Türkei Presse- und Meinungsfreiheit garantieren! - Gesellschaft für bedrohte Völker
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Einleitung Hatte es in der Politik des türkischen Präsidenten entlassen. Alle beteiligten Ermittler wurden von Recep Tayyip Erdoğan anfangs noch vielverspre- dem Fall abgezogen. Zudem wurden viele von chende Reformen und eine Annäherung an die ihnen später entlassen und selbst festgenommen. Europäische Union gegeben, wurden diese Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 wurde Schritte später wieder zurückgenommen. In die- die AKP für ihr zunehmend autoritäres Vorgehen sem Memorandum wollen wir auf die Entwicklung sowie den Druck auf die Presse- und Meinungs- der Medien (Teil 1) und die Presse- und Meinungs- freiheit „bestraft“. Sie verlor viele Stimmen und freiheit (Teil 2) insbesondere in der Zeit nach dem konnte die Regierung nicht mehr allein stellen. Putschversuch im Juli 2016 eingehen. Dafür sind Sämtliche Koalitionsverhandlungen scheiterten. einige politische Entwicklungen und Ereignisse in Am 1. November 2015 mussten die Wahlen den Vorjahren wichtig, die hier kurz skizziert wiederholt werden. werden. Bis dahin sollen im Südosten des Landes 600 2013 stellte einen Wendepunkt in der Türkei dar. Polizisten und Soldaten umgekommen sein. Die Stadtregierung wollte die Bäume im Istanbuler Denn im Sommer 2015 hatten Regierungskräfte Gezi-Park abholzen und dort ein Einkaufszentrum mehr als 30 Städte in den mehrheitlich von Ange- errichten. Hinter dem Projekt stand Recep Tayyip hörigen der kurdischen Volksgruppe bewohnten Erdoğan, damals noch Ministerpräsident. Am 28. Gebieten angegriffen und etwa 500.000 Men- Mai stellten sich Umweltschützer vor die anrü- schen vertrieben. Schon Ende Juli 2015 hatte ckenden Bulldozer. Die Polizei antwortete mit dem Erdoğan den „Friedensprozess mit den Kurden für Einsatz von Schlagstöcken, Tränengas und Gum- gescheitert“ erklärt. Zuvor hatte er gesagt, man migeschossen. Viele Prominente und Politiker solle ihm 400 Abgeordnete (die Mehrheit im Par- sowie Organisationen, darunter viele kurdische lament) geben und alles werde friedlich gelöst. und prokurdische sowie linke Gruppen, solidari- „Wenn ich gehe, kommt der Terror“, lautete da- sierten sich mit den Umweltschützern. Was an- mals die Botschaft des mächtigen Mannes in fänglich ein gewöhnlicher Bürgerprotest war, ent- Ankara. wickelte sich zu landesweiten Protesten gegen die autoritäre Politik der Regierung von Erdoğan. Zwischen dem 17. und 25. Dezember 2013 wur- den bei Razzien zudem 35 Geschäftsmänner aus dem Umkreis von Erdoğan festgenommen, unter ihnen auch die Söhne von drei Ministern. Damit wurde der größte Korruptionsskandal des Landes aufgedeckt. Erdoğan nannte die Razzien einen „Putschversuch“. Alle Betroffenen wurden später 3
1. Entwicklung der Medien Die Entwicklung in der Medienlandschaft in der Nur drei Tage vor den Neuwahlen am 1. November Türkei kann anhand von Repressalien nachvoll- 2015 wurde die „Koza Ipek Mediengruppe“ unter zogen werden, die sich in vier Kategorien einord- Zwangsverwaltung gestellt. Die zum Konzern nen lassen: gehörenden Blätter „Kanaltürk,“ „Bugün TV“ und die Zeitungen „Bugün“ und „Millet“ wurden von Zwangsverwaltung und Schließung Erdoğan-nahen Geschäftsleuten übernommen. von Medien Auch die „Kaynak Holding“ mit ihren Verlagen be- Hexenjagd auf Medienschaffende kam den Zorn aus Ankara zu spüren. Der durch ihre Beschlagnahme von Medienunternehmen Nähe zur Gülen-Bewegung bekannte Konzern wur- und Vermögen de am 17. November 2015 ebenfalls unter Zwangs- verwaltung gestellt. Die Verlage von Kaynak Hol- Vernichtung von Archiven und Bücher- ding druckten die Magazine „Sızıntı“ mit einer Auf- verbrennung lage von 700.000 Stück sowie andere Magazine wie „Yağmur,“ „Yeni Ümit“ und die „Fountain“. Zwangsverwaltung und Schließung Am 4. März 2016 tauchten Gerüchte auf, dass die Am 10. Oktober 2015 wurde der Chefredakteur Zeitung „Zaman“ unter Zwangsverwaltung ge- der englischsprachigen Zeitung Today´s Zaman, stellt werden soll. Diese Zeitung sollte es am Bülent Keneş, festgenommen, weil er in einer schlimmsten treffen. Neben der Zwangsverwal- Twittermeldung Erdoğan kritisiert hatte. Fünf tung sollten auch viele Journalisten des Blattes Tage später wurde der Journalist freigelassen, festgenommen werden. In den Abendstunden nachdem seine Anwälte Beschwerde eingelegt umzingelte die Polizei die Zentrale der Zeitung in hatten. Die Zeitung hatte während der Gezi- Istanbul. Wasserwerfer wurden in Stellung ge- Proteste die AKP-Regierung heftig kritisiert und bracht. Vor dem Gebäude hatten sich Tausende damit deren Zorn auf sich gezogen. Menschen versammelt, um eine Übernahme zu Ähnlich ging es auch Redakteurinnen und Redak- verhindern. Die Polizei setzte Schlagstöcke, Trä- teuren der „Koza Ipek Mediengruppe“. In einigen nengas und Wasserwerfer ein und die Zwangs- ihrer Medien war die Regierung für das harte Vor- verwaltung übernahm das Blatt. Hatte die Zeitung gehen der Polizei gegen Demonstrierende kriti- am Tag der Übernahme noch eine Auflage von siert worden. Der damalige Ministerpräsident 650.000, lag diese zwei Tage später bei 2.000. hatte daraufhin den Chef des Konzerns, Akın İpek, Der Eigentümer des Blattes, die „Feza Gazetecilik gebeten, diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbei- AŞ,“ wurde am 1. September 2016 per Dekret tern zu kündigen, und stattdessen „regierungskon- beschlagnahmt und dem staatlichen Einlagen- forme Journalistinnen und Journalisten“ einzu- sicherungsfonds TMSF überschrieben. Genau so stellen. Ipek hatte dies abgelehnt. Er und sein Kon- erging es der zur Feza Gazetecilik AŞ gehörenden zern kamen daraufhin auf eine „schwarze Liste.“ Nachrichtenagentur „Cihan Haber Ajansı“ CHA. 4
Am 27. Juli 2016 wurden während des Ausnah- Altan, Nazlı Ilıcak, Şahin Alpay und Mustafa Ünal, mezustands mit dem Dekret 674 insgesamt 16 wurden festgenommen. Derzeit sind in den tür- TV-Kanäle, 3 Nachrichtenagenturen, 23 Radio- kischen Gefängnissen bis zu 200 Journalistinnen Stationen, 45 Zeitungen, 15 Magazine und 29 und Journalisten inhaftiert. Diejenigen, die per Verlage und Vertriebe geschlossen. Unter ihnen Haftbefehl gesucht werden und geflohen sind, befanden sich Barış TV, Bugün TV, Can Erzincan TV, hat es auch schwer getroffen. Denn an ihrer Stelle Dünya TV, Hira TV, Irmak TV, Kanal 124, Kanaltürk, wurden Angehörige festgesetzt. So wurden etwa MC TV, IMC TV, Mehtap TV, Merkür TV, Samanyolu die Ehefrau von Bülent Korucu und die Tochter Haber, Samanyolu TV, SRT TV, Tuna Shopping TV, von İbrahim Karayeğen festgenommen. Yumurcak TV, Taraf Gazetesi, Zaman Gazetesi, Bugün Gazetesi, Aksiyon Dergisi, Sızıntı Dergisi, Beschlagnahme von Nokta Dergisi, Cihan Haber Ajansı, Muhabir Haber Medienunternehmen und Vermögen Ajansı und die SEM Haber Ajansı. Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 war nach Die Doğan Yayın Holding konnte dem Druck der Worten von Präsident Recep Tayyip Erdoğan „ein Regierung schließlich nicht mehr standhalten. Die Geschenk Gottes“. In den ersten zwei Monaten zu ihr gehörenden Medien (Hürriyet, Poste, Kanal danach wurden praktisch alle regierungskriti- D, CNN Türk und die Nachrichtenagentur Doğan schen Medien verboten, die zum größten Teil der Haber Ajansi) gingen auf die regierungsnahe Bewegung rund um den im US-Exil lebenden Demirören-Gruppe über. Prediger Fethullah Gülen nahestanden. Aber auch linke oder kurdische Medien wurden verboten. Hexenjagd auf Medienschaffende Das Verbot betraf insgesamt 179 Medien (53 Zei- tungen, 34 TV-Kanäle, 37 Radio-Stationen, 20 Ma- Nachdem die Mediengruppen Koza Ipek und gazine, 6 Nachrichtenagenturen und 29 Verlage). Zaman unter Zwangsverwaltung gestellt worden 620 Journalistinnen und Journalisten wurde die waren , wurden innerhalb kürzester Zeit hunder- Akkreditierung entzogen, manchen der Reisepass te Redakteurinnen und Redakteure entlassen und für ungültig erklärt. Das Vermögen der Medien- durch regierungsnahe Journalistinnen und Jour- häuser ging auf den Staat über. So wurden nach nalisten der „Sabah-ATV“ sowie „Yeni Şafak Grup- der endgültigen Schließung der Nachrichten- pe“ ersetzt. Viele entlassene Medienschaffende agentur Cihan Haber Ajansi deren Ausstattung, erhielten nicht einmal Abfindungen. Einige der technische Gerätschaften und Übertragungswa- entlassenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gen an regierungsnahe Medien zu niedrigsten gründeten Zeitungen wie die „Özgür Düşünce,“ Preisen verkauft. „Yeni Hayat“, „Yarına Bakış“ oder Meydan. Doch nur wenige Tage nach dem Putschversuch vom Auch das Vermögen von Medienschaffenden 15. Juli 2016 wurden auch diese Zeitungen ver- geriet nach dem Putschversuch in Gefahr. Am boten. Viele Gründungsmitglieder wurden fest- 1. Dezember 2016 ordnete ein Gericht in Istanbul genommen. Regierungskritiker galten als Mitglied die Beschlagnahme der Vermögen von 57 Jour- der Fethullah´schen Terrororganisation „FETÖ“, nalistinnen und Journalisten an. Erst nach Be- regierungskritische Medienschaffende als Ange- schwerden inhaftierter Medienschaffender wur- hörige der FETÖ-Medien. de diese Anordnung in eine Art „Veräußerungs- verbot“ umgewandelt: Das Vermögen der Betrof- Mehr als 100 Journalistinnen und Journalisten, fenen darf nicht auf Dritte übergehen. Doch alle, unter ihnen auch bekannte Gesichter wie Ahmet 5
die per Haftbefehl gesucht werden und geflüch- Menschenrechtsverstöße öffentlich werden. tet sind, sind davon ausgenommen. Ihr Vermögen Stattdessen muss davon ausgegangen werden, gilt als beschlagnahmt. dass in den regierungsnahen Medien oft frei erfundene Nachrichten publiziert werden oder Vernichtung von Archiven und Büchern Hetze betrieben wird. Wenn Regierungen auch die Justiz kontrollieren, dann bleiben nur noch Archive sind für Medien ein sehr wichtiges Gut. Medien, die sie zur Rechenschaft ziehen könnten. Doch alle elektronischen Archive der Medien- In der Türkei ist dies insbesondere nach dem unternehmen wurden nach ihrer Übernahme Putschversuch praktisch unmöglich geworden. durch Zwangsverwaltungen gelöscht oder unter Verschluss genommen und sind nicht mehr zu- gänglich. So haben die Zwangsverwalter als erste Handlung die Internetseiten der Zeitungen „Bu- gün“ und „Zaman“ gesperrt. Nachdem sie wieder online waren, wurde klar, dass die Archive ge- löscht waren. Ähnlich war es auch bei der Nach- richtenagentur Cihan Haber Ajansı, Irmak TV und Cihan Radyo. Das gesamte Archiv der Nachrich- tenagentur Cihan Haber Ajansi wurde vernichtet. Die Buchhandelskette „NT“ mit ihren rund 100 Filialen, die zur zwangsverwalteten Kaynak Hol- ding gehörte, und viele Verlagshäuser mussten auf Anordnung große Mengen von Büchern ver- nichten, darunter auch Schulbücher. Denn viele von ihnen sollen angeblich sog. „FETÖ-Propa- ganda“ enthalten haben. So wurden 892.000 Bücher vernichtet, weil der US-Bundesstaat Pennsylvania darin vorkommt. Dort lebt auch der Prediger Fethullah Gülen, den die türkische Regierung und Präsident Erdoğan als Drahtzieher hinter dem Putschversuch von 2016 sieht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Putschversuch von 2016 der türkischen Regie- rung die Möglichkeit gab, die Medien vollständig unter Kontrolle zu bringen. 179 kurdische und der Gülen-Bewegung nahe Medien wurden während des Ausnahmezustandes per Dekret geschlossen. Diese Maßnahmen dienten dazu, der Bevölkerung jeden Zugang zu einer unabhängigen kritischen Berichterstattung zu nehmen. Vor allem wird da- durch verhindert, dass Korruptionsfälle und Vet- ternwirtschaft innerhalb der Regierung sowie 6
2. Meinungsfreiheit Internationale Regelwerke andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben. Die Meinungsfreiheit ist in der UN-Menschen- rechtscharta fest verankert. Die Türkei hat am 3. Die Ausübung der in Absatz 2 vorgesehenen 6. April 1949 ihre Unterschrift daruntergesetzt. Rechte ist mit besonderen Pflichten und einer Am 15. August 2000 hat das Land zudem den besonderen Verantwortung verbunden. Sie Internationalen Pakt über bürgerliche und politi- kann daher bestimmten, gesetzlich vorgese- sche Rechte ICCPR (Zivilpakt) unterzeichnet. Auch henen Einschränkungen unterworfen werden, die Europäische Menschenrechtskonvention die erforderlich sind. (EMRK) gilt in der Türkei. Die türkische Regierung Am 21. Juli 2016 hat die türkische Regierung dem ist deswegen verpflichtet, europäisches und in- Europarat mitgeteilt, einige Verpflichtungen ternationales Recht zu respektieren und die Mei- außer Kraft zu setzen. Zur selben Zeit benachrich- nungsfreiheit zu schützen. Wichtig dafür sind tigte Ankara auch die Vereinten Nationen, die insbesondere: Rechte in Artikel 2 und 3 sowie die Artikel 9, 10, 12, 13, 14, 17, 19, 20, 21, 22, 25 und 26 des ICCPR Artikel 10 Abs. 1 der EMRK auszusetzen. Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungs- Zwar können bestimmte Rechte im Zivilpakt und äußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der der Europäischen Menschenrechtskonvention Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur außer Kraft gesetzt werden, aber nicht alle. Man- Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Ein- che Rechte dürfen unter gar keinen Umständen griffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht ausgesetzt werden. Mit der Außerkraftsetzung auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt von Rechten darf niemand diskriminiert werden. nicht aus, dass die Staaten Rundfunk, Lichtspiel- Ziel muss bei solchen Maßnahmen sein, dass die oder Fernsehunternehmen einem Genehmi- Menschenrechte gewahrt bleiben. gungsverfahren unterwerfen. Die Meinungsfreiheit darf auch in Ausnahmezu- ständen nicht eingeschränkt werden. Andere Artikel 19 des ICCPR Rechte im Zivilpakt dürfen nur dann und auch nur 1. Jedermann hat das Recht auf unbehinderte vorübergehend eingeschränkt werden, so eine Meinungsfreiheit. Entscheidung des Menschenrechtsausschusses der UN. 2. Jedermann hat das Recht auf freie Meinungs- äußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Infor- mationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder 7
Die Meinungsfreiheit in der Einschränkungen der Meinungsfreiheit türkischen Verfassung durch türkische Gesetze Auch in der türkischen Verfassung ist die Mei- Die Türkei ist das Land, dass wegen der Einschrän- nungsfreiheit geschützt. Dort heißt es in kung der Meinungsfreiheit vom Europäischen Ge- richtshof für Menschenrechte (EuGH) am häufigs- Artikel 25 ten verurteilt wurde. Nach Informationen des EuGH wurde in 40 Fällen gegen Artikel 10 des Jedermann genießt Meinungs- und Überzeu- Zivilpaktes (ICCPR) verstoßen und die Meinungs- gungsfreiheit. freiheit somit verletzt. Niemand darf, aus welchem Grund und zu wel- Bei den Fällen von Verstößen gegen die Mei- chem Zweck auch immer, zur Äußerung von nungs- und Pressefreiheit, die bisher vom EuGH Meinungen und Überzeugungen gezwungen untersucht wurden, wird deutlich, dass das türki- werden; niemand darf wegen seiner Meinungen sche Strafrecht (Türk Ceza Kanunu TCK) sowie die und Überzeugungen gerügt oder einem Schuld- Antiterrorgesetze (Terörle Mücadele Kanunu TMK) vorwurf ausgesetzt werden. dafür verantwortlich sind. Vor allem diese Geset- ze werden dafür genutzt, die Meinungsfreiheit zu Artikel 26 unterdrücken. Sie stehen damit im Widerspruch zur türkischen Verfassung, der Europäischen Men- Jedermann hat das Recht, seine Meinungen und schenrechtskonvention und dem Zivilpakt. Überzeugungen in Wort, Schrift, Bild oder auf anderem Wege allein oder gemeinschaftlich zu äußern und zu verbreiten. Diese Freiheit umfasst Das Antiterrorgesetz Nr. 3713 auch die Freiheit des Empfangs oder der Abgabe Das Antiterrorgesetz Nr. 3713 verbietet die „Mit- von Nachrichten und Ideen ohne Eingriff öffent- gliedschaft in einer Terrororganisation“ und licher Behörden. Der Vorschrift dieses Absatzes „Terrorpropanda“. Im Falle einer Verurteilung steht nicht entgegen, Veröffentlichungen durch droht eine Haftstrafe von ein bis fünf Jahren. Wer Radio, Fernsehen, Kino oder auf ähnlichem Wege aber diese Straftatbestände mit Hilfe der Medien einem Genehmigungssystem zu unterwerfen. erfüllt, dem drohen zusätzlich noch einmal halb soviel Jahre Haft als zusätzliche Strafe. Medien- Artikel 28 schaffende können bei einer Verurteilung zu fünf Jahren Gefängnis nochmals zusätzlich mit 2,5 Die Presse ist frei, Zensur findet nicht statt. Die Jahren Haft bestraft werden. Gründung einer Druckerei darf nicht an die Be- dingung einer Genehmigung oder der Leistung Zudem ist nicht klar definiert, was mit „Mitglied- einer finanziellen Sicherheit gebunden werden. schaft in einer Terrororganisation“ oder „Terror- propaganda“ gemeint ist. Das Gesetz lässt offen, welche Taten als terroristisch gelten. Artikel 30 Die dem Gesetz gemäß als Pressebetrieb gegrün- deten Druckereien und ihre Nebenanlagen dür- fen nicht mit der Begründung, sie seien Tatwerk- zeug, beschlagnahmt und eingezogen oder aus dem Verkehr gezogen werden. 8
Vorschriften aus dem türkischen zur türkischen Verfassung und zum Zivilpakt und Strafgesetzbuch schränkt die Meinungsfreiheit erheblich ein. So mussten sich Künstler*innen, Medienschaffende, In Paragraph 301 des türkischen Strafgesetzbu- Karikaturist*innen, Studierende, Gewerkschafter* ches TCK wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs innen, Bürgerinnen und Bürger und sogar Minder- Monaten bis fünf Jahren bestraft, wer die türki- jährige wegen des Teilens von Beiträgen in den sche Nation, den Staat und die Institutionen und sozialen Medien vor Gericht verantworten. Allein Organe des Staates beleidigt. 2017 wurden aufgrund dieses Paragraphen 20.593 Aufgrund dieses Gesetzes erhielten Hunderte Untersuchungen eingeleitet. 2.099 Personen wur- Intellektuelle Gefängnisstrafen. Auch der ermor- den verurteilt. Nach dem Korruptionsskandal im dete Journalist Hrant Dink wurde wegen „Beleidi- Dezember 2013 wurden wegen Beleidigens von gung des Türkentums“ verurteilt und 2007 von Erdoğan rund 13.000 Verfahren eingeleitet. radikal-nationalistischen Türken ermordet. Der UN-Menschenrechtsrat hat bei seinem regel- Verbote im Internet mäßigen Prüfverfahren (Universal Periodic Review Die erste große Maßnahme gegen die Meinungs- – UPR) der Türkei empfohlen, diesen Paragraphen freiheit im Internet unternahm die türkische Re- zu ändern oder abzuschaffen. Bislang ist die Türkei gierung 2007. Damals wurde der Zugang zur dem nicht nachgekommen. Videoplattform Youtube in der Türkei unterbun- Laut Paragraph 216 des TCK wird mit einer Frei- den. Anschließend wurde im Schnellverfahren heitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft, wer das das Kommunikationsministerium gegründet und Volk zu Hass und Feindschaft verleitet. Auch die- es wurden Gesetze erlassen, die Kinder vor den ser Paragraph dient als Grundlage zur Beschnei- Gefahren im Internet schützen sollen. Mit dieser dung der Meinungsfreiheit. So wurde der Pianist Begründung bekam die türkische Regierung die Fazıl Say 2011 zu zehn Monaten Haft verurteilt. Möglichkeit, Zugänge zu ausgewählten Internet- seiten zu verhindern. Später wurde das Gesetz Die Straftatbestände „Mitgliedschaft in einer Ter- 5651 erlassen, das mit der Zeit ausgedehnt wur- rororganisation“ und „Terrorpropanda“ definiert de. Mit dem Gesetz bekam das Telekommunika- das TCK nur vage. Deshalb sind sie ein Hindernis tionsministerium freie Hand. Zudem schützt das für die Meinungsfreiheit. Viele Journalist*innen Gesetz die Mitarbeiter*innen des Ministeriums, und Wissenschaftler*innen sitzen wegen „Mit- falls sie Fehler machen. Auch der Zugang zu den gliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisati- im Ausland agierenden oppositionellen Seiten on (§314 TCK) und wegen „Mitgliedschaft in einer wird unterbunden. Die türkische Regierung greift Terrororganisation und in deren Namen Straftaten immer wieder zu solchen Maßnahmen und sperrt begehen“ (§ 220 TCK Abs. 6) im Gefängnis. bestimmte Plattformen im Internet. Schon 2004 wurde Paragraph 299 ins TCK auf- Im März 2015 wurde das Gesetz um den Para- genommen. Er droht allen, die den Präsidenten graph 8 A erweitert. Seither ist es dem Telekom- beleidigen, eine Haftstrafe von ein bis vier Jahren munikationsministerium möglich, ohne Gerichts- an. Wer diesen Straftatbestand mit Hilfe der beschluss den Zugang zu Internetseiten zu sper- Medien erfüllt, kann sogar zu einer Freiheitsstrafe ren. 2015 wurde der Zugang zu 110.000 Inter- von bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Mit die- seiten gesperrt. 2016 lag die Zahl der verbotenen sem Paragraphen wird jede Kritik an Präsident Internetseiten bei 213.398. Erdoğan zu einer Straftat. Er steht im Widerspruch 9
Am 29. April 2017 wurde das Internetlexikon Schlussfolgernd kann festgehalten werden, dass Wikipedia komplett gesperrt. Wikipedia hatte die AKP unter Erdoğan mit dem Putschversuch sich geweigert, einen Artikel zu löschen, in dem es und dem Verfassungsreferendum ihre Macht um die Unterstützung der türkischen Regierung vollständig ausgebaut hat. Damit ist der mächtige für Terrorgruppen in Syrien geht. Mann in Ankara praktisch uneingeschränkter Herrscher in dem Land. Urteile gegen Journalis- Mit dem Gesetz 5651 wurden nach 2014 Face- ten sowie Oppositionelle gibt es auf Bestellung. book, Twitter und Youtube für zwei Jahre gesperrt. Zuletzt hatten die AKP und ihr ultranationalisti- Das Verfassungsgericht hob die entsprechenden scher Oppositionspartner MHP ein neues Straf- Urteile und Verbote später wieder auf, zog sich vollzugsgesetz verabschiedet. 90.000 Gefangene so jedoch den Zorn der türkischen Regierung zu. wurden damit entlassen. Politische Häftlinge hin- Erdoğan nannte das Twitter-Urteil „gayrımilli“, gegen konnten von der Amnestie nicht profitie- nicht national. ren. Der ehemalige Co-Vorsitzende der prokurdi- Die sog. Friedens-Strafgerichte (Sulh Ceza Hakim- schen linken HDP, Selahattin Demirtaş, sein Par- likleri), die mit umfangreichen Kompetenzen aus- teifreund und von der Regierung abgesetzter Bür- gestattet im Juni 2014 ins Leben gerufen wurden, germeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, der sperrten 20.000 URL. Diese Sondergerichte ord- Menschenrechtler Osman Kavala oder Journalis- neten in 60 Urteilen jeweils eine Sperrung der ten wie Mehmet Baransu müssen weiterhin hinter Internetseite der Zeitung „Cumhuriyet“ an. Bei Gittern bleiben und sind dem Coronavirus damit den Zeitungen „Sözcü“ waren es 36, bei „Radikal“ schutzlos ausgeliefert. Der Putschversuch von 28, bei „Zaman“ 24 und bei der Nachrichtenseite 2016 kostete rund 250 Zivilisten das Leben. Seit- „T24“ rund 40 Urteile. her hat es 511.000 Festnahmen gegeben. Die Meinungsfreiheit wird seit dem gescheiterten Verfassungsreform 2017 bringt noch mehr Putschversuch 2016 massiv unterdrückt. 191 Einschränkungen Journalistinnen und Journalisten sitzen in Haft, weil die Regierung sie in Verbindung mit dem Die Verfassungsreform von 2017 gab Präsident Umsturzversuch bringt, 167 Medienschaffende, Erdoğan umfangreiche Kompetenzen und ver- gegen die Haftbefehle erlassen worden waren, setzte der Meinungsfreiheit einen weiteren Hieb. konnten sich ins Ausland absetzen. Zudem wur- Das Staatsoberhaupt hatte damit die Kontrolle den 34 ausländische Journalistinnen und Journa- sowohl über die Exekutive als auch über die listen des Landes verwiesen. Judikative erlangt. Die Venedig-Kommission des Europarates hatte im Vorfeld des Verfassungsre- ferendums ihre Bedenken erklärt. Die Verfas- sungsänderung sei ein Rückschritt, hatten die Experten gewarnt. Im April stimmten 51,4 Prozent der Bevölkerung der Türkei für die umstrittene Verfassungsänderung. Erdoğan konnte dadurch den „Rat der Richter und Staatsanwälte“ (Hakim- ler ve Savcılar Kurulu) mit seinen eigenen Leuten besetzen, die etwa über Richter entscheiden. Anschließend entschieden die Richter in Sachen Meinungsfreiheit im Einklang mit der Regierung. 10
Forderungen und Handlungsempfehlungen Die türkische Regierung muss alle Beschrän- Die Ermittlungen gegen die „Wissenschaftler kungen der Meinungs- und Pressefreiheit zu- für den Frieden“ (Barış İçin Akademisyenler) rücknehmen. Alle internationalen Standards wegen ihres Aufrufs zum Frieden und ihre Fest- müssen eingehalten werden. Damit die Mei- nahmen müssen beendet werden. Entlassene nungs- und Pressefreiheit garantiert wird, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bedarf es unabhängiger Institutionen. müssen wieder zurück an ihre Arbeitsplätze. Das türkische Strafgesetzbuch und die türki- Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die schen Antiterrorgesetze dürfen nicht mehr zur unabhängige Medien unterstützen. Die Sper- Unterdrückung der Meinungsfreiheit miss- rungen der Internetseiten von Journalistinnen braucht werden. Die Kriminalisierung von Bür- und Journalisten sowie Aktivist*innen müssen gerinnen und Bürgern aufgrund von kritischer aufgehoben werden. Beschlagnahmte Medien- Berichterstattung oder friedlicher Meinungs- häuser und ihre Ausstattungen müssen unver- äußerung muss umgehend eingestellt werden. züglich zurückgegeben werden. Staatliche Me- dien müssen unabhängig berichten. Journalist*innen müssen wieder die Sicher- heit haben, dass sie wegen Gesagtem und Um die Meinungsfreiheit auch im Internet zu Geschriebenem nicht mehr aufgrund der Ter- gewährleisten, muss das Gesetz 5651 geän- rorgesetze belangt werden. Anklagen gegen dert werden. Sperrungen müssen nur noch Medienschaffende, Wissenschaftler*innen, durch Gerichte möglich sein. Sperrungen von Aktivist*innen, Mitarbeiter*innen von NGOs Internetseiten mit unendlicher Dauer müssen und Oppositionspolitiker und -politikerinnen aufgehoben werden. müssen fallen gelassen werden. Die Diskussion über die Anerkennung der Sog. Beleidigungsparagraphen müssen über- nationalen Rechte der Angehörigen der kurdi- dacht werden und dürfen nicht gegen die schen Volksgruppe und anderer ethnischer Presse- und Meinungsfreiheit genutzt werden. und religiöser Gemeinschaften wie der assy- Der Paragraph 299 des türkischen Strafgesetz- rischen/aramäischen, armenischen, christli- buches, der für die Beleidigung des Präsiden- chen, alevitischen und yezidischen Volksgrup- ten (Majestätsbeleidigung) eine Haftstrafe von pe in den Print- und digitalen Medien sowie bis zu fünf Jahren vorsieht, muss komplett auf- auch anderweitig darf nicht als „Terrorpropa- gehoben werden. Auch der Paragraph 125 des ganda“ eingestuft werden. Medienschaffende, türkischen Strafgesetzbuches muss aufgeho- Politiker*innen und andere Personen müssen ben werden, der für die Beleidigung eine das Recht haben, sich frei und ohne Angst zu Haftstrafe von mindestens ein Jahr vorsieht. der Politik des Landes äußern können. 11
Fußnoten UN-Angaben zitiert in der Zeitung „Die Welt“, 10.03. 2017. https://www.welt.de/newsticker/news1/article162758395/UNO-wirft-Tuerkei-schwere- Menschenrechtsverletzungen-in-den-Kurdengebieten-vor.html https://www.nzz.ch/international/europa/erdogan-beendet-friedensprozesses-mit-kurden- 1.18586888, 28.07.2015. https://www.fr.de/kultur/erdogans-handeln-purer-wahnsinn-11630369.html, 28.10.15. 12
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