Kanonische Sonnenuhr und vertikale Spinnen-Sonnenuhr

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Kanonische Sonnenuhr und vertikale Spinnen-Sonnenuhr
Kanonische Sonnenuhr und vertikale Spinnen-Sonnenuhr
                                    (DGC-Mitteilungen Nr.113, 2008)
Einleitung                                            Welche Zeit wird angezeigt? Von Laien wird oft
                                                      die horizontale Variante der Kanonischen Son-
Kanonische Sonnenuhren sind vermutlich die
                                                      nenuhr angefertigt. Man steckt einen vertikalen
ältesten Gebilde, die in einem Katalog für Son-
                                                      Stab in den Boden und markiert auf ihm die
nenuhren vorkommen [1], [2]. Sie sind erstaun-
                                                      Richtung des Stab-Schattens zu bestimmten
lich zahlreich, und enthusiastische Sonnenuh-
                                                      Zeitpunkten mit Hilfe der Armband-Uhr. Die
ren-Freunde entdecken immer noch bisher
                                                      Enttäuschung kommt bald, denn nach wenigs-
nicht registrierte Exemplare. Andererseits gilt
                                                      tens einem Monat geht diese Uhr deutlich
eine Kanonische nicht als "richtige" Sonnenuhr.
                                                      falsch. Zudem ist festzuhalten, dass die Markie-
Dieser Widerspruch ist zu beleuchten. Dabei
                                                      rungen untereinander verschiedenen Winkel-
wird ein Exkurs in den klösterlichen Alltag des
                                                      Abstand haben, während die Strahlen der Ka-
Mittelalters gemacht und die Anzeige einer Ka-
                                                      nonischen Sonnenuhr gleichmässig verteilt
nonischen Sonnenuhr mit der einer vertikalen
                                                      sind.
Spinnen-Sonnenuhr – also mit einer "richtigen"
Sonnenuhr –verglichen.                                Ausweg aus dem Dilemma, dass die Anzeige
                                                      der Kanonischen Sonnenuhr
                                                      • übers Jahr deutlich schwankt und
                                                      • nicht zu einer gleichmässigen Teilung der
                                                           Tageszeit passt,
                                                      verspricht die Annahme, dass mit ihrer Hilfe die
                                                      verbindliche (kanonische) Zeitordnung in mittel-
                                                      alterlichen Klöstern eingehalten wurde. Damit
                                                      wird unterstellt, dass die Organisation des klös-
                                                      terlichen Alltags an deren Mängel angepasst
                                                      wurde.
 Abb.1 Kanonische Sonnenuhr, 4er -Teilung,            Aus dieser Verbindung zu Klöstern folgt auch
Stadtkirche, Homberg/Ohm, Foto: H.Philipp [1]         der Name: Kanonische Sonnenuhr.
Beschreibung der Kanonischen Sonnenuhr                Der Alltag in einem mittelalterlichen Kloster
Es handelt sich um ein Halbkreis-förmiges Or-         Die klösterliche Zeitordnung geht auf Benedict
nament (Abb.1) etwa in der Grösse eines Pa-           von Nursia zurück. Er schuf das Regelwerk für
pierblattes von A4 bis A3, das auf Südwänden          den von ihm gegründeten Mönchsorden (540,
vorwiegend alter Kirchen zu finden ist. In deren      Monte Cassino), das zum Vorbild aller anderen
gehauene Natursteine oder Backsteine ist die          klösterlichen Regeltexte im Westen wurde. Sie-
untere Hälfte eines Kreises eingeritzt (gekratzt:     ben über Tag und Nacht verteilte Gebete der
Kratz-Sonnenuhr). Zwischen Zirkelpunkt und            Mönche sollten an die Passion Christi erinnern.
Kreisrand verlaufen Radialstrahlen, die das Or-       Je zweimal war am Morgen und am Abend zu
nament in mehrere Segmente gleichmässig un-           beten: vor Sonnenaufgang die MATUTIN, bei
terteilen. Manchmal sind einzelne Radialstrah-        Sonnenaufgang oder etwas später die PRIM,
len markiert, selten beschriftet oder beziffert. Im   etwas vor oder bei Sonnenuntergang die VES-
Zirkelpunkt befindet sich ein horizontales Loch,      PER, und nach Sonnenuntergang das
in dem höchstwahrscheinlich ein Stab befestigt        COMPLET. Die drei verbleibenden Gebete sind
war. Ein horizontaler Stab würde einen Schat-         TERZ, SEXT und NON, die zeitlich an die tem-
ten auf das Ornament werfen, der sich über den        poralen Stunden hora tertia, hora sexta und ho-
Tag um den Zirkelpunkt dreht, von Zeit zu Zeit        ra nona angelehnt sind.
auf eine der radialen Strahlen fällt und dort die
Zeit anzeigt. Mitunter ist anstatt des Halbkrei-      An den Enden dieser Stunden wurde noch zur
ses auch ein ganzer Kreis vorhanden (in Abbil-        Zeit Benedict's der Wachwechsel im Römi-
dungen 1 und 3 abgeschnitten).                        schen Heer öffentlich bekannt gegeben. Die
                                                      Christen konnten sich daran orientieren. Aber

                                                                                                      1
auch in der Bibel ist diese Vier-Teilung des Ta-   Sonnenuhr in Frage, und bis heute ist nicht klar,
ges jedermann geläufig, und drei der Passionen     mit welchen Hilfsmitteln der Weck-Termin für
Christi sind darin zu diesen Zeiten beschrieben.   den nachfolgenden nächtlichen Gottesdienst
                                                   (Vigilien) eingehalten werden konnte
                                                   Die Verschiebung der Kanonischen Stunden
                                                   Die Kanonischen Stunden waren von Anfang
                                                   nicht nur nicht strikt an die römischen (tempora-
                                                   len) Stunden gebunden, sondern praktische
                                                   Gründe (Jahreszeiten, Arbeitsanfall u.a.) gaben
                                                   Spielraum für Veränderungen. Selbst Benedict
                                                   empfahl die Vorverlegung der NON im Sommer
                                                   auf die Mitte der 8.Stunde. Im 13.Jahrhundert
 Abb.2 Moderne Kanonische Sonnenuhr, 4er-
                                                   nahm sie schliesslich die Stelle der SEXT ein
 Teilung, Reutte/Tirol, Foto K.Schwarzinger [2]
                                                   (engl. noon für Mittag). Bilfinger [4] erkennt dar-
Die sieben Gebete werden auch Gebets-              in eine "erlaubte Übung", um das häufig vorge-
Stunden oder Kanonische Stunden genannt.           schriebene Fasten schon am Mittag beenden
Die drei oder fünf (inklusive PRIM und VES-        zu dürfen. Jetzt war sehr deutlich geworden,
PER) Tages-Gebets-Stunden könnten mit Hilfe        dass mit Gebets-Stunden nicht Tages- oder
einer Sonnenuhr, im besonderen mit einer Ka-       Zeit-Stunden gemeint waren. Die NON unter-
nonischen Sonnenuhr angezeigt worden sein          schied sich nun immerhin um die Länge eines
(Abb.2).                                           Viertel-Tages von der hora nona. SEXT und
Dass aber die Kanonischen Stunden fixe Zeit-       TERZ wurden jetzt auch mehr oder wenige frü-
punkte bedeuteten, ist ein moderner Irrtum [3].    her als zur hora sexta bzw. tertia gebetet.
Die römischen (temporalen) Stunden dienten         Die Kanonischen Stunden werden auch mittel-
zur losen Orientierung, es gab keine strikte       alterliche Horen genannt. Verwechslungsfreier
Bindung an sie. Anstatt eines terminierten         wäre, die Worte "Stunde" und "Hore" nicht zu
Stundenplans heisst es bei Benedict "horas         gebrauchen und nur von Gebets-"Namen" zu
temperare", d.h. die zweckmässige Zeit für jede    sprechen. Die Historiker unterscheiden die Ge-
der vorgeschriebenen Verrichtungen: Gottes-        bets-Stunde als "hora quoad officium" von der
dienst, Meditation, Lesung, Arbeit, Essen und      Zeit-Stunde als "hora quoad tempus".
Schlafen. Fast alles wurde gemeinsam ge-
macht, und eine Handlung schloss sich unmit-
telbar an die andere an, so dass bestenfalls das
Ende einer "Zimmerstunde", die die Mönche
betend und meditierend einzeln in ihren Zellen
verbrachten, mit der Glocke zu terminieren war.
Dafür wäre nur die Messung eines relativ klei-
nen Zeitintervalls nötig gewesen, wofür eine
Wasser- oder später auch eine Sanduhr bes-
tens geeignet war. Die Dauern von Gottes-
diensten, Gebeten und Lesungen waren von
sich aus sehr konstant. Ansonsten nutzte man
die Erfahrungen des Abtes oder des verant-
wortlichen Mönchs für die passende Dauer ei-
                                                   Abb.3 Kanonische Sonnenuhr, 12er Teilung,
ner Verrichtung. Wenn das kommende Tage-
                                                   Elisabeth-Kapelle, Hameln, Foto: P.Jacobs [1]
sende erkennbar war, wurde nötigenfalls auch
komprimiert oder gestreckt. Die Anpassung an       Die Verschiebung der Gebete wurde auf späte-
die jahreszeitlich veränderlichen Längen von       ren Kanonischen Sonnenuhren mit Hilfe von
Tag und Nacht geschah durch Änderung des           besonderen Markierungen berücksichtigt
Inhalts der einzelnen Elemente. Selbst die         (Abb.3). Ihr Halbkreis ist als gleichmässig ska-
Dauer eines individuellen Gebets war ziemlich      liertes Zeitband oder als Zeit-"Torte" zwischen
konstant bzw. mit der Zahl der auferlegten Ver-    Sonnen-Aufgang (links) und Sonnen-Untergang
se gezielt veränderlich. Nur für den nächtlichen   (rechts) zu verstehen. Wegen der Verschiebung
Beginn des Alltags der Mönche wäre eine Uhr        der Gebetszeiten wurde die 4er-Teilung durch
nötig gewesen. Ausgerechnet dafür kam keine        eine grössere, eine meist auch zur Vertikalen

                                                                                                    2
symmetrische Teilung ersetzt. Bei 6er- oder        Kanonische Sonnenuhr
12er-Teilung wurden die markierten Gebete          und vertikale Spinnen-Sonnenuhr
formal mit einer der 12 temporalen Tages-
                                                   Abb.4 enthält im Zentrum ein kleines Bild einer
Stunden in Bezug gesetzt, unabhängig davon,
                                                   Kanonischen Sonnenuhr mit 4er-Teilung. Die
dass es dafür bei den Benedictinern keine Re-
                                                   linke (Vormittags-) Hälfte ist zusätzlich vergrös-
gel gab und dass der Stab-Schatten zu dieser
                                                   sert dargestellt und darüber die ebenfalls linke
Zeit meistens nicht auf die Markierung fällt.
                                                   Hälfte einer vertikalen Spinnen-Sonnenuhr ge-
Wie kam die Kanonische Sonnenuhr zu uns?           zeichnet. Die weggelassenen rechten (Nachmit-
                                                   tags-) Hälften sind symmetrisch zu den Vormit-
Die älteste westliche Kanonische Sonnenuhr
                                                   tags-Hälften. Für den Bezug auf die 12 tempo-
wurde im nördlichen England gefunden. Sie
                                                   ralen Stunden sind die Kanonischen Sektoren
stammt aus dem 7.Jahrhundert. Benediktiner-
                                                   mit dünneren Linien nochmals gedrittelt. Die 6
Missionare waren schon hier, und Beda Vena-
                                                   Kanonischen Stunden PRIM bis SEXT sind
rabilis –ihr grösster Gelehrter– lebte unter ih-
                                                   formal in die verlängerten und auf 6 vermehr-
nen. Beda benutzte nicht näher beschriebene
                                                   ten Sektoren der halben Kanonischen Sonnen-
Sonnenuhren für astronomische Studien [5],
                                                   uhr hinein geschrieben. Auf der darüber liegen-
wofür die Kanonische Sonnenuhr sicher nicht
                                                   den Spinne sind die Grenzen zwischen den zu-
geeignet war. Dafür brauchbare Römische
                                                   gehörenden 6 temporalen Stunden exakt dar-
Sonnenuhren waren ihm offensichtlich noch
                                                   gestellt. Die Grenzlinien verbinden diejenigen
bekannt. Sie verschwanden aber aus dem All-
                                                   Punkte, die durch Kreuzen des Stab-Schattens
tag und wurden von der primitiven Kanonischen
                                                   mit denjenigen Viertel-Kreisen entstehen, die
Sonnenuhr ersetzt. Eine Vielzahl solcher Son-
                                                   für die jeweils momentane Sonnen-Deklination
nenuhren wurde in den folgenden 8 Jahrhun-
                                                   gezeichnet sind. Das Zifferblatt kam wegen der
derten in Grossbritannien und in der Mitte Eu-
                                                   Ähnlichkeit dieser Linien mit den Beinen einer
ropas, d.h. in Ländern, in denen von England
                                                   Spinne zu seinem Namen. Die Stunden-
und Irland aus missioniert wurde, angefertigt.
                                                   Bereiche sind auf der Spinne mit I bis VI be-
Bemerkenswert ist aber, dass sich die meistem
                                                   schriftet. Die Spinne ist für den mittleren euro-
Exemplare auf Kirchen befinden, zu denen kein
Kloster gehörte. Der Benutzer-Kreis erstreckte     päischen Breitengrad ϕ=49° ausgelegt.
sich also über die Mauern der Klöster hinaus.
Sowohl klösterliche als auch heidnische Gesell-
                                                                      I
                                                   PRIM

schaften könnten dieses Ornament lediglich als            ϕ = 49°
Teilungs-Schema für den Tag und starkes
                                                                II

Symbol für die Sonne am Himmel gebraucht
                                                     SEC

haben. Es gab auch schon Exemplare in Römi-
                                                        UN

scher Zeit, spätere sind aus Armenien bekannt
                                                           III TER
                                                           D

[6].
Ab dem 9.Jahrhundert kannte man 800 Jahre                             IV
lang in der Byzantinischen Kunst bzw. Orthodo-
                                                                  Z

xen Kirche auch nur die "halbkreisförmige Süd-                        QU
                                                                           AR    V
uhr" und sah in ihr zunächst ein Abbild der                                  T
"wahren Sonnenuhr", also der Bewegung der                                        QU
                                                                                   INT   VI
Sonne am Himmel [7].                                                                     SEXT
Die einfache 4er-Teilung ist eine Anlehnung an      Abb.4 Kanonische Sonnenuhr und vertikale
den vier-geteilten Alltag in der Bibel. Die 6er-           Spinne, temporale Stunden
und 12er-Teilungen des Ornaments berücksich-
tigen die Vorverschiebung der Gebets-Zeiten.       Kritisch zu kommentieren ist beispielhaft die
Die 8er-Teilung hat keine Beziehung zu den 12      Anzeige am Ende der hora tertia (III, Wahre
temporalen Stunden. Sie könnte ihren Ursprung      Orts-Zeit; sie wird allgemein mit dem 45°-Strahl
in Nordeuropa haben und den 8 "Temporal-           in Beziehung gebracht), bzw. welche Stunde
Stunden" der Wikinger und anderer Nordger-         auf dem 45°-Strahl angezeigt wird:
manen entsprechen [6], [8].                        • Das Ende der Stunde III wird schon ca. in
                                                        der Mitte des 3.Sektors (TERZ, bei Som-
                                                        mer-Sonnenwende) bis sogar schon bei

                                                                                                   3
ca.3/4 des 2.Sektors (SECUND, bei Winter-
            Sonnenwende) angezeigt.

                                                                                                           I
                                                                                         PRIM
•           Wenn der Stab-Schatten auf den 45°-Strahl
            fällt, ist schon ca.1/2 der Stunde IV (bei
            Sommer-Sonnenwende) bis sogar schon

                                                                                           SEC
            ca.1/5 der Stunde V (bei Winter-

                                                                                              UN
            Sonnenwende) vergangen.

                                                                                                    III
                                                                                                D
In Abb.5 ist die überlegte Spinne in äquinoktiale

                                                                                                   TE
Stunden unterteilt, um im Vergleich mit Abb.4

                                                                                                      RZ
auf den Unterschied hinzuweisen, der beim
Gebrauch dieser verschiedenen Stunden ent-                                                                 QU
                                                                                                                AR
steht. Die dort genannten Differenzen fallen hier                                                                    T    V
noch grösser aus. Zum Vergleich ist die 9Uhr-                                            ϕ : 56.5°, 49°, 41.5°
                                                                                                                         QU
                                                                                                                              IN T
Linie zu betrachten. Sie befindet sich sogar in 4                                                                                    SEXT
Sektoren: PRIM (bei Winter-Sonnenwende) bis
QUART (bei Sommer-Sonnenwende). Das häu-                                                  Abb.6 Kanonische Sonnenuhr und vertikale
fig vernichtende Urteil über die Kanonische                                              Spinne, temporale Stunden, verschiedene Brei-
Sonnenuhr mag damit zusammenhängen, dass                                                                      ten
mit äquinoktialen Stunden der ihr nicht adäqua-                                          Über den Zweck der Kanonischen Sonnenuhr
te Massstab gebraucht wird.
                                                                                         Ohne zu beachten, dass das mit einem horizon-
                                                              22.12.

                                                                                         talen Stab komplettierte Kanonische Ornament
    21.6.

                      21.4.

                                              19.2.
              22.5.

                                  21.3.

                                                      20.1.

                                                                                         als Sonnenuhr gedient haben könnte, ist offen-
                                                                                         sichtlich, dass
                              6

            WOZ
PRIM

                                                                                         • es den Tag als Zeit-Band oder -Torte dar-
             ϕ=49°                                                                           stellt, auf dem/der
                                                                                22.12.   • die klösterlichen Gebete in richtiger Reihen-
    SE C

                                                                                             folge zu den
                      7

                                                                                22.11.
                                                                                         • passenden Tages-Zeiten vermerkt sind.
        UN
          D

                                                                                23.10.
                                                                                         Vermutet werden kann, dass das Kanonische
                      8

                                                                                         Ornament
              TE

                                                                                23.9.
                              9                                                          • "ein Abbild der wahren Sonnenuhr war" [7]
                 R    Z

                              QU                                                23.8.       (wie die Abbildung der Sonnen-Bewegung
                                AR            10
                                          T                                                 am Himmel in der Skaphe),
                                                                                23.7.
                                                  QU    11                               • als Verzierung/Schmuck (Ornament) Be-
                                                    INT                    12               deutung behielt,
                                                                       S E XT   21.6.
                                                                                         • mit seiner regelmässigen Sektoren-Folge
    Abb.5 Kanonische Sonnenuhr und vertikale                                                den streng reglementierten klösterlichen
          Spinne, äquinoktiale Stunden                                                      Alltag symbolisch ausdrückte.
Für jede geografische Breite sieht auch die Ka-                                          Als Zwecke der Kanonischen Sonnenuhr inklu-
nonische Sonnenuhr anders aus. Es gibt aber                                              sive Stab sind denkbar:
keine Breite, für die das Ornament die Spinne                                            • die Faszination, die von den um den Zirkel-
zufriedenstellend ersetzen könnte (Ausnahme:                                                 punkt rotierenden und von Sektor zu Sektor
Äquator, Winter-Halbjahr, Äquatoriale Uhr).                                                  wandernden Stab-Schatten ausgeht,
Abb.6 enthält am Ende der Stunden I , III und                                            • die richtige Anzeige des Mittags (Mittags-
V Stunden-Linien für geografische Breiten ϕ=                                                 Weiser),
49°±7.5°. Das ist die Zone zwischen Monte                                                • oder doch die Anzeige der Tages-Zeit (, die
Cassino und Schottland. Die Abweichungen                                                     zwar ziemlich ungenau, aber nicht so krass
zwischen Ornament und Spinne sind bei niedri-                                                falsch wie beim Gebrauch der uns geläufi-
geren Breiten geringer.                                                                      gen äquinoktialen Stunden ist).
Der Wahre Mittag ist die einzige Zeit, die immer
richtig angezeigt wird. Die Kanonische Sonnen-
uhr ist somit ein vollwertiger Mittags-Weiser.

                                                                                                                                            4
Literatur und Bild-Nachweise:                        Anmerkung zur Berechnung einer vertikalen
                                                     Spinne
[1] Philipp, Roth, Bachmann: "Sonnenuhren :
    Deutschland und Schweiz", DGC 1994               Die vertikale Spinne kann ähnlich wie eine hori-
[2] K.Schwarzinger: "Katalog der ortsfesten          zontale berechnet werden. Zu empfehlen ist die
    Sonnenuhren in Österreich", Wien 2006            Verwendung eines zum Horizont-System ana-
[3] G.Dohrn-van-Rossum: "Die Geschichte der          logen Koordinaten-Systems in der vertikalen
    Stunde", München und Wien 1992                   Ost-West-Ebene: Nordwand-System. Der zu
[4] G.Bilfinger: "Die mittelalterlichen Horen und    berechnende Stundenwinkel A auf dem Ziffer-
    die modernen Stunden", Stuttgart 1892            blatt in dieser Ebene entspricht dem Azimut a,
[5] A.Borst: "Computus. Zeit und Zahl in der         der Winkel H über der Nordwand der Höhe h.
    Geschichte Europas", Berlin 1990                 Zur Herstellung des nötigen Zusammenhangs
[6] H.Rau, K.Schaldach: "Vertikalsonnenuhren         zwischen den Winkeln , und A,H lassen sich
    des 6.-14. Jahrhunderts", Stuttgart 1994         die bekannten Transformations-Gleichungen
[7] H.Schaldach: "Die antiken Sonnenuhren            Äquator- → Horizont-System abwandeln. In Ih-
    Griechenlands", Frankfurt 2006                   nen ist lediglich der Winkel (90°- ) durch – zu
[8] A.Zenkert: "Faszination Sonnenuhr", Berlin       ersetzen und A statt a bzw. H statt h zu schrei-
    1984                                             ben. So wie das Horizont-System durch Dre-
                                                     hung um die y-Achse mit dem Wert (90°- ) aus
Anmerkung über Informationen an den Rändern          dem Äquator-System hervorgeht, wird letzteres
der vertikalen Spinne                                nämlich durch Drehung mit – zum Nordwand-
Im Gegensatz zu horizontalen Zifferblättern be-      System.
finden sich solche auf einer Südwand im Som-         Für die Spinne mit temporalen Stunden ist an-
mer am frühen Morgen und am späten Abend             statt des Stundenwinkels τ sein Produkt mit
im Schatten. Die Wand "tritt" erst einige Zeit       dem Verhältnis Tageslänge zur Länge des
nach Sonnenaufgang aus bzw. schon einige             Äquinoktial-Tages zu verwenden.
Zeit vor Sonnenuntergang in den Schatten. Die
zeitliche Differenz ist zur Sommer-
Sonnenwende am grössten. In den Abbildun-
gen 4, 5 und 6 sind die Stunden-Linien in einem
dreieckigen Bereich an der linken Skalen-Ecke
abgeschnitten, womit der Beginn der Wand-
Beleuchtung diagrammartig dargestellt ist.
Frühe und späte Äquinoktial-Stunden liegen im
Winter vor Sonnenaufgang bzw. nach –
untergang, sind also von keiner Sonnen-Uhr
anzeigbar. Bei der vertikalen Spinne (Abb.5)
werden diese Stunden-Linien vom horizontalen
Strahl (Schatten-Richtung bei Sonnenaufgang)
begrenzt. Für 6Uhr gibt es sogar nur einen Ska-
len-Punkt, der bei den Tag/Nacht-Gleichen
(21.3 und 23.9.) wirksam ist. Im Winter geht die
Sonne später auf, im Sommer befindet sich die
Uhr zu diesem Zeitpunkt noch im Wand-
Schatten. Die 8Uhr-Linie ist nicht begrenzt,
denn zur Winter-Sonnenwende geht die Sonne
zu diesem Zeitpunkt gerade auf (ϕ=49°). Auf
der horizontalen Linie ist für den Winter die Zeit   März 2008
für den Sonnenaufgang und damit indirekt die         Siegfried Wetzel, CH 3400 Burgdorf
Tageslänge diagrammartig dargestellt.                s.wet@gmx.net www.sWetzel.ch

                                                                                                    5
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