Türkei Presse- und Meinungsfreiheit garantieren! - Gesellschaft für bedrohte Völker

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Türkei Presse- und Meinungsfreiheit garantieren! - Gesellschaft für bedrohte Völker
Türkei
Presse- und Meinungsfreiheit garantieren!
Einleitung

Hatte es in der Politik des türkischen Präsidenten        entlassen. Alle beteiligten Ermittler wurden von
Recep Tayyip Erdoğan anfangs noch vielverspre-            dem Fall abgezogen. Zudem wurden viele von
chende Reformen und eine Annäherung an die                ihnen später entlassen und selbst festgenommen.
Europäische Union gegeben, wurden diese
                                                          Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 wurde
Schritte später wieder zurückgenommen. In die-
                                                          die AKP für ihr zunehmend autoritäres Vorgehen
sem Memorandum wollen wir auf die Entwicklung
                                                          sowie den Druck auf die Presse- und Meinungs-
der Medien (Teil 1) und die Presse- und Meinungs-
                                                          freiheit „bestraft“. Sie verlor viele Stimmen und
freiheit (Teil 2) insbesondere in der Zeit nach dem
                                                          konnte die Regierung nicht mehr allein stellen.
Putschversuch im Juli 2016 eingehen. Dafür sind
                                                          Sämtliche Koalitionsverhandlungen scheiterten.
einige politische Entwicklungen und Ereignisse in
                                                          Am 1. November 2015 mussten die Wahlen
den Vorjahren wichtig, die hier kurz skizziert
                                                          wiederholt werden.
werden.
                                                          Bis dahin sollen im Südosten des Landes 600
2013 stellte einen Wendepunkt in der Türkei dar.
                                                          Polizisten und Soldaten umgekommen sein.
Die Stadtregierung wollte die Bäume im Istanbuler
                                                          Denn im Sommer 2015 hatten Regierungskräfte
Gezi-Park abholzen und dort ein Einkaufszentrum
                                                          mehr als 30 Städte in den mehrheitlich von Ange-
errichten. Hinter dem Projekt stand Recep Tayyip
                                                          hörigen der kurdischen Volksgruppe bewohnten
Erdoğan, damals noch Ministerpräsident. Am 28.
                                                          Gebieten angegriffen und etwa 500.000 Men-
Mai stellten sich Umweltschützer vor die anrü-
                                                          schen vertrieben. Schon Ende Juli 2015 hatte
ckenden Bulldozer. Die Polizei antwortete mit dem
                                                          Erdoğan den „Friedensprozess mit den Kurden für
Einsatz von Schlagstöcken, Tränengas und Gum-
                                                          gescheitert“ erklärt. Zuvor hatte er gesagt, man
migeschossen. Viele Prominente und Politiker
                                                          solle ihm 400 Abgeordnete (die Mehrheit im Par-
sowie Organisationen, darunter viele kurdische
                                                          lament) geben und alles werde friedlich gelöst.
und prokurdische sowie linke Gruppen, solidari-
                                                          „Wenn ich gehe, kommt der Terror“, lautete da-
sierten sich mit den Umweltschützern. Was an-
                                                          mals die Botschaft des mächtigen Mannes in
fänglich ein gewöhnlicher Bürgerprotest war, ent-
                                                          Ankara.
wickelte sich zu landesweiten Protesten gegen die
autoritäre Politik der Regierung von Erdoğan.

Zwischen dem 17. und 25. Dezember 2013 wur-
den bei Razzien zudem 35 Geschäftsmänner aus
dem Umkreis von Erdoğan festgenommen, unter
ihnen auch die Söhne von drei Ministern. Damit
wurde der größte Korruptionsskandal des Landes
aufgedeckt. Erdoğan nannte die Razzien einen
„Putschversuch“. Alle Betroffenen wurden später

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1. Entwicklung der Medien

Die Entwicklung in der Medienlandschaft in der             Nur drei Tage vor den Neuwahlen am 1. November
Türkei kann anhand von Repressalien nachvoll-              2015 wurde die „Koza Ipek Mediengruppe“ unter
zogen werden, die sich in vier Kategorien einord-          Zwangsverwaltung gestellt. Die zum Konzern
nen lassen:                                                gehörenden Blätter „Kanaltürk,“ „Bugün TV“ und
                                                           die Zeitungen „Bugün“ und „Millet“ wurden von
   Zwangsverwaltung und Schließung
                                                           Erdoğan-nahen Geschäftsleuten übernommen.
   von Medien
                                                           Auch die „Kaynak Holding“ mit ihren Verlagen be-
   Hexenjagd auf Medienschaffende
                                                           kam den Zorn aus Ankara zu spüren. Der durch ihre
   Beschlagnahme von Medienunternehmen                     Nähe zur Gülen-Bewegung bekannte Konzern wur-
   und Vermögen                                            de am 17. November 2015 ebenfalls unter Zwangs-
                                                           verwaltung gestellt. Die Verlage von Kaynak Hol-
   Vernichtung von Archiven und Bücher-
                                                           ding druckten die Magazine „Sızıntı“ mit einer Auf-
   verbrennung
                                                           lage von 700.000 Stück sowie andere Magazine
                                                           wie „Yağmur,“ „Yeni Ümit“ und die „Fountain“.
Zwangsverwaltung und Schließung
                                                           Am 4. März 2016 tauchten Gerüchte auf, dass die
Am 10. Oktober 2015 wurde der Chefredakteur
                                                           Zeitung „Zaman“ unter Zwangsverwaltung ge-
der englischsprachigen Zeitung Today´s Zaman,
                                                           stellt werden soll. Diese Zeitung sollte es am
Bülent Keneş, festgenommen, weil er in einer
                                                           schlimmsten treffen. Neben der Zwangsverwal-
Twittermeldung Erdoğan kritisiert hatte. Fünf
                                                           tung sollten auch viele Journalisten des Blattes
Tage später wurde der Journalist freigelassen,
                                                           festgenommen werden. In den Abendstunden
nachdem seine Anwälte Beschwerde eingelegt
                                                           umzingelte die Polizei die Zentrale der Zeitung in
hatten. Die Zeitung hatte während der Gezi-
                                                           Istanbul. Wasserwerfer wurden in Stellung ge-
Proteste die AKP-Regierung heftig kritisiert und
                                                           bracht. Vor dem Gebäude hatten sich Tausende
damit deren Zorn auf sich gezogen.
                                                           Menschen versammelt, um eine Übernahme zu
Ähnlich ging es auch Redakteurinnen und Redak-             verhindern. Die Polizei setzte Schlagstöcke, Trä-
teuren der „Koza Ipek Mediengruppe“. In einigen            nengas und Wasserwerfer ein und die Zwangs-
ihrer Medien war die Regierung für das harte Vor-          verwaltung übernahm das Blatt. Hatte die Zeitung
gehen der Polizei gegen Demonstrierende kriti-             am Tag der Übernahme noch eine Auflage von
siert worden. Der damalige Ministerpräsident               650.000, lag diese zwei Tage später bei 2.000.
hatte daraufhin den Chef des Konzerns, Akın İpek,          Der Eigentümer des Blattes, die „Feza Gazetecilik
gebeten, diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-             AŞ,“ wurde am 1. September 2016 per Dekret
tern zu kündigen, und stattdessen „regierungskon-          beschlagnahmt und dem staatlichen Einlagen-
forme Journalistinnen und Journalisten“ einzu-             sicherungsfonds TMSF überschrieben. Genau so
stellen. Ipek hatte dies abgelehnt. Er und sein Kon-       erging es der zur Feza Gazetecilik AŞ gehörenden
zern kamen daraufhin auf eine „schwarze Liste.“            Nachrichtenagentur „Cihan Haber Ajansı“ CHA.

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Am 27. Juli 2016 wurden während des Ausnah-              Altan, Nazlı Ilıcak, Şahin Alpay und Mustafa Ünal,
mezustands mit dem Dekret 674 insgesamt 16               wurden festgenommen. Derzeit sind in den tür-
TV-Kanäle, 3 Nachrichtenagenturen, 23 Radio-             kischen Gefängnissen bis zu 200 Journalistinnen
Stationen, 45 Zeitungen, 15 Magazine und 29              und Journalisten inhaftiert. Diejenigen, die per
Verlage und Vertriebe geschlossen. Unter ihnen           Haftbefehl gesucht werden und geflohen sind,
befanden sich Barış TV, Bugün TV, Can Erzincan TV,       hat es auch schwer getroffen. Denn an ihrer Stelle
Dünya TV, Hira TV, Irmak TV, Kanal 124, Kanaltürk,       wurden Angehörige festgesetzt. So wurden etwa
MC TV, IMC TV, Mehtap TV, Merkür TV, Samanyolu           die Ehefrau von Bülent Korucu und die Tochter
Haber, Samanyolu TV, SRT TV, Tuna Shopping TV,           von İbrahim Karayeğen festgenommen.
Yumurcak TV, Taraf Gazetesi, Zaman Gazetesi,
Bugün Gazetesi, Aksiyon Dergisi, Sızıntı Dergisi,        Beschlagnahme von
Nokta Dergisi, Cihan Haber Ajansı, Muhabir Haber         Medienunternehmen und Vermögen
Ajansı und die SEM Haber Ajansı.
                                                         Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 war nach
Die Doğan Yayın Holding konnte dem Druck der             Worten von Präsident Recep Tayyip Erdoğan „ein
Regierung schließlich nicht mehr standhalten. Die        Geschenk Gottes“. In den ersten zwei Monaten
zu ihr gehörenden Medien (Hürriyet, Poste, Kanal         danach wurden praktisch alle regierungskriti-
D, CNN Türk und die Nachrichtenagentur Doğan             schen Medien verboten, die zum größten Teil der
Haber Ajansi) gingen auf die regierungsnahe              Bewegung rund um den im US-Exil lebenden
Demirören-Gruppe über.                                   Prediger Fethullah Gülen nahestanden. Aber auch
                                                         linke oder kurdische Medien wurden verboten.
Hexenjagd auf Medienschaffende                            Das Verbot betraf insgesamt 179 Medien (53 Zei-
                                                         tungen, 34 TV-Kanäle, 37 Radio-Stationen, 20 Ma-
Nachdem die Mediengruppen Koza Ipek und
                                                         gazine, 6 Nachrichtenagenturen und 29 Verlage).
Zaman unter Zwangsverwaltung gestellt worden
                                                         620 Journalistinnen und Journalisten wurde die
waren , wurden innerhalb kürzester Zeit hunder-
                                                         Akkreditierung entzogen, manchen der Reisepass
te Redakteurinnen und Redakteure entlassen und
                                                         für ungültig erklärt. Das Vermögen der Medien-
durch regierungsnahe Journalistinnen und Jour-
                                                         häuser ging auf den Staat über. So wurden nach
nalisten der „Sabah-ATV“ sowie „Yeni Şafak Grup-
                                                         der endgültigen Schließung der Nachrichten-
pe“ ersetzt. Viele entlassene Medienschaffende
                                                         agentur Cihan Haber Ajansi deren Ausstattung,
erhielten nicht einmal Abfindungen. Einige der
                                                         technische Gerätschaften und Übertragungswa-
entlassenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
                                                         gen an regierungsnahe Medien zu niedrigsten
gründeten Zeitungen wie die „Özgür Düşünce,“
                                                         Preisen verkauft.
„Yeni Hayat“, „Yarına Bakış“ oder Meydan. Doch
nur wenige Tage nach dem Putschversuch vom               Auch das Vermögen von Medienschaffenden
15. Juli 2016 wurden auch diese Zeitungen ver-           geriet nach dem Putschversuch in Gefahr. Am
boten. Viele Gründungsmitglieder wurden fest-            1. Dezember 2016 ordnete ein Gericht in Istanbul
genommen. Regierungskritiker galten als Mitglied         die Beschlagnahme der Vermögen von 57 Jour-
der Fethullah´schen Terrororganisation „FETÖ“,           nalistinnen und Journalisten an. Erst nach Be-
regierungskritische Medienschaffende als Ange-            schwerden inhaftierter Medienschaffender wur-
hörige der FETÖ-Medien.                                  de diese Anordnung in eine Art „Veräußerungs-
                                                         verbot“ umgewandelt: Das Vermögen der Betrof-
Mehr als 100 Journalistinnen und Journalisten,
                                                         fenen darf nicht auf Dritte übergehen. Doch alle,
unter ihnen auch bekannte Gesichter wie Ahmet

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die per Haftbefehl gesucht werden und geflüch-           Menschenrechtsverstöße öffentlich werden.
tet sind, sind davon ausgenommen. Ihr Vermögen          Stattdessen muss davon ausgegangen werden,
gilt als beschlagnahmt.                                 dass in den regierungsnahen Medien oft frei
                                                        erfundene Nachrichten publiziert werden oder

Vernichtung von Archiven und Büchern                    Hetze betrieben wird. Wenn Regierungen auch
                                                        die Justiz kontrollieren, dann bleiben nur noch
Archive sind für Medien ein sehr wichtiges Gut.         Medien, die sie zur Rechenschaft ziehen könnten.
Doch alle elektronischen Archive der Medien-            In der Türkei ist dies insbesondere nach dem
unternehmen wurden nach ihrer Übernahme                 Putschversuch praktisch unmöglich geworden.
durch Zwangsverwaltungen gelöscht oder unter
Verschluss genommen und sind nicht mehr zu-
gänglich. So haben die Zwangsverwalter als erste
Handlung die Internetseiten der Zeitungen „Bu-
gün“ und „Zaman“ gesperrt. Nachdem sie wieder
online waren, wurde klar, dass die Archive ge-
löscht waren. Ähnlich war es auch bei der Nach-
richtenagentur Cihan Haber Ajansı, Irmak TV und
Cihan Radyo. Das gesamte Archiv der Nachrich-
tenagentur Cihan Haber Ajansi wurde vernichtet.

Die Buchhandelskette „NT“ mit ihren rund 100
Filialen, die zur zwangsverwalteten Kaynak Hol-
ding gehörte, und viele Verlagshäuser mussten
auf Anordnung große Mengen von Büchern ver-
nichten, darunter auch Schulbücher. Denn viele
von ihnen sollen angeblich sog. „FETÖ-Propa-
ganda“ enthalten haben. So wurden 892.000
Bücher vernichtet, weil der US-Bundesstaat
Pennsylvania darin vorkommt. Dort lebt auch der
Prediger Fethullah Gülen, den die türkische
Regierung und Präsident Erdoğan als Drahtzieher
hinter dem Putschversuch von 2016 sieht.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der
Putschversuch von 2016 der türkischen Regie-
rung die Möglichkeit gab, die Medien vollständig
unter Kontrolle zu bringen. 179 kurdische und der
Gülen-Bewegung nahe Medien wurden während
des Ausnahmezustandes per Dekret geschlossen.
Diese Maßnahmen dienten dazu, der Bevölkerung
jeden Zugang zu einer unabhängigen kritischen
Berichterstattung zu nehmen. Vor allem wird da-
durch verhindert, dass Korruptionsfälle und Vet-
ternwirtschaft innerhalb der Regierung sowie

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2. Meinungsfreiheit

Internationale Regelwerke                                andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu
                                                            empfangen und weiterzugeben.
Die Meinungsfreiheit ist in der UN-Menschen-
rechtscharta fest verankert. Die Türkei hat am           3. Die Ausübung der in Absatz 2 vorgesehenen
6. April 1949 ihre Unterschrift daruntergesetzt.            Rechte ist mit besonderen Pflichten und einer
Am 15. August 2000 hat das Land zudem den                   besonderen Verantwortung verbunden. Sie
Internationalen Pakt über bürgerliche und politi-           kann daher bestimmten, gesetzlich vorgese-
sche Rechte ICCPR (Zivilpakt) unterzeichnet. Auch           henen Einschränkungen unterworfen werden,
die Europäische Menschenrechtskonvention                    die erforderlich sind.
(EMRK) gilt in der Türkei. Die türkische Regierung
                                                         Am 21. Juli 2016 hat die türkische Regierung dem
ist deswegen verpflichtet, europäisches und in-
                                                         Europarat mitgeteilt, einige Verpflichtungen
ternationales Recht zu respektieren und die Mei-
                                                         außer Kraft zu setzen. Zur selben Zeit benachrich-
nungsfreiheit zu schützen. Wichtig dafür sind
                                                         tigte Ankara auch die Vereinten Nationen, die
insbesondere:
                                                         Rechte in Artikel 2 und 3 sowie die Artikel 9, 10,
                                                         12, 13, 14, 17, 19, 20, 21, 22, 25 und 26 des ICCPR
Artikel 10 Abs. 1 der EMRK                               auszusetzen.

Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungs-               Zwar können bestimmte Rechte im Zivilpakt und
äußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der         der Europäischen Menschenrechtskonvention
Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur             außer Kraft gesetzt werden, aber nicht alle. Man-
Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Ein-          che Rechte dürfen unter gar keinen Umständen
griffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht            ausgesetzt werden. Mit der Außerkraftsetzung
auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt           von Rechten darf niemand diskriminiert werden.
nicht aus, dass die Staaten Rundfunk, Lichtspiel-        Ziel muss bei solchen Maßnahmen sein, dass die
oder Fernsehunternehmen einem Genehmi-                   Menschenrechte gewahrt bleiben.
gungsverfahren unterwerfen.
                                                         Die Meinungsfreiheit darf auch in Ausnahmezu-
                                                         ständen nicht eingeschränkt werden. Andere
Artikel 19 des ICCPR                                     Rechte im Zivilpakt dürfen nur dann und auch nur
1. Jedermann hat das Recht auf unbehinderte              vorübergehend eingeschränkt werden, so eine
   Meinungsfreiheit.                                     Entscheidung des Menschenrechtsausschusses
                                                         der UN.
2. Jedermann hat das Recht auf freie Meinungs-
   äußerung; dieses Recht schließt die Freiheit
   ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Infor-
   mationen und Gedankengut jeder Art in Wort,
   Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder

                                                     7
Die Meinungsfreiheit in der                              Einschränkungen der Meinungsfreiheit
türkischen Verfassung                                    durch türkische Gesetze

Auch in der türkischen Verfassung ist die Mei-           Die Türkei ist das Land, dass wegen der Einschrän-
nungsfreiheit geschützt. Dort heißt es in                kung der Meinungsfreiheit vom Europäischen Ge-
                                                         richtshof für Menschenrechte (EuGH) am häufigs-

Artikel 25                                               ten verurteilt wurde. Nach Informationen des
                                                         EuGH wurde in 40 Fällen gegen Artikel 10 des
Jedermann genießt Meinungs- und Überzeu-                 Zivilpaktes (ICCPR) verstoßen und die Meinungs-
gungsfreiheit.                                           freiheit somit verletzt.
Niemand darf, aus welchem Grund und zu wel-              Bei den Fällen von Verstößen gegen die Mei-
chem Zweck auch immer, zur Äußerung von                  nungs- und Pressefreiheit, die bisher vom EuGH
Meinungen und Überzeugungen gezwungen                    untersucht wurden, wird deutlich, dass das türki-
werden; niemand darf wegen seiner Meinungen              sche Strafrecht (Türk Ceza Kanunu TCK) sowie die
und Überzeugungen gerügt oder einem Schuld-              Antiterrorgesetze (Terörle Mücadele Kanunu TMK)
vorwurf ausgesetzt werden.                               dafür verantwortlich sind. Vor allem diese Geset-
                                                         ze werden dafür genutzt, die Meinungsfreiheit zu
Artikel 26                                               unterdrücken. Sie stehen damit im Widerspruch
                                                         zur türkischen Verfassung, der Europäischen Men-
Jedermann hat das Recht, seine Meinungen und
                                                         schenrechtskonvention und dem Zivilpakt.
Überzeugungen in Wort, Schrift, Bild oder auf
anderem Wege allein oder gemeinschaftlich zu
äußern und zu verbreiten. Diese Freiheit umfasst         Das Antiterrorgesetz Nr. 3713
auch die Freiheit des Empfangs oder der Abgabe           Das Antiterrorgesetz Nr. 3713 verbietet die „Mit-
von Nachrichten und Ideen ohne Eingriff öffent-            gliedschaft in einer Terrororganisation“ und
licher Behörden. Der Vorschrift dieses Absatzes          „Terrorpropanda“. Im Falle einer Verurteilung
steht nicht entgegen, Veröffentlichungen durch            droht eine Haftstrafe von ein bis fünf Jahren. Wer
Radio, Fernsehen, Kino oder auf ähnlichem Wege           aber diese Straftatbestände mit Hilfe der Medien
einem Genehmigungssystem zu unterwerfen.                 erfüllt, dem drohen zusätzlich noch einmal halb
                                                         soviel Jahre Haft als zusätzliche Strafe. Medien-
Artikel 28                                               schaffende können bei einer Verurteilung zu fünf
                                                         Jahren Gefängnis nochmals zusätzlich mit 2,5
Die Presse ist frei, Zensur findet nicht statt. Die
                                                         Jahren Haft bestraft werden.
Gründung einer Druckerei darf nicht an die Be-
dingung einer Genehmigung oder der Leistung              Zudem ist nicht klar definiert, was mit „Mitglied-
einer finanziellen Sicherheit gebunden werden.            schaft in einer Terrororganisation“ oder „Terror-
                                                         propaganda“ gemeint ist. Das Gesetz lässt offen,
                                                         welche Taten als terroristisch gelten.
Artikel 30

Die dem Gesetz gemäß als Pressebetrieb gegrün-
deten Druckereien und ihre Nebenanlagen dür-
fen nicht mit der Begründung, sie seien Tatwerk-
zeug, beschlagnahmt und eingezogen oder aus
dem Verkehr gezogen werden.

                                                     8
Vorschriften aus dem türkischen                            zur türkischen Verfassung und zum Zivilpakt und
Strafgesetzbuch                                            schränkt die Meinungsfreiheit erheblich ein. So
                                                           mussten sich Künstler*innen, Medienschaffende,
In Paragraph 301 des türkischen Strafgesetzbu-
                                                           Karikaturist*innen, Studierende, Gewerkschafter*
ches TCK wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs
                                                           innen, Bürgerinnen und Bürger und sogar Minder-
Monaten bis fünf Jahren bestraft, wer die türki-
                                                           jährige wegen des Teilens von Beiträgen in den
sche Nation, den Staat und die Institutionen und
                                                           sozialen Medien vor Gericht verantworten. Allein
Organe des Staates beleidigt.
                                                           2017 wurden aufgrund dieses Paragraphen 20.593
Aufgrund dieses Gesetzes erhielten Hunderte                Untersuchungen eingeleitet. 2.099 Personen wur-
Intellektuelle Gefängnisstrafen. Auch der ermor-           den verurteilt. Nach dem Korruptionsskandal im
dete Journalist Hrant Dink wurde wegen „Beleidi-           Dezember 2013 wurden wegen Beleidigens von
gung des Türkentums“ verurteilt und 2007 von               Erdoğan rund 13.000 Verfahren eingeleitet.
radikal-nationalistischen Türken ermordet.

Der UN-Menschenrechtsrat hat bei seinem regel-             Verbote im Internet
mäßigen Prüfverfahren (Universal Periodic Review
                                                           Die erste große Maßnahme gegen die Meinungs-
– UPR) der Türkei empfohlen, diesen Paragraphen
                                                           freiheit im Internet unternahm die türkische Re-
zu ändern oder abzuschaffen. Bislang ist die Türkei
                                                           gierung 2007. Damals wurde der Zugang zur
dem nicht nachgekommen.
                                                           Videoplattform Youtube in der Türkei unterbun-
Laut Paragraph 216 des TCK wird mit einer Frei-            den. Anschließend wurde im Schnellverfahren
heitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft, wer das       das Kommunikationsministerium gegründet und
Volk zu Hass und Feindschaft verleitet. Auch die-          es wurden Gesetze erlassen, die Kinder vor den
ser Paragraph dient als Grundlage zur Beschnei-            Gefahren im Internet schützen sollen. Mit dieser
dung der Meinungsfreiheit. So wurde der Pianist            Begründung bekam die türkische Regierung die
Fazıl Say 2011 zu zehn Monaten Haft verurteilt.            Möglichkeit, Zugänge zu ausgewählten Internet-
                                                           seiten zu verhindern. Später wurde das Gesetz
Die Straftatbestände „Mitgliedschaft in einer Ter-
                                                           5651 erlassen, das mit der Zeit ausgedehnt wur-
rororganisation“ und „Terrorpropanda“ definiert
                                                           de. Mit dem Gesetz bekam das Telekommunika-
das TCK nur vage. Deshalb sind sie ein Hindernis
                                                           tionsministerium freie Hand. Zudem schützt das
für die Meinungsfreiheit. Viele Journalist*innen
                                                           Gesetz die Mitarbeiter*innen des Ministeriums,
und Wissenschaftler*innen sitzen wegen „Mit-
                                                           falls sie Fehler machen. Auch der Zugang zu den
gliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisati-
                                                           im Ausland agierenden oppositionellen Seiten
on (§314 TCK) und wegen „Mitgliedschaft in einer
                                                           wird unterbunden. Die türkische Regierung greift
Terrororganisation und in deren Namen Straftaten
                                                           immer wieder zu solchen Maßnahmen und sperrt
begehen“ (§ 220 TCK Abs. 6) im Gefängnis.
                                                           bestimmte Plattformen im Internet.
Schon 2004 wurde Paragraph 299 ins TCK auf-
                                                           Im März 2015 wurde das Gesetz um den Para-
genommen. Er droht allen, die den Präsidenten
                                                           graph 8 A erweitert. Seither ist es dem Telekom-
beleidigen, eine Haftstrafe von ein bis vier Jahren
                                                           munikationsministerium möglich, ohne Gerichts-
an. Wer diesen Straftatbestand mit Hilfe der
                                                           beschluss den Zugang zu Internetseiten zu sper-
Medien erfüllt, kann sogar zu einer Freiheitsstrafe
                                                           ren. 2015 wurde der Zugang zu 110.000 Inter-
von bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Mit die-
                                                           seiten gesperrt. 2016 lag die Zahl der verbotenen
sem Paragraphen wird jede Kritik an Präsident
                                                           Internetseiten bei 213.398.
Erdoğan zu einer Straftat. Er steht im Widerspruch

                                                       9
Am 29. April 2017 wurde das Internetlexikon                Schlussfolgernd kann festgehalten werden, dass
Wikipedia komplett gesperrt. Wikipedia hatte               die AKP unter Erdoğan mit dem Putschversuch
sich geweigert, einen Artikel zu löschen, in dem es        und dem Verfassungsreferendum ihre Macht
um die Unterstützung der türkischen Regierung              vollständig ausgebaut hat. Damit ist der mächtige
für Terrorgruppen in Syrien geht.                          Mann in Ankara praktisch uneingeschränkter
                                                           Herrscher in dem Land. Urteile gegen Journalis-
Mit dem Gesetz 5651 wurden nach 2014 Face-
                                                           ten sowie Oppositionelle gibt es auf Bestellung.
book, Twitter und Youtube für zwei Jahre gesperrt.
                                                           Zuletzt hatten die AKP und ihr ultranationalisti-
Das Verfassungsgericht hob die entsprechenden
                                                           scher Oppositionspartner MHP ein neues Straf-
Urteile und Verbote später wieder auf, zog sich
                                                           vollzugsgesetz verabschiedet. 90.000 Gefangene
so jedoch den Zorn der türkischen Regierung zu.
                                                           wurden damit entlassen. Politische Häftlinge hin-
Erdoğan nannte das Twitter-Urteil „gayrımilli“,
                                                           gegen konnten von der Amnestie nicht profitie-
nicht national.
                                                           ren. Der ehemalige Co-Vorsitzende der prokurdi-
Die sog. Friedens-Strafgerichte (Sulh Ceza Hakim-          schen linken HDP, Selahattin Demirtaş, sein Par-
likleri), die mit umfangreichen Kompetenzen aus-           teifreund und von der Regierung abgesetzter Bür-
gestattet im Juni 2014 ins Leben gerufen wurden,           germeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, der
sperrten 20.000 URL. Diese Sondergerichte ord-             Menschenrechtler Osman Kavala oder Journalis-
neten in 60 Urteilen jeweils eine Sperrung der             ten wie Mehmet Baransu müssen weiterhin hinter
Internetseite der Zeitung „Cumhuriyet“ an. Bei             Gittern bleiben und sind dem Coronavirus damit
den Zeitungen „Sözcü“ waren es 36, bei „Radikal“           schutzlos ausgeliefert. Der Putschversuch von
28, bei „Zaman“ 24 und bei der Nachrichtenseite            2016 kostete rund 250 Zivilisten das Leben. Seit-
„T24“ rund 40 Urteile.                                     her hat es 511.000 Festnahmen gegeben. Die
                                                           Meinungsfreiheit wird seit dem gescheiterten
Verfassungsreform 2017 bringt noch mehr                    Putschversuch 2016 massiv unterdrückt. 191
Einschränkungen                                            Journalistinnen und Journalisten sitzen in Haft,
                                                           weil die Regierung sie in Verbindung mit dem
Die Verfassungsreform von 2017 gab Präsident               Umsturzversuch bringt, 167 Medienschaffende,
Erdoğan umfangreiche Kompetenzen und ver-                  gegen die Haftbefehle erlassen worden waren,
setzte der Meinungsfreiheit einen weiteren Hieb.           konnten sich ins Ausland absetzen. Zudem wur-
Das Staatsoberhaupt hatte damit die Kontrolle              den 34 ausländische Journalistinnen und Journa-
sowohl über die Exekutive als auch über die                listen des Landes verwiesen.
Judikative erlangt. Die Venedig-Kommission des
Europarates hatte im Vorfeld des Verfassungsre-
ferendums ihre Bedenken erklärt. Die Verfas-
sungsänderung sei ein Rückschritt, hatten die
Experten gewarnt. Im April stimmten 51,4 Prozent
der Bevölkerung der Türkei für die umstrittene
Verfassungsänderung. Erdoğan konnte dadurch
den „Rat der Richter und Staatsanwälte“ (Hakim-
ler ve Savcılar Kurulu) mit seinen eigenen Leuten
besetzen, die etwa über Richter entscheiden.
Anschließend entschieden die Richter in Sachen
Meinungsfreiheit im Einklang mit der Regierung.

                                                      10
Forderungen und
Handlungsempfehlungen

Die türkische Regierung muss alle Beschrän-            Die Ermittlungen gegen die „Wissenschaftler
kungen der Meinungs- und Pressefreiheit zu-            für den Frieden“ (Barış İçin Akademisyenler)
rücknehmen. Alle internationalen Standards             wegen ihres Aufrufs zum Frieden und ihre Fest-
müssen eingehalten werden. Damit die Mei-              nahmen müssen beendet werden. Entlassene
nungs- und Pressefreiheit garantiert wird,             Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
bedarf es unabhängiger Institutionen.                  müssen wieder zurück an ihre Arbeitsplätze.

Das türkische Strafgesetzbuch und die türki-           Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die
schen Antiterrorgesetze dürfen nicht mehr zur          unabhängige Medien unterstützen. Die Sper-
Unterdrückung der Meinungsfreiheit miss-               rungen der Internetseiten von Journalistinnen
braucht werden. Die Kriminalisierung von Bür-          und Journalisten sowie Aktivist*innen müssen
gerinnen und Bürgern aufgrund von kritischer           aufgehoben werden. Beschlagnahmte Medien-
Berichterstattung oder friedlicher Meinungs-           häuser und ihre Ausstattungen müssen unver-
äußerung muss umgehend eingestellt werden.             züglich zurückgegeben werden. Staatliche Me-
                                                       dien müssen unabhängig berichten.
Journalist*innen müssen wieder die Sicher-
heit haben, dass sie wegen Gesagtem und                Um die Meinungsfreiheit auch im Internet zu
Geschriebenem nicht mehr aufgrund der Ter-             gewährleisten, muss das Gesetz 5651 geän-
rorgesetze belangt werden. Anklagen gegen              dert werden. Sperrungen müssen nur noch
Medienschaffende, Wissenschaftler*innen,                durch Gerichte möglich sein. Sperrungen von
Aktivist*innen, Mitarbeiter*innen von NGOs             Internetseiten mit unendlicher Dauer müssen
und Oppositionspolitiker und -politikerinnen           aufgehoben werden.
müssen fallen gelassen werden.
                                                       Die Diskussion über die Anerkennung der
Sog. Beleidigungsparagraphen müssen über-              nationalen Rechte der Angehörigen der kurdi-
dacht werden und dürfen nicht gegen die                schen Volksgruppe und anderer ethnischer
Presse- und Meinungsfreiheit genutzt werden.           und religiöser Gemeinschaften wie der assy-
Der Paragraph 299 des türkischen Strafgesetz-          rischen/aramäischen, armenischen, christli-
buches, der für die Beleidigung des Präsiden-          chen, alevitischen und yezidischen Volksgrup-
ten (Majestätsbeleidigung) eine Haftstrafe von         pe in den Print- und digitalen Medien sowie
bis zu fünf Jahren vorsieht, muss komplett auf-        auch anderweitig darf nicht als „Terrorpropa-
gehoben werden. Auch der Paragraph 125 des             ganda“ eingestuft werden. Medienschaffende,
türkischen Strafgesetzbuches muss aufgeho-             Politiker*innen und andere Personen müssen
ben werden, der für die Beleidigung eine               das Recht haben, sich frei und ohne Angst zu
Haftstrafe von mindestens ein Jahr vorsieht.           der Politik des Landes äußern können.

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Fußnoten

 UN-Angaben zitiert in der Zeitung „Die Welt“, 10.03. 2017.
   https://www.welt.de/newsticker/news1/article162758395/UNO-wirft-Tuerkei-schwere-
   Menschenrechtsverletzungen-in-den-Kurdengebieten-vor.html

 https://www.nzz.ch/international/europa/erdogan-beendet-friedensprozesses-mit-kurden-
   1.18586888, 28.07.2015.

   https://www.fr.de/kultur/erdogans-handeln-purer-wahnsinn-11630369.html, 28.10.15.

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                       Gesellschaft für bedrohte Völker e.V. (GfbV)
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Die GfbV ist eine Menschenrechtsorganisation für verfolgte ethnische und
religiöse Minderheiten; NGO mit beratendem Status bei den Vereinten Natio-
nen und mit mitwirkendem Status beim Europarat. Sektionen, Büros und
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Südtirol/Italien, Kurdistan/Irak, der Schweiz und den USA.

Autoren:           Erkan Pehlivan, Journalist (Frankfurt am Main)
                   Dr. Kamal Sido, Nahostreferent der GfbV
Redaktion:         Inse Geismar, Referentin für Publikationen und
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Layout:            Tanja Wieczorek
Titelbild:         Caroline Siems, GfbV

                                      Memorandum 04/2020
       Herausgegeben von der Gesellschaft für bedrohte Völker
                                                im April 2020
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