JAHRGANG / 1 E-JOURNAL (2021) - Herausgegeben von Ernst Müller - FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFS ...

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E-JOURNAL (2021)
10. JAHRGANG / 1

    FORUM
    INTERDISZIPLINÄRE
    BEGRIFFS­GESCHICHTE
    (FIB)

Herausgegeben von Ernst Müller
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung
  Schützenstraße 18 | 10117 Berlin
  T +49 (0)30 20192-155 | F -243 | sekretariat@zfl-berlin.org

IMPRESSUM

Herausgeber dieser Ausgabe	
Ernst Müller & Falko Schmieder, Leibniz-Zentrum für
Literatur- und Kulturforschung (ZfL)
www.zfl-berlin.org

Direktorin
Eva Geulen

Redaktion
Ernst Müller (Leitung), Dirk Naguschewski,
Tatjana Petzer, Barbara Picht, Falko Schmieder,
Georg Toepfer

Wissenschaftlicher Beirat
Faustino Oncina Coves (Valencia), Christian Geulen
(Koblenz), Eva Johach (Konstanz), Helge Jordheim
(Oslo), Christian Kassung (Berlin), Clemens Knobloch
(Siegen), Sigrid Weigel (Berlin)

Gestaltung        KRAUT & KONFETTI GbR, Berlin
Layout / Satz     Tim Hager
Titelbild         D. M. Nagu

ISSN 2195-0598
DOI: 10.13151/fib.2021.01

Sämtliche Texte stehen unter der Lizenz ­­­
CC BY-NC-ND 4.0. Die Bedingungen dieser Lizenz
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dung von Material aus anderen Quellen (gekenn-
zeichnet mit Quellenangabe) wie z. B. Schaubilder,
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© 2021 / Das Copyright liegt bei den Autor*innen.

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021   2
INHALT

4    EDITORIAL
     Ernst Müller, Falko Schmieder

6    SCHIEFRUNDE PERLEN
     ZUM DEUTUNGSANSPRUCH METAPHORISCHER EPOCHENNAMEN
     Barbara Picht

13   KETTE, STROM, WELLENSCHLAG
     ZUR METAPHOROLOGIE DER TRADITION
     Daniel Weidner

25   GESCHICHTSMETAPHERN UND IHRE GESCHICHTE
     EINE AUSEINANDERSETZUNG MIT REINHART KOSELLECK
     Falko Schmieder

38   ›KRISTALLISATION‹ UND ›VERFLÜSSIGUNG‹
     ALS METAPHERN DER GESCHICHTSTHEORIE
     Ernst Müller

     REZENSIONEN

46   WOLFGANG HOTTNER: »KRISTALLISATIONEN. ÄSTHETIK UND POETIK DES
     ANORGANISCHEN IM SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT«, GÖTTINGEN: WALLSTEIN
     VERLAG 2020, 280 S.
     FELIX HEIDENREICH: »POLITISCHE METAPHOROLOGIE. HANS BLUMENBERG
     HEUTE«, STUTTGART: J.B. METZLER-VERLAG 2020, 136 S.
     Ernst Müller

51   LUCIAN HÖLSCHER: »ZEITGÄRTEN. ZEITFIGUREN IN DER GESCHICHTE DER
     NEUZEIT«, GÖTTINGEN: WALLSTEIN VERLAG 2020, 325 S.
     Falko Schmieder

54   MIRJAM LOOS: »GEFÄHRLICHE METAPHERN. AUSEINANDERSETZUNGEN
     DEUTSCHER PROTESTANTEN MIT KOMMUNISMUS UND BOLSCHEWISMUS
     (1919–1955)«, GÖTTINGEN: VANDENHOECK & RUPRECHT 2020 ­
     (ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE, REIHE B: DARSTELLUN-
     GEN, BD. 74), 266 S.
     Benedikt Brunner

56   GENNARO IMBRIANO: »DER BEGRIFF DER POLITIK. DIE MODERNE ALS
     ­KRISENZEIT IM WERK VON REINHART KOSELLECK«, ­
     FRANKFURT AM MAIN/NEW YORK: CAMPUS 2018, 187 S.
      Sebastian Huhnholz

3                                    FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021
EDITORIAL
Ernst Müller
Falko Schmieder

Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach              Mit der Verzeitlichung und Dynamisierung der
einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträ-             Geschichte der Moderne geht die Proliferation
gen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe                     von Epochenkonstruktionen einher, in denen das
geht es mit ›Epoche‹, ›Tradition‹, ›Geschichte‹ sowie            ­Verhältnis der Gegenwart zu Vergangenheit und
­›Kristallisation‹/›Verflüssigung‹ um Begriffsmetaphern,          Zukunft jeweils neu verhandelt wird. Unter dieser
 also um solche, in denen begriffliche und metapho-               Perspektive rückt der Literatur- und Kulturwissen-
 rische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die                schaftler Daniel Weidner (Universität Halle) den
 zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts-             Begriff der Tradition ins Blickfeld. Ausgehend von
 und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den An-               einem Resümee von ­Arbeiten zu dessen Erforschung,
 stoß für das Thema lieferte die internationale Tagung           die zeigen, wie höchst fragil und vieldeutig der Begriff
 »Metafóricas espacio-temporales para la historia«,              der Tradition in der Moderne ist, plädiert Weidner für
 die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung             eine ­metaphorische Perspektive, die er am Beispiel
 von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández                  einiger Autoren exemplarisch entwickelt. Dabei
 Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden               geht es um die unbegriffliche und figurale Funktion
 hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und ­Falko           von ›Tradition‹, also darum, die Bedeutungs- und
 ­Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überar-           Diskursverschiebungen sichtbar zu machen, die
  beiteter Form abgedruckt sind.1                                sich im Wechsel der ­Parallel- und Leitbegriffe (statt
                                                                 Tradition zum Beispiel auch Geschichte, Gedächtnis,
Die Historikerin Barbara Picht beobachtet in ihrem               Kultur) und Hintergrund­metaphoriken (Kette, Strom,
Beitrag, dass sich in vielen Epochenbegriffen ein                Ordnung, Wellenschlag) manifestieren. ›Tradition‹
metaphorischer Kern mit normativen Werturteilen                  erscheint als Kollektiv­singular in Spannung zu den
verbindet. Die Bezeichnungen von Epochen und wie                 verschiedenen Traditionen (inklusive ihrer jeweiligen
sie zueinander stehen, ist Ergebnis kulturhistorischer           Praktiken der Überlieferung) sowie als Gegenbegriff
Deutungskämpfe, die nicht nur neue (zukunftsbezo-                zur Moderne, die sich zwar normativ als Überwindung
gene) Epochenentwürfe generieren, sondern zugleich               der Traditionen begreift, dabei zugleich aber perma-
auch immer das Verständnis vergangener Epochen                   nent Anstoß zur Bewahrung oder Neuerfindung von
und ihre Chronologie verändern. Ein solcher Begriff              Traditionen gibt.
von Epoche im Sinne eines Zeitraumes oder Zeit­
abschnitts bildet sich allerdings erst im letzten Drittel        Falko Schmieders Beitrag zur Geschichte
des 18. Jahrhunderts heraus, also in der Zeit, die als           der ­Geschichtsmetaphorik versteht sich als
›Sattelzeit‹ selbst ein Beispiel für eine – fast auch            ­Auseinandersetzung mit Koselleck. Obwohl in den
schon zum Begriff geronnene – Neubildung metapho-                 Geschichtlichen Grundbegriffen die Metaphorik
rischen Ursprung ist.                                             nicht programmatisch berücksichtigt wurde, spielt
                                                                  sie eine wichtige Rolle. ­Koselleck hat allgemein
                                                                  die Metaphernpflichtigkeit von auf Zeit bezogenen
1   Die Ausgabe steht im Rahmen des vom spanischen                Darstellungen herausgestellt und speziell an die
    Wirtschafts- und Wissenschaftsministerium geförderten         verzeitlichten Kollektivsingulare die These der
    Forschungsprojektes FFI2017-82195-P. Die spanischen           Bildbedürftigkeit und Bildanziehungskraft geschicht-
    Fassungen werden in dem von Javier Fernández Sebastián
                                                                  licher Grundbegriffe geknüpft. Schmieder geht den
    und Faustino Oncina Coves im Verlag Pre-Textos heraus-
    gegebenen Band Metáforicas espacio-temporales para la         metaphorischen Dimensionen bei Koselleck auf der
    historia. Enfoques teóricos e historiográficos erscheinen.    Ebene seiner Untersuchungsgegenstände und der

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021                                                            4
Ernst Müller, Falko Schmieder

Interpretationssprache nach und diskutiert damit          histo­rischer Zeiten zu liefern. Das Modell des Zeit-
­verbundene Widersprüche, zum Beispiel zwischen           gartens wird gegen das von Braudel und Koselleck
 der von Koselleck der Geschichtsphilosophie              ­verwendete Modell der Zeitschichten profiliert und soll
 ­zugeschriebenen Entdeckung der Machbarkeit von           es erlauben, die Zusammenhänge und Beziehungen
  Geschichte und den sowohl zeitgenössisch wie auch        der vielfältigen Zeitfiguren komplexer zu erfassen.
  bei Koselleck selbst auftauchenden Sprachbildern für
  ihre Verselbständigung und Unverfügbarkeit. ­Anhand     Der Historiker Benedikt Brunner vom Mainzer
von Metaphern für Geschichte aus der ­zweiten Hälfte      Leibniz-Institut für Europäische Geschichte wendet
des 20. Jahrhunderts (wie dem ­›Crashkurs‹ oder dem       sich mit Mirjam Loos’ Buch Gefährliche Metaphern.
›Realexperiment‹) werden die historischen Grenzen         Auseinandersetzungen deutscher Protestanten mit
der Geschichtlichen ­Grundbegriffe ausgelotet.            Kommunismus und Bolschewismus (1919–1955)
                                                          einer Arbeit zu, die die Brisanz und die höchst
Der Beitrag von Ernst Müller wendet sich                  ­folgenreichen praktisch-politischen Konsequen-
­›Kristallisation‹ und ›Verflüssigung‹ zu, zwei Meta-     zen der von evangelischen Autoren der Weimarer
 phern zu, die ungeachtet ihrer Gegenläufigkeit in        Republik verwendeten Metaphorik aus dem Wortfeld
 den soziologischen Theorien von Arnold Gehlen und        Militär–Krieg–Kampf untersucht. Ihre These ist, dass
 Zygmunt Bauman zum Einsatz gelangt sind, um die          nicht zuletzt diese Sprachbilder die Akzeptanz des
 These eines Endes der Geschichte zu entfalten. ­Eine     ab 1941 geführten Vernichtungskrieges gegen die
problemgeschichtliche Betrachtung der Vorgeschichte       Sowjetunion befördert haben.
beider Metaphern führt mit Marx auf einen Referenz-
punkt, der zugleich geeignet ist, Inkonsistenzen und      Außerhalb des Themenschwerpunktes widmet sich
ideologische Dimensionen der späteren Theorien            abschließend die Rezension des Politikwissenschaft-
und der sie grundierenden Metaphern zu beleuch-           lers Sebastian Huhnholz (Universität Hannover)
ten. Auch die Diskussion um ›Kristallisation‹ und         Gennaro Imbrianos als Werkbiographie und eine
 ­›Verflüssigung‹ ist mit der Frage verbunden, ob es      Art Einführungswerk angelegter Studie Der Begriff
  sich um M­ etaphern oder um Begriffe handelt.           der Politik. Die Moderne als Krisenzeit im Werk von
                                                          Reinhart Koselleck. Huhnholz hebt das Interesse des
  Das Thema der Kristallisation bildet die Überleitung    Autors hervor, die theoretische Eigen- und politische
  zum Rezensionsteil, der von Ernst Müller mit einer      Selbständigkeit von Kosellecks vielschichtigem Werk
  Doppel­besprechung eröffnet wird: Wolfgang Hott-        herauszuarbeiten und versteht in diesem Sinne
 ners Monographie ­Kristallisationen. Ästhetik und        ­bereits den Obertitel programmatisch als eine Anti-
 Poetik des ­Anorganischen im späten 18. Jahrhundert       these zu Carl Schmitts berühmt-berüchtigter Schrift.
 thematisiert die Genese der Kristallisationsmetapher
 im Prozess der Ausdifferenzierung des Organischen/
 Anorganischen um 1800 und damit die Vorgeschichte
 späterer politisch-sozialer Verwendungen in ­
 der M ­ oderne. Die Bedeutung der politischen
 ­Dimension von Metaphern unterstreichend, zieht
  die Rezension einen Bogen zu Felix Heiden-
  reichs Arbeit über Hans Blumenbergs Politische
­Metaphorologie. Konstatierend, dass Blumenberg
  selbst aus einem ›Liberalismus der Distanz‹ die
  politische Dimension von Metaphern meist latent
  hielt, entwickelt Heidenreich Grundzüge einer solchen
  Theorie.

In der zweiten themenbezogenen Rezension be-
spricht Falko Schmieder ­Lucian Hölschers Buch
Zeitgärten. Zeitfiguren in der ­Geschichte der Neuzeit.
Unter ›Zeitfiguren‹ versteht Hölscher die temporalen
Grundbausteine historischer Erzählungen, die er
sowohl systematisch wie auch historisch anhand von
Analysen ­einschlägiger Geschichtswerke untersucht,
und zwar mit dem Ziel, einen Beitrag zu einer Theorie

5                                                                                       DOI: 10.13151/fib.2021.01.01
SCHIEFRUNDE PERLEN
ZUM DEUTUNGSANSPRUCH
METAPHORISCHER EPOCHENNAMEN
Barbara Picht

        Die Epoche ist in dem Augenblick, wo sie ihren                die mit Geschichtsinterpretationen als Akten der
                     Namen erhält, noch nicht erfasst.                Sinngebung verbunden ist.2 Um solche Dynamiken
                                    (Karlheinz Stierle)               soll es im Folgenden gehen.

An schiefrunde Perlen denkt heute vermutlich kaum                      Epochen: nicht immer verstand man darunter das,
jemand mehr, wenn er die Bezeichnung Barock hört.                      was wir heute mit diesem Begriff verbinden. Das
Und doch ist ein möglicher etymologischer Ursprung                     griechische epoché bedeutete ursprünglich ein
des Begriffs das portugiesische barroco, womit eine                    Anhalten (zum Beispiel der Rede), ein Stoppen (zum
unregelmäßig gebildete Perle von geringem Wert                         Beispiel in einem Lauf) oder auch eine Unterbrechung
bezeichnet wurde. Andere Etymologien führen die                        (beispielsweise eines Krieges).3 In der Astrologie war
Bezeichnung auf das spanische barrueco zurück,                          damit ein berechenbarer Punkt auf der Bahn eines
womit auch eine unregelmäßige Gesteinsart gemeint                       Himmels­körpers gemeint.4 Der antike Skeptizismus
sein kann. Von unebener Oberflächenbeschaffenheit                      (und hier hat der Begriff seinen ältesten Ursprung)
sind sie beide, jene Perlen und diese Art von Gestein.                ­bezeichnete mit epoché den Verzicht darauf, ein
Und für welche Erklärung man sich auch entscheidet                     Urteil zu fällen. Für alle diese Bedeutungen gilt,
(auch der illegale Wucherzins wird in Betracht gezo-                   dass mit ›Epoche‹ kein bestimmter Zeitabschnitt
gen, da das italienische barocco auch diesen meint) –                  bezeichnet wurde. S  ­ ondern gemeint war ein Ereignis,
immer dient diese Bezeichnung der Abwertung: eine                      und zwei Ereignisse, also Epochen, konnten einen
unschöne Perle, ein unregelmäßiger Fels, ein illegaler                 Zeitraum einschließen, der als ›Periode‹ bezeichnet
Gewinn.1                                                               wurde, so noch Johann Christoph Adelung in seinem
                                                                       ­Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hoch-
Vergegenwärtigt man sich, dass viele Epochen­                          deutschen Mundart, das zwischen 1774 und 1786
begriffe einen metaphorischen Kern haben (beim                         erschien.5
finsteren Mittelalter, der Renaissance oder der
Aufklärung liegen sie offener zutage als im Fall des
Barock), und geht man den Gründen dafür nach,
gerät das vertraute, Geschichte periodisierende
­Epochengefüge in Bewegung. Präziser gesagt:
                                                                      2   Vgl. Gerrit Walther/Roland Kanz/Peter Philipp Riedl:
 Befragt man Epocheneinteilungen nach den mit ihnen                       »Epoche«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der
 verbundenen Deutungsansprüchen, geht etwas von                           Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi.org/10.1163/2352-
 ihrem ordnend-kategorisierenden Charakter verloren,                      0248_edn_COM_259112.
                                                                      3   Vgl. Manfred Riedel: »Epoche, Epochenbewußtsein«, in:
 dafür gewinnen sie etwas von der Dynamik zurück,                         Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philoso-
                                                                          phie, Bd. 2: D–F, Basel 1972, Sp. 596–599, hier Sp. 596;
                                                                          Andreas Kamp: Vom Paläolithikum zur Postmoderne – die
                                                                          Genese unseres Epochen-Systems, Bd. 1: Von den Anfän-
                                                                          gen bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts, Amsterdam/
                                                                          Philadelphia 2010 (Bochumer Studien zur Philosophie, Bd.
1   Vgl. Ulrich Pfisterer/Dirk Niefanger/Konrad Küster:                   50), S. 41.
    »Barock«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der            4   Vgl. Kamp: Vom Paläolithikum zur Postmoderne (Anm. 3),
    Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi.org/10.1163/2352-            S. 126–137.
    0248_edn_COM_244121. Eine weitere mögliche Bedeutung              5   Vgl. Johan Hendrik Jacob van der Pot: Sinndeutung und Pe-
    ist ›lächerlicher Syllogismus‹, also eine übertrieben spitzfin-       riodisierung der Geschichte. Eine systematische Übersicht
    dige Schlussfolgerung; vgl. ebd.                                      der Theorien und Auffassungen, Leiden 1999, S. 52.

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Barbara Picht

Zur selben Zeit, im letzten Drittel des                         Es geht daher im Folgenden um zweierlei Wechsel-
18. Jahrhunderts, beginnt man ›Epoche‹ als ­Synonym             verhältnisse. Was sagt erstens ein Epochenname
für ›Periode‹ zu verwenden. Unter ›Epoche‹ wird                 über das jeweilige Geschichtsverständnis aus und
also nun ein zeitlicher Abschnitt mit bestimmten                wie wirkt er auf dieses möglicherweise auch zurück?
signifikanten Merkmalen verstanden.6 Es wird nach               Damit verknüpft ist zweitens die Frage nach dem
dem kennzeichnenden Gehalt von Zeitaltern gefragt.7             Verhältnis von Epochenbezeichnungen zueinander.
Das griechische Verb epis’chein, von dem epoché                 Entspringen sie möglicherweise nicht der rück­
abgeleitet ist, rechtfertigt übrigens beide Deutungen:          blickend ordnenden und klassifizierenden geschichts-
Es meint sowohl ›innehalten‹ oder ›aufhören‹ als auch           wissenschaftlichen Interpretation allein, sondern
›sich erstrecken über‹.8                                        spiegeln zugleich ein zeitgenössisches Bezugs- und
                                                                Verweissystem wider?
Doch ob der Epochenbegriff nun im antiken Sinn
­eines bestimmten Zeitpunktes verwendet oder, wie               Unter den Epochenbezeichnungen nun gerade die
 von den Aufklärern, als Zeitalter gedacht wird: für            metaphorischen zu betrachten, ist spannend, da sie in
 beide gilt, dass Geschichtseinteilungen Akte der               besonderem Maße in solchen Wechselverhältnissen
 Sinngebung sind.9 Epochenbezeichnungen                         zu stehen scheinen. So unterschiedlich, ja bisweilen
                                                                kontrovers die verschiedenen Metapherntheorien
»interpretieren Geschichte […]. Sie offenbaren […]              ihren Gegenstand bestimmen, in einem sind sie
Ansichten über Gut und Schlecht, Fortschritt und                sich weitgehend einig: Metaphern können eine Art
Dekadenz, wünschenswerte und zu vermeidende                     Vorgriff auf begriffliches Wissen leisten. Sie gene-
Entwicklungen von Politik, Gesellschaft und Kul-                rieren Neues. Wer Metaphern interpretiert, so Petra
tur. Sie reagieren auf die eigene Gegenwart: Sie                Gehring, gelange in Latenzzonen der Wissenschaft.11
legitimieren das Bestehende, relativieren es als                Blumenberg wollte bekanntlich die Metapher nicht
Übergangsphase oder kritisieren es als Abirrung von             auf das ›Vorfeld der Begriffsbildung‹ reduziert sehen,
einem normativen Ziel. Sie begründen solche Ziele,              Metaphern könnten vielmehr irreduzible Denkformen
indem sie entsprechende histor[ische] Traditions­               sein. Das schließt aber auch nach Blumenberg nicht
linien zeichnen; sie propagieren Vorbilder und for-             aus, dass es Übergänge von der Metapher zum
mulieren Warnungen, können ideologische Waffen                  Begriff geben kann.12 Im Fall der metaphorischen
sein, politische Erkennungsmerkmale und Medien                  Epochennamen scheint beides eine Rolle zu spielen:
gelehrter Gruppenbildung. In ihrer Einheitlichkeit              der Vorgriff auf begriffliches Wissen durch Metaphern
oder Vielfalt, Festigkeit oder Offenheit sagen sie viel         und der Übergang von den metaphorischen Selbst-
über Strukturen und Machtverhältnisse der tonange-              beschreibungen einer Zeit zum jeweiligen Epochen-
benden Wissenseliten aus.«10                                    begriff.

Welchen Namen eine Epoche trägt, ist also immer                 Um diesen Fragen an Beispielen nachzugehen, soll
auch Ausdruck der Geschichtsinterpretation ihrer                zunächst eine Periodisierung mit sehr langfristigen
Namensgeber. Und diese sind, wie zu zeigen sein                 Folgen näher betrachtet werden. 1438 begann Flavio
wird, bei der Namenswahl nicht frei davon, wie voran-           Biondo, Historiker und päpstlicher Sekretär, mit der
gegangene Epochen sich selbst sahen oder gesehen
wurden – obwohl sie sich gegebenenfalls noch gar
nicht als Epochen im neuzeitlichen Sinn verstanden
                                                                11 Vgl. Petra Gehring: »Das Bild vom Sprachbild. Die
haben, was die hier verhandelte Problemstellung                    Metapher und das Visuelle«, in: Lutz Danneberg/Carlos
verkompliziert.                                                    Spoerhase/Dirk Werle (Hg.): Begriffe, Metaphern und Ima-
                                                                   ginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte,
                                                                   Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 120), S.
                                                                   81–100, hier S. 81.
                                                                12 Vgl. Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung,
                                                                   Hamburg 2004, S. 18 f. Friedrich Nietzsche sprach in die-
6  Vgl. Theodor Schieder: Geschichte als Wissenschaft. Eine        sem Zusammenhang von der Metapher als der ›Großmutter
   Einführung, München/Wien 21968, S. 88.                          des Begriffs‹, vgl. dazu und insgesamt zu Zusammenhang
7 Vgl. ebd., S. 87.                                                wie Unterschieden von Metapher und Begriff Stefan Willer:
8 Vgl. Gerrit Walther: »Epochen als Lesart der Geschichte«,        »Metapher und Begriffsstutzigkeit«, in: Ernst Müller (Hg.):
   in: Matthias Meinhardt/Andreas Ranft/Stephen Selzer (Hg.):      Begriffsgeschichte im Umbruch? (Archiv für Begriffsge-
   Oldenbourg Geschichte Lehrbuch, Bd. 4: Mittelalter, Mün-        schichte, Sonderheft 4), Hamburg 2005, S. 69–80. Einen
   chen 2007, S. 159–166, hier S. 159.                             Überblick über Metapherntheorien gibt Eckard Rolf: Meta-
9 Vgl. Walther/Kanz/Riedl: »Epoche« (Anm. 2).                      phertheorien: Typologie, Darstellung, Bibliographie, Berlin
10 Ebd.                                                            u. a. 2005.

7                                                                                                 DOI: 10.13151/fib.2021.01.02
Schiefrunde Perlen

Niederschrift eines Geschichtswerkes, in dem die                  aus dem Bild einer zu überwindenden ›dunklen‹ Zeit
Zeit zwischen 400 und 1400 n. Chr. verhandelt wird.               leitete sich das Versprechen ab, welches mit der
Biondo führte dort erstmals die Trias von Altertum,               Ausrufung einer ›neuen‹ Zeit verbunden ist. Es war
Mittelalter und Neuzeit ein – die so noch nicht hießen:           ein großes Versprechen, gegeben zunächst von den
Es war von alter, mittlerer oder auch Zwischenzeit                italienischen Humanisten.
und von neuer Zeit die Rede. Der Terminus Mittelalter
entstand erst im 18. Jahrhundert, der der Neuzeit ist             Eine Epoche Neuzeit quasi zu erfinden, bedeutete
nach dem Grimm’schen Wörterbuch als Epochen­                      im 15. und 16. Jahrhundert, die bislang geltende
begriff erst seit 1870 belegt.13 Verglichen mit kultur-           Vor­stellung von sechs Weltaltern und vier Welt-
morphologischen Modellen, in denen die Geschichte                 monarchien außer Acht zu lassen zugunsten einer
von Kulturen analog zu Lebensverläufen als eine                   Geschichtsauffassung, die sich nicht länger an der
Abfolge von Jugend, Blütezeit und Alter gedacht                   Erfüllung eines biblischen Heilsplanes orientierte.15
wird, kehrt dieses Geschichtsdenken die Dynamik                   Es war der Aufruf zu einem revolutionären Wandel im
um: Einer alten Zeit folgt eine mittlere, die allerdings          Geschichtsdenken. Petrarca als einer der wirkungs-
als Zwischen-, Übergangs- oder auch dunkle Zeit                   mächtigsten Verkünder dieses Wandels ignorierte
abgewertet wird. Sie wird von der jüngsten, neuen                 die bis dahin gültige Vier-Reiche-Lehre und mit ihr
Zeit abgelöst und durch sie dynamisch überwunden.                 die Idee der translatio imperii. Sein Ziel war, nicht
                                                                  fortsetzen und fortschreiben zu müssen, was er vor-
Während Biondo dieses Modell spezifisch für die                   fand, sondern zu neuer Geltung zu bringen, was die
römische und dann die italienische Geschichte                     Römische Republik zur Zeit der Scipionen und also
entwarf, führte der Hallenser Historiker Christoph                das in seinen Augen wahre, große Rom einst aus­
Martin Keller es in seinem 1702 in Jena erschienenen              gemacht hatte. Keine Kontinuität, keine Übertragung,
Werk Historia universalis als ein universalgeschicht­             sondern eine Wiedergeburt sollte gelingen. Damit
liches Gliederungsschema ein. Der Maßstab für diese               war kein allein kultur- oder ideengeschichtliches
Universalgeschichte und das ihr unterlegte Epochen-               Programm formuliert, sondern ein Machtanspruch
verständnis war die europäisch-mittelmeerische Welt.              erhoben – und das nicht zufällig in Oberitalien, wo
                                                                  die Entstehung autonomer Stadtrepubliken neues
Seit Kellers Veröffentlichung ist die Epochentrias                politisches Selbstbewusstsein aufblühen ließ. Deren
Altertum – Mittelalter – Neuzeit fest in das europa-              Kampf um Freiheit richtete sich gegen die kaiserliche
zentrierte Geschichtsdenken eingeschrieben. Dass                  Autorität und damit gegen den französisch-deutschen
diese Dreigliederung so erfolgreich, man könnte                   Einfluss. Italien sollte als eigentlich legitimer Erbe des
auch sagen hartnäckig unsere Geschichtsauffassung                 klassischen römischen Altertums reetabliert werden.16
prägt, liegt nach Reinhart Koselleck nicht zuletzt                Dem diente die auch als humanistische Trias bezeich-
daran, dass sie auf inhaltliche Aussagen verzichtet:              nete Einteilung in alte, mittlere und neue Zeit.17
Ihr »hervorstechendes Merkmal ist eine bloß zeitliche
Tiefenbestimmung, was ihre Formalität ausmacht und                Der Vorgriff auf begriffliches Wissen, den Metaphern
ihre Elastizität, verschieden datierbar und auslegbar             leisten können, geht also bei der Rede von der dunk-
zu sein.«14 Geht es um das Mittelalter, war diese                 len Zeit mit einer Art Vorgriff auf den Geschichtsver-
Zuschreibung allerdings ursprünglich keine rein                   lauf einher. Mithilfe einer veränderten Periodisierung
zeitliche, sondern dezidiert wertend gemeint. Denn                soll Gegenwart beeinflusst, vor allem aber Zukunft
                                                                  gestaltet werden. Dafür muss Distanz zu der später
                                                                  als Mittelalter titulierten Periode geschaffen werden,
13 Laut Koselleck ist der zusammengesetzte Begriff Neuzeit
   erst seit 1870 belegt, vgl. Reinhart Koselleck: »›Neuzeit‹.
   Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe«, in: ders.:
   Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten,       15 »Er [Petrarca; B. P.] bestritt das Weltmonarchie-Modell
   Frankfurt a. M. 2017, S. 300–348, hier S. 302.                    nicht, er ignorierte es einfach. Selbstverständlich aber
14 Koselleck: »›Neuzeit‹« (Anm. 13), S. 304 f. Mit demselben         lief seine Vision einer rinascita der Idee einer translatio
   Argument – der zeitlichen Unbestimmtheit – ist der Mittelal-      diametral entgegen.« (Walther: »Epochen als Lesart der
   terbegriff von geschichtswissenschaftlicher Seite aber auch       Geschichte« [Anm. 8], S. 163); vgl. auch Voss: Das Mittelal-
   zurückgewiesen worden; vgl. Jürgen Voss: Das Mittelalter          ter im historischen Denken Frankreichs (Anm. 14), S. 23.
   im historischen Denken Frankreichs. Untersuchungen zur         16 Vgl. Walther: »Epochen als Lesart der Geschichte« (Anm.
   Geschichte des Mittelalterbegriffes und der Mittelalterbe-        8), S. 162 f.; Gerrit Walther: »Humanismus«, in: Jaeger
   wertung von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des          (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online, 2005–2012, http://
   19. Jahrhunderts, München 1972 (Veröffentlichungen des            dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_a1756000.
   Historischen Instituts der Universität Mannheim, Bd. 3), S.    17 Vgl. Voss: Das Mittelalter im historischen Denken Frank-
   9, Anm. 2.                                                        reichs (Anm. 14), S. 11.

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021                                                                   8
Barbara Picht

und dies gelingt offensichtlich am besten mit meta-              Beweisverfahren anhand der Quellen sollten dabei
phorischen Mitteln: Petrarcas Rede von der tenebrae,             Widerlegungsversuche abwehren. Ein Verwissen-
der Finsternis, soll den Zeitgenossen eindringlich               schaftlichungsschub in der Historiographie war die
nahelegen, dass es sich von solch scheinbar dunk-                Folge.23 Bedenkt man, wie tief sich der Kollektiv­
ler Zeit zu lösen gilt.18 Ihr Äquivalent findet diese            mythos Nation seitdem zunächst in die europäische,
Geschichtsvorstellung in der im 15. Jahrhundert                  dann die globale Geschichte eingeschrieben hat,
entstandenen Rede von der Wiedergeburt, dem                      lassen sich die möglichen Langzeitfolgen eines
Wiedererwachen, der Erneuerung. Dürer spricht 1523               Rüttelns am epochalen Selbstverständnis einer Zeit
von der ›widererwaxsung‹.19 Der Historiker Alfred                in etwa ermessen.24
Dove wies 1893 darauf hin, dass die Metapher von
der Wiedergeburt bereits eine metaphorische Dreiheit              Untersucht man Epochennamen nicht isoliert, reicht
in sich einschließe: die von Leben, Tod und Wieder-               die Idee von einem finsteren Zeitalter im Übrigen
geburt. Das Modell der Epochentrias sei in der Idee               weiter zurück als bis zu Petrarcas Aufruf zur Kultur­
der Renaissance also schon angelegt gewesen.20                    revolution. Es gibt den Ausdruck bereits im ­Mittelalter
                                                                  selbst, wie die österreichische Historikerin Lucie
Petrarca ging es bei alldem noch vornehmlich um                   ­Varga, die den Annales nahestand, in ihrer Doktor­
eine Erneuerung der lateinischen Literatur und                     arbeit dargelegt hat.25 Sie zeigt dort, dass die
­Sprache. Das strahlte auch auf die bildende Kunst               ­Metapher von Licht und Schatten eine der bevor­
 aus. Der italienische Humanist Lorenzo Valla prägt               zugtesten der abendländischen mittelalterlichen
 die Bezeichnung ›gotisch‹, kurz nachdem der                      Literatur ist. Und die Dunkelheitsmetapher bezog
 Architekt und Mathematiker Tuccio Manetti behauptet              sich schon damals auch auf ganze Zeitalter eines
 hatte, nach dem Fall des Römischen Reiches hätten                Niedergangs von Kultur und auf die Vergessenheit,
 die einfallenden Goten und andere Barbarenvölker                 der eine Überlieferung anheimfallen kann.26 Solche
 die antike Architektur völlig verdorben.21 ›Gotisch‹            ›Kulturvergessenheit‹ war ja der größte Vorwurf, den
war also ursprünglich ein Synonym für roh, wild und              die Humanisten dem scheinbar dunklen Zeitalter
unförmig. Wie ›barock‹ war auch diese Epochen­                   machten, das zu überwinden sie angetreten waren.
 bezeichnung nicht anerkennend gemeint. Beide dien-
 ten einem abwertenden Stilvergleich, die ­jeweilige
Metapher wurde zum Zweck der Abgrenzung vom
klassischen Ideal gewählt.

Zu Propaganda gehört aber stets auch Gegen-                           tia-Begriffs, der es zuließ, Polen als eine Adelsnation zu
propaganda. Der von den Humanisten erhobene                           charakterisieren. Caesars Helvetier-Kapitel aus De bello
                                                                      Gallico kam der Eidgenossenschaft zupass und die Nieder-
Barbarenvorwurf und die Ausrufung einer neuen Zeit                    länder erklärten sich mithilfe der Tacitus-Schilderungen des
im humanistischen Italien provozierte in weiten Teilen                Bataveraufstandes zu Freiheitshelden. Die humanistischen
Europas, in Spanien, Frankreich, Deutschland, Polen,                  Konstrukteure der Nationalmythen verstanden sich dabei
                                                                      als philologische Mythenkritiker, die aus den Quellen die
der Schweiz oder den Niederlanden, das Entstehen
                                                                      historische Wahrheit über die jeweilige Nationengeschichte
nationalmythologischer Gegenerzählungen, die die je                   zu rekonstruieren imstande seien.
eigene Geschichte aufwerten sollten.22 Philologische             23   Vgl. Caspar Hirschi/Hans-Joachim König/Stefan Rinke:
                                                                      »Nationalmythen«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyk-
                                                                      lopädie der Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi.
                                                                      org/10.1163/2352-0248_edn_a2917000.
18 Vgl. ebd., S. 27–34.                                          24   Im Übrigen reagierten deutsche Humanisten nicht nur
19 Vgl. Gerrit Walther/Merio Scattola/Ulrich Pfisterer u. a.:         machtpolitisch auf Italiens Kulturrevolution, indem sie die
   »Renaissance«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der        translatio imperii weiterhin für sich in Anspruch nahmen
   Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi.org/10.1163/2352-         und diesen Anspruch nationalmythologisch zu untermauern
   0248_edn_a3611000.                                                 suchten. Sie interpretierten die eigene Rezeption des
20 Vgl. van der Pot: Sinndeutung und Periodisierung der Ge-           italienischen Humanismus zudem als eine translatio studii
   schichte (Anm. 5), S. 312.                                         und rechtfertigten damit ihre Idee einer Verschiebung des
21 Vgl. Peter Kurmann: »Die Gotik – ein europäischer Stil?«,          christlichen Bildungszentrums nach Deutschland.
   in: Günter Buchstab (Hg.): Die kulturelle Eigenart Europas,   25   Zu Lucie Varga vgl. Peter Schöttler: »Lucie Varga – eine
   Freiburg i. Br. 2010, S. 89–111, hier S. 91.                       österreichische Historikerin im Umkreis der ›Annales‹«, in:
22 Spanien und Frankreich konnten dabei direkt an mittelalter-        ders: Die Annales-Historiker und die deutsche Geschichts-
   liche Überlieferungen in Gestalt des Goten- bzw. Franken-          wissenschaft, Tübingen 2015, S. 150–179.
   mythos anknüpfen. Andere entwarfen ihre Nationalmythen        26   Vgl. Lucie Varga: Das Schlagwort vom ›finsteren Mittelalter‹,
   unter Rückgriff auf antike Quellen. In Deutschland geschah         Baden u. a. 1932 (Veröffentlichungen des Seminars für
   dies mithilfe des wiederentdeckten Tacitus, in Polen durch         Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien,
   die Rezeption des von Ptolemaios geprägten Sarma-                  Bd. 8), S. 10.

9                                                                                                    DOI: 10.13151/fib.2021.01.02
Schiefrunde Perlen

 Aus der Perspektive der Metapherngeschichte wird                 der Renaissance Erneuerung versprechend, wodurch
 auch sichtbar, wie eine Epochenmetapher nicht allein             sich beide von anderen Perioden abgrenzen), hat
 zeitlich, sondern auch ihrem inhaltlichen Anspruch               Verweischarakter, wenn der auch in eine andere
 nach ›wandern‹ kann. Diente im Humanismus die                    Richtung weist als die Metapher der Renaissance.
 Rede von der alten, mittleren bzw. dunklen und neuen             Das humanistische Erneuerungsdenken lebte von
 Zeit noch einer Bildungsbewegung mit vornehm-                    dem Rekurs auf die Antike. Erneuerung wurde hier
 lich ästhetischen Zielen, nutzte die Reformation                 als eine Reaktivierung von Tradition gedacht. Mit
 die Rede vom reinen Anfang, einem langen Irrweg                  der Aufklärung verschob sich gewissermaßen die
 und nun der Rückkehr zu den Ursprüngen für ihre                  Blickrichtung. In dieser Zeit entsteht ein Fortschritts-
 (ebenfalls auf die Zukunft gerichteten) Ziele einer              begriff, der die Möglichkeit einer nicht vorhersehbaren
­protestantischen Kirchengeschichtsschreibung.                    Weiterentwicklung der Gegenwart einschließt und
 Und der bereits erwähnte Hallenser Historiker Keller             diese begrüßt, einer Entwicklung, durch die Neues
 übertrug die Epochen­trias dann auf die politische               entsteht und eine wachsende Vervollkommnung des
 Geschichte, womit er zugleich ermöglichte, dass                  menschlichen Daseins erreicht wird.28 »Offenheit der
 sich das Gliederungsprinzip Altertum – ­Mittelalter              Zukunft« nennt Koselleck das.29 Sie wiederum führte
 – Neuzeit, nun periodisiert anhand der großen                    zu einer stärkeren Aufmerksamkeit für die historische
 Reichsübertragungen, neben der Heilsgeschichte                   Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und
 etablieren und diese schleichend ersetzen konnte.27              Zukunft. Die den Historismus prägende Überzeugung
 Die Wechselbeziehung zwischen Geschichtstheorie                  von der Anders- und Einzigartigkeit geschichtlicher
 und Epochenmetaphorik wird bei allen drei Modellen               Epochen und Kulturen hat hier ihren Ursprung.
 von alter, mittlerer und neuer Zeit deutlich, wobei die          ­Epochen im uns heute geläufigen Sinn begann
 Besonderheit dieser Epochentrias eben ist, dass sie               man damals erst zu entwerfen.30 Doch auch für die
 sich für unterschiedliche Ziele und diesen unterlegten          zukunftsorientierte Metapher von der Aufklärung
 Geschichtsverständnissen in Anspruch nehmen lässt.              gilt, dass sie einem interepochalen Bezugssystem
                                                                 ­verhaftet bleibt. Ohne eine scheinbar dunkle, unauf-
 Wie steht es nun mit der zweiten Art von Wechsel-               geklärte Zeit, die man überwinden will, ergibt das Bild
 verhältnis, dem Wechselverhältnis von Epochen­                  keinen Sinn.
bezeichnungen zueinander? Die Epochentrias Antike
– Mittelalter – Neuzeit greift das in der Renaissance            Verweise finden sich auch dort, wo es darum geht,
entstandene Bezugs- und Verweissystem auf, in                    eine Epoche inhaltlich zu bestimmen, etwa – um noch
dem um der Neuinterpretation der eigenen Gegen-                  einmal das Beispiel des Barock aufzugreifen – wenn
wart und einer geschichtstheoretisch legitimierten               der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin den barocken
­Zukunftsvorstellung willen Vergangenheit in einer               Epochenstil anhand eines Vergleichs mit klassi-
 ganz bestimmten Weise gedeutet wurde. Das                       schen Stilmerkmalen charakterisiert. Er entwickelt
 Mittelalter verstand sich selbst nicht als Mittelalter          Gegensatzpaare, durch welche sich die Klassik vom
 (um eine Metapher handelt es sich hier im Übrigen               Barock unterscheide. Im Bereich des Raums ist das
 auch dann, wenn die Finsternis nicht mitgedacht                 der Gegensatz von Begrenzung versus Grenzen-
 wird, durch die Bedeutungsübertragung aus der                   losigkeit, im Bereich der Zeit der von Dauer versus
 Lebensalter-­Semantik). Der Epochenbegriff Mittel­              Augenblicklichkeit, im Bereich des Affekts der von
 alter, so unterschiedlich er im Lauf der Zeit bestimmt          ruhig ­sympathischem Mitempfinden versus wildes
 wurde und noch immer wird, trägt in sich noch die               ­Entzücken und so fort.31 Zusammenfassend will
 Spuren der ursprünglichen Bedeutung, die dieser Zeit
 einen mittleren Platz zwischen zwei anderen Epochen
 zuweist. Auch die Metapher der Aufklärung (wie die              28 Friedrich Jaeger u. a.: »Moderne«, in: Friedrich Jaeger
                                                                    (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online, 2005–2012, http://
                                                                    dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_a2784000.
                                                                 29 Reinhart Koselleck: »Die Verzeitlichung der Begriffe«, in:
27 Vgl. Caspar Hirschi/Annette Kreutziger-Herr: »Mittelalter-       ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Prag-
   rezeption«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der         matik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M.
   Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi.org/10.1163/2352-       2006, S. 77–85, hier S. 77.
   0248_edn_a2772000. Als Grenzmarken setzte er die              30 Vgl. ebd.
   Herrschaft Konstantins des Großen und den Fall Kon-           31 Hinzu kommen im Bereich des Körperlichen Idealmaß
   stantinopels 1453. Daneben brachte er den Beginn der             und Leichtigkeit vs. vollmassige Körper und Schwere, im
   historia nova u. a. auch mit der Vereinigung der spanischen      Bereich der Form die schöne Form vs. die Tendenz zur
   Königreiche, der Vertreibung der Mauren von der Iberischen       Formlosigkeit; vgl. Walter Moser: »Barock«, in: Karlheinz
   Halbinsel, der Entdeckung der ›Neuen Welt‹ und der Refor-        Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches
   mation in Verbindung.                                            Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1: Absenz bis Darstel-

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021                                                                10
Barbara Picht

Wölfflin mit Blick auf Klassik und Barock die Ruhe des            Doch auch bei solchen Korrekturversuchen bleiben
Seins von der Unruhe des Werdens unterschieden                    die Epochenbezeichnungen selbst als Bezugs- und
wissen, und er lässt wenig Zweifel daran, dass er der             Kritikpunkte von zentraler Bedeutung. Umwertungen
Klassik den Vorzug gibt, auch wenn er dazu auffor-                sind dabei aber immer möglich. Von Gotik beispiels-
dert, das Barock als eigenständige Stilepoche anzu-               weise sprechen wir heute nicht mehr im ursprünglich
erkennen. Der erst 23-jährige Erwin Panofsky weist                intendierten abwertenden Sinn.
dem Lehrer Wölfflin später nach, dass selbst dessen
auf Werturteile verzichtende ­Kunstgeschichtliche                 Metaphorische Epochennamen, so lässt sich
Grundbegriffe ein relationales Gefüge sind. Denn ob               ­bilanzieren, verdanken sich in aller Regel kultur­
etwas als malerisch oder plastisch charakterisiert                 historischen Deutungskämpfen. Wird Geschichte
wird, das hängt davon ab, womit man es vergleicht.32               nach politischen Gesichtspunkten periodisiert, dienen
                                                                   meist entweder die Namen von Herrschern oder
Die Prägekraft von Epochenzuschreibungen ist                       Herrschergeschlechtern zur Charakterisierung oder,
längst in die historiographische Kritik geraten. Ganze             wie beispielsweise in der russischen Geschichte,
Regalmeter werden gefüllt, um sichtbar zu machen,                  Herrschaftsbildungen. Auf die Kiewer Rus folgt die
was Epochenbezeichnungen auch verdecken können:                    Periode der Mongolenherrschaft, dann das Moskauer
zeitgenössische Gegenbewegungen beispielsweise,                    Reich und schließlich das Petersburger Imperium,
also die Oppositionen gegen den ausgerufenen oder                  das bis zum Revolutionsjahr 1917 dauerte. Sind es
rückblickend angenommenen sogenannten ›Geist‹                      technische Neuerungen und ihre Folgen, die einer
einer Zeit.33 Auch das neuzeitliche Fortschrittsden-               Zeit ihren Namen geben wie beispielsweise im Fall
ken, integraler Bestandteil unseres Epochendenkens,                des Atomzeitalters, kann auf Metaphorik ebenfalls
blieb nicht unkritisiert. Der Epochenbezeichnung                   leichter verzichtet werden.
Post­moderne ist solches Hinterfragen ebenfalls
eingeschrieben, in diesem Fall das Hinterfragen des                Für die kulturhistorischen Epochen und ihre
Selbstverständnisses der Moderne – eine inter­                     ­Metaphorik lassen sich vier Charakteristika
epochale Bezugnahme ist auch dies. Ranke prägte                   ­bestimmen.
die Formel, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott,
wodurch er die einzelnen Epochen aus dem inter­                   Erstens sind die zeitgenössisch verwendeten meta-
epochalen Verweissystem herauszulösen versuchte.34                phorischen Bezeichnungen in aller Regel Ausdruck
                                                                  eines Programms, das in die Zukunft weist. Dieses
                                                                  Programm kann ästhetisch, religiös oder gesellschaft-
   lung, Studienausgabe, Stuttgart/Weimar 2010, S. 593            lich ausgerichtet sein.
   unter Bezugnahme auf Heinrich Wölfflin: Renaissance und
   Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung
   des Barockstils in Italien, München 1888.
                                                                  Zweitens bedienen sich alle diese metaphorischen
32 Vgl. Erwin Panofsky: »Über das Verhältnis der Kunstge-         Bezeichnungen eines interepochalen Verweises,
   schichte zur Kunsttheorie. Ein Beitrag zur Erörterung über     um zum Ausdruck zu bringen, worauf es in der
   die Möglichkeit ›kunstwissenschaftlicher Grundbegriffe‹«,
                                                                  eigenen Zeit jeweils ankommen soll. Metaphorische
   in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft,
   hg. von Hariolf Oberer/Egon Verheyen, Berlin 1998, S.          ­Epochennamen beziehen sich infolgedessen nie
   49–75.                                                          ­allein auf die jeweiligen Gegenwarten, sondern
33 »›Epochen‹ sind theoretische Konstrukte, die auf ›Zeit-          ­deuten und bewerten zugleich Vergangenheit.
   räume‹ als chronologische Einheiten anwendbar sind; sie
   basieren auf der Rekonstruktion von Merkmalskomplexi-
   onen, die sich synchron und/oder diachron von anderen          Drittens fällt auf, dass es sowohl beim historisch-­
   Merkmalskomplexionen unterscheiden lassen; sie können          kritischen Rückblick auf zeitgenössische
   in einem bestimmten Zeitraum eindeutig dominierende            ­Geschichts- und Gegenwartsdeutungen als auch in
   Charakteristika benennen oder aber Merkmalskomplexio-
                                                                   der geschichtswissenschaftlichen Diskussion über
   nen, die entweder in Konkurrenz zu anderen stehen oder
   schlicht auf gänzlich Unterschiedliches abheben, d. h. sich     Epochen selten dazu kommt, dass der metaphorische
   nicht ausschließen. Epochenkonstrukte müssen notwendig          Epochenname durch einen anderen Namen ersetzt
   homogen sein, da sie sich nur als solche voneinander un-        wird (was Differenzierungen nicht ausschließt, ein
   terscheiden lassen, während Zeiträume in der Regel durch
   Heterogenität gekennzeichnet sind.« (Klaus W. Hempfer:
                                                                   Beispiel wäre die Etablierung der Teildisziplin Frühe
   Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen         Neuzeit, ein anderes Heinz Dieter Kittsteiners Projekt,
   Theorie, Stuttgart 2018, S. 227.)                               die europäische Geschichte von 1618 bis 1945 in
34 Zit. nach Justus Fetscher: »Zeitalter/Epoche«, in: Karlheinz
   Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches
   Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6: Tanz bis Zeitalter/Epo-
   che, Studienausgabe, Stuttgart/Weimar 2010, S. 774–810,           hier S. 803.

11                                                                                              DOI: 10.13151/fib.2021.01.02
Schiefrunde Perlen

eine Stabilisierungs-, eine Fortschritts- und eine
heroische Moderne zu unterteilen35). Selbst eine aus
geschichtswissenschaftlicher Sicht so problematische
Bezeichnung wie Mittelalter, auf die zu verzichten
schon einige Historikerinnen und Historiker dringlich
empfohlen haben, hält sich hartnäckig. Dass sich
die Geschichtswissenschaft selbst längst entlang
der Epochentrias institutionell organisiert hat, spielt
gewiss eine wichtige Rolle. Maßgeblicher noch ist
sicherlich, dass der Mittelalterbegriff lange schon
geschichtlich geworden und daher nicht willkürlich zu
ersetzen ist. Er ist als Begriff zu dem geworden, was
Koselleck einen ›Erfahrungsspeicher‹ nennt.

Viertens und letztens schließlich macht die den
metaphorischen Bezeichnungen eigene geschichts­
bildende Funktion mit aus, dass sie nicht ­gesichertes
Wissen festzuschreiben suchen, sondern
­Erwartungen und Interessen Ausdruck geben.36

  Aus alldem folgt: Nach dem metaphorischen Gehalt
  von Epochenbezeichnungen zu fragen, bringt etwas
  von dem unruhestiftenden Charakter zum Vorschein,
  der diesen Sinndeutungen ursprünglich eigen war.37
  Sie werten auf und urteilen ab, sie können wie
  Katalysatoren wirken oder wie Brandbeschleuniger.
  Sie rufen zu Revolutionen oder zum Frieden auf, ihr
­Gebrauch hat nichts Unschuldiges. Vor allem aber
 sind sie, in so weite Ferne die mit ihnen ­bezeichneten
  Vergangenheiten auch gerückt sein mögen,
 ­offensichtlich quicklebendig und behaupten erfolg-
  reich ihren Platz in unserem Denken über Geschichte,
  Zukunft und Gegenwart.

35 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne.
   Deutschland und Europa 1618–1715, München 2010.
36 Zit. nach Benjamin Specht: »Epochale Metaphern. Struktu-
   ren und Funktionen kulturspezifischer Bildlichkeit«, in: ders.
   (Hg.): Epoche und Metapher. Systematik und Geschichte
   kultureller Bildlichkeit, Berlin 2014 (spectrum Literaturwis-
   senschaft / spectrum Literature, Bd. 43), S. 123–142, hier S.
   133.
37 Zu einem solchen dynamischen Metaphernverständnis vgl.
   auch Cornelia Müller: Metaphors Dead and Alive, Sleeping
   and Waking. A Dynamic View, Chicago 2008.

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021       12
KETTE, STROM, WELLENSCHLAG
ZUR METAPHOROLOGIE DER TRADITION1
Daniel Weidner

Am112. Juni 1938 schreibt Walter Benjamin aus dem               Viele dieser Formulierungen verweisen auf Überle-
Pariser Exil einen Brief an seinen Freund Gershom               gungen, die man von Benjamin kennt: Die Rede von
Scholem nach Jerusalem. Er entwickelt darin ein paar            der »epischen Seite der Wahrheit« erinnert an den
Gedanken über Franz Kafka, die zwar ihren eigentli-             Erzähleraufsatz, in dem Benjamin dem Erzähler Weis-
chen Zweck nicht erreichen, Salman Schocken dazu                heit zuspricht; der Verlust der Weisheit scheint etwas
zu gewinnen, Benjamin zu fördern, aber postum                   mit dem Verlust der Erzählbarkeit oder der Krise der
berühmt geworden sind: Kafkas Werk, so Benjamin,                Erfahrung zu tun zu haben, von der Benjamin etwa in
sei »eine Ellipse, deren weit auseinanderliegende               Erfahrung und Armut spricht; nicht von »Erkrankung«,
Brennpunkte von der mystischen Erfahrung (die vor               aber von »Erschütterung« der Tradition spricht er im
allem die Erfahrung von der Tradition ist) einerseits,          Kunstwerkaufsatz.3 Manch anderes ist an Scholem
von der Erfahrung des modernen Großstadtmen-                    und wohl auch an Schocken adressiert. So sind etwa
schen andererseits, bestimmt sind«:                             ›Haggada‹ und ›Halacha‹ Termini technici, die zwei
                                                                Schichten der jüdischen Überlieferung unterschei-
»Kafkas Werk stellt eine Erkrankung der Traditi-                den, in der die normativ relevanten Vorschriften und
on dar. Man hat die Weisheit gelegentlich als die               Traditionen als ›Halacha‹, die legendarischen Teile als
epische Seite der Wahrheit definieren wollen. Damit             ›Haggada‹ bezeichnet werden – eine Begrifflichkeit,
ist die Weisheit als ein Traditionsgut gekennzeichnet;          die Benjamin durch einen von Scholem übersetzten
sie ist die Wahrheit in ihrer hagadischen Konsistenz.           Aufsatz des Dichters Chaim Nachman Bialik bekannt
Diese Konsistenz der Wahrheit ist es, die verloren              war, in dem diese Ausdrücke ebenfalls schon zu einer
gegangen ist. Kafka war weit entfernt, der erste                Theorie der Überlieferung genutzt wurden.
zu sein, der sich dieser Tatsache gegenüber sah.
Viele hatten sich mit ihr eingerichtet, festhaltend             Markanter als die heterogene und idiosynkratische
an der Wahrheit oder an dem, was sie jeweils dafür              Begrifflichkeit ist die bildliche Seite des Textes. Sie
gehalten haben; schweren oder auch leichteren                   ist es, die den verschiedenen Ideen erst Kohärenz
Herzens verzichtleistend auf ihre Tradierbarkeit. Das           und dem Zugriff Benjamins auch seine spezifische
eigentlich Geniale an Kafka war, daß er etwas ganz              Dynamik gibt. Zu ihr gehört die Metapher einer ›Er-
neues ausprobiert hat: er gab die Wahrheit preis, um
an der Tradierbarkeit, an dem hagadischen Element
festzuhalten. Kafkas Dichtungen sind von Hause aus                  umfänglichen Forschung vgl. Vivian Liska: »›Eine gewich-
Gleichnisse. Aber das ist ihr Elend und ihre Schön-                 tige Pranke‹ – Walter Benjamin und Giorgio Agamben zu
heit, daß sie mehr als Gleichnisse werden mußten.                   Erzählung und Gesetz bei Kafka«, in: Daniel Weidner/
                                                                    Sigrid Weigel (Hg.): Benjamin-Studien 3, Paderborn 2014,
Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen wie                S. 215–232; Daniel Weidner: »›Nichts der Offenbarung‹,
sich die Hagada der Halacha zu Füßen legt. Wenn                     ›inverse‹ und ›unanständige Theologie‹. Kafkaeske Figuren
sie sich gekuscht haben, heben sie unversehens                      des Religiösen bei Adorno, Benjamin, Scholem und Agam-
                                                                    ben«, in: Manfred Engel/Richie Robertson (Hg.): Kafka und
eine gewichtige Pranke gegen sie.«2
                                                                    die Religion in der Moderne, Würzburg 2014 (Oxford Kafka
                                                                    Studies, Bd. 3), S. 155–175.
                                                                3   Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
1		 Der vorliegende Text geht auf einen Vortrag am Heidelber-       technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte
    ger Promotionskolleg »Was ist Tradition?« im Oktober 2017       Schriften, unter Mitw. von Theodor W. Adorno und Gershom
    zurück.                                                         Scholem hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppen-
2 Walter Benjamin/Gershom Scholem: Briefwechsel                     häuser, Bd. I.2: Abhandlungen, Frankfurt a. M. 1991, S.
    1933–1940, Frankfurt a. M. 1980, S. 269, 271; aus der           435–508, hier S. 438 f.

13                                                                                               DOI: 10.13151/fib.2021.01.03
Kette, Strom, Wellenschlag

krankung‹ der Tradition, die so prägnant wie resistent     Tradition gesprochen und nicht gesprochen wird.
gegen ihre Auflösung (als bloße ›Krise‹) hervorsticht,     Dann werde ich ein Beispiel eines starken Gebrauchs
das abschließende Bild vom Heben der Pranke, das           von ›Tradition‹ erläutern, nämlich bei Johann Gottfried
gleichermaßen rätselhaft und mehrdeutig ist: Was           Herder, anschließend sehr kursorisch die Geschichte
hieße denn das Kuschen vor dem Gesetz und was              von ›Tradition‹ im langen 19. Jahrhundert nachzeich-
das Erheben der Pranke? Dass es nur ein Gleichnis          nen, um schließlich noch mal auf Benjamin zurückzu-
über Gleichnisse ist, das selbst in Form und Inhalt        kommen.
Kafka nachahmt, macht die Sache nicht einfacher.
Einigermaßen erkennbar ist immerhin die Absicht,
mit der Benjamin diese Bilder verwendet: Sie zielen        I. TRADITION: BEGRIFFSSTATUS
auf eine Aufwertung der Tradierbarkeit, die in überra-
schender Weise irgendwie auf dieselbe Stufe wie die        Will man sich über Tradition informieren, fällt zunächst
Wahrheit gestellt wird. Dabei ist weder das Verhältnis     ein Negativbefund auf: ›Tradition‹ ist kein großer
von Tradition, Tradierbarkeit, Wahrheit und Weisheit       Theoriebegriff, wenige große Werke widmen sich
unmittelbar einsichtig, noch das Verhältnis von Traditi-   explizit dem Konzept und Tradition spielt auch keine
on und Moderne – das wiederum auf ein anderes Bild         besonders prominente Rolle in anderen Diskursen.
führt, das der Ellipse, das nicht weniger suggestiv und    Wenn sich allgemein über Tradition geäußert wird,
nicht weniger vieldeutig ist als die vorhergehenden.       so oft im Modus der Klage: Es handele sich um einen
                                                           nicht respektierten und unbedachten Gegenstand; die
Bevor man sich von dieser Suggestivkraft in das            Aufklärung habe alle Traditionen hinter sich gelas-
Labyrinth der Benjamin-Exegese locken lässt, von           sen und auch nicht mehr verstanden, was Tradition
dessen Gefahren die allzu vielen Ariadnefäden in Ge-       eigentlich sei, der moderne Mensch – und zumal die
stalt voluminöser Monographien Zeugnis ablegen, tut        Jugend – habe für Tradition nur noch ein Schulterzu-
man gut, sich noch einmal des ersten Eindrucks der         cken übrig.4 Trotz ihrer offensichtlich kulturkritischen
Überraschung zu versichern: dass hier Tradition auf-       Züge scheinen solche Klagen einige Auffälligkeiten
gewertet, aber offensichtlich auch auf eine bestimmte,     der Rede von der Tradition gut zu repräsentieren.
paradoxe oder jedenfalls schwierige Weise verstan-
den wird. Solche Schwierigkeiten würde man wohl am         Begriffsgeschichtlich ist ›Tradition‹ gut erforscht,
anderen »Brennpunkt« der Ellipse, in der Moderne,          symptomatisch ist aber, dass auch begriffsgeschicht-
erwarten, aber nicht so sehr in der Tradition; und es      liche Arbeiten ihre Schwierigkeiten mit dem Begriff
ist diese Erwartung, mit der Benjamins Text bricht         haben: »Der Traditionsbegriff gehört vermutlich zu
und daraus sein Versprechen erzeugt. Was für ein           den unklarsten und vieldeutigsten Begriffen sowohl
Vorverständnis von Tradition setzt das voraus? Was         der Bildungs- als auch der Wissenschaftssprache.«5
stellen wir uns unter Tradition vor, haben wir eine        Hergeleitet wird der Terminus zum einen aus der
Theorie der Tradition? In welchem Diskurs – außer          Rechtsgeschichte, insbesondere aus dem Sachen-
dem der Mystik, der hier explizit aufgerufen wird –        und Depositenrecht – traditio oder paradosis bezeich-
situieren wir die Rede von der Tradition? Oder kann        net hier ein mehrstelliges Verhältnis, dass jemand
man vielleicht so allgemein gar nicht über Tradition
reden, weil es nur verschiedene und sehr spezifische
Diskurse über sie gibt? Und welche Rolle spielt in         4   Vgl. etwa die Beiträge – mit Ausnahme von dem Ernst
                                                               Blochs! – in Bertrand d’Astorg/Leonhard Reinisch (Hg.):
dieser Rede die bildliche Dimension? Ist ›Tradition‹
                                                               Vom Sinn der Tradition, München 1970.
überhaupt ein Begriff oder eine Metapher, und unter        5   Siegfried Wiedenhofer: »Traditionsbegriffe«, in: ders./
welchen Voraussetzungen wäre jeweils das eine oder             Torsten Larbig (Hg.): Kulturelle und religiöse Traditionen:
andere der Fall?                                               Beiträge zu einer interdisziplinären Traditionstheorie und
                                                               Traditionsanalyse, Münster 2005, S. 253–279, hier S. 253;
                                                               zur Begriffsgeschichte vgl. die folgenden Anmerkungen so-
Diese großen Fragen können im Folgenden nur                    wie Karsten Dittmann: Tradition und Verfahren. Philosophi-
exemplarisch und nur an einigen wenigen Autoren                sche Untersuchungen zum Zusammenhang von kultureller
entwickelt werden. Das geschieht allerdings in                 Überlieferung und kommunikativer Moralität, Norderstedt
                                                               2004; für einen kulturtheoretischen Überblick vgl. auch
systematischer Absicht: Einerseits soll der erwähnte           Aleida Assmann: »Traditionsmodelle«, in: dies.: Zeit und
Begriffsstatus diskutiert werden und andererseits              Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln u. a. 1999
die Notwendigkeit einer Metaphorologie verdeutlicht            (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 15), S. 63–160; für eine
                                                               stärker diskursorientierte Darstellung mit Schwerpunkt im
werden. Dazu werde ich in vier Schritten vorgehen.
                                                               britischen 19. Jahrhundert vgl. Stephen Prickett: Modernity
Zunächst werde ich allgemein über die Vorausset-               and the Reinvention of Tradition: Backing into the Future,
zungen reflektieren, unter denen in der Moderne über           Cambridge u. a. 2012.

FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021                                                            14
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