Kartenspiele in Kaschmir - Einleitung - Stiftung Wissenschaft und Politik

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Kartenspiele in Kaschmir - Einleitung - Stiftung Wissenschaft und Politik
NR. 85 OKTOBER 2020                       Einleitung

Kartenspiele in Kaschmir
Neue geopolitische Realitäten im Konflikt zwischen China, Indien und Pakistan
Christian Wagner / Angela Stanzel

Die politische Geographie Kaschmirs hat sich in den letzten Monaten grundlegend ver-
ändert. Ausgangspunkt war die Entscheidung der indischen Regierung vom 5. August
2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir in zwei Unionsterritorien aufzuteilen.
In Reaktion darauf veröffentlichte Islamabad am 4. August 2020 eine Karte, die ganz
Kaschmir als Teil Pakistans darstellte. Ende September 2020 kündigte die chinesische
Regierung den bisherigen Status quo mit Indien in der Region Ladakh/Aksai Chin auf.
Damit deutet sich eine neue Phase im Konflikt um Kaschmir an, in der China und Pakis-
tan enger zusammenarbeiten könnten. Zudem wird der Konflikt um eine neue geo-
politische Dimension erweitert, denn die Auseinandersetzung mit Indien ist für China
jetzt auch Teil des Ringens mit den USA um die künftige Machtverteilung im Indo-
Pazifik.

Die territoriale Zugehörigkeit des einstigen   Der indisch-pakistanische
Fürstenstaates Jammu und Kaschmir war          Konflikt um Kaschmir
bislang Gegenstand von zwei weitgehend
voneinander unabhängigen Konflikten:           Nach der Unabhängigkeit Britisch Indiens
(1) dem bekannten Streit zwischen Indien       und der Staatsgründung Indiens und Pakis-
und Pakistan; (2) der wenig bekannten          tans im August 1947 blieb eine Reihe von
Auseinandersetzung zwischen Indien und         Fürstenstaaten zunächst unabhängig, dar-
China über die Festlegung ihrer ca. 3 500      unter auch Jammu und Kaschmir (J&K). Als
Kilometer langen Grenze, von der ca. 1 600     dort Stammeskrieger aus Pakistan eindran-
Kilometer durch Kaschmir verlaufen. Die        gen, die von pakistanischen Offizieren un-
jüngsten Entwicklungen könnten dazu füh-       terstützt wurden, wandte sich der Hindu-
ren, dass die beiden bislang eher getrennten   Maharaja von J&K an die indische Regierung
Konflikte künftig stärker miteinander ver-     und bat um militärischen Beistand. Ende
woben werden.                                  Oktober 1947 trat der Fürstenstaat der Indi-
                                               schen Union bei, die im Gegenzug Truppen
                                               zur Unterstützung des Maharajas entsandte.
                                               Aus den Kämpfen gegen die Stammeskrie-
                                               ger entwickelte sich der erste indisch-pakis-
Kartenspiele in Kaschmir - Einleitung - Stiftung Wissenschaft und Politik
tanische Krieg, der im Januar 1949 mit           den dritten Krieg zwischen Indien und
                 einem Waffenstillstand endete. Der einstige      Pakistan 1971 folgte, in dem Ost-Pakistan
                 Fürstenstaat ist seitdem in einen indischen      abgespalten und Bangladesch gegründet
                 und einen pakistanischen Teil gespalten.         wurde. Die indische Premierministerin In-
                     Kaschmir hat für Indien und Pakistan         dira Gandhi versäumte es damals, die mili-
                 eine hohe Symbolkraft im Kontext der             tärische Niederlage Pakistans auszunutzen
                 jeweiligen Staatsidee. Pakistan, das als Staat   und eine endgültige Lösung der Kaschmir-
                 für die Muslime Britisch-Indiens gegründet       frage zu erwirken. Beide Staaten verständig-
                 worden war, reklamierte das mehrheitlich         ten sich im Shimla-Vertrag auf die bilate-
                 muslimische Kaschmir für sich. Für Indien        rale Behandlung ausstehender Probleme
                 war Kaschmir lange Zeit ein Symbol für den       und auf eine neue Kontrolllinie (Line of
                 Säkularismus und die Offenheit des neuen         Control, LoC) in Kaschmir. Indien stellte in
                 Staates für alle Religionsgemeinschaften.        der Folge seine Zusammenarbeit mit der
                     Der Kaschmirkonflikt zwischen Indien         UNMOGIP ein, die bis heute den Waffen-
                 und Pakistan lässt sich bis heute in zwei        stillstand entlang der LoC überwacht.
                 große Phasen einteilen. In der ersten Phase          Pakistan versuchte weiterhin, die Kasch-
                 von 1947 bis 1972 kam es zu einer Inter-         mirfrage zu internationalisieren: zum
                 nationalisierung. Der indische Premier-          Beispiel dadurch, dass es regionale Krisen
                 minister Nehru brachte den Konflikt vor          wie den Kargil-Krieg 1999 provozierte, dass
                 die Vereinten Nationen (VN) und schlug ein       die pakistanische Armee und der Geheim-
                 Referendum vor, in dem über die Zugehö-          dienst terroristische Gruppen unterstützte,
                 rigkeit des Gebiets zu Indien oder Pakistan      die Anschläge im indischen Teil Kaschmirs
                 entschieden werden sollte. Seit 1948 hat der     verübten, oder dass Pakistan in internatio-
                 Sicherheitsrat eine Reihe von Resolutionen       nalen Foren die Menschenrechtsverletzun-
                 verabschiedet. Tenor dieser Resolutionen         gen indischer Sicherheitskräfte in Kaschmir
                 ist sinngemäß, dass sich erstens alle pakis-     anprangerte.
                 tanischen Truppen aus J&K zurückziehen               Die internationale Gemeinschaft rückte
                 müssen. Zweitens sei anschließend eine           nach und nach von den VN-Resolutionen
                 Interimsverwaltung einzurichten, assistiert      ab. Alle Vetomächte des Sicherheitsrates
                 von indischen Truppen. Diese hätte, drit-        sprachen sich wiederholt für eine bilaterale
                 tens, ein Referendum in ganz J&K vor-            Lösung des Konflikts aus. Im Dezember
                 zubereiten. Die Unabhängigkeit Kaschmirs         2003 distanzierte sich der pakistanische
                 war in den Resolutionen nicht vorgesehen         Präsident Musharraf ebenfalls von den VN-
                 und wird von Indien und Pakistan abge-           Resolutionen und ebnete damit den Weg
                 lehnt. China war bis 1971 kein Mitglied          für den sogenannten Verbunddialog mit In-
                 des Sicherheitsrats und daher auch nicht         dien. 2007 verständigten sich beide Seiten
                 an den Resolutionen der VN beteiligt.            auf einen nie öffentlich gewordenen Kom-
                     1948 wurde die United Nations Commis-        promiss in der Kaschmirfrage, der im We-
                 sion for India and Pakistan (UNCIP) etabliert,   sentlichen den Status quo festschrieb. Die
                 die den Konflikt beilegen und den seit 1949      vom pakistanischen Geheimdienst unter-
                 geltenden Waffenstillstand überwachen            stützte Terrorgruppe Lashkar-e-Toiba (LeT)
                 sollte. 1951 übernahm die United Nations         verübte 2008 in Mumbai einen Anschlag,
                 Military Observer Group in India and Pakis-      der das Ende des Verbunddialogs brachte.
                 tan (UNMOGIP) diese Aufgabe. Bis in die              Die unterschiedlichen Positionen Indiens
                 1960er Jahre hinein unternahmen Veto-            und Pakistans haben sich auch in den offi-
                 mächte des Sicherheitsrates wie die USA,         ziellen Karten niedergeschlagen. Da nach
                 Großbritannien und die Sowjetunion ver-          Auffassung Indiens ganz Kaschmir im Okto-
                 schiedene erfolglose Vermittlungsversuche.       ber 1947 der Union beigetreten ist, ver-
                     Die zweite Phase brachte eine Bilaterali-    zeichnen indische Karten folgerichtig das
                 sierung des Konflikts. Sie beginnt mit dem       gesamte Territorium des früheren Fürsten-
                 Friedensvertrag von Shimla 1972, der auf         staats als indisches Staatsgebiet. Weil J&K

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Karte 1

Quelle: Barthi Jain, »Govt Releases New Political Map of India Showing UTs of J&K, Ladakh«, in: Times of India (online), 2.11.2019,

im Norden eine Grenze mit Afghanistan                     Zwischen Indien und China verläuft die
hat, versteht sich Indien auch als direkter            mit ca. 3 500 Kilometer längste umstrittene
Nachbar Afghanistans. Pakistan hingegen                Grenze der Welt. Ihr Verlauf folgt in der
sah ganz J&K als umstrittenes Gebiet im                Himalayaregion der kolonialen McMahon-
Sinne der VN-Resolutionen, über dessen                 Linie und ist vor allem in Kaschmir und
Zugehörigkeit erst in einem Referendum                 im Nordosten Indiens umstritten. Ende
entschieden würde. Pakistanische Karten                der 1950er Jahre baute China durch das in
haben Kaschmir deshalb bislang graphisch               Kaschmir gelegene Aksai-Chin-Gebiet eine
nicht als Teil des eigenen Landes darge-               ganzjährig zu befahrende Straße nach
stellt, auch wenn die Regionen Gilgit-Bal-             Tibet. 1959 schlug der chinesische Premier-
tistan (GB) und der formal unabhängige                 minister Zhou Enlai einen Gebietsaustausch
Staat Azad Jammu und Kaschmir (AJK) de                 vor. Dabei hätte China die Region Aksai
facto von Islamabad regiert werden.                    Chin erhalten und im Gegenzug seine Ge-
                                                       bietsansprüche im Nordosten Indiens auf-
                                                       gegeben, dem heutigen Bundesstaat Aru-
Der indisch-chinesische Konflikt                       nachal Pradesh. Die indische Regierung
in Kaschmir                                            wies den Vorschlag allerdings zurück. Nach
                                                       der militärischen Niederlage Indiens im
In der internationalen Wahrnehmung ist                 Grenzkrieg 1962 brachen beide Seiten
»Kaschmir« gleichbedeutend mit dem Kon-                ihre diplomatischen Beziehungen ab, so
flikt zwischen Indien und Pakistan. Aller-             dass der Verlauf der Grenze weiter un-
dings ist auch die Volksrepublik China seit            geklärt blieb.
Ende der 1950er Jahre ein – wenn auch                     Im Zuge ihrer politischen Annäherung
bislang wenig beachteter – Akteur in der               nach 1988 rückte auch die Grenzfrage wie-
Auseinandersetzung über das territoriale               der in den Mittelpunkt. Beide Staaten rich-
Erbe des einstigen Fürstenstaates.                     teten unter anderem eine gemeinsame Ar-

                                                                                                                      SWP-Aktuell 85
                                                                                                                       Oktober 2020

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beitsgruppe zur Klärung des Grenzverlaufs       riums J&K wieder 24 Sitze für den von
                 ein und ernannten Sondergesandte. Seither       Pakistan kontrollierten Teil Kaschmirs.
                 haben Indien und China eine Reihe von              Die Entscheidung der BJP-Regierung löste
                 Vereinbarungen getroffen (1993, 1996, 2003,     heftige Proteste im einstigen Bundesstaat
                 2005, 2012, 2013), um die Stabilität in der     aus. Sie war vor allem ein Affront gegen
                 Grenzregion zu erhöhen und Spannungen           die moderaten Parteien, die sich ungeachtet
                 durch vertrauensbildende Maßnahmen zu           aller politischen Auseinandersetzungen
                 reduzieren. Mit dem Abkommen 1993 wurde         über die Ausgestaltung der Autonomie im-
                 die gegenwärtige aktuelle Kontrolllinie         mer dafür ausgesprochen hatten, dass der
                 (Line of Actual Control, LAC) etabliert, die    Bundesstaat in der Indischen Union ver-
                 eher einem Raum mit wechselseitig akzep-        bleibt. Bei der letzten Landtagswahl 2014
                 tierten Patrouillenwegen und Militärposten      lag die Wahlbeteiligung trotz der Boykott-
                 gleicht als einer »Linie«.                      aufrufe islamistischer Parteien, die den An-
                    Die politischen Veränderungen, die sich      schluss an Pakistan forderten, bei über 65
                 in den neuen Karten und territorialen An-       Prozent. Politische Beobachter hatten dies
                 sprüchen seit dem Sommer 2019 nieder-           als deutliches Votum für Indien gewertet.
                 geschlagen haben, scheinen eine neue Phase
                 in der Auseinandersetzung um Kaschmir
                 einzuläuten.                                    Die »neue« Position Pakistans

                                                                 Mit seiner neuen Karte vom 4. August 2020
                 Die »alte« Position Indiens                     unterstrich Islamabad seine Haltung in der
                                                                 Kaschmirfrage. Die nationalen Grenzen
                 Ausgangspunkt der neuen Konfliktdynamik         Pakistans umfassen ganz Kaschmir, was den
                 war die Entscheidung der indischen Regie-       politischen Anspruch auf das Gebiet bekräf-
                 rung vom 5. August 2019, den Bundesstaat        tigt. Pakistan hatte im Zuge seiner politi-
                 Jammu & Kaschmir (J&K) in die beiden            schen Annäherung an China das im pakis-
                 Unionsterritorien Jammu & Kaschmir und          tanischen Teil Kaschmirs liegende Shaks-
                 Ladakh aufzuteilen. Die politische Führung      gam-Tal 1963 an die Volksrepublik abge-
                 des mehrheitlich muslimischen Bundes-           treten (siehe Karte 3, S. 7). Die von China
                 staates J&K hatte mit dem Beitritt eine Reihe   beanspruchte Aksai-Chin-Region wird als
                 von Privilegien erhalten, die später immer      »undefinierte Grenze« bezeichnet. Dies ent-
                 wieder zu Auseinandersetzungen zwischen         sprach der Position, die beide Staaten in
                 der Regierung in Neu-Delhi und der Landes-      einem Vertrag von 1963 vereinbart hatten.
                 regierung in Srinagar führten. Dies war         Frühere Karten hingegen stellten Kasch-
                 der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata    mir – einschließlich der Region Gilgit-
                 Party (BJP) seit vielen Jahren ein Dorn im      Baltistan (GB) und Azad Jammu und Kasch-
                 Auge. Mit ihrer Entscheidung löst die Regie-    mir (AJK) – oftmals graphisch gesondert
                 rung von Premierminister Narendra Modi          vom pakistanischen Staatsgebiet dar, um
                 eines ihrer Wahlversprechen ein. In Unter-      kenntlich zu machen, dass Kaschmir ein
                 schied zu Bundesstaaten unterstehen Unions-     umstrittenes Gebiet im Sinne der VN-Reso-
                 territorien in Indien dem Innenministe-         lutionen ist.
                 rium in Neu-Delhi.                                 Pakistan änderte nun auch die Nomen-
                    Mit der rein innenpolitisch begründeten      klatur für den indischen Teil Kaschmirs.
                 und gegenüber der internationalen Ge-           Die zuvor verwendete Bezeichnung »dis-
                 meinschaft auch so kommunizierten Ent-          puted territory« wurde ersetzt durch »In-
                 scheidung bekräftigte Neu-Delhi Indiens         dian Illegally Occupied Jammu & Kashmir«
                 bekannte Position, dass ganz Kaschmir seit      (IIOJ&K). Auf der offiziellen Karte findet
                 dem Beitritt im Oktober 1947 formal ein         sich der Verweis auf die VN-Resolutionen
                 Teil der Union ist. So gibt es in der neu ge-   nur noch im indischen Teil. Dies impliziert,
                 wählten Versammlung des Unionsterrito-          dass das in diesen Resolutionen genannte

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Karte 2

Quelle: Ministry of Defence, Survey of Pakistan. Political Map of Pakistan, 5th edition, 2020,
.

Referendum nur im indischen Teil stattfin-      sichts dieser Verknüpfung ist unklar, ob GB
den müsse. Dies mag dem pakistanischen          eine vollständige Provinz werden kann oder
Selbstverständnis entsprechen, doch sehen       nur einen provisorischen Status erhalten
die VN-Resolutionen ein Referendum im           wird, der ihm erweiterte Vollmachten für
gesamten früheren Fürstenstaat vor.             eine bessere Selbstverwaltung verleiht. Die
   Schließlich umfasst die Karte auch           für November 2020 angekündigten Wahlen
Gebiete wie den Siachen-Gletscher und Sir       in GB könnten weiteren Aufschluss über
Creek, im Mündungsdelta des Indus, über         den künftigen Status der Region geben.
die wiederholt mit Indien verhandelt               In Pakistan wird darauf hingewiesen,
wurde. Überraschend war auch der erneute        dass die Ankündigung, GB zu einer eigenen
Anspruch auf den einstigen Fürstenstaat         Provinz zu machen, auch China entgegen-
Junagadh, im heutigen indischen Bundes-         kommt. Die Lebensader des China-Pakistan
staat Gujarat, der nach einem Referendum        Economic Corridor (CPEC), das größte und
1948 Indien beigetreten war.                    teuerste Einzelprojekt im Rahmen der chi-
   Ali Amin Gandapur, Minister für die          nesischen Belt and Road Initiative (BRI),
»Angelegenheiten Kaschmirs und Gilgit-          verläuft durch die Region Gilgit-Baltistan.
Baltistans« in der Regierung von Premier-       Der CPEC ist aus geopolitischer Perspektive
minister Imran Khan, kündigte im Septem-        eine eigenwillige Konstruktion. Obwohl
ber 2020 an, dass die Region Gilgit-Baltistan   China der engste Verbündete Pakistan ist,
bald zu einer Provinz Pakistans würde. Dies     hatte es sich lange Zeit für eine bilaterale
wird von der dort lebenden Bevölkerung          Lösung der Kaschmirfrage ausgesprochen.
seit vielen Jahren gefordert. Allerdings        Dies entsprach aber eher der indischen als
stand dem bislang die traditionelle Position    der pakistanischen Position. Vor diesem
Pakistans entgegen, nach der über die Zu-       Hintergrund konnten die Investitionen in
gehörigkeit Kaschmirs erst in einem Refe-       den CPEC nach 2015 auch als Unterstüt-
rendum zu entscheiden sein wird. Ange-          zung des damaligen Status quo in den

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indisch-pakistanischen Beziehungen gese-       2019 und die Schaffung des Unionsterrito-
                 hen werden, wie er vor Beginn der BRI          riums Ladakh, das formal auch Aksai Chin
                 herrschte. Eine stärkere verfassungsrecht-     umfasst. Dass Ladakh nun zentral von Neu-
                 liche Integration Gilgit-Baltistans würde      Delhi verwaltet wird, erleichterte es dabei
                 indirekt auch die chinesischen Investitio-     der indischen Regierung, die militärische
                 nen absichern. Immerhin fordern die VN-        Infrastruktur in der Grenzregion zu China
                 Resolutionen, auch wenn sie nur noch           auszubauen. China war hier deutlich im
                 hypothetisch von Belang sind, dass sich        Vorteil, was indische Militärexperten wie-
                 Pakistan als Vorbedingung für ein Referen-     derholt kritisiert hatten. Schließlich hatte
                 dum aus dem Gebiet des vormaligen Fürs-        es auch in diesem Abschnitt der LAC in der
                 tenstaates zurückziehen müsse. Außerdem        Vergangenheit immer wieder Zwischenfälle
                 könnten sich die Kaschmiris in diesem Refe-    gegeben. Neben dem Ausbau der Infra-
                 rendum auch für Indien entscheiden.            struktur dürfte in Peking wohl auch eine
                    Dass der CPEC durch den pakistanischen      Äußerung des indischen Innenministers
                 Teil Kaschmirs verläuft, ist für Indien auch   Amit Shah für Verärgerung gesorgt haben.
                 der Hauptgrund, warum es eine Teilnahme        Unmittelbar nach der Entscheidung seiner
                 an der BRI ablehnt. Dabei hatte China lange    Regierung hatte er den Anspruch Indiens
                 Zeit um Indiens Teilnahme geworben.            auf Aksai Chin im Parlament bekräftigt.
                 Weil sie ganz Kaschmir beansprucht, sieht      Dass chinesische Truppen seit Anfang Mai
                 die indische Regierung im CPEC eine Ver-       mehrfach die LAC in Ladakh/Aksai Chin
                 letzung ihrer nationalen Souveränität.         überschritten, sahen chinesische Experten
                    Mit seiner neuen Karte bekräftigt Pakis-    als Reaktion auf die indische Entscheidung
                 tan zwar seine politischen Ansprüche auf       vom August 2019 an. Am 15. Juni kam es
                 Kaschmir, entfernt sich aber auch, allen       zu einem folgenschweren Zwischenfall im
                 Bekundungen zum Trotz, weiter von den          Galwan-Tal, bei dem 20 indische und eine
                 VN-Resolutionen. Die indische Entschei-        unbekannte Zahl chinesischer Soldaten ge-
                 dung, J&K aufzuteilen, bot Pakistan einen      tötet wurden (siehe SWP-Aktuell 63/2020).
                 willkommenen Anlass, erneut für die               Die Rhetorik in chinesischen Medien hat
                 Kaschmirfrage zu mobilisieren, die in den      sich deutlich verschärft. Indien wird nun
                 letzten Jahren aufgrund wirtschaftlicher       als Provokateur in dem Grenzkonflikt dar-
                 und politischer Probleme in den Hinter-        gestellt, was eine chinesische Reaktion in
                 grund gerückt war. Damit haben sich auch       Form militärischer Verteidigungsmaßnah-
                 in Pakistan die Hardliner durchgesetzt.        men legitimiere. Laut einer chinesischen
                 Vor dem 5. August 2019 hatte Imran Khan        Umfrage des parteinahen Magazins Global
                 mehrfach versucht, den Dialog mit Indien       Times und des chinesischen Think-Tanks
                 wiederaufzunehmen, seitdem aber davon          CICIR vom August 2020 äußerten mehr als
                 Abstand genommen.                              70 Prozent der Befragten, dass Indien allzu
                    Die Fortsetzung des Konflikts mit Indien    feindselig gegenüber China sei; 90 Prozent
                 dürfte vor allem im Interesse der allmächti-   unterstützten Vergeltungsaktionen gegen
                 gen Armee liegen, die seit Jahrzehnten die     Indien.
                 Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber           Während die Spannungen in der Grenz-
                 Indien bestimmt. Trotz aller wirtschaft-       region anhielten, hob die chinesische Seite
                 lichen Probleme wurde der pakistanische        allerdings zusehends auch die geopolitische
                 Verteidigungshaushalt für das Finanzjahr       Dimension hervor, vor allem die intensivier-
                 2020–21 um 11,9 Prozent aufgestockt.           ten militärischen Beziehungen Indiens und
                                                                der USA sowie deren politische Kooperation
                                                                im Indo-Pazifik unter anderem im Rahmen
                 Die »neue, alte« Position Chinas               der Quadrilateral Group (Quad), an der
                                                                auch Australien und Japan beteiligt sind.
                 Auch die chinesische Regierung kritisierte        Ende September 2020 erklärten Vertreter
                 die Entscheidung Indiens vom 5. August         der chinesischen Regierung überraschend,

SWP-Aktuell 85
Oktober 2020

6
Karte 3

Quelle: Mapping India and China’s Disputed Borders, Al Jazeera, 10.9.2020,
.

dass Chinas territoriale Ansprüche auch die            Ausblick
Gebiete der früheren LAC von 1959 umfas-
sen. Damit rückte China erstmals vom 1993              Im Jahr 2000 bezeichnete US-Präsident Bill
geschlossenen Abkommen ab, mit dem die                 Clinton Kaschmir als den »gefährlichsten
gegenwärtige LAC etabliert worden war,                 Ort der Welt«. Dies bezog sich damals auf
deren Verlauf allerdings nie eindeutig fest-           die brisante Mixtur von terroristischen An-
gelegt wurde. Trotz zahlloser Gesprächs-               schlägen und einer möglichen militärischen
runden in der Vergangenheit haben beide                Eskalation der Auseinandersetzungen zwi-
Seiten nie offizielle Karten der kritischen            schen den Atommächten Indien und Pakis-
Gebiete ausgetauscht, zu denen auch Aksai              tan, die beim Kargil-Krieg 1999 oder nach
Chin/Ladakh zählt. Darum blieben die                   dem Anschlag auf das indische Parlament
gegenseitigen Gebietsansprüche vage.                   im Dezember 2001 zu beobachten war.
China griff mit seiner neuen Position auf                 Die politischen Veränderungen, die in
seine alte aus dem Jahr 1959 zurück, die               den neuen Karten zum Ausdruck kommen,
von der damaligen indischen Regierung                  könnten eine neue Phase des Konflikts ein-
nicht anerkannt worden war.                            läuten. Es besteht die Möglichkeit, dass sich
   Indische Militärexperten wiesen darauf              die beiden lange Zeit voneinander getrenn-
hin, dass sich die Übertretungen chine-                ten Konflikte in und um Kaschmir durch
sischer Truppen seit Mai im Wesentlichen               eine engere, gegen Indien gerichtete Zusam-
darauf konzentrieren, die Gebiete der LAC              menarbeit Pakistans und Chinas stärker mit-
von 1959 wieder unter ihre Kontrolle zu                einander verbinden. Politisch zeigte sich dies
bringen. Nach indischen Angaben kon-                   bereits im August 2019, als China in seiner
trolliert China mittlerweile ca. 1 000 Qua-            Rolle als ständiges Mitglied des Sicherheits-
dratkilometer an Territorium, das zuvor                rats eine informelle Sitzung des Gremiums
Indien kontrolliert hatte.                             zur indischen J&K-Entscheidung erwirkte.
                                                       Auch wenn die Sitzung ohne Ergebnis

                                                                                                        SWP-Aktuell 85
                                                                                                         Oktober 2020

                                                                                                                    7
blieb, wurde sie in Pakistan als großer                       dische Regierungen bislang um jeden Preis
                               diplomatischer Erfolg gefeiert.                               zu vermeiden versucht.
                                  Chinas Ansprüche auf die LAC von 1959                         Die deutsche und die europäische Politik
                               bedrohen in einigen Gebieten die Infra-                       dürften mit den Positionen aller Konflikt-
                               struktur, die Indien in den letzten Monaten                   parteien Probleme haben. Bei ihrem Besuch
                               errichtet hat. So könnten im Falle einer                      in Indien im November 2019 hatte Bundes-
                               militärischen Eskalation chinesische Trup-                    kanzlerin Angela Merkel die Situation im
                               pen die Zufahrt nach Daulat Beg Oldie                         indischen Kaschmir als »unhaltbar« be-
                               blockieren. Der dortige Militärflugplatz ist                  zeichnet, weil es dort nach der Umwand-
                               für die Versorgung der indischen Truppen                      lung in ein Unionsterritorium zu massiven
© Stiftung Wissenschaft        auf dem Siachen-Gletscher von zentraler                       Einschränkungen von Bürgerrechten kam.
und Politik, 2020              Bedeutung. Der Gletscher ist der höchst-                      Pakistans Initiativen, den Konflikt zu inter-
Alle Rechte vorbehalten        gelegene Kriegsschauplatz der Welt, dort                      nationalisieren, werden in Berlin und Brüs-
                               stehen sich seit Mitte der 1980er Jahre in-                   sel weiterhin kaum Gehör finden. Pekings
Das Aktuell gibt die Auf-
                               dische und pakistanische Truppen gegen-                       Bemühen wiederum, die aktuelle Kontroll-
fassung der Autorin und des
Autors wieder.                 über. Abgesehen von der Möglichkeit, dass                     linie von 1959 wiederherzustellen, wird die
                               Pakistan und China künftig politisch und                      ihm gegenüber in Deutschland und Europa
In der Online-Version dieser   militärisch in Sachen Kaschmir zusammen-                      zunehmenden Vorbehalte nicht verringern.
Publikation sind Verweise      arbeiten, haben die jüngsten Entwicklun-                         Berlin und Brüssel teilen zwar das Inter-
auf SWP-Schriften und
                               gen dem »gefährlichsten Ort der Welt« eine                    esse an regionaler Stabilität, haben aber
wichtige Quellen anklickbar.
                               weitere Konfliktkomponente hinzugefügt.                       wenig Möglichkeiten, Einfluss auf die Kon-
SWP-Aktuells werden intern     Denn China sieht seinen Grenzkonflikt mit                     fliktparteien zu nehmen. Der Lösungs-
einem Begutachtungsverfah-     Indien jetzt nicht mehr nur als bilaterales                   ansatz, auf den sich Indien und Pakistan
ren, einem Faktencheck und     Problem, sondern auch als Teil seiner geo-                    2007 verständigt hatten, sah im Wesent-
einem Lektorat unterzogen.     politischen Auseinandersetzung mit den                        lichen eine Festschreibung des politischen
Weitere Informationen
                               USA, zu deren Lager Indien gezählt wird. Das                  und territorialen Status quo in Kaschmir
zur Qualitätssicherung der
SWP finden Sie auf der SWP-    betrifft auch die LAC in Ladakh/Aksai Chin.                   vor. In dem neuen Konfliktszenario dürfte
Website unter https://www.        Die Entscheidung der indischen Regie-                      eine zwischenstaatliche Lösung in weite
swp-berlin.org/ueber-uns/      rung, den Bundesstaat Jammu und Kasch-                        Ferne rücken. Denn Kaschmir hat für die
qualitaetssicherung/           mir aufzulösen, hat sich insofern in mehr-                    drei Staaten eine unterschiedliche strategi-
                               facher Hinsicht als kontraproduktiv erwie-                    sche Bedeutung. Für Indien war, ist und
SWP
Stiftung Wissenschaft und
                               sen. Die Proteste Pakistans waren zu erwar-                   bleibt es ein rein innenpolitisches Thema.
Politik                        ten, und die Kritik westlicher Regierungen                    Pakistan bieten die neuen Entwicklungen
Deutsches Institut für         und Menschenrechtsorganisationen an den                       einmal mehr die Möglichkeit, national und
Internationale Politik und     massiven Einschränkungen von Freiheiten                       international für sein Anliegen zu mobili-
Sicherheit                     im indischen Kaschmir dürfte die indische                     sieren. Für China ist der Konflikt ein wei-
                               Regierung wie in der Vergangenheit kaum                       terer, vor allem außenpolitischer Schau-
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin                   beeindruckt haben. Die massive Reaktion                       platz im geostrategischen Ringen: Einerseits
Telefon +49 30 880 07-0        Chinas hingegen, die de facto auch Teile                      ringt es mit Indien um die künftige Rolle
Fax +49 30 880 07-100          der bilateralen Annäherung der letzten 20                     beider Staaten in Südasien, andererseits
www.swp-berlin.org             bis 30 Jahre in Frage stellte und Indien ver-                 indirekt auch mit den USA um die künftige
swp@swp-berlin.org
                               mutlich einen dauerhaften Gebietsverlust                      Kräfteverteilung im Indo-Pazifik.
ISSN 1611-6364
                               eintrug, war von indischer Seite offenkun-
doi: 10.18449/2020A85          dig nicht einkalkuliert worden. Die rein
                               innenpolitisch begründete Entscheidung
                               Indiens hat den Konflikt um eine geopoliti-
                               sche Dimension erweitert und ihn damit
                               internationaler gemacht, und das haben in-

                               Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.
                               Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien.

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