JAHRGANG / 1 E-JOURNAL (2021) - Herausgegeben von Ernst Müller - FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFS ...
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E-JOURNAL (2021) 10. JAHRGANG / 1 FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE (FIB) Herausgegeben von Ernst Müller
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Schützenstraße 18 | 10117 Berlin T +49 (0)30 20192-155 | F -243 | sekretariat@zfl-berlin.org IMPRESSUM Herausgeber dieser Ausgabe Ernst Müller & Falko Schmieder, Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) www.zfl-berlin.org Direktorin Eva Geulen Redaktion Ernst Müller (Leitung), Dirk Naguschewski, Tatjana Petzer, Barbara Picht, Falko Schmieder, Georg Toepfer Wissenschaftlicher Beirat Faustino Oncina Coves (Valencia), Christian Geulen (Koblenz), Eva Johach (Konstanz), Helge Jordheim (Oslo), Christian Kassung (Berlin), Clemens Knobloch (Siegen), Sigrid Weigel (Berlin) Gestaltung KRAUT & KONFETTI GbR, Berlin Layout / Satz Tim Hager Titelbild D. M. Nagu ISSN 2195-0598 DOI: 10.13151/fib.2021.01 Sämtliche Texte stehen unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Die Bedingungen dieser Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwen- dung von Material aus anderen Quellen (gekenn- zeichnet mit Quellenangabe) wie z. B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den*die jeweilige*n Rechteinhaber*in. © 2021 / Das Copyright liegt bei den Autor*innen. FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021 2
INHALT 4 EDITORIAL Ernst Müller, Falko Schmieder 6 SCHIEFRUNDE PERLEN ZUM DEUTUNGSANSPRUCH METAPHORISCHER EPOCHENNAMEN Barbara Picht 13 KETTE, STROM, WELLENSCHLAG ZUR METAPHOROLOGIE DER TRADITION Daniel Weidner 25 GESCHICHTSMETAPHERN UND IHRE GESCHICHTE EINE AUSEINANDERSETZUNG MIT REINHART KOSELLECK Falko Schmieder 38 ›KRISTALLISATION‹ UND ›VERFLÜSSIGUNG‹ ALS METAPHERN DER GESCHICHTSTHEORIE Ernst Müller REZENSIONEN 46 WOLFGANG HOTTNER: »KRISTALLISATIONEN. ÄSTHETIK UND POETIK DES ANORGANISCHEN IM SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT«, GÖTTINGEN: WALLSTEIN VERLAG 2020, 280 S. FELIX HEIDENREICH: »POLITISCHE METAPHOROLOGIE. HANS BLUMENBERG HEUTE«, STUTTGART: J.B. METZLER-VERLAG 2020, 136 S. Ernst Müller 51 LUCIAN HÖLSCHER: »ZEITGÄRTEN. ZEITFIGUREN IN DER GESCHICHTE DER NEUZEIT«, GÖTTINGEN: WALLSTEIN VERLAG 2020, 325 S. Falko Schmieder 54 MIRJAM LOOS: »GEFÄHRLICHE METAPHERN. AUSEINANDERSETZUNGEN DEUTSCHER PROTESTANTEN MIT KOMMUNISMUS UND BOLSCHEWISMUS (1919–1955)«, GÖTTINGEN: VANDENHOECK & RUPRECHT 2020 (ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE, REIHE B: DARSTELLUN- GEN, BD. 74), 266 S. Benedikt Brunner 56 GENNARO IMBRIANO: »DER BEGRIFF DER POLITIK. DIE MODERNE ALS KRISENZEIT IM WERK VON REINHART KOSELLECK«, FRANKFURT AM MAIN/NEW YORK: CAMPUS 2018, 187 S. Sebastian Huhnholz 3 FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021
EDITORIAL Ernst Müller Falko Schmieder Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach Mit der Verzeitlichung und Dynamisierung der einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträ- Geschichte der Moderne geht die Proliferation gen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe von Epochenkonstruktionen einher, in denen das geht es mit ›Epoche‹, ›Tradition‹, ›Geschichte‹ sowie Verhältnis der Gegenwart zu Vergangenheit und ›Kristallisation‹/›Verflüssigung‹ um Begriffsmetaphern, Zukunft jeweils neu verhandelt wird. Unter dieser also um solche, in denen begriffliche und metapho- Perspektive rückt der Literatur- und Kulturwissen- rische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die schaftler Daniel Weidner (Universität Halle) den zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- Begriff der Tradition ins Blickfeld. Ausgehend von und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den An- einem Resümee von Arbeiten zu dessen Erforschung, stoß für das Thema lieferte die internationale Tagung die zeigen, wie höchst fragil und vieldeutig der Begriff »Metafóricas espacio-temporales para la historia«, der Tradition in der Moderne ist, plädiert Weidner für die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung eine metaphorische Perspektive, die er am Beispiel von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández einiger Autoren exemplarisch entwickelt. Dabei Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden geht es um die unbegriffliche und figurale Funktion hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko von ›Tradition‹, also darum, die Bedeutungs- und Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überar- Diskursverschiebungen sichtbar zu machen, die beiteter Form abgedruckt sind.1 sich im Wechsel der Parallel- und Leitbegriffe (statt Tradition zum Beispiel auch Geschichte, Gedächtnis, Die Historikerin Barbara Picht beobachtet in ihrem Kultur) und Hintergrundmetaphoriken (Kette, Strom, Beitrag, dass sich in vielen Epochenbegriffen ein Ordnung, Wellenschlag) manifestieren. ›Tradition‹ metaphorischer Kern mit normativen Werturteilen erscheint als Kollektivsingular in Spannung zu den verbindet. Die Bezeichnungen von Epochen und wie verschiedenen Traditionen (inklusive ihrer jeweiligen sie zueinander stehen, ist Ergebnis kulturhistorischer Praktiken der Überlieferung) sowie als Gegenbegriff Deutungskämpfe, die nicht nur neue (zukunftsbezo- zur Moderne, die sich zwar normativ als Überwindung gene) Epochenentwürfe generieren, sondern zugleich der Traditionen begreift, dabei zugleich aber perma- auch immer das Verständnis vergangener Epochen nent Anstoß zur Bewahrung oder Neuerfindung von und ihre Chronologie verändern. Ein solcher Begriff Traditionen gibt. von Epoche im Sinne eines Zeitraumes oder Zeit abschnitts bildet sich allerdings erst im letzten Drittel Falko Schmieders Beitrag zur Geschichte des 18. Jahrhunderts heraus, also in der Zeit, die als der Geschichtsmetaphorik versteht sich als ›Sattelzeit‹ selbst ein Beispiel für eine – fast auch Auseinandersetzung mit Koselleck. Obwohl in den schon zum Begriff geronnene – Neubildung metapho- Geschichtlichen Grundbegriffen die Metaphorik rischen Ursprung ist. nicht programmatisch berücksichtigt wurde, spielt sie eine wichtige Rolle. Koselleck hat allgemein die Metaphernpflichtigkeit von auf Zeit bezogenen 1 Die Ausgabe steht im Rahmen des vom spanischen Darstellungen herausgestellt und speziell an die Wirtschafts- und Wissenschaftsministerium geförderten verzeitlichten Kollektivsingulare die These der Forschungsprojektes FFI2017-82195-P. Die spanischen Bildbedürftigkeit und Bildanziehungskraft geschicht- Fassungen werden in dem von Javier Fernández Sebastián licher Grundbegriffe geknüpft. Schmieder geht den und Faustino Oncina Coves im Verlag Pre-Textos heraus- gegebenen Band Metáforicas espacio-temporales para la metaphorischen Dimensionen bei Koselleck auf der historia. Enfoques teóricos e historiográficos erscheinen. Ebene seiner Untersuchungsgegenstände und der FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021 4
Ernst Müller, Falko Schmieder Interpretationssprache nach und diskutiert damit historischer Zeiten zu liefern. Das Modell des Zeit- verbundene Widersprüche, zum Beispiel zwischen gartens wird gegen das von Braudel und Koselleck der von Koselleck der Geschichtsphilosophie verwendete Modell der Zeitschichten profiliert und soll zugeschriebenen Entdeckung der Machbarkeit von es erlauben, die Zusammenhänge und Beziehungen Geschichte und den sowohl zeitgenössisch wie auch der vielfältigen Zeitfiguren komplexer zu erfassen. bei Koselleck selbst auftauchenden Sprachbildern für ihre Verselbständigung und Unverfügbarkeit. Anhand Der Historiker Benedikt Brunner vom Mainzer von Metaphern für Geschichte aus der zweiten Hälfte Leibniz-Institut für Europäische Geschichte wendet des 20. Jahrhunderts (wie dem ›Crashkurs‹ oder dem sich mit Mirjam Loos’ Buch Gefährliche Metaphern. ›Realexperiment‹) werden die historischen Grenzen Auseinandersetzungen deutscher Protestanten mit der Geschichtlichen Grundbegriffe ausgelotet. Kommunismus und Bolschewismus (1919–1955) einer Arbeit zu, die die Brisanz und die höchst Der Beitrag von Ernst Müller wendet sich folgenreichen praktisch-politischen Konsequen- ›Kristallisation‹ und ›Verflüssigung‹ zu, zwei Meta- zen der von evangelischen Autoren der Weimarer phern zu, die ungeachtet ihrer Gegenläufigkeit in Republik verwendeten Metaphorik aus dem Wortfeld den soziologischen Theorien von Arnold Gehlen und Militär–Krieg–Kampf untersucht. Ihre These ist, dass Zygmunt Bauman zum Einsatz gelangt sind, um die nicht zuletzt diese Sprachbilder die Akzeptanz des These eines Endes der Geschichte zu entfalten. Eine ab 1941 geführten Vernichtungskrieges gegen die problemgeschichtliche Betrachtung der Vorgeschichte Sowjetunion befördert haben. beider Metaphern führt mit Marx auf einen Referenz- punkt, der zugleich geeignet ist, Inkonsistenzen und Außerhalb des Themenschwerpunktes widmet sich ideologische Dimensionen der späteren Theorien abschließend die Rezension des Politikwissenschaft- und der sie grundierenden Metaphern zu beleuch- lers Sebastian Huhnholz (Universität Hannover) ten. Auch die Diskussion um ›Kristallisation‹ und Gennaro Imbrianos als Werkbiographie und eine ›Verflüssigung‹ ist mit der Frage verbunden, ob es Art Einführungswerk angelegter Studie Der Begriff sich um M etaphern oder um Begriffe handelt. der Politik. Die Moderne als Krisenzeit im Werk von Reinhart Koselleck. Huhnholz hebt das Interesse des Das Thema der Kristallisation bildet die Überleitung Autors hervor, die theoretische Eigen- und politische zum Rezensionsteil, der von Ernst Müller mit einer Selbständigkeit von Kosellecks vielschichtigem Werk Doppelbesprechung eröffnet wird: Wolfgang Hott- herauszuarbeiten und versteht in diesem Sinne ners Monographie Kristallisationen. Ästhetik und bereits den Obertitel programmatisch als eine Anti- Poetik des Anorganischen im späten 18. Jahrhundert these zu Carl Schmitts berühmt-berüchtigter Schrift. thematisiert die Genese der Kristallisationsmetapher im Prozess der Ausdifferenzierung des Organischen/ Anorganischen um 1800 und damit die Vorgeschichte späterer politisch-sozialer Verwendungen in der M oderne. Die Bedeutung der politischen Dimension von Metaphern unterstreichend, zieht die Rezension einen Bogen zu Felix Heiden- reichs Arbeit über Hans Blumenbergs Politische Metaphorologie. Konstatierend, dass Blumenberg selbst aus einem ›Liberalismus der Distanz‹ die politische Dimension von Metaphern meist latent hielt, entwickelt Heidenreich Grundzüge einer solchen Theorie. In der zweiten themenbezogenen Rezension be- spricht Falko Schmieder Lucian Hölschers Buch Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit. Unter ›Zeitfiguren‹ versteht Hölscher die temporalen Grundbausteine historischer Erzählungen, die er sowohl systematisch wie auch historisch anhand von Analysen einschlägiger Geschichtswerke untersucht, und zwar mit dem Ziel, einen Beitrag zu einer Theorie 5 DOI: 10.13151/fib.2021.01.01
SCHIEFRUNDE PERLEN ZUM DEUTUNGSANSPRUCH METAPHORISCHER EPOCHENNAMEN Barbara Picht Die Epoche ist in dem Augenblick, wo sie ihren die mit Geschichtsinterpretationen als Akten der Namen erhält, noch nicht erfasst. Sinngebung verbunden ist.2 Um solche Dynamiken (Karlheinz Stierle) soll es im Folgenden gehen. An schiefrunde Perlen denkt heute vermutlich kaum Epochen: nicht immer verstand man darunter das, jemand mehr, wenn er die Bezeichnung Barock hört. was wir heute mit diesem Begriff verbinden. Das Und doch ist ein möglicher etymologischer Ursprung griechische epoché bedeutete ursprünglich ein des Begriffs das portugiesische barroco, womit eine Anhalten (zum Beispiel der Rede), ein Stoppen (zum unregelmäßig gebildete Perle von geringem Wert Beispiel in einem Lauf) oder auch eine Unterbrechung bezeichnet wurde. Andere Etymologien führen die (beispielsweise eines Krieges).3 In der Astrologie war Bezeichnung auf das spanische barrueco zurück, damit ein berechenbarer Punkt auf der Bahn eines womit auch eine unregelmäßige Gesteinsart gemeint Himmelskörpers gemeint.4 Der antike Skeptizismus sein kann. Von unebener Oberflächenbeschaffenheit (und hier hat der Begriff seinen ältesten Ursprung) sind sie beide, jene Perlen und diese Art von Gestein. bezeichnete mit epoché den Verzicht darauf, ein Und für welche Erklärung man sich auch entscheidet Urteil zu fällen. Für alle diese Bedeutungen gilt, (auch der illegale Wucherzins wird in Betracht gezo- dass mit ›Epoche‹ kein bestimmter Zeitabschnitt gen, da das italienische barocco auch diesen meint) – bezeichnet wurde. S ondern gemeint war ein Ereignis, immer dient diese Bezeichnung der Abwertung: eine und zwei Ereignisse, also Epochen, konnten einen unschöne Perle, ein unregelmäßiger Fels, ein illegaler Zeitraum einschließen, der als ›Periode‹ bezeichnet Gewinn.1 wurde, so noch Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hoch- Vergegenwärtigt man sich, dass viele Epochen deutschen Mundart, das zwischen 1774 und 1786 begriffe einen metaphorischen Kern haben (beim erschien.5 finsteren Mittelalter, der Renaissance oder der Aufklärung liegen sie offener zutage als im Fall des Barock), und geht man den Gründen dafür nach, gerät das vertraute, Geschichte periodisierende Epochengefüge in Bewegung. Präziser gesagt: 2 Vgl. Gerrit Walther/Roland Kanz/Peter Philipp Riedl: Befragt man Epocheneinteilungen nach den mit ihnen »Epoche«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der verbundenen Deutungsansprüchen, geht etwas von Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi.org/10.1163/2352- ihrem ordnend-kategorisierenden Charakter verloren, 0248_edn_COM_259112. 3 Vgl. Manfred Riedel: »Epoche, Epochenbewußtsein«, in: dafür gewinnen sie etwas von der Dynamik zurück, Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philoso- phie, Bd. 2: D–F, Basel 1972, Sp. 596–599, hier Sp. 596; Andreas Kamp: Vom Paläolithikum zur Postmoderne – die Genese unseres Epochen-Systems, Bd. 1: Von den Anfän- gen bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts, Amsterdam/ Philadelphia 2010 (Bochumer Studien zur Philosophie, Bd. 1 Vgl. Ulrich Pfisterer/Dirk Niefanger/Konrad Küster: 50), S. 41. »Barock«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der 4 Vgl. Kamp: Vom Paläolithikum zur Postmoderne (Anm. 3), Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi.org/10.1163/2352- S. 126–137. 0248_edn_COM_244121. Eine weitere mögliche Bedeutung 5 Vgl. Johan Hendrik Jacob van der Pot: Sinndeutung und Pe- ist ›lächerlicher Syllogismus‹, also eine übertrieben spitzfin- riodisierung der Geschichte. Eine systematische Übersicht dige Schlussfolgerung; vgl. ebd. der Theorien und Auffassungen, Leiden 1999, S. 52. FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021 6
Barbara Picht Zur selben Zeit, im letzten Drittel des Es geht daher im Folgenden um zweierlei Wechsel- 18. Jahrhunderts, beginnt man ›Epoche‹ als Synonym verhältnisse. Was sagt erstens ein Epochenname für ›Periode‹ zu verwenden. Unter ›Epoche‹ wird über das jeweilige Geschichtsverständnis aus und also nun ein zeitlicher Abschnitt mit bestimmten wie wirkt er auf dieses möglicherweise auch zurück? signifikanten Merkmalen verstanden.6 Es wird nach Damit verknüpft ist zweitens die Frage nach dem dem kennzeichnenden Gehalt von Zeitaltern gefragt.7 Verhältnis von Epochenbezeichnungen zueinander. Das griechische Verb epis’chein, von dem epoché Entspringen sie möglicherweise nicht der rück abgeleitet ist, rechtfertigt übrigens beide Deutungen: blickend ordnenden und klassifizierenden geschichts- Es meint sowohl ›innehalten‹ oder ›aufhören‹ als auch wissenschaftlichen Interpretation allein, sondern ›sich erstrecken über‹.8 spiegeln zugleich ein zeitgenössisches Bezugs- und Verweissystem wider? Doch ob der Epochenbegriff nun im antiken Sinn eines bestimmten Zeitpunktes verwendet oder, wie Unter den Epochenbezeichnungen nun gerade die von den Aufklärern, als Zeitalter gedacht wird: für metaphorischen zu betrachten, ist spannend, da sie in beide gilt, dass Geschichtseinteilungen Akte der besonderem Maße in solchen Wechselverhältnissen Sinngebung sind.9 Epochenbezeichnungen zu stehen scheinen. So unterschiedlich, ja bisweilen kontrovers die verschiedenen Metapherntheorien »interpretieren Geschichte […]. Sie offenbaren […] ihren Gegenstand bestimmen, in einem sind sie Ansichten über Gut und Schlecht, Fortschritt und sich weitgehend einig: Metaphern können eine Art Dekadenz, wünschenswerte und zu vermeidende Vorgriff auf begriffliches Wissen leisten. Sie gene- Entwicklungen von Politik, Gesellschaft und Kul- rieren Neues. Wer Metaphern interpretiert, so Petra tur. Sie reagieren auf die eigene Gegenwart: Sie Gehring, gelange in Latenzzonen der Wissenschaft.11 legitimieren das Bestehende, relativieren es als Blumenberg wollte bekanntlich die Metapher nicht Übergangsphase oder kritisieren es als Abirrung von auf das ›Vorfeld der Begriffsbildung‹ reduziert sehen, einem normativen Ziel. Sie begründen solche Ziele, Metaphern könnten vielmehr irreduzible Denkformen indem sie entsprechende histor[ische] Traditions sein. Das schließt aber auch nach Blumenberg nicht linien zeichnen; sie propagieren Vorbilder und for- aus, dass es Übergänge von der Metapher zum mulieren Warnungen, können ideologische Waffen Begriff geben kann.12 Im Fall der metaphorischen sein, politische Erkennungsmerkmale und Medien Epochennamen scheint beides eine Rolle zu spielen: gelehrter Gruppenbildung. In ihrer Einheitlichkeit der Vorgriff auf begriffliches Wissen durch Metaphern oder Vielfalt, Festigkeit oder Offenheit sagen sie viel und der Übergang von den metaphorischen Selbst- über Strukturen und Machtverhältnisse der tonange- beschreibungen einer Zeit zum jeweiligen Epochen- benden Wissenseliten aus.«10 begriff. Welchen Namen eine Epoche trägt, ist also immer Um diesen Fragen an Beispielen nachzugehen, soll auch Ausdruck der Geschichtsinterpretation ihrer zunächst eine Periodisierung mit sehr langfristigen Namensgeber. Und diese sind, wie zu zeigen sein Folgen näher betrachtet werden. 1438 begann Flavio wird, bei der Namenswahl nicht frei davon, wie voran- Biondo, Historiker und päpstlicher Sekretär, mit der gegangene Epochen sich selbst sahen oder gesehen wurden – obwohl sie sich gegebenenfalls noch gar nicht als Epochen im neuzeitlichen Sinn verstanden 11 Vgl. Petra Gehring: »Das Bild vom Sprachbild. Die haben, was die hier verhandelte Problemstellung Metapher und das Visuelle«, in: Lutz Danneberg/Carlos verkompliziert. Spoerhase/Dirk Werle (Hg.): Begriffe, Metaphern und Ima- ginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 2009 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 120), S. 81–100, hier S. 81. 12 Vgl. Franz Josef Wetz: Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 2004, S. 18 f. Friedrich Nietzsche sprach in die- 6 Vgl. Theodor Schieder: Geschichte als Wissenschaft. Eine sem Zusammenhang von der Metapher als der ›Großmutter Einführung, München/Wien 21968, S. 88. des Begriffs‹, vgl. dazu und insgesamt zu Zusammenhang 7 Vgl. ebd., S. 87. wie Unterschieden von Metapher und Begriff Stefan Willer: 8 Vgl. Gerrit Walther: »Epochen als Lesart der Geschichte«, »Metapher und Begriffsstutzigkeit«, in: Ernst Müller (Hg.): in: Matthias Meinhardt/Andreas Ranft/Stephen Selzer (Hg.): Begriffsgeschichte im Umbruch? (Archiv für Begriffsge- Oldenbourg Geschichte Lehrbuch, Bd. 4: Mittelalter, Mün- schichte, Sonderheft 4), Hamburg 2005, S. 69–80. Einen chen 2007, S. 159–166, hier S. 159. Überblick über Metapherntheorien gibt Eckard Rolf: Meta- 9 Vgl. Walther/Kanz/Riedl: »Epoche« (Anm. 2). phertheorien: Typologie, Darstellung, Bibliographie, Berlin 10 Ebd. u. a. 2005. 7 DOI: 10.13151/fib.2021.01.02
Schiefrunde Perlen Niederschrift eines Geschichtswerkes, in dem die aus dem Bild einer zu überwindenden ›dunklen‹ Zeit Zeit zwischen 400 und 1400 n. Chr. verhandelt wird. leitete sich das Versprechen ab, welches mit der Biondo führte dort erstmals die Trias von Altertum, Ausrufung einer ›neuen‹ Zeit verbunden ist. Es war Mittelalter und Neuzeit ein – die so noch nicht hießen: ein großes Versprechen, gegeben zunächst von den Es war von alter, mittlerer oder auch Zwischenzeit italienischen Humanisten. und von neuer Zeit die Rede. Der Terminus Mittelalter entstand erst im 18. Jahrhundert, der der Neuzeit ist Eine Epoche Neuzeit quasi zu erfinden, bedeutete nach dem Grimm’schen Wörterbuch als Epochen im 15. und 16. Jahrhundert, die bislang geltende begriff erst seit 1870 belegt.13 Verglichen mit kultur- Vorstellung von sechs Weltaltern und vier Welt- morphologischen Modellen, in denen die Geschichte monarchien außer Acht zu lassen zugunsten einer von Kulturen analog zu Lebensverläufen als eine Geschichtsauffassung, die sich nicht länger an der Abfolge von Jugend, Blütezeit und Alter gedacht Erfüllung eines biblischen Heilsplanes orientierte.15 wird, kehrt dieses Geschichtsdenken die Dynamik Es war der Aufruf zu einem revolutionären Wandel im um: Einer alten Zeit folgt eine mittlere, die allerdings Geschichtsdenken. Petrarca als einer der wirkungs- als Zwischen-, Übergangs- oder auch dunkle Zeit mächtigsten Verkünder dieses Wandels ignorierte abgewertet wird. Sie wird von der jüngsten, neuen die bis dahin gültige Vier-Reiche-Lehre und mit ihr Zeit abgelöst und durch sie dynamisch überwunden. die Idee der translatio imperii. Sein Ziel war, nicht fortsetzen und fortschreiben zu müssen, was er vor- Während Biondo dieses Modell spezifisch für die fand, sondern zu neuer Geltung zu bringen, was die römische und dann die italienische Geschichte Römische Republik zur Zeit der Scipionen und also entwarf, führte der Hallenser Historiker Christoph das in seinen Augen wahre, große Rom einst aus Martin Keller es in seinem 1702 in Jena erschienenen gemacht hatte. Keine Kontinuität, keine Übertragung, Werk Historia universalis als ein universalgeschicht sondern eine Wiedergeburt sollte gelingen. Damit liches Gliederungsschema ein. Der Maßstab für diese war kein allein kultur- oder ideengeschichtliches Universalgeschichte und das ihr unterlegte Epochen- Programm formuliert, sondern ein Machtanspruch verständnis war die europäisch-mittelmeerische Welt. erhoben – und das nicht zufällig in Oberitalien, wo die Entstehung autonomer Stadtrepubliken neues Seit Kellers Veröffentlichung ist die Epochentrias politisches Selbstbewusstsein aufblühen ließ. Deren Altertum – Mittelalter – Neuzeit fest in das europa- Kampf um Freiheit richtete sich gegen die kaiserliche zentrierte Geschichtsdenken eingeschrieben. Dass Autorität und damit gegen den französisch-deutschen diese Dreigliederung so erfolgreich, man könnte Einfluss. Italien sollte als eigentlich legitimer Erbe des auch sagen hartnäckig unsere Geschichtsauffassung klassischen römischen Altertums reetabliert werden.16 prägt, liegt nach Reinhart Koselleck nicht zuletzt Dem diente die auch als humanistische Trias bezeich- daran, dass sie auf inhaltliche Aussagen verzichtet: nete Einteilung in alte, mittlere und neue Zeit.17 Ihr »hervorstechendes Merkmal ist eine bloß zeitliche Tiefenbestimmung, was ihre Formalität ausmacht und Der Vorgriff auf begriffliches Wissen, den Metaphern ihre Elastizität, verschieden datierbar und auslegbar leisten können, geht also bei der Rede von der dunk- zu sein.«14 Geht es um das Mittelalter, war diese len Zeit mit einer Art Vorgriff auf den Geschichtsver- Zuschreibung allerdings ursprünglich keine rein lauf einher. Mithilfe einer veränderten Periodisierung zeitliche, sondern dezidiert wertend gemeint. Denn soll Gegenwart beeinflusst, vor allem aber Zukunft gestaltet werden. Dafür muss Distanz zu der später als Mittelalter titulierten Periode geschaffen werden, 13 Laut Koselleck ist der zusammengesetzte Begriff Neuzeit erst seit 1870 belegt, vgl. Reinhart Koselleck: »›Neuzeit‹. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe«, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 15 »Er [Petrarca; B. P.] bestritt das Weltmonarchie-Modell Frankfurt a. M. 2017, S. 300–348, hier S. 302. nicht, er ignorierte es einfach. Selbstverständlich aber 14 Koselleck: »›Neuzeit‹« (Anm. 13), S. 304 f. Mit demselben lief seine Vision einer rinascita der Idee einer translatio Argument – der zeitlichen Unbestimmtheit – ist der Mittelal- diametral entgegen.« (Walther: »Epochen als Lesart der terbegriff von geschichtswissenschaftlicher Seite aber auch Geschichte« [Anm. 8], S. 163); vgl. auch Voss: Das Mittelal- zurückgewiesen worden; vgl. Jürgen Voss: Das Mittelalter ter im historischen Denken Frankreichs (Anm. 14), S. 23. im historischen Denken Frankreichs. Untersuchungen zur 16 Vgl. Walther: »Epochen als Lesart der Geschichte« (Anm. Geschichte des Mittelalterbegriffes und der Mittelalterbe- 8), S. 162 f.; Gerrit Walther: »Humanismus«, in: Jaeger wertung von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online, 2005–2012, http:// 19. Jahrhunderts, München 1972 (Veröffentlichungen des dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_a1756000. Historischen Instituts der Universität Mannheim, Bd. 3), S. 17 Vgl. Voss: Das Mittelalter im historischen Denken Frank- 9, Anm. 2. reichs (Anm. 14), S. 11. FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021 8
Barbara Picht und dies gelingt offensichtlich am besten mit meta- Beweisverfahren anhand der Quellen sollten dabei phorischen Mitteln: Petrarcas Rede von der tenebrae, Widerlegungsversuche abwehren. Ein Verwissen- der Finsternis, soll den Zeitgenossen eindringlich schaftlichungsschub in der Historiographie war die nahelegen, dass es sich von solch scheinbar dunk- Folge.23 Bedenkt man, wie tief sich der Kollektiv ler Zeit zu lösen gilt.18 Ihr Äquivalent findet diese mythos Nation seitdem zunächst in die europäische, Geschichtsvorstellung in der im 15. Jahrhundert dann die globale Geschichte eingeschrieben hat, entstandenen Rede von der Wiedergeburt, dem lassen sich die möglichen Langzeitfolgen eines Wiedererwachen, der Erneuerung. Dürer spricht 1523 Rüttelns am epochalen Selbstverständnis einer Zeit von der ›widererwaxsung‹.19 Der Historiker Alfred in etwa ermessen.24 Dove wies 1893 darauf hin, dass die Metapher von der Wiedergeburt bereits eine metaphorische Dreiheit Untersucht man Epochennamen nicht isoliert, reicht in sich einschließe: die von Leben, Tod und Wieder- die Idee von einem finsteren Zeitalter im Übrigen geburt. Das Modell der Epochentrias sei in der Idee weiter zurück als bis zu Petrarcas Aufruf zur Kultur der Renaissance also schon angelegt gewesen.20 revolution. Es gibt den Ausdruck bereits im Mittelalter selbst, wie die österreichische Historikerin Lucie Petrarca ging es bei alldem noch vornehmlich um Varga, die den Annales nahestand, in ihrer Doktor eine Erneuerung der lateinischen Literatur und arbeit dargelegt hat.25 Sie zeigt dort, dass die Sprache. Das strahlte auch auf die bildende Kunst Metapher von Licht und Schatten eine der bevor aus. Der italienische Humanist Lorenzo Valla prägt zugtesten der abendländischen mittelalterlichen die Bezeichnung ›gotisch‹, kurz nachdem der Literatur ist. Und die Dunkelheitsmetapher bezog Architekt und Mathematiker Tuccio Manetti behauptet sich schon damals auch auf ganze Zeitalter eines hatte, nach dem Fall des Römischen Reiches hätten Niedergangs von Kultur und auf die Vergessenheit, die einfallenden Goten und andere Barbarenvölker der eine Überlieferung anheimfallen kann.26 Solche die antike Architektur völlig verdorben.21 ›Gotisch‹ ›Kulturvergessenheit‹ war ja der größte Vorwurf, den war also ursprünglich ein Synonym für roh, wild und die Humanisten dem scheinbar dunklen Zeitalter unförmig. Wie ›barock‹ war auch diese Epochen machten, das zu überwinden sie angetreten waren. bezeichnung nicht anerkennend gemeint. Beide dien- ten einem abwertenden Stilvergleich, die jeweilige Metapher wurde zum Zweck der Abgrenzung vom klassischen Ideal gewählt. Zu Propaganda gehört aber stets auch Gegen- tia-Begriffs, der es zuließ, Polen als eine Adelsnation zu propaganda. Der von den Humanisten erhobene charakterisieren. Caesars Helvetier-Kapitel aus De bello Gallico kam der Eidgenossenschaft zupass und die Nieder- Barbarenvorwurf und die Ausrufung einer neuen Zeit länder erklärten sich mithilfe der Tacitus-Schilderungen des im humanistischen Italien provozierte in weiten Teilen Bataveraufstandes zu Freiheitshelden. Die humanistischen Europas, in Spanien, Frankreich, Deutschland, Polen, Konstrukteure der Nationalmythen verstanden sich dabei als philologische Mythenkritiker, die aus den Quellen die der Schweiz oder den Niederlanden, das Entstehen historische Wahrheit über die jeweilige Nationengeschichte nationalmythologischer Gegenerzählungen, die die je zu rekonstruieren imstande seien. eigene Geschichte aufwerten sollten.22 Philologische 23 Vgl. Caspar Hirschi/Hans-Joachim König/Stefan Rinke: »Nationalmythen«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyk- lopädie der Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi. org/10.1163/2352-0248_edn_a2917000. 18 Vgl. ebd., S. 27–34. 24 Im Übrigen reagierten deutsche Humanisten nicht nur 19 Vgl. Gerrit Walther/Merio Scattola/Ulrich Pfisterer u. a.: machtpolitisch auf Italiens Kulturrevolution, indem sie die »Renaissance«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der translatio imperii weiterhin für sich in Anspruch nahmen Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi.org/10.1163/2352- und diesen Anspruch nationalmythologisch zu untermauern 0248_edn_a3611000. suchten. Sie interpretierten die eigene Rezeption des 20 Vgl. van der Pot: Sinndeutung und Periodisierung der Ge- italienischen Humanismus zudem als eine translatio studii schichte (Anm. 5), S. 312. und rechtfertigten damit ihre Idee einer Verschiebung des 21 Vgl. Peter Kurmann: »Die Gotik – ein europäischer Stil?«, christlichen Bildungszentrums nach Deutschland. in: Günter Buchstab (Hg.): Die kulturelle Eigenart Europas, 25 Zu Lucie Varga vgl. Peter Schöttler: »Lucie Varga – eine Freiburg i. Br. 2010, S. 89–111, hier S. 91. österreichische Historikerin im Umkreis der ›Annales‹«, in: 22 Spanien und Frankreich konnten dabei direkt an mittelalter- ders: Die Annales-Historiker und die deutsche Geschichts- liche Überlieferungen in Gestalt des Goten- bzw. Franken- wissenschaft, Tübingen 2015, S. 150–179. mythos anknüpfen. Andere entwarfen ihre Nationalmythen 26 Vgl. Lucie Varga: Das Schlagwort vom ›finsteren Mittelalter‹, unter Rückgriff auf antike Quellen. In Deutschland geschah Baden u. a. 1932 (Veröffentlichungen des Seminars für dies mithilfe des wiederentdeckten Tacitus, in Polen durch Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien, die Rezeption des von Ptolemaios geprägten Sarma- Bd. 8), S. 10. 9 DOI: 10.13151/fib.2021.01.02
Schiefrunde Perlen Aus der Perspektive der Metapherngeschichte wird der Renaissance Erneuerung versprechend, wodurch auch sichtbar, wie eine Epochenmetapher nicht allein sich beide von anderen Perioden abgrenzen), hat zeitlich, sondern auch ihrem inhaltlichen Anspruch Verweischarakter, wenn der auch in eine andere nach ›wandern‹ kann. Diente im Humanismus die Richtung weist als die Metapher der Renaissance. Rede von der alten, mittleren bzw. dunklen und neuen Das humanistische Erneuerungsdenken lebte von Zeit noch einer Bildungsbewegung mit vornehm- dem Rekurs auf die Antike. Erneuerung wurde hier lich ästhetischen Zielen, nutzte die Reformation als eine Reaktivierung von Tradition gedacht. Mit die Rede vom reinen Anfang, einem langen Irrweg der Aufklärung verschob sich gewissermaßen die und nun der Rückkehr zu den Ursprüngen für ihre Blickrichtung. In dieser Zeit entsteht ein Fortschritts- (ebenfalls auf die Zukunft gerichteten) Ziele einer begriff, der die Möglichkeit einer nicht vorhersehbaren protestantischen Kirchengeschichtsschreibung. Weiterentwicklung der Gegenwart einschließt und Und der bereits erwähnte Hallenser Historiker Keller diese begrüßt, einer Entwicklung, durch die Neues übertrug die Epochentrias dann auf die politische entsteht und eine wachsende Vervollkommnung des Geschichte, womit er zugleich ermöglichte, dass menschlichen Daseins erreicht wird.28 »Offenheit der sich das Gliederungsprinzip Altertum – Mittelalter Zukunft« nennt Koselleck das.29 Sie wiederum führte – Neuzeit, nun periodisiert anhand der großen zu einer stärkeren Aufmerksamkeit für die historische Reichsübertragungen, neben der Heilsgeschichte Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und etablieren und diese schleichend ersetzen konnte.27 Zukunft. Die den Historismus prägende Überzeugung Die Wechselbeziehung zwischen Geschichtstheorie von der Anders- und Einzigartigkeit geschichtlicher und Epochenmetaphorik wird bei allen drei Modellen Epochen und Kulturen hat hier ihren Ursprung. von alter, mittlerer und neuer Zeit deutlich, wobei die Epochen im uns heute geläufigen Sinn begann Besonderheit dieser Epochentrias eben ist, dass sie man damals erst zu entwerfen.30 Doch auch für die sich für unterschiedliche Ziele und diesen unterlegten zukunftsorientierte Metapher von der Aufklärung Geschichtsverständnissen in Anspruch nehmen lässt. gilt, dass sie einem interepochalen Bezugssystem verhaftet bleibt. Ohne eine scheinbar dunkle, unauf- Wie steht es nun mit der zweiten Art von Wechsel- geklärte Zeit, die man überwinden will, ergibt das Bild verhältnis, dem Wechselverhältnis von Epochen keinen Sinn. bezeichnungen zueinander? Die Epochentrias Antike – Mittelalter – Neuzeit greift das in der Renaissance Verweise finden sich auch dort, wo es darum geht, entstandene Bezugs- und Verweissystem auf, in eine Epoche inhaltlich zu bestimmen, etwa – um noch dem um der Neuinterpretation der eigenen Gegen- einmal das Beispiel des Barock aufzugreifen – wenn wart und einer geschichtstheoretisch legitimierten der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin den barocken Zukunftsvorstellung willen Vergangenheit in einer Epochenstil anhand eines Vergleichs mit klassi- ganz bestimmten Weise gedeutet wurde. Das schen Stilmerkmalen charakterisiert. Er entwickelt Mittelalter verstand sich selbst nicht als Mittelalter Gegensatzpaare, durch welche sich die Klassik vom (um eine Metapher handelt es sich hier im Übrigen Barock unterscheide. Im Bereich des Raums ist das auch dann, wenn die Finsternis nicht mitgedacht der Gegensatz von Begrenzung versus Grenzen- wird, durch die Bedeutungsübertragung aus der losigkeit, im Bereich der Zeit der von Dauer versus Lebensalter-Semantik). Der Epochenbegriff Mittel Augenblicklichkeit, im Bereich des Affekts der von alter, so unterschiedlich er im Lauf der Zeit bestimmt ruhig sympathischem Mitempfinden versus wildes wurde und noch immer wird, trägt in sich noch die Entzücken und so fort.31 Zusammenfassend will Spuren der ursprünglichen Bedeutung, die dieser Zeit einen mittleren Platz zwischen zwei anderen Epochen zuweist. Auch die Metapher der Aufklärung (wie die 28 Friedrich Jaeger u. a.: »Moderne«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online, 2005–2012, http:// dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_a2784000. 29 Reinhart Koselleck: »Die Verzeitlichung der Begriffe«, in: 27 Vgl. Caspar Hirschi/Annette Kreutziger-Herr: »Mittelalter- ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Prag- rezeption«, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der matik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. Neuzeit Online, 2005–2012, http://dx.doi.org/10.1163/2352- 2006, S. 77–85, hier S. 77. 0248_edn_a2772000. Als Grenzmarken setzte er die 30 Vgl. ebd. Herrschaft Konstantins des Großen und den Fall Kon- 31 Hinzu kommen im Bereich des Körperlichen Idealmaß stantinopels 1453. Daneben brachte er den Beginn der und Leichtigkeit vs. vollmassige Körper und Schwere, im historia nova u. a. auch mit der Vereinigung der spanischen Bereich der Form die schöne Form vs. die Tendenz zur Königreiche, der Vertreibung der Mauren von der Iberischen Formlosigkeit; vgl. Walter Moser: »Barock«, in: Karlheinz Halbinsel, der Entdeckung der ›Neuen Welt‹ und der Refor- Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches mation in Verbindung. Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1: Absenz bis Darstel- FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. 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Barbara Picht Wölfflin mit Blick auf Klassik und Barock die Ruhe des Doch auch bei solchen Korrekturversuchen bleiben Seins von der Unruhe des Werdens unterschieden die Epochenbezeichnungen selbst als Bezugs- und wissen, und er lässt wenig Zweifel daran, dass er der Kritikpunkte von zentraler Bedeutung. Umwertungen Klassik den Vorzug gibt, auch wenn er dazu auffor- sind dabei aber immer möglich. Von Gotik beispiels- dert, das Barock als eigenständige Stilepoche anzu- weise sprechen wir heute nicht mehr im ursprünglich erkennen. Der erst 23-jährige Erwin Panofsky weist intendierten abwertenden Sinn. dem Lehrer Wölfflin später nach, dass selbst dessen auf Werturteile verzichtende Kunstgeschichtliche Metaphorische Epochennamen, so lässt sich Grundbegriffe ein relationales Gefüge sind. Denn ob bilanzieren, verdanken sich in aller Regel kultur etwas als malerisch oder plastisch charakterisiert historischen Deutungskämpfen. Wird Geschichte wird, das hängt davon ab, womit man es vergleicht.32 nach politischen Gesichtspunkten periodisiert, dienen meist entweder die Namen von Herrschern oder Die Prägekraft von Epochenzuschreibungen ist Herrschergeschlechtern zur Charakterisierung oder, längst in die historiographische Kritik geraten. Ganze wie beispielsweise in der russischen Geschichte, Regalmeter werden gefüllt, um sichtbar zu machen, Herrschaftsbildungen. Auf die Kiewer Rus folgt die was Epochenbezeichnungen auch verdecken können: Periode der Mongolenherrschaft, dann das Moskauer zeitgenössische Gegenbewegungen beispielsweise, Reich und schließlich das Petersburger Imperium, also die Oppositionen gegen den ausgerufenen oder das bis zum Revolutionsjahr 1917 dauerte. Sind es rückblickend angenommenen sogenannten ›Geist‹ technische Neuerungen und ihre Folgen, die einer einer Zeit.33 Auch das neuzeitliche Fortschrittsden- Zeit ihren Namen geben wie beispielsweise im Fall ken, integraler Bestandteil unseres Epochendenkens, des Atomzeitalters, kann auf Metaphorik ebenfalls blieb nicht unkritisiert. Der Epochenbezeichnung leichter verzichtet werden. Postmoderne ist solches Hinterfragen ebenfalls eingeschrieben, in diesem Fall das Hinterfragen des Für die kulturhistorischen Epochen und ihre Selbstverständnisses der Moderne – eine inter Metaphorik lassen sich vier Charakteristika epochale Bezugnahme ist auch dies. Ranke prägte bestimmen. die Formel, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott, wodurch er die einzelnen Epochen aus dem inter Erstens sind die zeitgenössisch verwendeten meta- epochalen Verweissystem herauszulösen versuchte.34 phorischen Bezeichnungen in aller Regel Ausdruck eines Programms, das in die Zukunft weist. Dieses Programm kann ästhetisch, religiös oder gesellschaft- lung, Studienausgabe, Stuttgart/Weimar 2010, S. 593 lich ausgerichtet sein. unter Bezugnahme auf Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, München 1888. Zweitens bedienen sich alle diese metaphorischen 32 Vgl. Erwin Panofsky: »Über das Verhältnis der Kunstge- Bezeichnungen eines interepochalen Verweises, schichte zur Kunsttheorie. Ein Beitrag zur Erörterung über um zum Ausdruck zu bringen, worauf es in der die Möglichkeit ›kunstwissenschaftlicher Grundbegriffe‹«, eigenen Zeit jeweils ankommen soll. Metaphorische in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer/Egon Verheyen, Berlin 1998, S. Epochennamen beziehen sich infolgedessen nie 49–75. allein auf die jeweiligen Gegenwarten, sondern 33 »›Epochen‹ sind theoretische Konstrukte, die auf ›Zeit- deuten und bewerten zugleich Vergangenheit. räume‹ als chronologische Einheiten anwendbar sind; sie basieren auf der Rekonstruktion von Merkmalskomplexi- onen, die sich synchron und/oder diachron von anderen Drittens fällt auf, dass es sowohl beim historisch- Merkmalskomplexionen unterscheiden lassen; sie können kritischen Rückblick auf zeitgenössische in einem bestimmten Zeitraum eindeutig dominierende Geschichts- und Gegenwartsdeutungen als auch in Charakteristika benennen oder aber Merkmalskomplexio- der geschichtswissenschaftlichen Diskussion über nen, die entweder in Konkurrenz zu anderen stehen oder schlicht auf gänzlich Unterschiedliches abheben, d. h. sich Epochen selten dazu kommt, dass der metaphorische nicht ausschließen. Epochenkonstrukte müssen notwendig Epochenname durch einen anderen Namen ersetzt homogen sein, da sie sich nur als solche voneinander un- wird (was Differenzierungen nicht ausschließt, ein terscheiden lassen, während Zeiträume in der Regel durch Heterogenität gekennzeichnet sind.« (Klaus W. Hempfer: Beispiel wäre die Etablierung der Teildisziplin Frühe Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Neuzeit, ein anderes Heinz Dieter Kittsteiners Projekt, Theorie, Stuttgart 2018, S. 227.) die europäische Geschichte von 1618 bis 1945 in 34 Zit. nach Justus Fetscher: »Zeitalter/Epoche«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6: Tanz bis Zeitalter/Epo- che, Studienausgabe, Stuttgart/Weimar 2010, S. 774–810, hier S. 803. 11 DOI: 10.13151/fib.2021.01.02
Schiefrunde Perlen eine Stabilisierungs-, eine Fortschritts- und eine heroische Moderne zu unterteilen35). Selbst eine aus geschichtswissenschaftlicher Sicht so problematische Bezeichnung wie Mittelalter, auf die zu verzichten schon einige Historikerinnen und Historiker dringlich empfohlen haben, hält sich hartnäckig. Dass sich die Geschichtswissenschaft selbst längst entlang der Epochentrias institutionell organisiert hat, spielt gewiss eine wichtige Rolle. Maßgeblicher noch ist sicherlich, dass der Mittelalterbegriff lange schon geschichtlich geworden und daher nicht willkürlich zu ersetzen ist. Er ist als Begriff zu dem geworden, was Koselleck einen ›Erfahrungsspeicher‹ nennt. Viertens und letztens schließlich macht die den metaphorischen Bezeichnungen eigene geschichts bildende Funktion mit aus, dass sie nicht gesichertes Wissen festzuschreiben suchen, sondern Erwartungen und Interessen Ausdruck geben.36 Aus alldem folgt: Nach dem metaphorischen Gehalt von Epochenbezeichnungen zu fragen, bringt etwas von dem unruhestiftenden Charakter zum Vorschein, der diesen Sinndeutungen ursprünglich eigen war.37 Sie werten auf und urteilen ab, sie können wie Katalysatoren wirken oder wie Brandbeschleuniger. Sie rufen zu Revolutionen oder zum Frieden auf, ihr Gebrauch hat nichts Unschuldiges. Vor allem aber sind sie, in so weite Ferne die mit ihnen bezeichneten Vergangenheiten auch gerückt sein mögen, offensichtlich quicklebendig und behaupten erfolg- reich ihren Platz in unserem Denken über Geschichte, Zukunft und Gegenwart. 35 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618–1715, München 2010. 36 Zit. nach Benjamin Specht: »Epochale Metaphern. Struktu- ren und Funktionen kulturspezifischer Bildlichkeit«, in: ders. (Hg.): Epoche und Metapher. Systematik und Geschichte kultureller Bildlichkeit, Berlin 2014 (spectrum Literaturwis- senschaft / spectrum Literature, Bd. 43), S. 123–142, hier S. 133. 37 Zu einem solchen dynamischen Metaphernverständnis vgl. auch Cornelia Müller: Metaphors Dead and Alive, Sleeping and Waking. A Dynamic View, Chicago 2008. FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE 1 / 10. JG. / 2021 12
KETTE, STROM, WELLENSCHLAG ZUR METAPHOROLOGIE DER TRADITION1 Daniel Weidner Am112. Juni 1938 schreibt Walter Benjamin aus dem Viele dieser Formulierungen verweisen auf Überle- Pariser Exil einen Brief an seinen Freund Gershom gungen, die man von Benjamin kennt: Die Rede von Scholem nach Jerusalem. Er entwickelt darin ein paar der »epischen Seite der Wahrheit« erinnert an den Gedanken über Franz Kafka, die zwar ihren eigentli- Erzähleraufsatz, in dem Benjamin dem Erzähler Weis- chen Zweck nicht erreichen, Salman Schocken dazu heit zuspricht; der Verlust der Weisheit scheint etwas zu gewinnen, Benjamin zu fördern, aber postum mit dem Verlust der Erzählbarkeit oder der Krise der berühmt geworden sind: Kafkas Werk, so Benjamin, Erfahrung zu tun zu haben, von der Benjamin etwa in sei »eine Ellipse, deren weit auseinanderliegende Erfahrung und Armut spricht; nicht von »Erkrankung«, Brennpunkte von der mystischen Erfahrung (die vor aber von »Erschütterung« der Tradition spricht er im allem die Erfahrung von der Tradition ist) einerseits, Kunstwerkaufsatz.3 Manch anderes ist an Scholem von der Erfahrung des modernen Großstadtmen- und wohl auch an Schocken adressiert. So sind etwa schen andererseits, bestimmt sind«: ›Haggada‹ und ›Halacha‹ Termini technici, die zwei Schichten der jüdischen Überlieferung unterschei- »Kafkas Werk stellt eine Erkrankung der Traditi- den, in der die normativ relevanten Vorschriften und on dar. Man hat die Weisheit gelegentlich als die Traditionen als ›Halacha‹, die legendarischen Teile als epische Seite der Wahrheit definieren wollen. Damit ›Haggada‹ bezeichnet werden – eine Begrifflichkeit, ist die Weisheit als ein Traditionsgut gekennzeichnet; die Benjamin durch einen von Scholem übersetzten sie ist die Wahrheit in ihrer hagadischen Konsistenz. Aufsatz des Dichters Chaim Nachman Bialik bekannt Diese Konsistenz der Wahrheit ist es, die verloren war, in dem diese Ausdrücke ebenfalls schon zu einer gegangen ist. Kafka war weit entfernt, der erste Theorie der Überlieferung genutzt wurden. zu sein, der sich dieser Tatsache gegenüber sah. Viele hatten sich mit ihr eingerichtet, festhaltend Markanter als die heterogene und idiosynkratische an der Wahrheit oder an dem, was sie jeweils dafür Begrifflichkeit ist die bildliche Seite des Textes. Sie gehalten haben; schweren oder auch leichteren ist es, die den verschiedenen Ideen erst Kohärenz Herzens verzichtleistend auf ihre Tradierbarkeit. Das und dem Zugriff Benjamins auch seine spezifische eigentlich Geniale an Kafka war, daß er etwas ganz Dynamik gibt. Zu ihr gehört die Metapher einer ›Er- neues ausprobiert hat: er gab die Wahrheit preis, um an der Tradierbarkeit, an dem hagadischen Element festzuhalten. Kafkas Dichtungen sind von Hause aus umfänglichen Forschung vgl. Vivian Liska: »›Eine gewich- Gleichnisse. Aber das ist ihr Elend und ihre Schön- tige Pranke‹ – Walter Benjamin und Giorgio Agamben zu heit, daß sie mehr als Gleichnisse werden mußten. Erzählung und Gesetz bei Kafka«, in: Daniel Weidner/ Sigrid Weigel (Hg.): Benjamin-Studien 3, Paderborn 2014, Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen wie S. 215–232; Daniel Weidner: »›Nichts der Offenbarung‹, sich die Hagada der Halacha zu Füßen legt. Wenn ›inverse‹ und ›unanständige Theologie‹. Kafkaeske Figuren sie sich gekuscht haben, heben sie unversehens des Religiösen bei Adorno, Benjamin, Scholem und Agam- ben«, in: Manfred Engel/Richie Robertson (Hg.): Kafka und eine gewichtige Pranke gegen sie.«2 die Religion in der Moderne, Würzburg 2014 (Oxford Kafka Studies, Bd. 3), S. 155–175. 3 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner 1 Der vorliegende Text geht auf einen Vortrag am Heidelber- technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte ger Promotionskolleg »Was ist Tradition?« im Oktober 2017 Schriften, unter Mitw. von Theodor W. Adorno und Gershom zurück. Scholem hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppen- 2 Walter Benjamin/Gershom Scholem: Briefwechsel häuser, Bd. I.2: Abhandlungen, Frankfurt a. M. 1991, S. 1933–1940, Frankfurt a. M. 1980, S. 269, 271; aus der 435–508, hier S. 438 f. 13 DOI: 10.13151/fib.2021.01.03
Kette, Strom, Wellenschlag krankung‹ der Tradition, die so prägnant wie resistent Tradition gesprochen und nicht gesprochen wird. gegen ihre Auflösung (als bloße ›Krise‹) hervorsticht, Dann werde ich ein Beispiel eines starken Gebrauchs das abschließende Bild vom Heben der Pranke, das von ›Tradition‹ erläutern, nämlich bei Johann Gottfried gleichermaßen rätselhaft und mehrdeutig ist: Was Herder, anschließend sehr kursorisch die Geschichte hieße denn das Kuschen vor dem Gesetz und was von ›Tradition‹ im langen 19. Jahrhundert nachzeich- das Erheben der Pranke? Dass es nur ein Gleichnis nen, um schließlich noch mal auf Benjamin zurückzu- über Gleichnisse ist, das selbst in Form und Inhalt kommen. Kafka nachahmt, macht die Sache nicht einfacher. Einigermaßen erkennbar ist immerhin die Absicht, mit der Benjamin diese Bilder verwendet: Sie zielen I. TRADITION: BEGRIFFSSTATUS auf eine Aufwertung der Tradierbarkeit, die in überra- schender Weise irgendwie auf dieselbe Stufe wie die Will man sich über Tradition informieren, fällt zunächst Wahrheit gestellt wird. Dabei ist weder das Verhältnis ein Negativbefund auf: ›Tradition‹ ist kein großer von Tradition, Tradierbarkeit, Wahrheit und Weisheit Theoriebegriff, wenige große Werke widmen sich unmittelbar einsichtig, noch das Verhältnis von Traditi- explizit dem Konzept und Tradition spielt auch keine on und Moderne – das wiederum auf ein anderes Bild besonders prominente Rolle in anderen Diskursen. führt, das der Ellipse, das nicht weniger suggestiv und Wenn sich allgemein über Tradition geäußert wird, nicht weniger vieldeutig ist als die vorhergehenden. so oft im Modus der Klage: Es handele sich um einen nicht respektierten und unbedachten Gegenstand; die Bevor man sich von dieser Suggestivkraft in das Aufklärung habe alle Traditionen hinter sich gelas- Labyrinth der Benjamin-Exegese locken lässt, von sen und auch nicht mehr verstanden, was Tradition dessen Gefahren die allzu vielen Ariadnefäden in Ge- eigentlich sei, der moderne Mensch – und zumal die stalt voluminöser Monographien Zeugnis ablegen, tut Jugend – habe für Tradition nur noch ein Schulterzu- man gut, sich noch einmal des ersten Eindrucks der cken übrig.4 Trotz ihrer offensichtlich kulturkritischen Überraschung zu versichern: dass hier Tradition auf- Züge scheinen solche Klagen einige Auffälligkeiten gewertet, aber offensichtlich auch auf eine bestimmte, der Rede von der Tradition gut zu repräsentieren. paradoxe oder jedenfalls schwierige Weise verstan- den wird. Solche Schwierigkeiten würde man wohl am Begriffsgeschichtlich ist ›Tradition‹ gut erforscht, anderen »Brennpunkt« der Ellipse, in der Moderne, symptomatisch ist aber, dass auch begriffsgeschicht- erwarten, aber nicht so sehr in der Tradition; und es liche Arbeiten ihre Schwierigkeiten mit dem Begriff ist diese Erwartung, mit der Benjamins Text bricht haben: »Der Traditionsbegriff gehört vermutlich zu und daraus sein Versprechen erzeugt. Was für ein den unklarsten und vieldeutigsten Begriffen sowohl Vorverständnis von Tradition setzt das voraus? Was der Bildungs- als auch der Wissenschaftssprache.«5 stellen wir uns unter Tradition vor, haben wir eine Hergeleitet wird der Terminus zum einen aus der Theorie der Tradition? In welchem Diskurs – außer Rechtsgeschichte, insbesondere aus dem Sachen- dem der Mystik, der hier explizit aufgerufen wird – und Depositenrecht – traditio oder paradosis bezeich- situieren wir die Rede von der Tradition? Oder kann net hier ein mehrstelliges Verhältnis, dass jemand man vielleicht so allgemein gar nicht über Tradition reden, weil es nur verschiedene und sehr spezifische Diskurse über sie gibt? Und welche Rolle spielt in 4 Vgl. etwa die Beiträge – mit Ausnahme von dem Ernst Blochs! – in Bertrand d’Astorg/Leonhard Reinisch (Hg.): dieser Rede die bildliche Dimension? Ist ›Tradition‹ Vom Sinn der Tradition, München 1970. überhaupt ein Begriff oder eine Metapher, und unter 5 Siegfried Wiedenhofer: »Traditionsbegriffe«, in: ders./ welchen Voraussetzungen wäre jeweils das eine oder Torsten Larbig (Hg.): Kulturelle und religiöse Traditionen: andere der Fall? Beiträge zu einer interdisziplinären Traditionstheorie und Traditionsanalyse, Münster 2005, S. 253–279, hier S. 253; zur Begriffsgeschichte vgl. die folgenden Anmerkungen so- Diese großen Fragen können im Folgenden nur wie Karsten Dittmann: Tradition und Verfahren. Philosophi- exemplarisch und nur an einigen wenigen Autoren sche Untersuchungen zum Zusammenhang von kultureller entwickelt werden. Das geschieht allerdings in Überlieferung und kommunikativer Moralität, Norderstedt 2004; für einen kulturtheoretischen Überblick vgl. auch systematischer Absicht: Einerseits soll der erwähnte Aleida Assmann: »Traditionsmodelle«, in: dies.: Zeit und Begriffsstatus diskutiert werden und andererseits Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln u. a. 1999 die Notwendigkeit einer Metaphorologie verdeutlicht (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 15), S. 63–160; für eine stärker diskursorientierte Darstellung mit Schwerpunkt im werden. Dazu werde ich in vier Schritten vorgehen. britischen 19. Jahrhundert vgl. Stephen Prickett: Modernity Zunächst werde ich allgemein über die Vorausset- and the Reinvention of Tradition: Backing into the Future, zungen reflektieren, unter denen in der Moderne über Cambridge u. a. 2012. 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