibliothek veröffentlicht: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Im gleichen Jahr erschien in den USA die umfang- reiche Monographie Pattern Poetry. Guide to an Unknown Literature von Dick Higgins, der auch nicht-europäische Schriftbilder einbezieht. Beides sind grundlegende und wegweisende Arbeiten zum Thema der visuellen Literatur, die mit den Pop-ups verwandt ist, wenn auch vielleicht eher entfernt. In seinem Beitrag konzentriert sich Ernst auf Kasualdrucke des 17. und 18. Jahrhunderts. Zugunsten der Titelformulierung »Präformationen des Pop-up-Buchs« verweist er am Ende seines Aufsatzes auf Gemeinsamkeiten zwischen gekleb- ten, beschriebenen und gefalteten Papierseiten und den heutigen Pop-up-Büchern. Würde ich durch das Buch wie durch eine hier und da aufspringende Landschaft führen, hätte ich die Reihenfolge der Aufsätze geändert und auf den zweiten Platz nach Ulrich Ernst den Beitrag Bachmann, Christian A. / Emans, Laura / des Kunstwissenschaftlers Christoph Benjamin Schmitz-Emans, Monika (Hrsg.): Bewegungsbücher. Schulz gestellt. (Jetzt steht er am vorletzten Platz, Spielformen, Poetiken, Konstellationen. Berlin: was wohl den Unterschied zwischen Literatur- und Christian A. Bachmann Verlag, 2016. 235 S. Kunstwissenschaft betonen soll, der sich aber bei den hier zentralen Themen überwiegend auf- D er vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer Tagung zum Titel »Raum – Zeit – Falten«, die 2014 in der Ruhr-Universität Bochum löst.) Schulz beginnt mit dem Spätmittelalter und knüpft dadurch an Ernsts Text an. Er kennt sich in den vielen Bereichen aus, die mit den Pop-up- im Rahmen eines DFG-geförderten Forschungspro- Werken zu tun haben, und vermag die zwischen jekts stattfand. Der Titel des Forschungsprojekts Kuriositäten, Kunsthandwerk, bildender Kunst, lautet: »Das Künstlerbuch als ästhetisches Experi- Abstraktion, Erzählung und Literatur oszillierende ment: Geschichte und Poetik einer hybriden Gat- Welt dieser Bücher, die kaum je einer einzigen tung«. Es wird geleitet von Monika Schmitz-Emans Kunst zuzuordnen sind, bis in die Gegenwart über- und Ulrich Ernst. Thema der Publikation sind in zeugend vorzustellen. Er verfügt über historisches weitem Sinn das Buch und sein Medium Papier, in und gegenwärtiges überfachliches Wissen, und engerem Sinn die in Bücher eingeklebten Papier- es gelingt ihm eine vertiefende Darstellung der seiten oder -gegenstände, die z. B. Briefe, Mittei- abstrakten Papier-Kunst, für die David Carter als lungen und Geheimnisse aufbewahren und stets einer der bekanntesten Künstler einsteht. von Neuem das Verborgene sichtbar machen und Peter Goßens, Professor an der Ruhr-Universität wieder verbergen. Bochum, durchsucht in einem offenen Bereich Abgesehen von den »Vorbemerkungen« der drei vom Spätmittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert HerausgeberInnen, Christian A. Bachmann, Laura Bücher, Fibeln und auch Spielzeug nach allen Emans und Monika Schmitz-Emans, enthält der lehrreichen Dingen, die durch kluge Eingriffe in Band neun Beiträge. Die erste und umfangreichste Bewegung geraten und Kinder anregen, belehren Gruppe mit vier Beiträgen weist zurück bis ins und erfreuen können. Bei aller Anerkennung für 17. Jahrhundert. Den Anfang macht Ulrich Ernst. die sorgfältige Arbeit scheint mir die Gefahr zu Er hat 1987 gemeinsam mit Jeremy Adler den bestehen, dass alles ohne Unterschied zum Pop-up beeindruckenden Ausstellungskatalog der Herzog wird: »Wie werden Pop-ups im 19. Jahrhundert | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 158
genannt?« (69) heißt es, so als wäre alle Welt voll schungseffekte, »Trickwelten«. Es folgen eine Reihe von ihnen, sie wussten es nur noch nicht. von Überlegungen und Beispiele zum Thema »Bü- Christian A. Bachmann, Verleger des Sammel- cher über das Buch« u. a. »Buchmetaphern« und bandes, legt mit »Raum – Zeit – Performanz« »Buch-Räume«. An dieses Kapitel schließt die Au- ambitionierte Überlegungen zu »einer Ästhetik torin ihren zweiten Beitrag an: »Das Buch als Spiel- beweglicher Bücher am Beispiel von Werken Raum«. Sie verweist auf E.T.A. Hoffmanns Märchen Lothar Meggendorfers« vor. Er orientiert sich in Klein Zaches (1819), in dem der Prosper Alpanus der Einführung anfangs an Lothar Müllers Buch etwas in seinen Folianten sucht; diese sind voll Weiße Magie. Die Epoche des Papiers (2012), in der von Kupfertafeln, aus denen, wenn es der Magus der Autor überzeugend darauf verweist, dass die gestattet, Zwerge, Alraune und Unholde springen, Geschichte des Papiers weit früher beginnt als die die aber, wenn er weiterblättert, sofort wieder in Gutenbergs und dass das Papier das entscheiden- ihr Bild zurückkehren müssen. Spielen bei E.T.A. de Medium der Moderne sei. In der Folge unter- Hoffmann Geheimnis, Magie und Phantasie wich- sucht Bachmann anhand einiger Papier-Arbeiten, tige Rollen, bis die Liebe endlich erfüllt ist, so steht wie Meggendorfer seine Figuren und Szenen in bei Hans Christian Andersen die Nostalgie uner- Bewegung setzt, wie er sie zum Sprechen bringt, füllter Liebe im Mittelpunkt: Selbst der mutigste wie er sie »performen« lässt. (144) Für diese letzte Zinnsoldat kann die geliebte Papierfigur-Tänzerin Bezeichnung treibt der Autor einen bedeutenden nicht vor dem Feuer bewahren. Diese und weitere Aufwand, indem er nicht nur Martin Heidegger, Verbindungen, Verwandte wie Kritiker, von Don Ludwig Wittgenstein, Doris Kolesch und Annette Quijote bis zu Jorge Luis Borges und Italo Calvino Jael Lehmann sowie Michel de Certeau zur Unter- und schließlich zu Walter Benjamin, verknüpfen mauerung seiner Überlegungen herbeiruft, son- die Pop-up-Kunst und ihre Papieringenieure mit dern auch noch Roland Barthes, Marcel Proust und der Literatur mehrerer Jahrhunderte. Stendhal, alles auf drei Seiten. Das hätte sich selbst Laura Emans und Hannah Wagener stellen je ein der einfallsreiche Meggendorfer kaum träumen einzelnes Pop-up-Buch vor. Laura Emans hat das lassen. Buch des chinesischen Papieringenieurs Kit Lau Zwei inhalts- und informationsreiche Beiträge gewählt, der Miniaturen der frühen Wohnräume veröffentlicht Monika Schmitz-Emans. In »Zu seiner nach Hongkong eingewanderten Großmut- Geschichte, Spielformen und Poetik des beweg ter zwischen die Seiten des Buchs eingebaut und lichen Buchs« klärt sie gleich in der ersten Fußnote seine Kindheitserinnerungen vom Gewimmel der die etwas vage Bezeichnung der »Bewegungsbü- Großstadt und der Enge des Raums mit fächerartig cher«, die »dazu einladen, Teile des Buchs durch geschnittenen Papieren gestaltet hat. Hannah Bedienung einzelner Konstruktionseinheiten auf Wagener stellt die Spielart des Literatur-Comics spezifische Weise zu bewegen« (85). Anknüpfend vor, der die Betrachter und Leser mit Splash an die Darstellung von Ulrich Ernst fasst sie kurz Panals in eine der Erzählung angemessene Atmos die Geschichte beweglicher Bücher im späten phäre versetzt und dann mit dramatisierenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zusammen. Pop-up-Figuren die Ereignisse vorantreibt. Das Es folgt die eigentliche Epoche der Literatur- und mag z. B. ein zorniger Zeus sein, der sich mit »Öff- Theaterwelt als papierne Bewegungs-Ästhetik im nen einer seitengroßen Klappe« entfaltet und bei späten 18. und im 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit dem der Leser/Betrachter so lange verweilen kann, war die Entdeckung der Kindheit im bürgerlichen wie er/sie will. Familienleben angekommen: mit Kinderzimmer, Im letzten Kapitel fragt Viola Hildebrand-Schat Märchen, Kindergedichten und Papiertheater. Was nach den LeserInnen: Wie verändert das Wechsel- das Spielzeug betraf, so fiel sein Höhepunkt in spiel von zwei- zu dreidimensionalen Buchformen die zweite Jahrhunderthälfte: Das war die Zeit der ihr Lektüreverhalten? In welchem Maße irritieren Bücher mit aufregenden Geheimnissen, mit Türen plötzlich aufspringende Faltungen? Wie wird und Fenstern, die man öffnen konnte und hinter die Irritation von Leporellos oder Büchern wie denen sich verborgene Welten bewegten: Überra- Raymond Queneaus Cent mille millards de poèmes | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 159
(1961) verarbeitet? Die Autorin weist darauf hin, dass Texte auch in früheren Epochen nicht »rein linear konzipiert« waren und führt die Überlegun- gen weiter an Beispielen von computergenerierten Gedichten wie von Künstlerbüchern, die in diesen Hinsichten die größte experimentelle Freiheit haben und sie nutzen. Insgesamt bietet der Sammelband eine Vielzahl von anregenden und offenen Fragen. Nicht Ferti- ges und Abgeschlossenes steht im Zentrum, son- dern Neugier und Experiment – insofern dürften die AutorInnen offen für Fragen und Anregungen sein, z. B.: Welche Bedeutung kommt charakteris- tischen Klängen von Pop-up-Büchern zu, insbe- sondere dem Klang von Carters weißem Rauschen (2009) und vergleichbaren abstrakten Gebilden? Welche Bedeutung kommt den heute so zahlrei- chen Alphabet-Büchern zu, vor allem im Vergleich der traditionellen mit den Pop-ups, z. B. Marion Batailles ABC 3D (2008)? Ist es Programm oder Zufall, dass die Künstlerin Květa Pacovská, die Ballis, Anja / Schlachter, Birgit (Hrsg.): Schätze immerhin 1991 mit dem Deutschen Jugendlitera- der Kinder- und Jugendliteratur wiederentdeckt. turpreis ausgezeichnet worden ist, nicht erwähnt Frühe Lektüreerfahrung und Kanonbildung im wird, sie, die spielerische Formen der klassischen akademischen Kontext. Frankfurt a. M.: Lang, 2016 Moderne mit Faltungen und zu öffnenden Fens- (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien. tern kombiniert und in deren Büchern drehbare Theorie – Geschichte – Didaktik; 98). 284 S. Kreise und Spiegel, löchrige Flächen und hervor- springende Nasen auftreten? Und schließlich trivial: Schade, dass am Ende die übliche Liste der AutorInnen fehlt. D ie vierzehn Beiträge dieses Bandes, eingeleitet durch ein ausführliches Vorwort der Heraus- geberinnen, gehen auf eine an der Pädagogischen gundel mattenklott Hochschule Weingarten gehaltene Ringvorlesung im Wintersemester 2013/14 zurück. Die Vorlesung stand unter dem Titel »Weißt du noch? Kennst du noch? Vergessene und wiederentdeckte Schätze der Kinder- und Jugendliteratur«. Im Gegensatz zu naheliegenden Konnotationen, die insbesondere der Untertitel des Buches hervorruft, ist mit »Kanonbildung« nicht ein mehr oder minder allge- mein gültiges Textkorpus gemeint, das gemeinhin auch mit dem Klassiker-Begriff angesprochen wird, sondern vielmehr ein sehr individueller Fun- dus erster erinnerter Lesetexte, der mit »frühe Leseerfahrungen« gemeint ist. Es geht also um sehr persönliche und private, meist unreflektierte, oft auch verschüttete oder verdrängte Lektüre eindrücke, die unter Umständen literarische Prägungen zur Folge haben, die allerdings erst im Zuge einer Relektüre, also beim Wiederlesen als | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 160
Erwachsener, in ihren prägenden Dimensionen früher Leseerfahrungen gegeben ist. Interessant (wieder) zu Bewusstsein kommen. Eine solche scheint dabei – und nicht nur am Rande – festzu- Relektüre, zumal verbunden mit der Absicht, stellen, dass unter den ersten sechs der chronolo- kindliche Leseerfahrung in späteren Jahren sehr gisch gereihten BeiträgerInnen fünf männlichen bewusst zu wiederholen, ist allerdings eher selten. Geschlechtes sind und die folgenden acht aus- Sie eben deshalb Kinderbuchfachleuten quasi schließlich weiblich. Es widerspiegelt sich darin, als Selbsterfahrung anheimzustellen, ist die sehr beginnend mit Angelika Nix und Svenja Blume, der originelle Grundidee zu dieser Vorlesung; sie ist durchaus objektiv feststellbare Übergang von einer originell und gleichermaßen durchaus produktiv, überwiegend männlichen zu einer fast vollständig insofern in den reflektierenden Rückerinnerungen weiblichen Generation von RepräsentantInnen vor allem Grundeinstellungen zur Kinder- und in der Lehre wie auch in der Forschung zur Kinder- Jugendliteratur, oft sogar zur Literatur im Allge- und Jugendliteratur. Ebenfalls am Rande sei meinen als Ergebnisse lang anhaltender Nachwir- bemerkt, dass man in diesen Kurzvorstellungen kungen früher Lektüre erkennbar werden. Dieser zwar einiges über die frühe Leseerfahrung der Be- Erfahrungsprozess ist um so interessanter, als es treffenden erfährt, mit einer Ausnahme (Michael sich bei den (Re-) Lektüren der BeiträgerInnen Penzold) auch das Geburtsjahr, jedoch nichts zum mehrheitlich eben nicht um gängige sogenannte wissenschaftlichen Werdegang der Personen oder Klassiker handelt, sondern oft auch um weniger zu ihren Publikationen. Da leider auch ein Anhang bekannte Werke, die aber individuell sogar prä- mit Kurzbiographien der BeiträgerInnen fehlt, gender werden können als die Standardwerke des existiert hier bedauerlicherweise eine auffällige allgemeinen Repertoires. Leerstelle. Das über 16 Seiten sich erstreckende Vorwort von In einem abschließenden dritten Abschnitt, der Anja Ballis und Birgit Schlachter begründet in ei- mit »Zusammenschau« überschrieben ist, werden nem ersten Abschnitt die hier genannten Aspekte die Beiträge vorweg einer Auswertung unterzogen. zum einen mit Hinweisen auf Zitate Literaturschaf- Wesentlicher Ausgangspunkt ist dabei, dass die fender, die ähnliche Erfahrungen thematisieren, Auswahl des für eine Lehrveranstaltung Für-wich- andrerseits, gleich zu Beginn, mit dem Hinweis auf tig-Gehaltenen meist sehr persönlicher und durch- die »große Unübersichtlichkeit« (7) der Kinder- aus gefühlsmäßiger Wertung unterliegt, die jedoch und Jugendliteratur, der gegenüber Lehrende oft in der Vermittlung an die Studierenden hintan ge- sehr willkürlich und ohne systematisch fundierte halten und nicht offengelegt wird. Was als »Schatz« Begründung eine Auswahl für ihre Lehrveranstal- präsentiert wird, beruht meist auf privater Aus- tung treffen. Der in dieser Feststellung implizit wahl und wird in der Lehre einer Objektivierung mitklingende Vorwurf hat sicher seine Berechti- zugeführt, die deshalb nicht unzulässig sein muss, gung; auf diese Weise komme es nicht selten dazu, jedoch in der Vermittlung des Zwischenstadiums dass vermeintlich objektive Kanonisierungen in der kritischen Reflexion bedürfte. Wirklichkeit auf sehr subjektive Auswahlprozesse Das hier dargestellte (wenngleich im Vorwort nicht zurückgehen; im Verweis auf Bettina Kümmerling- eigens thematisierte) Konzept zum Aufbau des Meibauer ist von »heimlichen Kanonisierungsten- Buches in chronologischer Folge nach Geburts- denzen« (9) die Rede. In einem zweiten Abschnitt jahrgängen der Beitragenden lässt fast erwarten, des Vorwortes werden die Beiträge und ihre Verfas- dass sich daraus auch eine Chronologie der jeweils serInnen vorgestellt, und zwar, wie auch dann in ausgewählten Texte abzeichnet. Dies bestätigt sich den Beiträgen selbst, in chronologischer Reihung gleich beim ersten, von Kurt Franz stammenden nach dem Lebensalter, beginnend mit Kurt Beitrag mit der Wahl einer Kalendergeschichte Franz, Jahrgang 1941, bis zu den Jüngsten, Mirjam von Johann Peter Hebel (1811). Die erwähnte signi- Burkard, Katharina Prestel und Mirijam Stein- fikante Differenzierung in eine ältere, fast durch- hauser, 1983, 1985 und 1986 geboren, womit das wegs männliche und eine jüngere, ausschließlich Altersspektrum sich über drei Generationen er- weibliche Gruppe lässt weiterhin vermuten, dass es streckt, und damit auch eine erhebliche Bandbreite auch in der Auswahl der jeweiligen Primärliteratur | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 161
Präferenzen bezüglich weiblicher und männlicher Autorschaft gibt. Auch dies bestätigt sich inso- fern, als in der überwiegend männlichen Gruppe der älteren sechs Beiträger mit einer Ausnahme nur männliche Autoren zur Diskussion stehen, nämlich Johann Peter Hebel, Adrianus Michiel de Jong, Howard Pyle, Nikolaus Piper und Karl May; die einzige weibliche Autorin wird von Ulf Abraham dargestellt. In der Gruppe der jüngeren, ausschließlich weiblichen Beiträgerinnen ist das Bild etwas differenzierter: Angelika Nix, Svenja Blume, Jana Mikota und Nazli Hodaie, also die in den frühen 1970er Jahren Geborenen, wählen ausschließlich Autorinnen; Cornelia Rémi, Mirjam Burkard, Katharina Prestl und Mirijam Steinhau- ser, die jüngsten, Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre Geborenen haben, als gäbe es eine Gegenbewegung, wieder männliche Autorschaft zum Gegenstand ihrer Überlegungen, sie behan- deln AutorInnen von Elsa Beskow über Enid Blyton bis Josef Guggenmoos. Bei Steinhauser finden auch Benner, Julia: Federkrieg. Kinder- und Jugend österreichische Autorinnen Erwähnung, nämlich literatur gegen den Nationalsozialismus 1933–1945. Mira Lobe, Vera Ferra-Mikura und Heinz Janisch; Göttingen: Wallstein, 2015 (Göttinger Studien Friedrich Feld wird in einer Liste (274) leider Eng- zur Generationsforschung; 18. Veröffentlichungen land zugeordnet. des DFG-Graduiertenkollegs »Generationen Auch diese Präferenzen sind auffällig, sollten aber geschichte«). 414 S. auch nicht überinterpretiert werden; interessant erscheinen allemal die einzelnen Zugänge, wie etwa der von Ulf Abraham, der nur exemplarisch hervorgehoben sei: Seine Überlegungen konzent- P osition gegen den Nationalsozialismus bezie- hende, erzählende und ›engagierte Literatur‹ für Kinder und Jugendliche, von deutschspra- rieren sich auf eine Autorin (Ursula K. Le Guin), chigen Autorinnen und Autoren zwischen 1933 die in ihrem 85. Lebensjahr 2014 in den USA und 1945 geschrieben und veröffentlicht, ist den National Book Award erhielt. Er stellt sich Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit damit in exemplarischer Weise der Aufgabe, auf von Julia Benner, die zugleich ihre Dissertations Zusammenhänge in poetologischer Genese schrift ist und 2015 mit dem Christian-Gottlob- aufmerksam zu machen, die in den sehr gegen- Heyne-Preis 2015 ausgezeichnet wurde. Keine wartsbezogenen Genrediskussionen, wie in diesem ›bekehrende‹, sondern ›bestärkende‹ Literatur ist Fall der Fantasy, meist völlig außer Acht bleiben. die erzählende Kinder- und Jugendliteratur, um Ähnliches gelingt in mehreren Beiträgen, die, gleich eines der Forschungsergebnisse zu nennen. ausgehend von ihrem jeweiligen Einzelfall, jeweils Kommunisten, Sozialisten, Juden, Christen, ver- Entwürfe kleiner Gattungsgeschichten entwerfen. schiedene Gegner des Nationalsozialismus führten Insofern ist der Band auch als eine Sammlung in einem geschriebenen Widerstand den im Titel aleatorischer Genreanalysen gewinnbringend zu bezeichneten Federkrieg, weil sie die kindlichen lesen. und jugendlichen Leser für ihre eigenen Werte und ernst seibert Ziele einnehmen und nicht allein der Propaganda der Nationalsozialisten aussetzen wollten. So ent- standen in Deutschland und in den Ländern des Exils regimekritische Kinder- und Jugendbücher, | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 162
in denen im Sinne ihrer Verfasser ideologische der Produktion von Kinder- und Jugendliteratur Gegenentwürfe formuliert wurden und somit zu- zwischen 1933 und 1945 ist das dritte Kapitel gewid- gleich gegen den Nationalsozialismus angeschrie- met. Die Autorin geht näher auf die Literaturlen- ben wurde. Die vorliegende Arbeit mit literatur kung im Deutschen Reich in diesem Zeitraum ein wissenschaftlichem Schwerpunkt, interdisziplinäre und zeichnet den schweren Stand nach, den die und komparatistische Elemente einbeziehend, kontrafaschistische Kinder- und Jugendliteratur zeigt ein großes Kaleidoskop vielschichtiger dort innehatte, beleuchtet die Kinder- und Jugend- (Erzähl-)Texte, die teilweise längst in Vergessenheit literatur des Exils und ihr literarisches Spektrum, geraten sind und das die Varianz des geschriebenen womit zugleich große Teile dieses Textkorpus Widerstands, auch in seinem jeweils länderspe überhaupt erst wieder erschlossen bzw. in Erinne- zifischen und entstehungsbedingten Umfeld, rung gebracht werden. Die heterogenen Umstände spiegelt. Die Forschungsfrage umfasst, wie dieses und die großen Unterschiede der Anpassung, z. B., kinder- und jugendliterarische Textkorpus beschaf- um die Zensur zu überstehen, innerhalb der kon- fen war, welche ideologischen Diskurse in ihm trafaschistischen Literatur zwischen den einzelnen aufgegriffen, wie durch Kinder- und Jugendlitera- Ländern wie der Tschechoslowakei, den Nieder- tur Ideologien transportiert und jüngeren Lesern landen, Frankreich, Großbritannien, der Schweiz, – die erwachsenen (Mit-)Leser oft mit berück Schweden und Norwegen, der Sowjetunion, den sichtigend – vermittelt wurden, welche narrativen USA, Argentinien und Mexiko werden hier in be- Strategien verwendet, welcher literarischer Mittel eindruckender Weise herausgearbeitet, mit einem sie sich bediente, unter welchen Schwierigkeiten Schwerpunkt auf einer mehr methodisch quanti- Autoren schreiben und unter welchen Bedingun- tativen Arbeitsweise. Benner beschreibt auch die gen Verlage publizieren konnten. sehr unterschiedlichen Publikationsbedingungen Die Untersuchung ist in fünf Kapitel gegliedert. in den jeweiligen Ländern und die schwierigen Nach dem Vorstellen des Forschungsstandes Lebensumstände durch Exil- und Asylbedingun- werden im ersten Kapitel literaturtheoretische gen der heterogenen Gruppe von Autorinnen und Überlegungen zum ›engagierten Schreiben‹ Autoren. Im vierten Kapitel untersucht die Auto- und dem ideologischen Gehalt von Kinder- und rin durch einen qualitativen Ansatz und in ›close Jugendliteratur angestellt. Die Autorin bestimmt in readings‹ in vier ausführlichen Literaturanalysen diesem Kapitel, und das zählt zu einem der vielen exemplarische Texte und ihre Überzeugungsstrate- positiven Aspekte ihres sorgfältig erarbeiteten gien und Argumentationsweisen hinsichtlich ihres Forschungsbeitrags, die grundlegenden verwende- spezifischen Standpunktes gegen den National ten Begriffe genau. Die kontrafaschistische Litera- sozialismus. Die Diversität der untersuchten tur ordnet sie in ihrer jeweiligen Stellungnahme Texte wählt sie bewusst. Es handelt sich um Pierre zum Nationalsozialismus einer expliziten, implizi- Keeps Watch von Maria Gleit, 1944 in den USA ten und camouflierten Ausrichtung zu, Letztere zu publiziert, Die Erlebnisse und Abenteuer der Kinder verstehen als Strategie literarischer Ummantelung aus Nummer 67, auch kurz Kinderodyssee genannt, für von den Nationalsozialisten tabuisierte Positi- von Lisa Tetzner, zwischen 1932 und 1947 in neun onen und Aussagen und zum Schutz der Autoren Bänden veröffentlicht, Die rote Zora und ihre selbst, ohne die Kritik nicht möglich wäre. Wichtig Bande von Kurt Held, 1941 bei Sauerländer erschie- ist ihr die Einbettung der Texte in ihren jeweiligen nen, und Das Knabenschiff von Fritz Rothgießer, historischen Zusammenhang. Sie bezieht daher in 1936 in Deutschland im Philo-Verlag publiziert. ihre Untersuchung eine große Zahl von Selbstzeug- Im fünften Kapitel unterzieht Benner die Ergebnis- nissen, Rezensionen und weiteren Quellen über se ihrer Einzelanalysen einem Vergleich. Im Fazit die Primärquellen hinaus ein. Das zweite Kapitel wird deutlich, die untersuchten erzählenden Texte, befasst sich damit, inwieweit das Kinder- und die sich dezidiert gegen den Nationalsozialismus Jugendbuch als »ideologische Waffe« eingesetzt wenden, sind ebenso unterschiedlich wie diejeni- werden konnte; zeitgenössische Diskussionen gen, gegen die sie anschreiben. Auch zeigt sie, dass werden nachgezeichnet. Den Rahmenbedingungen Strategien literarischer Camouflage vorwiegend | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 163
in der kontrafaschistischen Kinder- und Jugend literatur in Deutschland angewandt werden, während zum Beispiel die Erzählungen in den USA und der UdSSR vornehmlich explizit kontra faschistisch konstruiert wurden. Zusammen fassend wird deutlich, dass angesichts der großen inhaltlichen Vielfalt von einer ›allgemei- nen‹ Ästhetik der Kinder- und Jugendliteratur gegen den Nationalsozialismus im untersuchten Textkorpus nicht die Rede sein kann. Inhaltlich betrachtet kann die kontrafaschistische Kinder- und Jugendliteratur in drei Gruppen gegliedert werden, einer jüdischen, einer antifaschistischen in der Tradition der proletarisch-revolutionären Literatur und einer Zweite-Weltkriegs-Literatur. Der Wertekanon der kontrafaschistischen Kinder- und Jugendliteratur selbst ist keineswegs statisch, sondern changiert zwischen Werten wie Freiheit, Recht auf Leben, Solidarität, konstant lediglich in der Ablehnung des Nationalsozialismus, mit dem sie sich selbst wiederum nur wenig differenziert Born, Stefan: Allgemeinliterarische Adoleszenz- und meist oberflächlich befasst, das ideologisch romane. Untersuchungen zu Herrndorf, Regener, maßgeblich ›Eigene‹ artikulierend. Das Engage- Strunk, Kehlmann und anderen. Heidelberg: ment für die eigene Ideologie tritt demnach stärker Universitätsverlag Winter, 2015 (Studien zur hervor als das gegen den Nationalsozialismus. historischen Poetik; 17). 338 S. In ihrem Ausblick formuliert die Autorin weitere interessante an ihre Arbeit anschließende Forschungsfragen. Das von ihr postulierte Ziel, diese Untersuchung als Versuch zu sehen, gegen I n seiner Dissertation widmet sich Stefan Born dem allgemeinliterarischen Adoleszenzroman, insbesondere dessen prominenten Vertretern das Vergessen zu wirken, wird eingelöst, indem der frühen 2000er Jahre. Das Anliegen der Arbeit deutlich wird, dass ihre Studie als ein Grundlagen ist es, das Genre genauer zu bestimmen und von werk für die Erschließung ihres Forschungs anderen geläufigen Bezeichnungen wie Entwick- gegenstandes anzusehen ist. lungsroman, Bildungsroman und Adoleszenzro- Linde Storm man der Kinder- und Jugendliteratur sowie Termi- ni wie »Generationenroman« und »Wenderoman« (72) abzugrenzen. Für eine nähere Definition des allgemeinliterarischen Adoleszenzromans analy- siert Born im Wesentlichen Wolfgang Herrndorfs In Plüschgewittern (2002), Sven Regeners Herr Lehmann (2001) und Heinz Strunks Fleisch ist mein Gemüse (2004). Die Arbeit ist nicht systematisch aufgebaut, sondern geht Text für Text vor. Den fruchtbaren Textanalysen steht eine recht umfang- reiche Einführung voran, die zunächst die grund- legenden Arbeitshypothesen darlegt. Interessant ist, dass Born den thematischen Schwerpunkt der Identitätsbildung im Adoleszenzroman eng gekoppelt sieht an ein historisches Urteil über | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 164
die Gesellschaft, das die Romane zur Verfügung (37) ende, zeige der Adoleszenzroman keine solche stellten, denn jede Adoleszenz könne als »die initi- Ambition oder negiere gar die Möglichkeit eines ative Kommunikation individueller Erwartungen harmonischen Verhältnisses von adoleszentem und Wünsche in einer gesellschaftlichen Umwelt Individuum und gesellschaftlichen Systemen (vgl. begriffen werden.« (11) Die im Roman dargestell- 49 f.). ten Erwartungen der adoleszenten Figuren an die Der textanalytische Hauptteil der Arbeit beginnt Gesellschaft stellen damit ein Werturteil über die mit Herrndorfs In Plüschgewittern. Hier werden in- vorherigen Wirkweisen der Gesellschaft aus. Nicht teressante Parallelen zu Texten von Marcel Proust zuletzt als Reaktion auf die Wende definiert Born und Vladimir Nabokov herausgearbeitet, weiter es als wesentliche Leistung dieser Romane, dass sie zu Stendhal und Jerome D. Salinger und auch zu ein »moralisches und praktisches Orientierungs- Filmen von Takashi Miike. Die Analyse stellt die bedürfnis« (12 f.) bedienen. Komplexität von Herrndorfs Roman schön heraus. Weiter kündigt der Verfasser in der Einführung an, Bezüglich Regeners Herr Lehmann arbeitet Born die gewählten Texte im Sinne einer Stilanalyse zentral mit der »Idyllenform« (155) des Romans. zu untersuchen. Die Kategorie des Stils hätte dabei Der »Idealzustand« (180) des adoleszenten Prota einer genaueren Definition bedurft. Auch der gonisten steht im Konflikt mit der Unnachgie- wesentlichen Kategorie der Adoleszenz haftet bigkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Auch in der Verwendung in dieser Untersuchung eine Strunks Fleisch ist mein Gemüse erzählt von der gewisse Unschärfe an. Zwar erwähnt Born wieder- Unvernunft gesellschaftlicher Anpassungszwänge. holt den sozialkonstruktivistischen Status von Auf Basis seiner Analysen empfiehlt der Autor Adoleszenz (vgl. beispielsweise 25), doch wird dies die Bezeichnung »postmodern realistische[r] durch Referenzen auf die Entwicklungspsychologie Adoleszenzroman« (208). Inmitten dieser wirklich gewissermaßen konterkariert, wenn entwicklungs- interessanten Ergebnisse wirken einzelne For- psychologische Erkenntnisse quasi als empirische mulierungen überraschend naiv. So wird darauf Fakten in diese literaturwissenschaftliche und hingewiesen, es handle sich bei der Erzählinstanz ästhetische Untersuchung integriert werden: der Plüschgewitter »natürlich nicht einfach um »Werden die Wünsche eines adoleszenten Indivi Wolfgang Herrndorf« (83), dieser habe den Ton duums während seines Sozialisationsprozesses seines Romans »sehr bewusst« (84) kreiert. Auch zugunsten einer erzwungenen Konformität die Dialogszenen in Regeners Roman seien vom negiert, scheitert Adoleszenz und es entsteht ein Autor »durchaus gewollt« (159). Davon sollte doch ›Ich-schwaches‹ Individuum, das bloß konformis- auszugehen sein. tisch oder anfällig für soziale Manipulationen ist.« Diesem Analyseteil schließt sich die »Weiterfüh (28, Hervorhebung im Original) Es wäre sicher von rung der Untersuchung« (Kapitel 5) an. Hier Vorteil für die Studie gewesen, stringent die sozial- erarbeitet der Autor kurze Analysen zu Texten von konstruktivistische Perspektive beizubehalten. Siegfried Lenz, Wilhelm Genazino, Daniel Kehl- Umfangreich behandelt wird hingegen die Struk- mann und Thomas Glavinic, um die Bezeichnung tur der Initiationsgeschichte als »gattungsüber- »Generationenroman«, die von der Forschung greifende[s] Strukturmuster« (31), allerdings fehlt auf Texte von Herrndorf, Strunk etc. angewendet hier der Verweis auf Joseph Campbells The Hero wird, auf Validität zu prüfen. Es werden als Ergän- with a Thousand Faces (1949). In einem ersten zung also Texte von älteren und jüngeren Autoren Schritt zur begrifflichen Abgrenzung werden in untersucht (Strunk, Regener und Herrndorf sind der Einführung der Entwicklungsroman als gat- alle um 1960 geboren). Born kommt zu dem Fazit: tungsübergreifende Schreibform bestimmt, die »Autoren aller Altersgruppen verfassen derartige den Bildungs- und den Adoleszenzroman umfasst Romane, und insofern ist die Vorstellung einer (vgl. 33), sowie der wesentliche Unterschied des Generationengemeinschaft irreführend.« (287) Adoleszenzromans zum Bildungsroman festge- Es ist sinnvoll, einen literarhistorisch so unfrucht- halten. Während Letzterer mit der »organischen baren Begriff wie den der Generation zu entkräf- Integration des Romanhelden in eine Gesellschaft« ten. Diese Weiterführung der Untersuchung hätte | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 165
sicher davon profitiert, die Charakteristika der gik, als Vorbild für unzählige Buschiaden oder als untersuchten Texte auch mit denen kinder- und Wegbereiter des modernen comic strip interessiert. jugendliterarischer Adoleszenzromane abzuglei- Stefan Börnchen jedoch fokussiert in seiner 2015 chen. So wird der Terminus »Generationenroman« erschienenen Monographie Poetik der Linie auf umfangreich zurückgewiesen, die Behauptung die abseits von philologischen Kommentierungen eines speziell allgemeinliterarischen Adoleszenz- nur selten beachtete grafische Komponente von romangenres bleibt aber bloße Behauptung. Buschs Werk, genauer: auf das Urelement seiner Zu kritisieren sind leider die vielen Rechtschreib- Zeichnungen – die Linie. und Grammatikfehler in dieser Publikation. Ein Im ersten Abschnitt seines Essays legt Börnchen umfangreiches Korrektorat wäre ratsam gewesen. das theoretische Fundament seiner weiteren Auch die vielen Kursivierungen und einfachen Ausführungen dar: Anhand der radial auseinander Anführungszeichen sind eher irritierend als dem strebenden Explosionslinien, die die Zerstörung Lesefluss förderlich. Insgesamt liegt hier aber eine von Lehrer Lämpels Pfeife im vierten Streich illus- gut lesbare Studie vor, die vor allem interessante trieren, weist er auf, dass zwischen Zeichnung und Einzeltextanalysen zu einem zentralen Genre der Gezeichnetem kein analoges Verhältnis besteht: Gegenwart liefert. Der Sprengung der Ordnung entspricht auf der Lena Hoffmann Darstellungsebene – scheinbar widersprüchlich – »ein außergewöhnlich hohes [...] Maß an grafischer Ordnung« (12) in Form der zentrifugalen Linien- führung. Hieraus folgt für Börnchen, dass sich in semiotischer Hinsicht »die Unterscheidung von Text und Buchstaben einerseits und aus Linien bestehender Zeichnung andererseits nicht strikt halten lässt«. (13) Die von Lessing und de Saussure angenommene Willkür bzw. Arbitrarität von sprachlichen Zeichen müsse auch für grafische Zeichen gelten, jedenfalls insofern sie schlichtweg den Konventionen eines bildsprachlichen Codes folgen, wie z. B. Explosions- oder Bewegungslinien. Noch weiter geht Umberto Eco, für den jede Linienzeichnung in einem arbiträren Verhältnis zu ihrem Gegenstand steht, weil der gezeichne- te Umriss etwas zur Darstellung bringt, was am dargestellten Objekt gar nicht sichtbar existiert: die linienförmige Grenze zwischen dem Innen und dem Außen eines Gegenstands. Die historischen Theorien der Linie, die Börnchen im zweiten Abschnitt referiert und die von der Antike bis in die Moderne datieren, gehen dement Börnchen, Stefan: Poetik der Linie. sprechend zumeist von der Linie als einer Wilhelm Busch, Max und Moritz und die Tradition. Grenzziehung aus und führen den Ursprung der Hannover: Wehrhahn, 2015. 63 S. bildlichen Darstellung auf den Schattenriss oder die Negativzeichnung zurück. Ein Sonderfall W ilhelm Buschs Bildgeschichte Max und Moritz (1865) gilt unumstritten als Meister- werk und Klassiker deutscher Kinderliteratur. Die für die Linientheorie war stets die gerade Linie, die die Frage nach ihrem natürlichen Vorkommen aufwirft und damit eine Herausforderung für die Erzählung über die zwei aufsässigen Buben hat die Nachahmungsästhetik darstellte. Die gerade Linie, Forschung als frühes Beispiel parodierter Pädago- aber auch – mit Eco gedacht – die Linie überhaupt, | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 166
stellen Börnchen zufolge den Naturalismus auf die reduziert: den Schrotkörnern, die von den Enten Probe. Was die Linie dem Naturalismus hingegen aufgepickt werden. Im letzten Bild werden deren voraus habe, sei »die Klarheit der Begrenzung« Kloaken präsentiert, die somit als Schlusspunkte (23), für die sie – im Gegensatz zur Malerei – stehe erscheinen. Busch habe damit Kandinskys Linien- und die ein Comic-Künstler wie Hergé mit seiner poetik avant la lettre auf den Kopf gestellt. ligne claire zur Maxime erhoben hat. Im vierten Börnchens Buch bietet aufgrund seiner Material- Abschnitt knüpft Börnchen wieder an die Proble- fülle einen interessanten Überblick über diverse matik der Darstellungsfunktion der Linie an. Die Theorien der Linie. Die zahlreichen Illustrationen Lektüre von Max und Moritz’ erstem Streich, in machen es zudem leicht, dem oft verwinkelten dem den Hühnern der Witwe Bolte eine Fadenfalle Argumentationsgang zu folgen, der erfreuli- gestellt wird, bringt ihn zu dem Schluss, dass die cherweise eng entlang der Bildbeispiele führt. gekreuzten Fäden als »ostentativ ›unnatürliche‹ Börnchens Vorhaben, Busch als einen Zeichner zu Linien«, nämlich als Geraden, dargestellt würden, präsentieren, der sein ästhetisches Material stets »in denen [...] die Stilisierung um der Klarheit wil- reflektierend bearbeitet hat, wird auf diese Weise len umschlägt in die Klarheit der Stilisierung« (37). eingelöst. Einige der theoretischen Vorannahmen In solchen Fällen würde der »Strich als Strich« (38) sind allerdings keineswegs selbstverständlich inszeniert, ohne noch notwendig auf ein Signifikat und bewähren sich nicht immer am untersuchten zu verweisen, und hebe damit seine Darstellungs- Gegenstand. So ist Börnchens Exemplifizierung funktion zugunsten einer Selbstreferentialität der scheinbaren Arbitrarität von Bildzeichen an auf. Obwohl die Linie für sich allein nichts mehr den Explosions- oder Bewegungslinien, wie sie bei bezeichnen soll, steht sie in Börnchens Poetik Busch oder auch im Comic auftauchen, nicht dennoch für den Tod. Das weist er an Bildbeispie- überzeugend: lassen sich diese Linien doch ebenso len aus Buschs Werk auf, in denen der bloße Strich gut als Simultandarstellung von in Bewegung als Waffe figuriert, etwa in Gestalt der linien befindlichen Punkten des bewegten Objekts verste- förmigen Fäden, an denen Boltes Hühner zu Tode hen, deren Darstellung somit keine dem Gegen- kommen. Im fünften Abschnitt vertieft Börnchen stand gegenüber willkürliche Konvention wäre. diese Lesart, auch mit Blick auf Buschs Bezeich- Die behauptete Arbitrarität von Bildzeichen mutet nung seiner Figuren als »Konturwesen«, deren besonders widerspruchsvoll an, wenn doch zu- Existenz in der Reduktion auf die einzelne Linie gleich die Linie mit dem Tod analogisiert wird. Mit enden müsse. Im sechsten Teil liefert Börnchen Rekurs auf Christoph Türckes Kritische Theorie der einen Exkurs zu Wassily Kandinskys Theorie Schrift (2005) hätte man diese Analogie verteidigen von Punkt, Linie und Fläche. Für Kandinsky ist der können, auch ohne ein willkürliches Verhältnis Punkt der Anfang oder Ursprung, der in einer zwischen Signifikant und Signifikat zu behaupten. der Zeugungsszene ähnlichen ersten Vereinigung Türcke sieht den historischen Ursprung des Zei- von Zeichen- oder Malwerkzeug und Grundfläche chens (noch vor dessen Differenzierung in Schrift entsteht. Die Bewegung des Werkzeugs über die und Bild) im leibhaftigen Einschnitt in den leben- Fläche vernichtet den Punkt sodann und hebt digen Körper, der vor dem Zorn der Götter schüt- ihn in der neu entstandenen Linie auf. In den zen sollte: die erste gezeichnete Linie als kleiner, Schlusskapiteln interpretiert Börnchen den letzten nur symbolischer und darum gebannter Tod. Streich von Max und Moritz als Schließungsfigur Neben den genannten theoretischen Unklarheiten von »Kandinskys Drama von Punkt und Linie« (47). sind es besonders weitgehend folgenloses Etymo- Sehe Kandinsky den Punkt als Erstes, das in der logisieren (etwa das Aufzeigen der Verwandtschaft Linie aufgehe, die schließlich den Körper forme, von Streich, Strich und Strick) sowie äußerst kühne gehe Busch in seiner Bildgeschichte den umge- Assoziationen (etwa die Analogie zwischen Punkt, kehrten Weg: Die Körper von Max und Moritz Kloake und Wilhelm Buschs Signatur), die den werden durch die Schrotung in der Mühle zu- Essay streckenweise gezwungen wirken lassen, nächst linearisiert, da nur noch ihre Umrisslinien obwohl sein Ansatz durchaus originell ist. erkennbar sind, und schließlich zu bloßen Punkten Lukas Sarvari | Jahrbuch der GKJF 2017 | rezensionen 167
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