Kartenspiele in Kaschmir - Einleitung - Stiftung Wissenschaft und Politik
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NR. 85 OKTOBER 2020 Einleitung Kartenspiele in Kaschmir Neue geopolitische Realitäten im Konflikt zwischen China, Indien und Pakistan Christian Wagner / Angela Stanzel Die politische Geographie Kaschmirs hat sich in den letzten Monaten grundlegend ver- ändert. Ausgangspunkt war die Entscheidung der indischen Regierung vom 5. August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir in zwei Unionsterritorien aufzuteilen. In Reaktion darauf veröffentlichte Islamabad am 4. August 2020 eine Karte, die ganz Kaschmir als Teil Pakistans darstellte. Ende September 2020 kündigte die chinesische Regierung den bisherigen Status quo mit Indien in der Region Ladakh/Aksai Chin auf. Damit deutet sich eine neue Phase im Konflikt um Kaschmir an, in der China und Pakis- tan enger zusammenarbeiten könnten. Zudem wird der Konflikt um eine neue geo- politische Dimension erweitert, denn die Auseinandersetzung mit Indien ist für China jetzt auch Teil des Ringens mit den USA um die künftige Machtverteilung im Indo- Pazifik. Die territoriale Zugehörigkeit des einstigen Der indisch-pakistanische Fürstenstaates Jammu und Kaschmir war Konflikt um Kaschmir bislang Gegenstand von zwei weitgehend voneinander unabhängigen Konflikten: Nach der Unabhängigkeit Britisch Indiens (1) dem bekannten Streit zwischen Indien und der Staatsgründung Indiens und Pakis- und Pakistan; (2) der wenig bekannten tans im August 1947 blieb eine Reihe von Auseinandersetzung zwischen Indien und Fürstenstaaten zunächst unabhängig, dar- China über die Festlegung ihrer ca. 3 500 unter auch Jammu und Kaschmir (J&K). Als Kilometer langen Grenze, von der ca. 1 600 dort Stammeskrieger aus Pakistan eindran- Kilometer durch Kaschmir verlaufen. Die gen, die von pakistanischen Offizieren un- jüngsten Entwicklungen könnten dazu füh- terstützt wurden, wandte sich der Hindu- ren, dass die beiden bislang eher getrennten Maharaja von J&K an die indische Regierung Konflikte künftig stärker miteinander ver- und bat um militärischen Beistand. Ende woben werden. Oktober 1947 trat der Fürstenstaat der Indi- schen Union bei, die im Gegenzug Truppen zur Unterstützung des Maharajas entsandte. Aus den Kämpfen gegen die Stammeskrie- ger entwickelte sich der erste indisch-pakis-
tanische Krieg, der im Januar 1949 mit den dritten Krieg zwischen Indien und einem Waffenstillstand endete. Der einstige Pakistan 1971 folgte, in dem Ost-Pakistan Fürstenstaat ist seitdem in einen indischen abgespalten und Bangladesch gegründet und einen pakistanischen Teil gespalten. wurde. Die indische Premierministerin In- Kaschmir hat für Indien und Pakistan dira Gandhi versäumte es damals, die mili- eine hohe Symbolkraft im Kontext der tärische Niederlage Pakistans auszunutzen jeweiligen Staatsidee. Pakistan, das als Staat und eine endgültige Lösung der Kaschmir- für die Muslime Britisch-Indiens gegründet frage zu erwirken. Beide Staaten verständig- worden war, reklamierte das mehrheitlich ten sich im Shimla-Vertrag auf die bilate- muslimische Kaschmir für sich. Für Indien rale Behandlung ausstehender Probleme war Kaschmir lange Zeit ein Symbol für den und auf eine neue Kontrolllinie (Line of Säkularismus und die Offenheit des neuen Control, LoC) in Kaschmir. Indien stellte in Staates für alle Religionsgemeinschaften. der Folge seine Zusammenarbeit mit der Der Kaschmirkonflikt zwischen Indien UNMOGIP ein, die bis heute den Waffen- und Pakistan lässt sich bis heute in zwei stillstand entlang der LoC überwacht. große Phasen einteilen. In der ersten Phase Pakistan versuchte weiterhin, die Kasch- von 1947 bis 1972 kam es zu einer Inter- mirfrage zu internationalisieren: zum nationalisierung. Der indische Premier- Beispiel dadurch, dass es regionale Krisen minister Nehru brachte den Konflikt vor wie den Kargil-Krieg 1999 provozierte, dass die Vereinten Nationen (VN) und schlug ein die pakistanische Armee und der Geheim- Referendum vor, in dem über die Zugehö- dienst terroristische Gruppen unterstützte, rigkeit des Gebiets zu Indien oder Pakistan die Anschläge im indischen Teil Kaschmirs entschieden werden sollte. Seit 1948 hat der verübten, oder dass Pakistan in internatio- Sicherheitsrat eine Reihe von Resolutionen nalen Foren die Menschenrechtsverletzun- verabschiedet. Tenor dieser Resolutionen gen indischer Sicherheitskräfte in Kaschmir ist sinngemäß, dass sich erstens alle pakis- anprangerte. tanischen Truppen aus J&K zurückziehen Die internationale Gemeinschaft rückte müssen. Zweitens sei anschließend eine nach und nach von den VN-Resolutionen Interimsverwaltung einzurichten, assistiert ab. Alle Vetomächte des Sicherheitsrates von indischen Truppen. Diese hätte, drit- sprachen sich wiederholt für eine bilaterale tens, ein Referendum in ganz J&K vor- Lösung des Konflikts aus. Im Dezember zubereiten. Die Unabhängigkeit Kaschmirs 2003 distanzierte sich der pakistanische war in den Resolutionen nicht vorgesehen Präsident Musharraf ebenfalls von den VN- und wird von Indien und Pakistan abge- Resolutionen und ebnete damit den Weg lehnt. China war bis 1971 kein Mitglied für den sogenannten Verbunddialog mit In- des Sicherheitsrats und daher auch nicht dien. 2007 verständigten sich beide Seiten an den Resolutionen der VN beteiligt. auf einen nie öffentlich gewordenen Kom- 1948 wurde die United Nations Commis- promiss in der Kaschmirfrage, der im We- sion for India and Pakistan (UNCIP) etabliert, sentlichen den Status quo festschrieb. Die die den Konflikt beilegen und den seit 1949 vom pakistanischen Geheimdienst unter- geltenden Waffenstillstand überwachen stützte Terrorgruppe Lashkar-e-Toiba (LeT) sollte. 1951 übernahm die United Nations verübte 2008 in Mumbai einen Anschlag, Military Observer Group in India and Pakis- der das Ende des Verbunddialogs brachte. tan (UNMOGIP) diese Aufgabe. Bis in die Die unterschiedlichen Positionen Indiens 1960er Jahre hinein unternahmen Veto- und Pakistans haben sich auch in den offi- mächte des Sicherheitsrates wie die USA, ziellen Karten niedergeschlagen. Da nach Großbritannien und die Sowjetunion ver- Auffassung Indiens ganz Kaschmir im Okto- schiedene erfolglose Vermittlungsversuche. ber 1947 der Union beigetreten ist, ver- Die zweite Phase brachte eine Bilaterali- zeichnen indische Karten folgerichtig das sierung des Konflikts. Sie beginnt mit dem gesamte Territorium des früheren Fürsten- Friedensvertrag von Shimla 1972, der auf staats als indisches Staatsgebiet. Weil J&K SWP-Aktuell 85 Oktober 2020 2
Karte 1 Quelle: Barthi Jain, »Govt Releases New Political Map of India Showing UTs of J&K, Ladakh«, in: Times of India (online), 2.11.2019, im Norden eine Grenze mit Afghanistan Zwischen Indien und China verläuft die hat, versteht sich Indien auch als direkter mit ca. 3 500 Kilometer längste umstrittene Nachbar Afghanistans. Pakistan hingegen Grenze der Welt. Ihr Verlauf folgt in der sah ganz J&K als umstrittenes Gebiet im Himalayaregion der kolonialen McMahon- Sinne der VN-Resolutionen, über dessen Linie und ist vor allem in Kaschmir und Zugehörigkeit erst in einem Referendum im Nordosten Indiens umstritten. Ende entschieden würde. Pakistanische Karten der 1950er Jahre baute China durch das in haben Kaschmir deshalb bislang graphisch Kaschmir gelegene Aksai-Chin-Gebiet eine nicht als Teil des eigenen Landes darge- ganzjährig zu befahrende Straße nach stellt, auch wenn die Regionen Gilgit-Bal- Tibet. 1959 schlug der chinesische Premier- tistan (GB) und der formal unabhängige minister Zhou Enlai einen Gebietsaustausch Staat Azad Jammu und Kaschmir (AJK) de vor. Dabei hätte China die Region Aksai facto von Islamabad regiert werden. Chin erhalten und im Gegenzug seine Ge- bietsansprüche im Nordosten Indiens auf- gegeben, dem heutigen Bundesstaat Aru- Der indisch-chinesische Konflikt nachal Pradesh. Die indische Regierung in Kaschmir wies den Vorschlag allerdings zurück. Nach der militärischen Niederlage Indiens im In der internationalen Wahrnehmung ist Grenzkrieg 1962 brachen beide Seiten »Kaschmir« gleichbedeutend mit dem Kon- ihre diplomatischen Beziehungen ab, so flikt zwischen Indien und Pakistan. Aller- dass der Verlauf der Grenze weiter un- dings ist auch die Volksrepublik China seit geklärt blieb. Ende der 1950er Jahre ein – wenn auch Im Zuge ihrer politischen Annäherung bislang wenig beachteter – Akteur in der nach 1988 rückte auch die Grenzfrage wie- Auseinandersetzung über das territoriale der in den Mittelpunkt. Beide Staaten rich- Erbe des einstigen Fürstenstaates. teten unter anderem eine gemeinsame Ar- SWP-Aktuell 85 Oktober 2020 3
beitsgruppe zur Klärung des Grenzverlaufs riums J&K wieder 24 Sitze für den von ein und ernannten Sondergesandte. Seither Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs. haben Indien und China eine Reihe von Die Entscheidung der BJP-Regierung löste Vereinbarungen getroffen (1993, 1996, 2003, heftige Proteste im einstigen Bundesstaat 2005, 2012, 2013), um die Stabilität in der aus. Sie war vor allem ein Affront gegen Grenzregion zu erhöhen und Spannungen die moderaten Parteien, die sich ungeachtet durch vertrauensbildende Maßnahmen zu aller politischen Auseinandersetzungen reduzieren. Mit dem Abkommen 1993 wurde über die Ausgestaltung der Autonomie im- die gegenwärtige aktuelle Kontrolllinie mer dafür ausgesprochen hatten, dass der (Line of Actual Control, LAC) etabliert, die Bundesstaat in der Indischen Union ver- eher einem Raum mit wechselseitig akzep- bleibt. Bei der letzten Landtagswahl 2014 tierten Patrouillenwegen und Militärposten lag die Wahlbeteiligung trotz der Boykott- gleicht als einer »Linie«. aufrufe islamistischer Parteien, die den An- Die politischen Veränderungen, die sich schluss an Pakistan forderten, bei über 65 in den neuen Karten und territorialen An- Prozent. Politische Beobachter hatten dies sprüchen seit dem Sommer 2019 nieder- als deutliches Votum für Indien gewertet. geschlagen haben, scheinen eine neue Phase in der Auseinandersetzung um Kaschmir einzuläuten. Die »neue« Position Pakistans Mit seiner neuen Karte vom 4. August 2020 Die »alte« Position Indiens unterstrich Islamabad seine Haltung in der Kaschmirfrage. Die nationalen Grenzen Ausgangspunkt der neuen Konfliktdynamik Pakistans umfassen ganz Kaschmir, was den war die Entscheidung der indischen Regie- politischen Anspruch auf das Gebiet bekräf- rung vom 5. August 2019, den Bundesstaat tigt. Pakistan hatte im Zuge seiner politi- Jammu & Kaschmir (J&K) in die beiden schen Annäherung an China das im pakis- Unionsterritorien Jammu & Kaschmir und tanischen Teil Kaschmirs liegende Shaks- Ladakh aufzuteilen. Die politische Führung gam-Tal 1963 an die Volksrepublik abge- des mehrheitlich muslimischen Bundes- treten (siehe Karte 3, S. 7). Die von China staates J&K hatte mit dem Beitritt eine Reihe beanspruchte Aksai-Chin-Region wird als von Privilegien erhalten, die später immer »undefinierte Grenze« bezeichnet. Dies ent- wieder zu Auseinandersetzungen zwischen sprach der Position, die beide Staaten in der Regierung in Neu-Delhi und der Landes- einem Vertrag von 1963 vereinbart hatten. regierung in Srinagar führten. Dies war Frühere Karten hingegen stellten Kasch- der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata mir – einschließlich der Region Gilgit- Party (BJP) seit vielen Jahren ein Dorn im Baltistan (GB) und Azad Jammu und Kasch- Auge. Mit ihrer Entscheidung löst die Regie- mir (AJK) – oftmals graphisch gesondert rung von Premierminister Narendra Modi vom pakistanischen Staatsgebiet dar, um eines ihrer Wahlversprechen ein. In Unter- kenntlich zu machen, dass Kaschmir ein schied zu Bundesstaaten unterstehen Unions- umstrittenes Gebiet im Sinne der VN-Reso- territorien in Indien dem Innenministe- lutionen ist. rium in Neu-Delhi. Pakistan änderte nun auch die Nomen- Mit der rein innenpolitisch begründeten klatur für den indischen Teil Kaschmirs. und gegenüber der internationalen Ge- Die zuvor verwendete Bezeichnung »dis- meinschaft auch so kommunizierten Ent- puted territory« wurde ersetzt durch »In- scheidung bekräftigte Neu-Delhi Indiens dian Illegally Occupied Jammu & Kashmir« bekannte Position, dass ganz Kaschmir seit (IIOJ&K). Auf der offiziellen Karte findet dem Beitritt im Oktober 1947 formal ein sich der Verweis auf die VN-Resolutionen Teil der Union ist. So gibt es in der neu ge- nur noch im indischen Teil. Dies impliziert, wählten Versammlung des Unionsterrito- dass das in diesen Resolutionen genannte SWP-Aktuell 85 Oktober 2020 4
Karte 2 Quelle: Ministry of Defence, Survey of Pakistan. Political Map of Pakistan, 5th edition, 2020, . Referendum nur im indischen Teil stattfin- sichts dieser Verknüpfung ist unklar, ob GB den müsse. Dies mag dem pakistanischen eine vollständige Provinz werden kann oder Selbstverständnis entsprechen, doch sehen nur einen provisorischen Status erhalten die VN-Resolutionen ein Referendum im wird, der ihm erweiterte Vollmachten für gesamten früheren Fürstenstaat vor. eine bessere Selbstverwaltung verleiht. Die Schließlich umfasst die Karte auch für November 2020 angekündigten Wahlen Gebiete wie den Siachen-Gletscher und Sir in GB könnten weiteren Aufschluss über Creek, im Mündungsdelta des Indus, über den künftigen Status der Region geben. die wiederholt mit Indien verhandelt In Pakistan wird darauf hingewiesen, wurde. Überraschend war auch der erneute dass die Ankündigung, GB zu einer eigenen Anspruch auf den einstigen Fürstenstaat Provinz zu machen, auch China entgegen- Junagadh, im heutigen indischen Bundes- kommt. Die Lebensader des China-Pakistan staat Gujarat, der nach einem Referendum Economic Corridor (CPEC), das größte und 1948 Indien beigetreten war. teuerste Einzelprojekt im Rahmen der chi- Ali Amin Gandapur, Minister für die nesischen Belt and Road Initiative (BRI), »Angelegenheiten Kaschmirs und Gilgit- verläuft durch die Region Gilgit-Baltistan. Baltistans« in der Regierung von Premier- Der CPEC ist aus geopolitischer Perspektive minister Imran Khan, kündigte im Septem- eine eigenwillige Konstruktion. Obwohl ber 2020 an, dass die Region Gilgit-Baltistan China der engste Verbündete Pakistan ist, bald zu einer Provinz Pakistans würde. Dies hatte es sich lange Zeit für eine bilaterale wird von der dort lebenden Bevölkerung Lösung der Kaschmirfrage ausgesprochen. seit vielen Jahren gefordert. Allerdings Dies entsprach aber eher der indischen als stand dem bislang die traditionelle Position der pakistanischen Position. Vor diesem Pakistans entgegen, nach der über die Zu- Hintergrund konnten die Investitionen in gehörigkeit Kaschmirs erst in einem Refe- den CPEC nach 2015 auch als Unterstüt- rendum zu entscheiden sein wird. Ange- zung des damaligen Status quo in den SWP-Aktuell 85 Oktober 2020 5
indisch-pakistanischen Beziehungen gese- 2019 und die Schaffung des Unionsterrito- hen werden, wie er vor Beginn der BRI riums Ladakh, das formal auch Aksai Chin herrschte. Eine stärkere verfassungsrecht- umfasst. Dass Ladakh nun zentral von Neu- liche Integration Gilgit-Baltistans würde Delhi verwaltet wird, erleichterte es dabei indirekt auch die chinesischen Investitio- der indischen Regierung, die militärische nen absichern. Immerhin fordern die VN- Infrastruktur in der Grenzregion zu China Resolutionen, auch wenn sie nur noch auszubauen. China war hier deutlich im hypothetisch von Belang sind, dass sich Vorteil, was indische Militärexperten wie- Pakistan als Vorbedingung für ein Referen- derholt kritisiert hatten. Schließlich hatte dum aus dem Gebiet des vormaligen Fürs- es auch in diesem Abschnitt der LAC in der tenstaates zurückziehen müsse. Außerdem Vergangenheit immer wieder Zwischenfälle könnten sich die Kaschmiris in diesem Refe- gegeben. Neben dem Ausbau der Infra- rendum auch für Indien entscheiden. struktur dürfte in Peking wohl auch eine Dass der CPEC durch den pakistanischen Äußerung des indischen Innenministers Teil Kaschmirs verläuft, ist für Indien auch Amit Shah für Verärgerung gesorgt haben. der Hauptgrund, warum es eine Teilnahme Unmittelbar nach der Entscheidung seiner an der BRI ablehnt. Dabei hatte China lange Regierung hatte er den Anspruch Indiens Zeit um Indiens Teilnahme geworben. auf Aksai Chin im Parlament bekräftigt. Weil sie ganz Kaschmir beansprucht, sieht Dass chinesische Truppen seit Anfang Mai die indische Regierung im CPEC eine Ver- mehrfach die LAC in Ladakh/Aksai Chin letzung ihrer nationalen Souveränität. überschritten, sahen chinesische Experten Mit seiner neuen Karte bekräftigt Pakis- als Reaktion auf die indische Entscheidung tan zwar seine politischen Ansprüche auf vom August 2019 an. Am 15. Juni kam es Kaschmir, entfernt sich aber auch, allen zu einem folgenschweren Zwischenfall im Bekundungen zum Trotz, weiter von den Galwan-Tal, bei dem 20 indische und eine VN-Resolutionen. Die indische Entschei- unbekannte Zahl chinesischer Soldaten ge- dung, J&K aufzuteilen, bot Pakistan einen tötet wurden (siehe SWP-Aktuell 63/2020). willkommenen Anlass, erneut für die Die Rhetorik in chinesischen Medien hat Kaschmirfrage zu mobilisieren, die in den sich deutlich verschärft. Indien wird nun letzten Jahren aufgrund wirtschaftlicher als Provokateur in dem Grenzkonflikt dar- und politischer Probleme in den Hinter- gestellt, was eine chinesische Reaktion in grund gerückt war. Damit haben sich auch Form militärischer Verteidigungsmaßnah- in Pakistan die Hardliner durchgesetzt. men legitimiere. Laut einer chinesischen Vor dem 5. August 2019 hatte Imran Khan Umfrage des parteinahen Magazins Global mehrfach versucht, den Dialog mit Indien Times und des chinesischen Think-Tanks wiederaufzunehmen, seitdem aber davon CICIR vom August 2020 äußerten mehr als Abstand genommen. 70 Prozent der Befragten, dass Indien allzu Die Fortsetzung des Konflikts mit Indien feindselig gegenüber China sei; 90 Prozent dürfte vor allem im Interesse der allmächti- unterstützten Vergeltungsaktionen gegen gen Armee liegen, die seit Jahrzehnten die Indien. Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber Während die Spannungen in der Grenz- Indien bestimmt. Trotz aller wirtschaft- region anhielten, hob die chinesische Seite lichen Probleme wurde der pakistanische allerdings zusehends auch die geopolitische Verteidigungshaushalt für das Finanzjahr Dimension hervor, vor allem die intensivier- 2020–21 um 11,9 Prozent aufgestockt. ten militärischen Beziehungen Indiens und der USA sowie deren politische Kooperation im Indo-Pazifik unter anderem im Rahmen Die »neue, alte« Position Chinas der Quadrilateral Group (Quad), an der auch Australien und Japan beteiligt sind. Auch die chinesische Regierung kritisierte Ende September 2020 erklärten Vertreter die Entscheidung Indiens vom 5. August der chinesischen Regierung überraschend, SWP-Aktuell 85 Oktober 2020 6
Karte 3 Quelle: Mapping India and China’s Disputed Borders, Al Jazeera, 10.9.2020, . dass Chinas territoriale Ansprüche auch die Ausblick Gebiete der früheren LAC von 1959 umfas- sen. Damit rückte China erstmals vom 1993 Im Jahr 2000 bezeichnete US-Präsident Bill geschlossenen Abkommen ab, mit dem die Clinton Kaschmir als den »gefährlichsten gegenwärtige LAC etabliert worden war, Ort der Welt«. Dies bezog sich damals auf deren Verlauf allerdings nie eindeutig fest- die brisante Mixtur von terroristischen An- gelegt wurde. Trotz zahlloser Gesprächs- schlägen und einer möglichen militärischen runden in der Vergangenheit haben beide Eskalation der Auseinandersetzungen zwi- Seiten nie offizielle Karten der kritischen schen den Atommächten Indien und Pakis- Gebiete ausgetauscht, zu denen auch Aksai tan, die beim Kargil-Krieg 1999 oder nach Chin/Ladakh zählt. Darum blieben die dem Anschlag auf das indische Parlament gegenseitigen Gebietsansprüche vage. im Dezember 2001 zu beobachten war. China griff mit seiner neuen Position auf Die politischen Veränderungen, die in seine alte aus dem Jahr 1959 zurück, die den neuen Karten zum Ausdruck kommen, von der damaligen indischen Regierung könnten eine neue Phase des Konflikts ein- nicht anerkannt worden war. läuten. Es besteht die Möglichkeit, dass sich Indische Militärexperten wiesen darauf die beiden lange Zeit voneinander getrenn- hin, dass sich die Übertretungen chine- ten Konflikte in und um Kaschmir durch sischer Truppen seit Mai im Wesentlichen eine engere, gegen Indien gerichtete Zusam- darauf konzentrieren, die Gebiete der LAC menarbeit Pakistans und Chinas stärker mit- von 1959 wieder unter ihre Kontrolle zu einander verbinden. Politisch zeigte sich dies bringen. Nach indischen Angaben kon- bereits im August 2019, als China in seiner trolliert China mittlerweile ca. 1 000 Qua- Rolle als ständiges Mitglied des Sicherheits- dratkilometer an Territorium, das zuvor rats eine informelle Sitzung des Gremiums Indien kontrolliert hatte. zur indischen J&K-Entscheidung erwirkte. Auch wenn die Sitzung ohne Ergebnis SWP-Aktuell 85 Oktober 2020 7
blieb, wurde sie in Pakistan als großer dische Regierungen bislang um jeden Preis diplomatischer Erfolg gefeiert. zu vermeiden versucht. Chinas Ansprüche auf die LAC von 1959 Die deutsche und die europäische Politik bedrohen in einigen Gebieten die Infra- dürften mit den Positionen aller Konflikt- struktur, die Indien in den letzten Monaten parteien Probleme haben. Bei ihrem Besuch errichtet hat. So könnten im Falle einer in Indien im November 2019 hatte Bundes- militärischen Eskalation chinesische Trup- kanzlerin Angela Merkel die Situation im pen die Zufahrt nach Daulat Beg Oldie indischen Kaschmir als »unhaltbar« be- blockieren. Der dortige Militärflugplatz ist zeichnet, weil es dort nach der Umwand- für die Versorgung der indischen Truppen lung in ein Unionsterritorium zu massiven © Stiftung Wissenschaft auf dem Siachen-Gletscher von zentraler Einschränkungen von Bürgerrechten kam. und Politik, 2020 Bedeutung. Der Gletscher ist der höchst- Pakistans Initiativen, den Konflikt zu inter- Alle Rechte vorbehalten gelegene Kriegsschauplatz der Welt, dort nationalisieren, werden in Berlin und Brüs- stehen sich seit Mitte der 1980er Jahre in- sel weiterhin kaum Gehör finden. Pekings Das Aktuell gibt die Auf- dische und pakistanische Truppen gegen- Bemühen wiederum, die aktuelle Kontroll- fassung der Autorin und des Autors wieder. über. Abgesehen von der Möglichkeit, dass linie von 1959 wiederherzustellen, wird die Pakistan und China künftig politisch und ihm gegenüber in Deutschland und Europa In der Online-Version dieser militärisch in Sachen Kaschmir zusammen- zunehmenden Vorbehalte nicht verringern. Publikation sind Verweise arbeiten, haben die jüngsten Entwicklun- Berlin und Brüssel teilen zwar das Inter- auf SWP-Schriften und gen dem »gefährlichsten Ort der Welt« eine esse an regionaler Stabilität, haben aber wichtige Quellen anklickbar. weitere Konfliktkomponente hinzugefügt. wenig Möglichkeiten, Einfluss auf die Kon- SWP-Aktuells werden intern Denn China sieht seinen Grenzkonflikt mit fliktparteien zu nehmen. Der Lösungs- einem Begutachtungsverfah- Indien jetzt nicht mehr nur als bilaterales ansatz, auf den sich Indien und Pakistan ren, einem Faktencheck und Problem, sondern auch als Teil seiner geo- 2007 verständigt hatten, sah im Wesent- einem Lektorat unterzogen. politischen Auseinandersetzung mit den lichen eine Festschreibung des politischen Weitere Informationen USA, zu deren Lager Indien gezählt wird. Das und territorialen Status quo in Kaschmir zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- betrifft auch die LAC in Ladakh/Aksai Chin. vor. In dem neuen Konfliktszenario dürfte Website unter https://www. Die Entscheidung der indischen Regie- eine zwischenstaatliche Lösung in weite swp-berlin.org/ueber-uns/ rung, den Bundesstaat Jammu und Kasch- Ferne rücken. Denn Kaschmir hat für die qualitaetssicherung/ mir aufzulösen, hat sich insofern in mehr- drei Staaten eine unterschiedliche strategi- facher Hinsicht als kontraproduktiv erwie- sche Bedeutung. Für Indien war, ist und SWP Stiftung Wissenschaft und sen. Die Proteste Pakistans waren zu erwar- bleibt es ein rein innenpolitisches Thema. Politik ten, und die Kritik westlicher Regierungen Pakistan bieten die neuen Entwicklungen Deutsches Institut für und Menschenrechtsorganisationen an den einmal mehr die Möglichkeit, national und Internationale Politik und massiven Einschränkungen von Freiheiten international für sein Anliegen zu mobili- Sicherheit im indischen Kaschmir dürfte die indische sieren. Für China ist der Konflikt ein wei- Regierung wie in der Vergangenheit kaum terer, vor allem außenpolitischer Schau- Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin beeindruckt haben. Die massive Reaktion platz im geostrategischen Ringen: Einerseits Telefon +49 30 880 07-0 Chinas hingegen, die de facto auch Teile ringt es mit Indien um die künftige Rolle Fax +49 30 880 07-100 der bilateralen Annäherung der letzten 20 beider Staaten in Südasien, andererseits www.swp-berlin.org bis 30 Jahre in Frage stellte und Indien ver- indirekt auch mit den USA um die künftige swp@swp-berlin.org mutlich einen dauerhaften Gebietsverlust Kräfteverteilung im Indo-Pazifik. ISSN 1611-6364 eintrug, war von indischer Seite offenkun- doi: 10.18449/2020A85 dig nicht einkalkuliert worden. Die rein innenpolitisch begründete Entscheidung Indiens hat den Konflikt um eine geopoliti- sche Dimension erweitert und ihn damit internationaler gemacht, und das haben in- Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien. Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien. SWP-Aktuell 85 Oktober 2020 8
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