Junge Menschen auf der Straße. Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen und Hilfeansätze - SOS-Kinderdorf

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Junge Menschen auf der Straße. Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen und Hilfeansätze - SOS-Kinderdorf
Sarah Beierle, Carolin Hoch

Junge Menschen auf der Straße.
Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen
und Hilfeansätze
                                                    Deutsches Jugendinstitut e. V.
                                                    Franckeplatz 1, Haus 12/13
                                                    D-06110 Halle (Saale)

SOS-Fachtagung „Nirgendwo zu Hause – Wohnungslose
                                                    Telefon +49 345 68178-0
junge Erwachsene in der Jugendhilfe begleiten“      Fax +49 345 68178-47

                                                    www.dji.de

18.03.2021
Junge Menschen auf der Straße. Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen und Hilfeansätze - SOS-Kinderdorf
Gliederung

1. Ausgangpunkt und Definition von „Straßenjugendlichen“
2. Zentrale Ergebnisse der quantitativen Studien
   • Befragung von Straßenjugendlichen
   • Befragung von Fachkräften
3. Ansatzpunkte für langfristige Hilfen
   • Qualitative Ergebnisse aus wissenschaftlichen Begleitungen
4. Zusammenfassung und Ausblick

                                                                  2
Junge Menschen auf der Straße. Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen und Hilfeansätze - SOS-Kinderdorf
1. Ausgangspunkt und
Definition von
„Straßenjugendlichen“
                        3
Junge Menschen auf der Straße. Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen und Hilfeansätze - SOS-Kinderdorf
Ausgangspunkt der Studien
 am DJI

• Beobachtung aus der Praxis, dass eine große Anzahl von Jugendlichen
  durch die gängigen Angebote der Jugendsozialarbeit nicht mehr erreicht
  werden.
• Es gab kaum Daten und Informationen zu dieser Zielgruppe, auch nicht
  zu deren Bildungsverläufen und Verbleib.
• Studien (auch die des DJI) zu (bildungs)benachteiligten Jugendlichen
  hatten zumeist Hauptschüler/innen als Untersuchungsgruppe
• Studie „Entkoppelt vom System“, 2015: Immer wieder Phasen der
  Wohnungs- und Obdachlosigkeit, Volljährigkeit neuralgischer Punkt in
  den Hilfeverläufen.

                                                                           4
Junge Menschen auf der Straße. Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen und Hilfeansätze - SOS-Kinderdorf
Definition der Zielgruppe
 „Straßenjugendliche“

• obdach- als auch wohnungslose Jugendliche ohne festen Wohnsitz oder
   Jugendliche, die sich für unbestimmte Zeit abseits ihres gemeldeten
   Wohnsitzes aufhalten
• Gemeint ist nicht nur die Straße, sondern auch prekäre Wohnverhältnisse
   mit begrenzter Aufenthaltsdauer und das temporäre Unterkommen bei
   Bekannten
• Fokus lag nicht nur auf Minderjährigen, sondern auch auf jungen
   Volljährigen (Altersgrenzen variieren innerhalb der Forschungsfragen)

                                                                            5
Junge Menschen auf der Straße. Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen und Hilfeansätze - SOS-Kinderdorf
2. Zentrale Ergebnisse der
quantitativen Studien
•   Befragung von Straßenjugendlichen

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Junge Menschen auf der Straße. Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen und Hilfeansätze - SOS-Kinderdorf
Straßenjugendliche in Deutschland
1. Projektphase
Befragung Betroffener in Berlin, Hamburg und Köln im Alter bis 25 Jahren
(N= 297), Winter 2015/Frühling 2016
Zugang: Über niedrigschwellige Einrichtungen der Straßensozialarbeit
Interviews durch Studierende, Mitarbeiter/innen von Einrichtungen

                      •   Was sind die Gründe für Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit?
                      •   Wo leben und schlafen wohnungslose und obdachlose
                          Jugendliche?
                      •   Wie ist die Altersverteilung? In welchem Alter beginnen
                          Straßenkarrieren?
                      •   Wie lange dauern die Straßenepisoden der Jugendlichen?
                      •   Welche Hilfen werden in Anspruch genommen?
                      •   Wie lässt sich das Phänomen „Straßenjugend“ definieren?

Hoch 2016                                                                           7
Junge Menschen auf der Straße. Einblicke in Ausmaß, Lebenslagen und Hilfeansätze - SOS-Kinderdorf
Wohnsituation und Gründe für
Straßenepisode

Wohnsituation (aktuelle/letzte Straßenepisode)
   • obdachlos: 32,8%
   • wohnungslos: 67,2%
    Freunde sind zentraler Aufenthaltsort
    Nicht statisch, häufige Wechsel
Gründe (aktuelle/letzte Straßenepisode)
   • Hauptauslöser: familiäre Gründe (45,3%)
   • Mit zunehmendem Alter gewinnen Veränderung der persönlichen
      Situation, persönliche Gründe und Suche nach mehr Freiraum an
      Bedeutung
                                                                      8
Altersverteilung der Befragten

                                              15,2
                                       14,2   (45)
                                       (42)

                                                       11,8   11,8
                                                       (35)   (35)

                                                                             9,5
                                                                            (28)
                          7,8                                         7,8
                                 7,4
                         (23)                                        (23)
                                (22)

  5,1
              4,7                                                                   4,7
 (15)
             (14)                                                                  (14)

 ≤14         15          16     17     18     19       20     21     22     23     24
Darstellung: Prozent (Anzahl)                  Alter

                                                                                          9
Altersverteilung nach Geschlecht

                                                                                                  17,3                             weiblich
                                                   16,2          16,2                             (32)
                                                                                                                                   männlich
                                                   (18)          (18)
                        14,5                                            14,6
                        (16)                                            (27)
                                                          13,0
                                                          (24)
                                                                                11,7 11,9                                   11,9
                                     10,8                                       (13) (22)                                   (22)
                                     (12)                                                                       9,7
                                                                                                               (18)
8,1
(9)         7,2
            (8)                                                                                                                             6,0
                                             5,4                                                                      5,4                  (11)
                                            (10)                                                         4,5          (6)
                               3,8                                                                       (5)
      3,2         3,2          (7)                                                          2,7                                      2,7
      (6)         (6)
                                                                                            (3)                                      (3)

  ≤14         15           16           17            18            19             20         21           22           23              24
  Darstellung: Prozent (Anzahl)                                         Alter

      Geschlechterverteilung: Weiblich: 112 (37,7%); Männlich: 185 (62,3%)
                                                                                                                                                  10
Eintrittsalter in Straßenepisode nach
Geschlecht

                                                                unter 14 Jahren
                                                                zwischen 14 und 17 Jahren
                                                                ab 18 Jahren
               57,5
               (61)                                                       52,7
                                             49,7                        (147)
                                             (86)

                                                      37,0
                                                      (64)                         32,6
                                                                                   (91)
                        25,5
                        (27)
     17,0
     (18)                           13,3                        14,7
                                    (23)                        (41)

             weiblich                      männlich                    Insgesamt

  Darstellung: Prozent (Anzahl)

            Durchschnittliches Eintrittsalter in eine Straßenkarriere: 16 Jahre             11
Finanzielle Situation und Inanspruch-
nahme von Hilfen

Finanzielle Situation
    • Haupteinnahmequelle: staatliche Unterstützung (36,1%)
    • Minderjährige und OL vor allem legaler Gelderwerb auf der Straße
       und durch Privatpersonen, Volljährige und WL vor allem durch
       staatliche Unterstützung
    • Durchschnittlich pro Woche 108,2 Euro zur Verfügung (Median: 55
       Euro)

Hilfen, die genutzt werden
    • Genutzt werden vor allem Beratungen (45,0%) und
       Überlebenshilfen (27,9%)
    • WL nutzen vor allem Beratungen, OL vor allem Überlebenshilfen
                                                                         12
Anbindung an Jugendamt und Jobcenter
         Kontakt zum Jugendamt in Prozent
 70

 60

 50

 40

 30

 20

 10

  0
       < 18             18-20               > 20-25

                                                         Kontakt zum Jobcenter
                                   80

                                   70

                                   60

                                   50

                                   40

                                   30

                                   20

                                   10

                                   0
                                                  < 18            18-20          > 20-25   13
2. Zentrale Ergebnisse der
quantitativen Studien
•   Befragung von Fachkräften

                                14
Straßenjugendliche in Deutschland
2. Projektphase
Deutschlandweite Online-Befragung von Fachkräften im Jahr 2016, es
wurden 1134 Träger angeschrieben, die mit der Zielgruppe arbeiten
(könnten)
• 436 Adressen aus Abfrage bei Jugendämtern
• 698 Adressen aus eigenen Recherchen
 Es antworteten 240 Fachkräfte
                      •   Zu wie vielen Straßenjugendlichen bestand im
                          Kalenderjahr 2015 insgesamt Kontakt?
                      •   Wie viele Straßenjugendliche befinden sich derzeit
                          insgesamt im Zuständigkeitsgebiet (inkl. Dunkelziffer)?
                      •   Wie viele Straßenjugendliche haben sich am letzten
                          Öffnungstag in der Einrichtung aufgehalten?
                      •   Arbeitsweisen und Einschätzung des Hilfesystems
                       Schätzung der Anzahl betroffener Jugendlicher
                          deutschlandweit
                                                                                    15
Schätzung der Anzahl Straßenjugendlicher

  1. Schätzung der Anzahl Straßenjugendlicher durch die Fachkräfte
          erst: offene Abfrage, alternativ: in Kategorien
          Konnten Schätzgebiet selbst auswählen
          (Gebietskörperschaft Bezirk/Stadtteil bis Landkreis)
  2. Auf Grundlage der vorliegenden Werte wurden alle noch
  fehlenden Gebietskörperschaften geschätzt (Ähnlichkeit der
  Gebietskörperschaften anhand vergleichbarer Strukturdaten)
  3. Alle Daten wurden auf Landkreise hochgerechnet und addiert

 Hochgerechnet rund 37.000 Straßenjugendliche im Alter bis 26 Jahren

                                                                        16
Anzahl der Straßenjugendlichen nach Alter

                                                      12.617
    Darstellung: Anzahl (Prozent)                     (34,1)                 11.766
                                                                             (31,8)

                                    6.216                                                            6.105
                                (16,8)                                                              (16,5)

         296
        (0,8)

   unter 14-Jährige             14 - 17               18 - 20               21 - 24                 25 - 26
                                                  Altersklassen

Geschlechterverhältnis:     Weiblich 10.841 (29,3%); Männlich 26.159 (70,7%)
Regionale Verteilung:       Es konnte kein eindeutiger Stadt-Land-Effekt herausgearbeitet werden.             17
Kontaktaufnahme der Jugendlichen
zu befragten Trägern/Einrichtungen

Die Straßenjugendlichen …                                            Prozent
… suchen den Kontakt zur Einrichtung selbst                          80,1
… werden von anderen Jugendlichen in die Einrichtung mitgenommen     66,3
… werden von der Einrichtung aktiv angesprochen                      34
… werden vom Jobcenter an die Einrichtung verwiesen (freiwillig)     34
… werden vom Jugendamt an die Einrichtung verwiesen (freiwillig)     15,2
sonstiges                                                            8,4
… werden vom Jobcenter an die Einrichtung verwiesen (unfreiwillig)   5,7
… werden vom Jugendamt an die Einrichtung verwiesen (unfreiwillig)   4,0
Das kann ich nicht beurteilen.                                       0,7
Mehrfachnennungen möglich

                                                                               18
Probleme bei Hilfen aus
Sicht der Fachkräfte
Grund                                                      Prozent
   keine Teilnahmekontinuität der Jugendlichen             38,8
   vorhandene Angebote reichen nicht aus                   28,9
   Zuständigkeit verschiedener Rechtskreise                28,9
   Angebote sind zumeist unterfinanziert                   27,3
   fehlende politische Anerkennung und Gewichtung von
   Jugendsozialarbeit                                      27,0
   zu viel fordern statt fördern                           25,8
   Angebote kaum für Zielgruppe erreichbar                 22,1
   Projekte sind zu oft befristet                          20,5
   relevante Akteure zu wenig vernetzt                     14,9
   ständige verschärfende gesetzliche Änderungen für die
   Zielgruppe                                              11,8
   sonstiges                                               7,1
                                                                     19
Mehrfachnennungen möglich
3. Ansatzpunkte für langfristige
Hilfen

                                   20
Wissenschaftlich Begleitungen
von Modellprojekten des Innovationsfonds des Kinder- und Jugendplans im
Bereich Jugendsozialarbeit (2014-2016 und 2017-2019)

 Qualitative Interviews mit Teilnehmenden und mit Projektumsetzenden

                                        •   Wie gewinnen die Projekte die
                                            Zielgruppe?
                                        •   Wie nehmen
                                            „Straßenjugendliche“ die Projekte
                                            wahr?
                                        •   Welche Herausforderungen
                                            zeigen sich für
                                            Projektumsetzende?
                                         Was lässt sich aus den Projekten
                                            für andere Vorhaben/die
                                            Fachpraxis ableiten?                21
 Beierle 2017       Beierle 2019
Ansatzpunkte für langfristige Hilfen

• Überlebenshilfen als Brücke zu weiteren Hilfen
• Verstärkte Online-Präsenz zum Erreichen von jungen
   Wohnungslosen
• Über niedrigschwellige, freiwillige Projektarbeit Fähigkeiten der
   Jugendlichen stärken und sichtbar machen
• Überbrückungen in passgenaue Hilfen
• Wohnen als Grundrecht und Voraussetzung für langfristige
   Hilfeprozesse
• Zuständigkeiten und Zusammenarbeit Jugendhilfe und SGBII

                                                                      22
4. Zusammenfassung und
Ausblick

                         23
Zusammenfassung

• Wohnungs- und Obdachlosigkeit von Jugendlichen ist in seinem
   quantitativen Ausmaß ein relevantes Problem in Deutschland.
• Besonders mit dem 18. Lebensjahr steigt die Anzahl noch einmal deutlich
   an.
• Quantitatives Ausmaß kann immer nur geschätzt werden, weil keine
   generelle statistische Erfassung erfolgt. Keine Aussagen zu Zahlen im
   Zeitverlauf möglich.
• Alle Ergebnisse sind nur in Verbindung mit der dazugehörigen Definition
   interpretierbar
• Ergebnisse sind zum Teil sehr heterogen und es zeigen sich vielfache
   Unterschiede zwischen obdach- und wohnungslosen Jugendlichen

                                                                            24
Zusammenfassung

• Für Jugendliche, die sich von jeglichen Institutionen entfernt haben,
   braucht es niedrigschwellige, freiwillige Angebote, um sie an das
   Hilfesystem heranzuführen und Vertrauen aufzubauen.  Brücke zu
   weiteren Hilfen
• Um sich konsequent mit der Zukunftsplanung auseinandersetzen zu
   können, müssen die fundamentalen Grundbedürfnisse abgesichert
   sein.
• Verschiedene Hilfen müssen im Bedarfsfall miteinander verknüpft
   werden. So individuell die persönlichen Problemlagen und
   Hilfeverläufe der Jugendlichen sind, so individuell abgestimmt müssen
   auch die Hilfsansätze sein.

                                                                           25
Ausblick
• Wohnungslosigkeit/Obdachlosigkeit ist in den vergangenen Jahren
  zu einem großen Thema in der Jugendhilfe geworden. 
  Handlungsdruck
• Fokus auf Mitbestimmung und Interessensvertretung durch
  Jugendliche selbst
• Corona-Pandemie verschärft die Lebenslagen von Jugendlichen in
  (Wohnungs-)Not zusätzlich
• Mögliche Veränderungen/Verbesserungen durch Novellierung des
  SGB VIII
• Bundesweite Wohnungslosenstatistik beschlossen
• Forschungsbedarfe: gelingende Bewältigung von
  Wohnungslosigkeit, stärkerer Blick auf die Schnittstelle
  Volljährigkeit und Jugendhilfe/SGBII, Blick auf spezifische Gruppen
  (nicht deutsch sprechende Betroffene, junge Frauen, junge
  Männer)
                                                                        26
Literatur

                         Beierle, S./Hoch, C. (2017): Straßenjugendliche in Deutschland.
                         Forschungsergebnisse und Empfehlungen. München: DJI.

    Beierle, S. (2019): Projekte für die Zielgruppe der Straßenjugendlichen entwickeln und durchführen.
     Erkenntnisse aus Modellprojekten des Innovationsfonds des Bundes im Handlungsfeld
     Jugendsozialarbeit (2014–2016 und 2017–2019). Halle (Saale): DJI
    Beierle, S. (2017): Praxisbericht zur Projektarbeit mit Straßenjugendlichen. Erkenntnisse aus den
     Modellprojekten des Innovationsfonds (des Kinder und Jugendplans) im Bereich Jugendsozialarbeit
     (2014 - 2016). Halle/Saale: DJI
    Hoch, C. (2017): Straßenjugendliche in Deutschland - eine Erhebung zum Ausmaß des Phänomens.
     Endbericht - zentrale Ergebnisse der 2. Projektphase. Halle: DJI
    Hoch, C. (2016): Straßenjugendliche in Deutschland – eine Erhebung zum Ausmaß des Phänomens.
     Zwischenbericht – zentrale Ergebnisse der 1. Projektphase. Halle: DJI
    Mögling, T./Tillmann, F./Reißig, B. (2015): Entkoppelt vom System. Jugendliche am Übergang ins junge
     Erwachsenenalter und Herausforderungen für Jugendhilfestrukturen. Düsseldorf: Vodafone Stiftung
     Deutschland gGmbH
                                                                                                            27
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