Mehrsprachigkeit Dossier - Enfance Jeunesse
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Dossier Mehrsprachigkeit • Sprachentwicklung : Kinder, die mit verschiedenen Sprachen aufwachsen. • Vom Sprechenlernen • Kinderarzt Remo Largo: „Hören wir auf mit überstürzten Reformen!” • Une structure bilingue à Lyon. L’éducation bilingue - un atout pour les enfants ? • D’une langue à l’autre. L‘éveil précoce aux langues, un atout pour les enfants • Spracherwerb als Querschnittsaufgabe n° 3 | 2014
EDITORIAL Kanner am Fokus Chères lectrices et chers lecteurs, Cette édition du « Kanner am Fokus » est consacrée à un sujet d’actualité fortement discuté au Luxembourg : le multilinguisme. Le regard porté vers l’étranger nous paraît particulièrement intéressant, si l’on est à la recherche de modèle approprié au Luxembourg. D’autres pays voisins comme la Belgique ou la Suisse sont confrontés eux aussi à des situations similaires. Leurs expériences à ce sujet peuvent nous être utiles lors de nos propres réflexions. Dans cette édition, plusieurs articles abordent la thématique de la promotion linguistique, du bilinguisme ainsi que du multilinguisme, illustrés par des modèles de bonne pratique auprès des enfants dans leur quotidien. Afin de créer des conditions qui permettront une réflexion et une discus- sion constructive, nous apportons un éclaircissement sur les principaux termes utilisés dans les phénomènes linguistiques et sociaux. Cependant, nous remarquons un point commun à tous les modèles de promotion linguistique : la communication intensive au quotidien offre des moments privilégiés pour l’apprentissage d’une langue ou même de plusieurs langues. La curiosité, le plaisir et l’intérêt spontané à la com- munication doivent être soutenus. Remo Largo résume d’ailleurs bien ce phénomène : « La langue ne suffit pas à elle seule, il faut des contenus qui unissent ! » (Interview, p.14) Par votre expérience sur ce sujet, nous serions heureux d’obtenir des feed-back ainsi que des suggestions sur le multilinguisme. N’hésitez pas à nous envoyer un email à l’adresse suivante : kanneramfokus@arcus.lu Nous vous souhaitons une très bonne lecture ainsi qu’une bonne nouvelle année ! Caroline Ruppert Gérard Albers Chargée de Direction Directeur focus
Kanner am Fokus EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, Aktuell 2 mit dieser Ausgabe von „Kanner am Fokus“ wollen wir einen Beitrag liefern zu einem derzeit sehr aktuellen und viel disku- Dossier tierten Thema in Luxemburg: der Mehrsprachigkeit. Sprachentwicklung: Kinder die mit Dabei ist uns der Blick auf das Ausland wichtig, wenn es darum verschiedenen Sprachen aufwachsen 5 geht geeignete Modelle für Luxemburg zu suchen. Denn andere Länder, wie die Schweiz oder Belgien sehen sich mit ähnlichen Vom Sprechenlernen 12 Situationen konfrontiert. Aus ihren Erfahrungen können wir mit Sicherheit viel lernen. Mehrere Beiträge beschäftigen sich des- Interview mit Remo Largo 14 halb mit „Best Practices“, wie mit Sprachförderung, Bilingualität und Multilingualität umgegangen wird. Une structure bilingue à Lyon 17 Um die Voraussetzungen für eine konstruktive Diskussion zu D’une langue à l’autre 20 schaffen, werden wir in dieser Ausgabe ebenfalls eine Klärung der wichtigsten Begriffe vornehmen. Spracherwerb als Querschnittsaufgabe 23 Allen erfolgreichen Modellen der Sprachförderung scheint je- D’Sproochewallis 28 doch etwas gemein zu sein. Sie fokussieren sich auf intensive Kommunikationssituationen im Alltag, in denen die Neugier und Lesezeichen 30 die Freude der Kinder am Sprechen lernen und das spontane Interesse an anderen Sprachen im Mittelpunkt stehen. Auf den Är Sait 34 Punkt gebracht hat es Remo Largo: „Sprache allein genügt nicht, es braucht Inhalte die verbinden.“ (Interview S.14) Spilldapp 37 Wir freuen uns auf ihr Feedback, ihre Meinung interes- siert uns! Schreiben Sie uns auf folgende Emailadresse: kanneramfokus@arcus.lu Agenda 38 Viel Spaß beim Lesen und ein frohes neues Jahr ! Impressum 40 Caroline Ruppert Gérard Albers Chargée de Direction Directeur focus 1
AKTUELL Kanner am Fokus Veranstaltungskalender Spielmarkt Sonderthema: Spiel. Satz. Sinn. 19-21 Februar 2015 in Remscheid Der Spielmarkt Remscheid 2015 befasst sich mit dem Spiel mit Worten, Sprachspielen, Spielen zur Sprachförderung sowie dem Erzählen von Geschichten. Der Spielmarkt ist bundesweit das größte alljährliche überregionale Fachforum zum spielpädagogischen Erfahrungsaustausch, bei dem rund 60 Institutionen, Gruppen, Initiativen und Fachleu- te ihre Arbeit mit Ausstellungsständen, in kurzen Workshops und mit Fachvorträgen vorstellen. In rund 60 Workshops werden neue Spiele ausprobiert, Diskussionen ge- führt und aktuelle Begebenheiten über spielpädagogische Aktivitäten weitergegeben. Auf dem parallel zu den Workshops laufenden Markt wird über neue Materialien und Methoden informiert, es gibt Verkaufs- und Ausstellungsstände, Material- und Büchertische, Spielaktionen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Weitere Infos: www.spielmarkt.de und www.akademieremscheid.de Didacta: 24-28 Februar 2015 in Hannover Als weltweit größte und Deutschlands wichtigste Bildungsmesse bietet die Didacta den perfekten Überblick über Angebote, Trends und aktuelle Themen in den Berei- chen Kindertagesstätten, Schule/Hochschule, berufliche Bildung/Qualifizierung, Neue Technologien und Ministerien/Institutionen/Organisationen. Ob Lehrer, Erzieher, Aus- bilder, Trainer Hochschulprofessoren oder Entscheidungsträger - Europas wichtigster Bildungsevent ist für jeden ein Muss. Dank der breiten Ausrichtung und thematischen Vielfalt ist die Didacta der Treffpunkt für die verschiedensten Akteure aus dem Bil- dungsbereich. Aktuelle Entwicklungen, Aussichten und Lösungen des Bildungswesens werden in fünf Ausstellungsbereichen präsentiert: Kindertagesstätten - Schule/Hochschule - Neue Technologien - Berufliche Bildung/Qualifizierung - Ministerien/Institutionen/Organisationen Weitere Infos unter : http://www.didacta-hannover.de 18. Symposion Frühförderung: 26-28 Februar 2015 in Halle (Saale) Mit dem Titel „Frühförderung mittendrin – in Familie und Gesellschaft“ wird aufgegriffen, dass die Wirkungsfor- schung zur „best practice“ von Frühförderung eindeutig belegt hat, dass deren Effektivität vor allem von der Qua- lität und Intensität der Zusammenarbeit mit der Familie abhängt. Vor diesem Hintergrund bedeutet Frühförderung immer, die Angebote an der Lebenswelt des Kindes und der Lebenslage der Eltern aus interdisziplinärer Sicht auszurichten. „Frühförderung mittendrin“ bedeutet darüber hinaus, die gesellschaftlich veränderten Rahmenbe- dingungen im Blick zu haben und die aktuelle Inklusionsdiskussion mit den Ansprüchen der interdisziplinären Frühförderung und ihrer speziellen Aufgaben zu thematisieren. Vorträge und Workshops beziehen sich auf fol- gende Themen: familiäre Lebenslagen, besondere Entwicklungs- und Förderbereiche der Kinder, das familienori- entierte Arbeiten, das inklusive Arbeiten und die Kompetenz der Akteure, die Vernetzung der Beteiligten. Weitere Infos : www.fruehfoerderung-viff.de Deutscher Kita - Kongress: 25. bis 26. März 2015 in Mülheim an der Ruhr Der deutsche Kita - Kongress 2015 konzentriert sich auf die Schwerpunkte „Inklusion“ und „Sprachförderung“. Dazu und zu 16 weiteren Themen besuchen die Teilnehmer je 2 Workshops ihrer Wahl pro Tag. Ziel des Kongres- ses ist der anregende Austausch mit Berufskollegen aus ganz Deutschland. www.Kindergartenakademie.de 2
Kanner am Fokus AKTUELL Présentation du centre de formation et de développement focus Aujourd’hui, nous avons le plaisir de vous présenter notre nouveau cen- tre de formation et de développement focus de l‘asbl arcus. Nous nous adressons aux professionnels des services d’éducation et d’accueil, aux assistants parentaux, aux familles d’accueil, ainsi qu’à tout autre professionnel travaillant dans le secteur social. Nos activités s’articulent principalement autour de deux axes : • la formation continue • le développement de la qualité (développement de concepts de prise en charges…) Dans le cadre de la formation continue, focus propose un large éventail de sujets autour de l’accueil familial ou institutionnel de l’enfant et de la professionnalisation du travail éducatif et social. Sur demande, des formations in-house ou sur mesure peuvent être organisées. De même, notre équipe offre des séances de supervision individuelle et/ou de groupe. A côté des formations continues, focus propose un service qui s’inscrit dans une démarche de développement de qualité et qui s’adresse surtout aux communes et aux associations prestataires de services. Il s’agit ici d’un accompagnement compétent (Fachbegleitung) pour l’élaboration et la mise en place de concepts pédagogiques spécifiques et individualisés. N‘hésitez pas à nous contacter pour plus d‘informations au numéro 28 37 46-1! Fortbildung 2015 Raumkonzepte für eine Maison Relais entwickeln Christel van Dieken | Dipl. Pädagogin, Fortbildungsreferentin und Organisationsberaterin für Kitas und Grundschu- len | Institut für Bildungsinnovation, Hamburg Räume bieten Kindern Möglichkeiten zu handeln, sich zu entwickeln – oder auch nicht. Sie haben wesentlichen Einfluss darauf, wie Kinder sich in ihnen fühlen und wie sie sich zueinander verhalten. Die Erarbeitung eines Raumkonzeptes ist deshalb die Grundlage dafür, dass unterschiedliche Entwicklungsbedürfnisse unterschiedlicher Kinder in Kitaräumen befriedigt werden können. Die Erarbeitung eines Raumkonzeptes erfordert die Umsetzung des pädagogischen Konzeptes „in Raum“. Welche „Möglichkeitsräume“ wollen Sie Kindern über eine gut durch- dachte und geplante Raumgestaltung in der Maison Relais bieten? Welchen Bedürfnissen von Kindern wollen Sie in Ihrer Institution „Raum geben“? Datum: 23/01/2015 Zeit: 9-12 Uhr, 13-17 Uhr Ort: Luxemburg Spielgeräte selber bauen Bernhard Lusch | Spielpädagoge | Spielmobil Freiburg e.V. Eine Grundlage spielpädagogischer Arbeit ist ein gut sortierter Fundus an großen Spielen und Spielgeräten. In diesem Workshop wird den Teilnehmern eine kurze fachliche Einführung in die Holzbearbeitung geboten sowie gezeigt, wie man Spiele mit Beteiligung der Kinder bauen kann. Alle Teilnehmer können ein Spiel für sich oder ihre Einrichtung bauen. Datum: 02/02/2015 Zeit: 9-12 Uhr, 13-17 Uhr Ort: Luxemburg 3
AKTUELL Kanner am Fokus Digitale Helden Horst Pohlmann | Dipl.-Sozialpädagoge, MA MedienSpielPädagogik | Akademie Remscheid Marietheres Waschk | Dipl.-Sozialpädagogin und Spielpädagogin | Akademie Remscheid Kinder lieben Helden: Superman ist unendlich stark, Harry Potter kann zaubern und Wickie besticht durch seine Klugheit. Helden zeichnen sich durch besondere Talente und Umwelten aus, die Kinder nur in ihrer Fantasie besit- zen und erleben. In den klassischen Computerspielen ist der Spielweg der Helden klar vorgegeben, um erfolgreich das nächste Level zu erreichen. Welcher Raum bleibt da dem Spieler, sich in seiner Kreativität auszudrücken? Datum: 28/01/2015, 29/01/2015 Zeit: 9-12 Uhr, 13-17 Uhr Ort: Luxemburg Was braucht Florence? – Was braucht Florian? Psychosexuelle Entwicklung und Genderthemen in der Erziehung Renate Semper | Dipl.Psychologin, Systemische Familientherapeutin | Institut für Sexualpädagogik Dortmund (isp) Reiner Wanielik | Dipl.Sozialpädagoge, Gruppendynamiker | Institut für Sexualpädagogik Dortmund (isp) Vielfach halten sich pädagogische Fachkräfte für nicht ausreichend qualifiziert, um zu beurteilen welche sexuellen Äußerungsformen – z.B. Masturbation, Doktorspiele, verbale Provokationenvon Kindern in welchem Alter „nor- mal“ sind, was zu unterbinden, was zu fördern ist. Auch dann, wenn sie über einen guten Kenntnisstand verfügen wird die fachliche Auseinandersetzung in Teams oft überlagert von persönlichen Erfahrungen, Wertvorstellungen und stereotypen Geschlechterbildern. Datum: 22/01/2015, 23/01/2015 Zeit: 9-12 Uhr, 13-17 Uhr Ort: Luxemburg Liberté motrice et activité spontanée du bébé et du jeune enfant Annie Fabien-Temoin | Psychomotricienne | Association Pikler France Offrir au bébé, en famille ou en institution, la possibilité d‘exercer librement sa motricité, lui donner l‘espace et le temps pour acquérir les étapes successives, à son propre rythme et de sa propre initiative, c’est l’accompagner dans le développement de sa personnalité et dans la prise de conscience de lui-même. Date: 09/02/2015, 10/02/2015, 02/03/2015, 03/03/2015 Horaire: 9-12h, 13-17h Lieu: Luxembourg Les interactions enfant(s) – Parent(s) dépendant(s) Grégory Lambrette | Psychologue et psychothérapeute | Quai 57, arcus asbl Sandy Stefanini | Éducatrice graduée | Quai 57, arcus asbl Honte, mensonge, isolement, violence… Vivre avec un parent addict (alcools, drogues, jeux, etc.) peut être un dra- me au quotidien. Tant pour les enfants et/ou les familles que pour les intervenants confrontés à ce type de prob- lème. Y-a-t-il moyen que l’enfant s’en sort indemne malgré l’addiction de son ou de ses parents ? Comment aider les enfants à mieux appréhender ce qui, pour eux, peut être incompréhensible ? Quel est l’avenir de ces enfants précocement confrontés à l’alcool ou toute autre forme d’addiction ? Comment aider ceux qui restent aussi des parents avant tout, des parents malgré tout. Date: 28/03/2015 Horaire: 9-12h, 13-17h Lieu: Esch-sur-Alzette 4
Kanner am Fokus DOSSIER Sprachentwicklung Kinder die mit verschiedenen Sprachen aufwachsen Michaela Ulich Zur Einführung einige Begriffe wachsen, gibt es grob gesprochen mit klar aufeinander aufgebauten zwei Möglichkeiten: didaktischen Einheiten. Muttersprache – Erstsprache - Fa- miliensprache 1) Doppelspracherwerb, bilin- Sowohl bei der Erstsprache (Mut- guale Erziehung: Kinder ler- tersprache) als auch bei der Zweit- Der Begriff Muttersprache ist zwar nen beide Sprachen gleich- sprache spricht man bei Kinder- sehr geläufig, kann aber verwirrend zeitig, von Geburt an; gartenkindern von natürlichem sein. Was heißt „Muttersprache“ in Spracherwerb. Denn, wenn Maria binationalen Familien, bei denen die 2) Zweitsprache bzw. Zweit- aus Portugal in München in den Kin- Mutter mit dem Kind Französisch, sprachenerwerb: Kinder dergarten geht, dann lernt sie ihre der Vater mit ihm Deutsch spricht? lernen die Sprachen nachei- Zweitsprache Deutsch vor allem Klarer und weniger „bewertend“ nander, die eine Sprache ab in einer Situation des natürlichen sind die in mehrsprachigen Umwel- Geburt, die zweite Sprache Spracherwerbs und nicht des Spra- ten gängigen Begriffe Erstsprache ab dem 3. oder 4. Lebens- chunterrichts – sie bekommt in der und Familiensprache. jahr, oder auch später. neuen Sprache eine Fülle von Ein- drücken. Rundherum hört sie wie Zweisprachigkeit und Zweitspra- Natürlicher Spracherwerb - auch in Kinder und Erwachsene etwas sa- cherwerb der Zweitsprache gen, das sie nicht versteht und erst allmählich kann sie einzelne Laute Zweisprachigkeit kann vieles hei- Der natürliche Spracherwerb un- und Bedeutungen zuordnen und ßen. Manche verstehen darunter terscheidet sich vom Fremdspra- verstehen. Je mehr persönliche Zu- die perfekte, muttersprachenähn- chenunterricht. Im natürlichen wendung und sprachliche Anregung liche Beherrschung zweier Spra- Spracherwerb wird eine Sprache Maria bekommt, desto schneller chen, für andere ist ein Kind bereits in der alltäglichen Kommunikation wird sie Deutsch lernen. zweisprachig, wenn es eine Sprache gelernt: in der Familie, in der Spiel- beherrscht und eine zweite Sprache gruppe oder aber auch in der Schu- Sprachentwicklung als Teil der Ge- mehr oder weniger versteht, aber le im Pausenhof usw. Im gesteuer- samtentwicklung nicht spricht. Wir bevorzugen hier ten Spracherwerb dagegen, z.B. im die Bezeichnung „zweisprachig auf- Fremdsprachenunterricht, wird das Es ist allgemein bekannt, dass die wachsende Kinder“. Lernen formal organisiert, die Spra- Sprachentwicklung von Kindern mit che wird als Sprache unterrichtet, vielen anderen Entwicklungspro- Denn zunächst geht es um eine Le- bensform: Viele Migrantenkinder leben in und mit verschiedenen Sprachen. So stellt sich die Frage: Mit welchen Sprachen in der Fa- milie und Umgebung wächst ein Kind auf, und wie geht es mit dieser zwei- oder mehrsprachigen Situati- on um? Wenn wir dagegen von dem abstrakten Ideal der Zweisprachig- keit ausgehen, dann folgt meist die Frage: „Ist dieses Kind denn wirklich zweisprachig?“ So fixiert sich der Blick sogleich auf Sprachbeherr- schung bzw. Sprachprobleme, und nicht auf den Prozess der sprach- lichen Aneignung in der jeweiligen Umwelt des Kindes. Wenn Kinder zweisprachig auf- 5
DOSSIER Kanner am Fokus zessen zusammenhängt. Dies gilt che? Wie reagiert die Umwelt Sprachen, wobei sie am Anfang die- nicht nur für die Erstsprache, es auf die Kontaktversuche des se in der Regel noch nicht nach Per- gilt auch für die Zweitsprache. Das Kindes? son trennen. heißt: Von Anfang an mit zwei Sprachen: Bett, Mama, doll (Englisch: Puppe) • Es müssen bestimmte Entwick- Wie „getrennt“ sind die zwei Spra- lungsvoraussetzungen gegeben chen bei einem Kind? Es ist meistens so, dass ein Gegen- sein – im Hören, Sehen, in der stand mit einer bestimmten Sprache Feinmotorik (Zunge, Lippen, Wenn Kinder von Anfang an mit und noch nicht mit zwei Sprachen Mundmuskulatur), in der kog- zwei Sprachen aufwachsen, durch- assoziiert wird. So benutzen Kinder nitiven und sozial-emotionalen laufen sie in der Regel verschiedene mit deutsch-englischen Eltern z.B. Entwicklung; Phasen im Umgang mit den beiden für Tür das englische Wort (door), Sprachen. Es ist wichtig festzuhal- für Bett das deutsche Wort. • Die Sprachentwicklung ist ab- ten, dass hier nur Entwicklungsten- hängig vom emotionalen und denzen skizziert werden und nicht Phase 2: geistigen Klima, in dem ein Kind klar getrennte Phasen. lebt. Welche Art von Zuwen- Allmählich werden dann, was den dung, Kontaktaufnahme und Phase 1: Wortschatz angeht, die beiden Anregungen erfährt ein Kind in Sprachsysteme auseinander gehal- der Erst- und in der Zweitspra- Kinder benutzen Wörter aus beiden ten, das Kind hat ein Bewusstsein 6
Kanner am Fokus DOSSIER von zwei Sprachen, trennt sie nach ein wichtiges Vorbild: Erwachsene, men der Sprachmischung zu unter- Personen, und schließlich fragt es die sich bemühen, je nach Situation scheiden: sogar manchmal seine deutsche in einer Sprache zu bleiben, auch Mutter „wie sagt der Papa?“ – was wenn sie zweisprachig sind. Aller- Interferenz soviel bedeutet wie „was heißt das dings sollte das Prinzip „eine Spra- auf Englisch?“ che = eine Person“ nicht absolut Von Interferenz spricht man, wenn rigide angewandt werden. Bei älte- Strukturmerkmale der einen Spra- Diese „Trennung“ der beiden Spra- ren Kindern beobachtet man häufig che – hier der Erstsprache – auf die chen betrifft zunächst mehr den Unbehagen, wenn die Mutter konse- Zweitsprache übertragen werden Wortschatz, noch nicht die Gram- quent mit ihrem Kind Portugiesisch und es daher z.B. zu Fehlern im matik, den Satzbau. spricht, auch wenn deutsche Freun- Satzbau der Zweitsprache kommt. de anwesend sind. Das ist „unhöf- Es handelt sich also um eine „unfrei- Phase 3: lich“, und für Kinder eine künstliche willige“ und nicht bewusste Sprach- Abgrenzung. mischung. Früher erklärte man fast In der letzten Phase lernen Kinder alle Fehler in der Zweitsprache mit auch die verschiedenen Regeln für Damit sind wir bei einem wichtigen dem Phänomen der Interferenz und den Satzbau in der jeweiligen Spra- und kontroversen Thema: „Sprach- argumentierte dann, dass Kinder che (Stellung der Worte im Satz, wechsel“ bzw. “Sprachmischung“. ja offensichtlich überfordert seien, Verbformen usw.). denn sie würden die beiden Spra- Sprachmischung bzw. Sprachwech- chen vermischen und deshalb die Wenn Erwachsene die Sprachen ge- sel – in vielen Situationen ganz na- Zweitsprache nicht richtig lernen trennt halten: Eine Orientierungs- türlich können. Heute weiß man, dass In- hilfe, kein absolutes Prinzip terferenzerscheinungen eher beim Ein Kind bleibt nicht bei einer Fremdsprachenunterricht vorkom- Allgemein nimmt man an, dass Kin- Sprache, springt dauernd zwischen men, beim natürlichen Zweitspra- der die beiden Sprachen am bes- Portugiesisch und Deutsch hin und chenerwerb, um den es uns hier ten und schnellsten trennen, wenn her, oder es macht Fehler im deut- geht, sind sie eher selten. Man er- sie für das Kind nach Situation und schen Satzbau, weil es anscheinend klärt heute Fehler im Satzbau an- Person getrennt sind. Das heißt zum Formen des Portugiesischen ins ders: Sie sind typisch für ein ganz Beispiel bei einem deutsch-portu- Deutsch überträgt. Für viele Päd- normales und geregeltes Zwischen- giesischen Ehepaar, das sich ent- agogen sind das Beispiele für die stadium beim Lernen einer Zweit- schließt, das Kind zweisprachig zu „Probleme“ von zweisprachig auf- sprache. erziehen, sollte zuhause die Mutter wachsenden Kindern: Sie können, mit dem Kind relativ konsequent so die Annahme, die beiden Spra- Sprachmischung – code-Wechsel Portugiesisch, der Vater Deutsch chen nicht auseinander halten. sprechen. Diese Annahme beruht Sprachmischung bedeutet, dass allerdings auf Einzelfallstudien, um- Zunächst gilt es, verschiedene For- Kinder bei einer Äußerung zwei fassendere empirische Studien dazu sind uns nicht bekannt. Folgende Beobachtungen vor allem bei jün- geren Kindern sprechen aber dafür, dass es für Kinder zunächst tat- sächlich angenehmer ist, wenn sie eine Person mit einer Sprache iden- tifizieren können: so sind manche Kinder ganz ungehalten, wenn ihre portugiesische Mutter plötzlich mit ihnen Deutsch spricht. Möglicher- weise ist das Kind gerade in einer Phase der Orientierung und bemüht sich um eine Trennung der beiden Sprachsysteme, und beharrt des- halb auf eine strikte Trennung nach Person. Grundsätzlich ist dies für Kinder 7
DOSSIER Kanner am Fokus verschiedene Sprachen benutzen. zusammen sind, ist Sprachmischung nicht, wie das Wort in der anderen Sie sprechen gerade Deutsch und etwas ganz Normales. Wichtig ist, Sprache heißt. Sprachwechsel kann mitten im Satz taucht ein türkisches ob ein Kind die beiden Sprachen viele Gründe haben und Sprach- Wort auf, oder ganze Satzteile sind trennen kann (Trennungsfähigkeit) mischung ist nicht grundsätzlich dann auf Türkisch. Man spricht in und nicht, ob es dies in jeder Situa- eine Gefahr für die Sprachentwick- diesem Zusammenhang auch von tion auch tut. lung, sie ist in bestimmten Situati- code-Wechsel, insbesondere, wenn onen ganz natürlich – in anderen der Sprecher für längere Einhei- Zusammenfassend: nicht. ten von einer Sprache zur anderen wechselt – wobei diese beiden Be- Kinder können normalerweise Wann wechselt ein Kind von ei- griffe nicht trennscharf sind. “ihre” beiden Sprachen sehr wohl ner Sprache in die andere, warum unterscheiden, und benutzen den- “mischt” z.B. Mario aus Portugal Sprachwechsel je nach Ansprech- noch in bestimmten Situationen Deutsch und Portugiesich? partner und Situation ganz selbstverständlich beide Spra- chen, das macht die Kommunika- Aus ganz verschiedenen Gründen: Die meisten Kinder im Kindergar- tion “reichhaltiger” und flexibler tenalter wissen, dass sie sich in ver- für sie. Dabei wird oft sehr kreativ • Ein Wort ist im Deutschen gera- schiedenen sprachlichen Systemen mit Sprache umgegangen. Sprach- de nicht präsent; bewegen. Sie können also prinzipell mischung und Sprachwechsel gehö- und z. T. intuitiv ihre beiden Spra- ren zur ganz normalen Sprachpraxis • ein deutsches Wort ist für ihn chen auseinanderhalten und rich- in mehrsprachigen Kindergruppen – unbekannt oder schwierig aus- ten sich in ihrer Sprachwahl nach dasselbe gilt für Erwachsene. zusprechen; dem jeweiligen Gegenüber. Mit ei- Dies widerspricht der Perspektive • der entsprechende portugiesi- ner deutschen Erzieherin wird ein von vielen Erzieher/innen und Leh- sche Ausdruck “passt” gerade deutsch-portugiesisches Kind in der rer/innen, die Sprachwechsel oft nur besser; er möchte etwas ganz Regel Deutsch sprechen. Wenn sie auf “Ausdrucksnot” zurückführen besonders betonen; aber mit zwei- und mehrsprachi- gen Freunden oder Erwachsenen und glauben, das Kind weiß gerade 8
Kanner am Fokus DOSSIER • er ist aufgeregt oder berührt; fördern, z.B. mit einem Handpup- Sätzen zu sprechen. penspiel. Beispiel: • er will sich von deutschen Kin- Der Anfang: Eine bestimmte Art von dern oder Erwachsenen ab- Man nimmt zwei verschiedene Sätzen taucht immer wieder auf grenzen; Handpuppen (z.B. die eine rot, die andere grün) ; die eine Puppe kann Für den Anfang wählen viele Kinder • er möchte seine Zugehörigkeit nur deutsch, die andere nur türkisch. einen bestimmten, relativ einfa- markieren in einer deutsch-por- Immer wenn die jeweilige Sprache chen Satzbautyp aus und benutzen tugiesischen Kindergruppe. auftaucht, kommt die betreffende diesen dann bei jeder passenden Puppe in Aktion. Zunächst kann die (und unpassenden) Gelegenheit. Pädagogisch sinnvolle Regeln zum Erzieherin die beiden Puppen neh- Am häufigsten tauchen Sätze auf Thema “Sprachmischung” men und immer, wenn das Kind z.B wie: „die rot“, „die kaputt“, „das für gerade Deutsch spricht, dann ist die dich“, „das besser“; einige Kinder Auch wenn Sprachmischung in be- schnappen sehr bald feststehende „deutsche“ Puppe in Aktion, und stimmten Situationen durchaus Redewendungen auf, wie „schau wenn es dann ins Türkische wech- natürlich ist, sollten Kinder immer mal“, und setzen diese häufig ein. selt, kommt die „türkische“ Puppe wieder ihre “Trennungsfähigkeit” Erst allmählich produzieren Kinder zum Zug. Danach kann das Kind die und die Fähigkeit, in einer Sprache dann verschiedene und komplizier- beiden Puppen nehmen und selbst zu bleiben, üben. te Satzkonstruktionen. damit den Wechsel „spielen“. Was heißt das pädagogisch? Ver- Satzbau, Grammatik Dabei muss man beobachten, ob sucht man zweisprachigen oder bei diesem Kind eine Trennungsfä- mehrsprachigen Kindern, wenn sie Schrittweise entwickelt sich eine higkeit da ist bzw. ob diese sich all- unter sich sind, die Sprachmischung „deutsche“ Satzstruktur- für eine mählich entwickelt. Falls dies nicht zu verbieten, so ist das für die Kin- gezielte Beobachtung der „Gramma- der Fall ist, sollte eine fachkundige der ganz unnatürlich. Sinnvoller ist tik“-Entwicklung. Zunächst reihen Beratung in Betracht gezogen wer- es, für bestimmte Gelegenheiten – Kinder Wörter aneinander, dann den. z.B. Stuhlkreis oder Bilderbuchbe- lernen sie z.B. allmählich, wo im trachtung – hin und wieder “Sprach- Wie lernen Kinder eine Zweitspra- Deutschen das Verb im Satz steht. regeln” einzuführen, das heißt, z.B. che? Einige „Zwischenstufen“ und Auch die Verneinung durchläuft fest abgegrenzte Zeiten, wo nur Strategien oft verschiedene Stufen. So setzen eine Sprache “gilt”. manche Kinder das Wort „nein“ ein, Kinder nutzen ihr Vorwissen auch wenn es nicht passt - es ist ein Wenn Kinder die Sprachen gar nicht einfaches, eindeutiges und gleich- auseinanderhalten Beim Lernen einer Zweitsprache zeitig flexibel einsetzbares Wort, verläuft vieles ganz ähnlich wie das noch keine schwierigen Kons- Es ist wichtig zu beobachten, wann beim Lernen der Erstsprache. Den- truktionen erfordert. Oft taucht es und wie Kinder die Sprachen mi- noch gibt es viele Unterschiede, am Anfang des Satzes auf („nein ka- schen. Richten sich Kinder – wie denn das Kind fängt nicht noch von putt“), und wird dann variiert “Pe- im vorhergehenden Abschnitt be- vorne an, es durchläuft nicht alle ter nein spielen“). Später wird auch schrieben – in ihrer Sprachwahl Stadien noch einmal; es benutzt „nicht“ benutzt – erst allmählich in weitgehend nach ihrem Gegenüber, vielmehr sein Vorwissen und seine der korrekten Satzstellung. All dies dann ist das durchaus entwick- Vorerfahrungen, um sich in der neu- ist nicht beliebig, das Kind bildet lungsangemessen. Wenn sie aber en Sprache zu orientieren und um sich Regeln zu diesem Wort und mehrere Monate lang wahllos und kommunizieren zu können. Dies ist anderen Satzteilen (z.B. Verb und dauernd mischen, egal mit wem sie im Kindergartenalter kein bewuss- Verneinung), erst allmählich kann sprechen (auch mit der deutsch- tes, sondern eher ein intuitives Wis- es sich die verschiedenen Regeln sprachigen Erzieherin), dann muss sen. Dazu gehört z.B. das Wissen, aneignen und der korrekten Form die Erzieherin genauer hinschauen. dass Sprache in Sätzen organisiert nähern. Möglicherweise haben diese Kin- ist, dass sprachliche Mitteilungen der noch kein Bewusstsein für ihre nicht einfach durch wahlloses Anei- Das Prinzip der Vereinfachung – das beiden Sprachen und entsprechend nanderreihen von Wörtern gebildet macht den Einstieg leichter keine “Trennungsfähigkeit”. werden, sondern nach bestimmten formalen Ordnungsprinzipien und Anders als beim Sprachunterricht Ein erster Schritt ist der Versuch, ist für Kinder, die neu in den Kin- Regeln ausgerichtet sein müssen. spielerisch dieses Bewusstsein zu dergarten kommen, das Deutsch- So versuchen Kinder relativ bald in 9
DOSSIER Kanner am Fokus lernen eine Frage des Überlebens (Präposition), der (Artikel), möchte Phasen, sie machen nicht einfach in der Gruppe; sie müssen eine (Hilfsverb bzw. Modelverb). individuelle „Fehler“. So gesehen ist Sprache lernen, um „dazuzugehö- es nicht besonders sinnvoll, diese ren“. Sie sind konfrontiert mit einer Viele „Anfänger“ benutzen nach „sog. Fehler“ von Kindern zu korri- unendlichen Fülle von Reizen und einer Weile für alle Worte ein und gieren, sie sind teilweise „vorpro- Informationen, die sie nicht ver- denselben Artikel (der Puppe, der grammiert“, sie erleichtern Kindern stehen, und sie können sich nicht Wagen, der Brot) und bevorzugen den Einstieg und sie werden all- mitteilen. Gleichzeitig möchten sie beim Verb eine Form („gehen“ oder mählich abgebaut. gerne bald „mitmischen“. In dieser „gehe“). Situation entwickeln Kinder (und Wie Kinder sich sprachlich „durch- Erwachsene) Strategien, die ihnen Das Kind reduziert auf diese Weise lavieren“, damit sie bald „dazuge- die Orientierung und den Einstieg in die Vielfalt der Formen und erleich- hören“ diese neue Welt erleichtern. Zu die- tert sich den Einstieg in die neue sen Strategien gehört vor allem das Sprache – mit Hilfe dieser Strate- Vor allem kontaktfreudige Kinder, Prinzip der Vereinfachung und Aus- gien. Erst allmählich nähert es sich die neu in die Gruppe kommen, lassung. Es werden insbesondere der „korrekten“ Form. wollen bald dazugehören und „mit- Wörter ausgelassen, die keine we- mischen“ – auch wenn sie nur sehr Auch „Fehler“ ergeben einen Sinn wenig Deutsch können. So entwi- sentlichen Informationen enthalten. ckeln viele Kinder beim Zweitspra- Man spricht im Zusammenhang mit chenerwerb eine Art „soziales“ und Ein Beispiel: Marie sagt zu Melanie: den eben beschriebenen „Fehlern“ strategisches Sprachverhalten, mit „Bauecke spielen“ (gemeint ist: ich von einer „Lernsprache“. Das heißt dem sie ihre Lücken geschickt ka- möchte jetzt in der Bauecke spie- die meisten „Zweitsprach-Lerner“ schieren und ihr Können maximal len). egal welche Familiensprache sie ha- ausnützen. Dies betrifft vor allem Ausgelassen werden hier – und ben, durchlaufen beim Lernen der ältere Kinder. Der Sprachforscher das ist typisch: Ich (Pronomen), in Zweitsprache bestimmte geregelte François Grosjean hat die Perspek- 10
Kanner am Fokus DOSSIER tive und das Verhalten solcher Kin- lungsverzögerung, die sich zweisprachig aufwachsen lassen. der folgendermaßen beschrieben: nicht auf die Zweitsprache be- Andererseits, sobald es um konk- schränkt. rete Fragen der Sprachentwicklung • ich gehe davon aus, dass das, und Sprachförderung von Kindern was geredet wird, sich unmit- Was nun tatsächlich eine Rolle in Tageseinrichtungen geht, dann telbar auf die jeweilige Situati- spielt, ist oft schwierig zu sagen. In tauchen ganz andere Bilder auf: on oder Handlung bezieht und jedem Fall ist es wichtig, zu beob- Der Blick richtet sich vor allem auf ich rate dann einfach, was es achten, ob das Kind den Kontakt mit “Sprachprobleme” in einer Sprache sein könnte deutschsprachigen Kinder meidet – nämlich Deutsch. und nur selten in deutscher Sprache • ich tu in der Gruppe so, als wür- Kontakt aufnimmt; ob es vor allem 1+1=2: So funktioniert Zwei- de ich verstehen, was gespro- mit jüngeren Kindern spielt und sprachigkeit nicht chen wird, auch wenn ich es spricht; ob es generell schüchtern nicht verstehe und gehemmt wirkt und den Kon- Häufig gehen wir bewusst oder takt mit Kindern meidet. Weitere unbewusst davon aus, dass ein • ich lerne ein paar Ausdrücke Fragen sind: wie ist das sprachliche zweisprachiges Kind eigentlich und Sätze, und setze die oft ein, Kontaktverhalten in der Bring- und zwei einsprachige Kinder in sich und so glauben andere, dass ich Abholsituation? Was sagen die El- vereint bzw. vereinen sollte. De- schon fast fließend sprechen tern über die Sprachkompetenz des mentsprechend haben wir dann kann Kindes in der Familiensprache? auch dieselben Maßstäbe und Er- wartungen wie bei einsprachigen • ich nütze das, was ich schon Was haben wir für ein Bild von Kindern. In der Fachliteratur spricht kann, maximal aus zweisprachigen Kindern ? man in diesem Zusammenhang vom “monolingualen und monokulturel- • ich konzentriere mich erst auf Immer noch ist Zweisprachigkeit len” Blick, der die Besonderheiten die größeren Einheiten: Einzel- und Mehrsprachigkeit hierzulande von zweisprachigen Lebensformen heiten kommen später. etwas besonderes und wir verges- nicht wahrnimmt. sen, dass mindestens die Hälfte der Wenn die Sprache sich nicht mehr Weltbevölkerung zwei- oder mehr- Kinder, die in verschiedenen Kul- entwickelt sprachig aufwächst und dass es turen und Sprachen leben, entwick- Einige der Lerner bleiben allerdings z.B. in Europa kaum einsprachige eln ein eigenes sprachliches und bei bestimmten Grammatikfehlern Gesellschaften gibt. Auch his- kulturelles Profil, etwas Neues ent- (und bei einem sehr begrenzten torisch gesehen ist das Ideal der steht und nicht nur die Summe von Wortschatz) stehen, es kommt zu perfekten Beherrschung einer “Na- zwei Teilen: Sprache 1 + Sprache 2. einer sog. Einfrierung bzw „Fossi- tionalsprache” gar nicht so selbst- Das heißt: Kinder, die sich ganz in lierung“. Das heißt aber nicht, dass verständlich: Die Idee einer “ein- verschiedenen Systemen orientie- die Fehler des betreffenden Kindes heitsstiftenden” Nationalsprache ren müssen, entwickeln in der Re- von Erwachsenen nicht oft genug gibt es im europäischen Raum erst gel andere Anpassungs- und Orien- verbessert wurden. Die Gründe für seit der Gründung des bürgerlichen tierungsstrategien als einsprachig einen solchen Stillstand sind meist Nationalstaats in Deutschland Ende aufwachsende Kinder. komplexer: 18./Anfang 19. Jahrhundert. Früher war Mehrsprachigkeit von Individu- aus: Michaela Ulich, Pamela Oberhuemer, • Es fehlt dem betreffenden Kind en und Gesellschaften ganz selbst- Monika Soltendieck: Die Welt trifft sich an Motivation, die Sprache verständlich. im Kindergarten. Interkulturelle Arbeit weiter zu lernen (z.B. weil es und Sprachförderung in Kindertagesein- annimmt, dass es Deutschland Unser sprachliches Selbstverständ- richtungen. Berlin 2007, 4. Auflage bald wieder verlassen wird; nis ist heute etwas schillernd. Einer- oder: es findet keine deutschen seits ist die Beherrschung mehrerer Freunde); Sprachen ein Ideal und ein Bildungs- Mit der freundlichen Genehmigung des gut. Bei unserer Befragung von päd- Cornelson Verlages. • das Kind bekommt insgesamt agogischen Fachkräften im Raum zu wenig sprachliche Anregung; München wurde diese Tendenz ganz deutlich: 95% der befragten Fach- • es handelt sich um eine allge- kräfte würden ihre eigenen Kind- meine sprachliche Entwick- er gerne, wenn es möglich wäre, 11
DOSSIER Kanner am Fokus Vom Sprechenlernen Emmi Pikler* Die Sprachentwicklung verläuft nicht parallel zur geistigen Entwicklung des Kindes. Es gibt Kinder, die früh, schon im Alter von ein- bis anderthalb Jahren, anfangen zu sprechen, andere beginnen erst im Alter von zweieinhalb bis drei Jahren. Dies ist nahezu unabhängig davon, wie sie sich auf anderen Gebieten entwickeln. Die Fähigkeit zu sprechen wird individuell erworben und steht nicht unbedingt im Zusammenhang mit der Fähigkeit des Kindes zu verstehen. Verhältnismäßig früh, im Alter von Nachahmung gelingt ihm manchmal Wieder ein wenig später probiert sechs bis acht Wochen, beginnt der erstaunlich – fast irreführend – gut. es, sinnbezogene Worte zu formen, Säugling zu lallen. Meistens beginnt Lauschen wir diesen »Monologen« und versucht, die ihm bekannten er mit »hö-hö«. Er probiert das aus der Entfernung, so haben wir Personen, Gegenstände oder Hand- tagelang. Später, so als würde er oft den Eindruck, als würde das lungen mit Worten zu bezeichnen. systematisch Phonetik üben, pro- Kind vernünftig und fließend spre- biert er, an verschiedenen Stellen chen, in einem plaudernden oder Anfangs fällt ihm das noch schwer, im Mundraum Laute zu bilden. Er erklärenden Tonfall, wie es ihn bei und das gemeinte Wort besteht versucht Kehl-, Zungen- und Lip- den Erwachsenen gehört hat.** eventuell nur aus einem Laut oder penlaute, wiederholt sie und bildet einer Silbe: Mit »ma« oder »pa« be- fortwährend neue Laute. Tag für Tag Das Kind versteht jedoch schon viel zeichnet es Mama oder Papa, mit und über Stunden kann er sich da- von dem, was die Erwachsenen sa- »e« sein Essen, oder es wiederholt mit unterhalten. Die Laute, die ihm gen – selbst während der Phase, in »nö, nö, nö« und dreht seinen Kopf schon bekannt sind, ordnet er ein- der es zunächst nur den Klang der weg für »nein«, wenn es etwas ander zu wie kostbare Perlen. Sprache nachahmt. Es schaut auf nicht mag. Seine Brabbelsprache den Tisch, wenn Erwachsene davon wird durch Worte, die es schon aus- Später »plaudert« er fast ständig, reden. Es sucht sein Essen, wenn sie sprechen kann, bereichert. Es spielt manchmal leise, manchmal lauter. es erwähnen, und es versteht Ver- auch mit ihnen, wiederholt sie und Auch sein Spielen begleitet er mit bote. Allerdings kommt es auch vor, freut sich, wenn es ihm gelingt, sie »Selbstgesprächen«, mit Lallen und wenn es zu etwas keine Lust hat, auszusprechen. Brabbeln. Bald wiederholt er nicht dass es sich so verhält, als würde nur einzelne Laute, sondern sagt es nicht verstehen, was wir zu ihm Natürlich erlernt nicht jedes Kind ganze Silben wie »da-da«, »ba-ga«, sagen. das Sprechen mit gleicher Leich- »gö-ga-la«. Er spricht zu seiner tigkeit. Manche Kleinkinder formen Hand und zu allem, was ihn umgibt ... dazwischen jauchzt er laut oder lacht. So wie er die Laute zu »Wor- ten« zusammensetzt, verbindet er später diese »Worte« zu »Sät- zen« – manchmal sagt er ganze »Monologe« vor sich hin in sei- nem unverständlichen Gebrabbel. Interessanterweise enthält diese »Brabbelsprache« schon viele Ei- gentümlichkeiten der in der Um- gebung des Kindes gesprochenen Sprache. Es ist aber in Wirklichkeit noch keine Sprache und auch kein Ausdruck von Gedanken. Das Kind bemüht sich nur, den Klang, die Be- tonung und die Melodie der Sprache der Erwachsenen nachzuahmen. Die 12
Kanner am Fokus DOSSIER mühelos Worte, sie fangen leicht Doch damit das Kleinkind beginnt, wir sagen, oder vielleicht gar nichts und früh an zu sprechen. Doch es Worte selbst zu formen, ist noch davon versteht, verhalten wir uns gibt Kinder, die dazu weniger ver- etwas anderes notwendig: Sein nicht so, als wären wir stumm. Ver- anlagt sind und damit später begin- Mitteilungswunsch muss dazukom- trauen wir darauf, dass der Säug- nen, obwohl sie nicht weniger klug men. Je besser die Beziehung des ling uns verstehen wird, wenn wir sind. Bei ihnen dauert die Periode Säuglings zu seiner Umgebung ist, natürlich und einfach mit ihm spre- der Brabbelsprache eben länger, sie je früher seine Mutter oder sein Va- chen. (...) machen sich über längere Zeit mit ter auf seine Laute reagieren und Wir ahmen die Sprechfehler des Zeigen und Gesten verständlich. später seine einfachen Worte ver- kleinen Kindes weder nach noch stehen, je öfter das Kind erfährt, verbessern wir sie. Wir machen Es hängt jedoch nicht nur von der dass man seinen – wenn auch nur es auch nicht mit fortwährendem Reife des Kindes ab, wann es zu mit Anfangssilben geäußerten – Wiederholen darauf aufmerksam, sprechen beginnt. Das Kind lernt Wünschen Beachtung schenkt (zum was und wie es etwas gesagt hat. das Sprechen von uns. Um die Spra- Beispiel erhält es die Liesel-Puppe, Das ist völlig überflüssig. Versu- che zu verstehen und um mit dem die es mit der Silbe »Li« bezeichnet; chen wir nicht, das Sprechenlernen Sprechen zu beginnen, muss es die oder man unterlässt eine Handlung, zu beschleunigen. Mit ständigem Erwachsenen sprechen hören. Da- wenn es mit der Silbe »ne« – nein – Drängen, Verbessern und Wieder- ran fehlt es im Allgemeinen nicht. protestiert, natürlich nur innerhalb holenlassen sowie mit Belehrungen Aber es genügt nicht, dass das Kind der Grenzen gegebener Ordnung belästigen wir das Kind nur und er- das Sprechen bloß hört, also bloß und Möglichkeiten), umso vergnüg- reichen dasselbe wie mit jeder Art vor ihm gesprochen wird. Wir müs- licher, interessanter und voller Ent- von Drängen und Ungeduld: Anstatt sen auch mit ihm sprechen, damit deckungen wird das Sprechen für dass das Kleinkind langsam, schritt- es auf den Sinn der Sprache auf- das Kind sein und umso mehr Lust weise, geduldig und mit Genuss merksam wird. wird es dazu haben. sprechen lernt, stellen wir es vor eine ermüdende, schwierige Aufga- Sprechen wir mit dem Kind von Das kleine Kind lernt von uns das be. Achten wir stattdessen immer Geburt an, erzählen wir ihm et- Sprechen. Daher ist es wesentlich, darauf, das Kind möglichst gut zu was, anstatt nur zu babbeln oder darauf zu achten, auf welche Art verstehen und dass wir selbst ruhig, verniedlichende Äußerungen von und Weise wir mit ihm sprechen, verständlich, richtig und fließend uns zu geben! Von Anfang an sa- welche Worte wir wählen und wie sprechen. Dem widerspricht na- gen wir dem Säugling, was wir mit wir sie betonen. Von Anfang an türlich nicht, freundlich und unge- ihm tun, was wir von ihm möchten, benutzen wir im Umgang mit dem zwungen zu sein. Früher oder spä- was als Nächstes folgen wird, so Säugling keine sinnlosen Worte und ter übernimmt und lernt das Kind als würden wir laut denken. Immer sprechen nicht betont langsam oder mit Sicherheit unsere Art zu spre- wenn wir mit ihm zusammen sind, übertrieben deutlich mit ihm, denn chen. ihn aufnehmen, baden, zum Stillen damit erschweren wir ihm nur das vorbereiten, ins Freie bringen oder Sprechenlernen. Wir sprechen mit * aus: Friedliche Babys – zufriedene Müt- etwas anderes mit ihm tun, sagen dem Säugling – auch schon mit dem ter, 2001, S. 82–86, leicht gekürzt und wir ihm, was wir mit ihm vorhaben. Neugeborenen – so verständlich, sprachlich überarbeitet von Ute Strub Zwar wird er es zunächst noch nicht und das heißt immer auch gram- ** Die Nachahmung ist manchmal so echt, dass wörtlich verstehen, doch wird er matikalisch richtig, wie mit jedem Erwachsene tatsächlich getäuscht werden. Ein von Anfang an mit Freude auf uns Erwachsenen: einfach, fließend, Besucher fragt zum Beispiel das anderthalb achten, wenn wir auf diese Weise ruhig und freundlich. Also nicht: bis zweijährige Kind ein wenig von oben her- zu ihm sprechen. Er wird unsere »Paulchen geht panschi-panschi«, ab: »Wie geht es dir?«, »Wie heißt du?« oder Mundbewegungen beobachten und sondern: »Komm Paulchen, jetzt so ähnlich. Das Kind antwortet mit verständi- die Art, wie wir die Laute bilden. wirst du baden!« Nicht: »Das Baby ger, erklä- render Betonung, die es eventuell Später, wenn der Säugling immer bekommt Milchi«, sondern: »Ja, mit dazu passenden Handbewegungen beglei- wieder dieselben Laute, dasselbe Julchen, gleich bekommst du deine tet. Der Besu-cher, etwas verwirrt, versteht Wort im Zusammenhang mit dem- Milch.« Reden wir nicht kindisch mit kein Wort von alledem, kann natürlich auch selben Gegenstand, derselben Be- dem Säugling, denn nicht wir lernen nichts verstehen, weil das Ganze nicht den wegung oder demselben Geschehen vom Kind sprechen, sondern das erwarteten Sinn ergibt. Wie gesagt, das Kind hört, verbindet er das, was er sieht Kind lernt es von uns. Auch wenn ahmt nur den Klang, die Musik der Sprache und erlebt, mit dem, was er dabei wir die Empfindung haben sollten, nach. hört. Er beginnt wirklich zu verste- dass das Kind noch nicht alles, was Mit der freundlichen Genehemigung der Pik- hen, was wir sagen. ler-Gesellschaft Berlin. 13
DOSSIER Kanner am Fokus Interview mit Remo Largo «Hören wir auf mit überstürzten Reformen!» Fast alle Eltern haben seine Bücher gelesen. Jetzt schaltet sich der Kinderarzt Remo Largo («Babyjahre», «Kinderjahre») in die Bildungspolitik ein. Er sagt, warum der Fremdsprachenunterricht an der Primarschule ein «Irrweg» ist – und wo Kinder und Jugendliche den Erwachsenen überlegen sind. Arzt, Autor und Vater - Remo Lar- Sie haben den Fremdsprachenun- In einer Privatschule wurde eine go (70) ist emeritierter Professor terricht im «Tages-Anzeiger» als Engländerin als Kindergärtnerin für Kinderheilkunde und Entwick- «pädagogischen Irrweg» bezeich- eingestellt, die der deutschen Spra- lungsspezialist. Er leitete von 1975 net. Was läuft falsch? che nicht mächtig war. Nach einem bis 2005 die Abteilung «Wachstum Jahr konnten sich die Kinder auf und Entwicklung» an der Univer- Je früher die Kinder eine Spra- Englisch recht gut verständigen. sitäts-Kinderklinik Zürich. Er er- che lernen, desto besser, heisst Kindern muss Sprache nicht «beige- forschte im Rahmen der Zürcher es. Stimmt. Aber nur, wenn sie die bracht» werden. Sie bringen das Ge- Longitudinalstudien die Entwick- Sprache auf ihre Weise lernen dür- hörte mit Personen und Gegenstän- lung von mehr als 800 Kindern von fen. Dann sind kleine Kinder eigent- den, Handlungen und Situationen der Geburt bis ins Erwachsenenal- liche Lerngenies. Sie erbringen in in Verbindung und lernen so, eine ter. Largo publizierte mehrere Best- den ersten Lebensjahren eine Leis- Sprache zu verstehen und schließ- seller, darunter «Babyjahre» (1993), tung, zu der kein Erwachsener fähig lich auch zu sprechen. Anders als «Kinderjahre» (1999), «Schülerjah- wäre. Sie können sich jede Sprache, Erwachsene müssen sie keine Voka- re» (2009), «Lernen geht anders» die auf der Welt gesprochen wird, beln büffeln und Grammatikregeln (2010) und «Jugendjahre» (2011). aneignen. Im Alter von 5 Jahren auswendig lernen. Remo Largo ist Vater von drei Töch- können sich die meisten Kinder in tern und Grossvater von vier Enkel- vollständigen Sätzen ausdrücken. Kennen Sie Länder, in denen die kindern Ihr Wortschatz umfasst etwa 4000 Schulen genau dies tun? Wörter. Sie lernen jeden Tag bis zu Herr Largo, seit Wochen streiten 6 neue Wörter – ohne dass wir es Das sogenannte Immersionsler- Politiker darüber, welche Fremd- bemerken würden. Dazu verinner- nen wird in Australien, Kanada und sprache Primarschüler zuerst ler- lichen sie die Regeln des Satzbaus Finnland angewandt. Es ist dem na- nen sollen. Sind Sie für Französisch und der Grammatik. türlichen Spracherwerb nachemp- oder für Englisch? funden. Die Fremdsprache kommt Wie schaffen das die Kinder? im Alltag konsequent zum Einsatz. Remo Largo: Ich kann Ihnen kei- Die Kinder machen also vielfältige ne vernünftige Antwort geben. Ein Die Kinder verfügen wohl über eine sprachliche Erfahrungen in allen etwas schräger, aber dennoch pas- angeborene Begabung zum Spra- Lebensbereichen. Die Immersion sender Vergleich: Es ist etwa so, wie cherwerb. Sie müssen aber ausge- beginnt spätestens mit 3 Jahren, ist wenn Sie mich fragen würden, ob dehnte Erfahrungen in einem stän- von hoher Intensität und wird bis wir Doppeldecker oder Segelflug- digen sprachlichen Austausch mit in die Oberstufe weitergeführt. Im zeuge oder beides für unsere Flug- Eltern, anderen Bezugspersonen Südtirol werden die Kinder eben- waffe anschaffen sollen. und vor allem mit Kindern machen. falls nach diesen Grundsätzen vom Dabei genügt es nicht, Sprache nur Kindergarten bis in die Oberstufe Weder das eine noch das andere er- zu hören. Die Kinder müssen Spra- unterrichtet. Die Kinder wachsen gibt Sinn? che konkret erleben. Das heisst, perfekt zweisprachig auf. Neben Sprache muss mit ganzheitlichen Deutsch und Italienisch sprechen Der Fremdsprachenunterricht, wie Erfahrungen verknüpft sein. Die viele Kinder auch noch Ladinisch. wir ihn in der Schweiz kennen, ist Sprache muss in den Alltag der Kin- im Ansatz falsch. Die Bildungspo- der eingebettet sein und ständig in Bei uns werden Sprachen analy- litiker tun so, als ob sie über die einem direkten Bezug zu ihren Er- tisch erworben: Man büffelt Voka- Kinder frei verfügen könnten und fahrungen stehen. beln und lernt, wie Sätze aufgebaut vor allem, als ob die Kinder beliebig sind. Kann nicht auch diese Metho- lern- und anpassungsfähig wären. Das geht problemlos in der Familie, de funktionieren? Sie sind es nicht. aber in der Schule? Es ist ein pädagogischer Sünden- 14
Kanner am Fokus DOSSIER fall, wenn man den Kindern auf zu negativen Lernerfahrungen. Eine ich – wurden durch den Franzö- der Primarstufe die Fremdsprache kürzlich durchgeführte Studie des sisch-Unterricht traumatisiert, was analytisch beibringen will. Das ist Wissenschaftlichen Kompetenzzen- leider oftmals die Lust, in die Ro- genauso erfolglos wie Unterricht in trums für Mehrsprachigkeit an der mandie zu fahren, geschmälert hat. Algebra. Die Regeln der Grammatik Universität Freiburg ergab, dass ein Vor allem aber fehlen gesellschaft- und Syntax – auch in der deutschen analytischer orientierter Sprachun- liche und kulturelle Inhalte, die ver- Sprache – sind für die Kinder vor terricht im frühen Schulalter kaum mittelt werden und die man teilen dem 10. Lebensjahr ein Buch mit Erfolg bringt. An der Universität Zü- könnte. Eine Sprache muss gelebt sieben Siegeln. Erst mit dem Auftre- rich kam eine Studie über das Frü- werden. ten des abstrakten Denkens nimmt henglisch zum gleichen Ergebnis. das bewusste Verständnis für die Simone Pfenninger, die Studienlei- Das klingt gut, aber wie soll an der Gesetzmäßigkeiten der Sprache zu terin, sagte in der «NZZ am Sonn- Schule eine Sprache konkret gelebt und setzt damit die Fähigkeit zum tag»: Englisch kann man auf die werden? analytischen Spracherwerb ein. Oberstufe verschieben. Selbst für Jugendliche kann diese Das Wallis hat es vorgemacht: Schü- Form des Spracherwerbs eine Über- Das beurteilen die meisten Politi- ler der Oberstufe wurden für ein forderung darstellen. ker anders, sie sehen gar den Zu- Jahr zwischen dem Ober- und Un- sammenhalt der Schweiz gefähr- terwallis ausgetauscht. Diese sehr Also besser kein Fremdsprachen- det, wenn an der Primarschule kein sinnvolle Förderung der Zweispra- unterricht an der Primarschule, Französisch mehr gelehrt wird. chigkeit wurde von den Schulbe- solange er auf diese Weise funkti- hörden im letzten Jahr leider ein- oniert? Es könnte auch das Gegenteil zu- gestellt. Ein solcher Austausch sollte treffen. Französisch ist schwierig auf der Ebene der Familien, Schu- Dieser Unterricht führt letztlich nur zu lernen. Viele Erwachsene – auch len und auch der Medien vermehrt 15
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