Klimaerwärmung und Gerechtig-keitskälte? - Überlegungen zu einem mentalen Klimawandel

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Beat Dietschy

      Klimaerwärmung und Gerechtig-
      keitskälte?
      Überlegungen zu einem mentalen Klimawandel

                    «Die Wahrnehmung der Opfer und derjenigen, die –
                    wie entfernt auch immer – die Täter sind, neigen dazu,
                    unterschiedlich zu sein.» (Judith N. Shklar)
      Gebirgsgletscher und Polkappen schmelzen. Wüsten und Steppen
      breiten sich aus. Ökologisch bedeutende Feuchtgebiete verschwin-
      den. Der Klimawandel ist jedoch nicht einfach ein «Umweltprob-
      lem». Er wirft Fragen der Gerechtigkeit auf, die nicht leicht zu be-
      antworten sind.
         Rund 220 Millionen Menschen, die vor allem in Entwicklungs-
      ländern in Küstennähe leben, sind vom klimabedingten Ansteigen
      des Meeresspiegels sowie von Zyklonen akut bedroht. Regionen,
      deren Emission von Treibhausgasen geringfügig ist, sind also am
      direktesten und härtesten betroffen. Umgekehrt aber werden aller
      Voraussicht nach jene Länder, die mit ihrer auf fossilen Energieträ-
      gern beruhenden Wirtschaftsweise am meisten zur Erderwärmung
      beigetragen haben, am wenigsten darunter zu leiden haben. Indus-
      trienationen und Schwellenländer wie China sind zudem auf Grund
      ihrer technologischen Ausstattung und ihres wirtschaftlichen Po-
      tenzials imstande, sich vor den schlimmsten Folgen ihres eigenen
      Tuns zu schützen.
         Ganz anders sieht die Lage in den Armutsregionen der Welt aus.
      Häufigere Dürreperioden, Überschwemmungen, Versalzung und
      Erosion von Böden werden die Landwirtschaft stark beeinträchti-
      gen. In manchen afrikanischen Ländern ist mit grossen Ernteein-
      bussen und einer sich weiter zuspitzenden Ernährungskrise zu
      rechnen. Zusammen mit den steigenden Temperaturen begünsti-
      gen Armut, Trinkwassermangel und Ernährungsprobleme die Aus-
      breitung übertragbarer Krankheiten. Zu den indirekten Auswir-
      kungen des Klimawandels gehören aber auch gewaltsame
      Auseinandersetzungen, die aus der Wechselwirkung von Umwelt-
      veränderungen, Bevölkerungswachstum und dem Kampf um
      knappe Ressourcen oder politische Macht resultieren. Eine zusätz-
      liche Destabilisierung ohnehin schwacher Staaten ist die Folge. Ha-

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rald Welzer entwirft in seinem Buch Klimakriege ein düsteres Sze-
nario: etwa zwei Milliarden Menschen leben in Staaten, die als
gefährdet, scheiternd oder bereits gescheitert betrachtet werden
müssten. Das mag überzeichnet sein. Sicher nicht falsch jedoch ist
sein Fazit, der Klimawandel werde «die Macht-, Wohlstands- und
Sicherheitsgefälle zwischen den Ländern der ersten und der dritten
Welt und der Schwellenländer weiter verstärken und für dauer-
hafte Dissonanzen im globalen Gerechtigkeitsgefüge sorgen».

Gerechtigkeit neu denken
Die Klimaveränderungen verändern die Antworten, die wir auf
Gerechtigkeitsfragen zu geben gewohnt sind. Zumindest spitzen sie
die Zielkonflikte zu, denen staatspolitisches Handeln sich heute na-
tional und international zu stellen hat. Wie verhalten sich, wenn
der Klimawandel globale Ungleichheiten verstärkt, Klimaschutz
und Armutsbekämpfung? Was hat Vorrang: die ökologische Her-
ausforderung oder das Recht auf Entwicklung der ärmeren Länder?
   Der Ansatz der Greenhouse Development Rights (GDR), der
im Blick auf ein neues Klimaabkommen entwickelt wurde, sucht
darauf eine Antwort. Er baut auf dem Grundsatz einer «gemein-
samen, aber differenzierten Verantwortung» der Staaten auf, wie
er am Umweltgipfel von Rio 1992 formuliert worden ist. Er ver-
langt, dass in dem im Dezember in Kopenhagen zu verhandeln-
den Abkommen für die Armen «Entwicklungsrechte im globalen
Treibhaus» vorzusehen sind, indem neben der CO2-Bilanz auch
der Anteil der Einkommen eines Landes über 7500 Dollar be-
rücksichtigt wird. Damit soll bei den Massnahmen zur Begren-
zung des Klimawandels wie auch bei jenen zur Anpassung an die
Veränderungen eine faire Lastenteilung zwischen Industrie-,
Schwellen- und Entwicklungsländern erreicht werden. Der GDR-
Ansatz kombiniert mit einem «Verantwortlichkeits- und Fähig-
keitsindex» das Verursacherprinzip (die Menge der Emission von
CO2-Äquivalenten) und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
eines Landes.
   Gleichwohl bleibt es schwierig zu bestimmen, welches Gerech-
tigkeitskonzept der Problemlage angemessen ist. Gerade die De-
batte um die Verteilung künftiger CO2-Emissionsrechte im Vorfeld
von Kopenhagen zeigt dies: während die einen auf Gewohnheits-
recht – Erhaltung von bereits bestehenden Nutzungsrechten – re-
kurrieren, bringen andere die historische Schuld der Industrielän-
der ins Spiel, wieder andere das Konzept künftig gleicher
Pro-Kopf-Emissionsrechte. Entwicklungspolitische Organisationen

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argumentieren mit der Verletzbarkeit armer Länder – 97 Prozent
      der von Umweltkatastrophen Betroffenen sind Arme – sowie ih-
      rem Recht auf Entwicklung.
         Nur schon aus Gründen der politischen Durchsetzbarkeit eines
      griffigen Post-Kyoto-Abkommens ist klar, dass die Industriestaaten
      legitime Interessen der Entwicklungsländer zu respektieren haben.
      Das heisst zunächst, dass Gesichtspunkte der Bedarfs-, der Chan-
      cen- und der Verfahrensgerechtigkeit zu beachten sind. Bedarfsge-
      rechtigkeit meint, dass alle klimapolitischen Entscheide daran zu
      messen sind, ob sie den Grundbedürfnissen der Menschen Rech-
      nung tragen. Referenzpunkte dafür sind die Menschenrechte, ins-
      besondere das Recht auf Nahrung, das Recht auf Gesundheit und
      auf eine intakte Umwelt. Zur Chancengerechtigkeit gehört, dass
      auch die wirtschaftlich Schwächeren am Klimaschutz partizipieren
      können, ohne dies mit noch grösserer Armut zu bezahlen, zur Ver-
      fahrensgerechtigkeit, dass sie an den Verhandlungen und Entschei-
      den ohne Diskriminierung beteiligt sind.

      Unterschiedliche Gesichtspunkte
      Die ethische Diskussion der Klimafrage bringt allerdings sehr ver-
      schiedenartige Gesichtspunkte ins Spiel: ökologische, soziale, Ge-
      schlechter- und intergenerationelle Gerechtigkeit. Allein schon
      «ökologische Gerechtigkeit» wird auf unterschiedlichste Weise
      verstanden. Anthropozentrische Auffassungen dominieren in der
      Regel und beziehen sich meist auf die gerechte soziale Verteilung
      von Umweltkosten oder -gütern und die Beteiligung an umweltpo-
      litischen Entscheiden. In diesem Sinn geht das Konzept auf die
      amerikanische Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung der 80er Jahre
      zurück und artikuliert das Recht auf eine intakte Umwelt. Relevant
      ist der Begriff aber auch im Rahmen der Diskussion um das Ge-
      meinwohl und «globale öffentliche Güter» wie Klimastabilität,
      Gesundheit oder Frieden.
          Es gibt daneben biozentrische Positionen, welche auf dem Ei-
      genrecht der aussermenschlichen Natur aufbauen. Hans Jonas hat
      diesem Gedanken eine gewisse Berechtigung nicht absprechen wol-
      len, als er in seinem Prinzip Verantwortung den neuen Tatbestand
      der «Verletzlichkeit der Natur durch die technische Intervention
      des Menschen» reflektierte: «ein stummer Appell um Schonung
      ihrer Integrität scheint von der bedrohten Fülle der Lebenswelt
      auszugehen». Weiter in diese Richtung drang Michel Serres mit
      seinem Plädoyer für einen Naturvertrag vor, der über einen blossen
      Gesellschaftsvertrag hinausgehen und ein wechselseitiges Verhält-

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nis der Symbiose zwischen dem Menschen und einer bislang recht-
losen Natur begründen soll.

Die Weiterentwicklung der Menschenrechte in das Gebiet von Na-
tur-Rechten hinein ist umstritten. Auch wenn es Sinn macht, eine
Naturethik als kritische Grenze des menschlichen Nutzenkalküls
zu postulieren, so darf doch darüber die soziale Gerechtigkeits-
frage, die der Klimawandel aufwirft, nicht in Vergessenheit gera-
ten. Die Hauptverursacher der Klimaveränderungen haben ein In-
teresse daran, diese aus gesellschaftlichen Zusammenhängen her-
auszulösen und als reines Umweltproblem zu behandeln.
   Wie Judith Shklar gezeigt hat, besteht einer der Tricks, Verant-
wortlichkeit zu vermeiden, darin, Ungerechtigkeit in Unglück zu
naturalisieren. Eben deshalb bestand die amerikanische Philoso-
phin darauf, dass die spezifische Perspektive der Betroffenen zur
Geltung kommt. Wie wichtig das ist, zeigt sich an der Geschlech-
terblindheit der Klimadiskussion. Genderfragen werden weitge-
hend ausgeblendet, obwohl die Erfahrungen von Frauen und Män-
nern mit klimabedingten Veränderungen sehr divergieren. Als
1991 in Bangladesh ein Zyklon 140 000 Opfer forderte, waren 90
Prozent davon Frauen. Sie sind auch von den Auswirkungen des
Klimawandels auf Ernährung und Gesundheit generell viel stärker
betroffen als Männer. Verletzlichkeit ist keine Naturgegebenheit,
sondern das Ergebnis gesellschaftlich produzierter Machtungleich-
heiten. Sie sind auch die Ursache für die krasse Untervertretung
von Frauen in den bisherigen Klimaverhandlungen.

Da die heute konstatierbaren klimatischen Veränderungen auf Emis-
sionen vergangener Jahrzehnte zurückgehen, stellen sich schliess-
lich schwierige Fragen der intergenerationellen Gerechtigkeit. Wie-
derum droht eine eingebaute Verantwortungslosigkeit, da man die
jetzt Lebenden nicht für das Handeln ihrer Vorväter zuständig ma-
chen kann, zumal diese die Folgen ihres Handelns nach damaligem
Wissensstand kaum vorhersehen konnten. Werden wir jetzt Leben-
den die Folgen unseres Handelns für die nach uns kommenden
Generationen wirklich abschätzen können? Das Problem ver-
schärft sich noch dadurch, dass es in erheblichem Masse um Ent-
scheidungen kollektiver Akteure aus Politik und Wirtschaft geht,
die an ihrem Gegenwartshandeln gemessen werden.
   Aus ethischer Sicht allerdings ist klar, dass die heute Lebenden
kein Recht haben, die voraussehbaren Folgen ihres Handelns zu
ignorieren und so die Lebenschancen künftiger Generationen zu

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gefährden. Hans Jonas hat dies als einer der ersten erkannt und hat
      im Blick auf die Risiken der technologischen Zivilisation den kate-
      gorischen Imperativ Kants um eine Zeit- und Wirkungsdimension
      erweitert: «Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung ver-
      träglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf
      Erden».

      Für die ethische Reflexion von Klimafolgen sind die Fernwirkungen
      in Zeit und Raum ein zentrales Problem: der Verbrauch fossiler
      Energiequellen in industrialisierten Ländern des Nordens hat zeit-
      verschobene Auswirkungen auf die Bodenfruchtbarkeit und Nie-
      derschlagsmengen und so auf die Ernährungssicherung in andern
      Weltregionen. Dies wird je nach Standort verschieden beurteilt. So
      argumentieren Angehörige der nördlichen Hemisphäre häufig im
      Sinne einer Verteilungsgerechtigkeit mit Gesichtspunkten des Pro-
      kopfverbrauchs von Umwelt: «Es ist kein moralischer Grund an-
      zugeben, warum irgendein Erdenbürger ein grösseres Recht auf die
      Nutzung der Atmosphäre als eines globalen Gemeinschaftsguts be-
      anspruchen könnte». Daraus folgt allerdings, dass es so etwas wie
      ein Recht auf Umweltzerstörung gäbe. Kann Gerechtigkeit darin
      bestehen, «jedem dieselbe Möglichkeit zu eröffnen, die Grundla-
      gen des langfristigen Überlebens der Menschen abzuschaffen» (M.
      Welzer)?
         In jedem Fall übersteigt seit Mitte der achtziger Jahre der globale
      ökologische Fussabdruck die weltweite Biokapazität. Zu Recht
      halten die deutschen Bischöfe fest: «Wir leben und wirtschaften
      mit einer gewaltigen Hypothek auf die Zukunft». Doch wer ist
      «Wir»? Reicht es, von einer faktischen Zwangssolidargemeinschaft
      der Menschheit auszugehen, die gemeinsam für den angerichteten
      Schaden haftet und Abhilfe zu schaffen hat? Wie steht es mit der
      Verantwortung für die akkumulierte Kohlenstoff-Schuld, auf wel-
      cher der Wohlstand der Industriestaaten basiert? Diese Fragen wer-
      den von jenen gestellt, welche bereits heute die Hauptlast der Hy-
      pothek des westlichen Entwicklungsmodells zu tragen haben.

      Ökologische Schuld und transformative Gerechtigkeit
      Die Klimaerwärmung ist unzweifelhaft ein Ergebnis des unstillba-
      ren Hungers nach fossiler Energie in den Ländern, welche als erste
      den Weg der Industrialisierung eingeschlagen haben. Wenn zahl-
      reiche Länder in ökologisch verletzlichen und Armutsregionen zur
      Beute des Klimawandels werden, so wird deutlich: Die Karbon-
      schuld des Nordens wird mit Hunger, Durst und Tod in Ländern

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des Süden bezahlt. Darauf verweisen Netzwerke, Kirchen und in-
digene Organisationen der Südhemisphäre. Dem finanzwirtschaft-
lichen Schuldenregime der Bretton Woods Institutionen begegnen
sie mit dem Konzept einer ökologischen, sozialen und historischen
Schuld der Industrieländer.
   Dieses Konzept umfasst mehr als den dramatisch zunehmenden
Raubbau an den Ökosystemen der Erde. Es schliesst auch das
menschliche Leiden ein, das durch koloniale und postkoloniale
Ausplünderung, das wirtschaftliche und politische Machtgefälle
den Völkern des Südens zugefügt wurde. Soziale Bewegungen set-
zen sich seit Jahren für eine Anerkennung dieser Schuld und eine
Wiedergutmachung ein. Auch der Ökumenische Rat der Kirchen
hat sich wiederholt dazu geäussert. «Wir anerkennen, dass diese
Länder und diese Menschen die Gläubiger einer riesigen ökolo-
gischen Schuld sind», heisst es im Entwurf einer Erklärung vom
Februar 2008. Damit soll nicht nur ein Erlass der finanziellen
Schuldenlast des Südens begründet werden. Im Kern zielt das Kon-
zept auf eine dauerhafte Wiederherstellung der Geschädigten («res-
torative justice») ab, impliziert also eine transformative Gerechtig-
keit, welche den Ursachen sozialer und Umwelt-Verwüstungen zu
Leibe rückt.

Klimaerwärmung, Finanz- und Wirtschaftskrise konfrontieren die
Menschheit mit den ungewollten Folgen ihres eigenen Handelns.
Die Erkenntnis, dass ein fundamentaler gesellschaftlicher und kul-
tureller Wandel notwendig ist, drängt sich auf. «Der Klimawan-
del», hält Nicolas Stern in seinem Bericht an die britische Regie-
rung fest, «bedroht die Grundelemente des menschlichen Lebens in
der ganzen Welt – Zugang zu Wasser, Lebensmittelproduktion, Ge-
sundheit und die Nutzung von Land und Umwelt». Warum aber
bringt ein in der bisherigen Geschichte beispiellos erfolgreiches Sys-
tem der Reichtumsproduktion zugleich Zerstörungsprozesse her-
vor, die seinen eigenen Fortbestand bedrohen? Offenbar hängt dies
gerade mit seinen Stärken zusammen: eine vom Prinzip der Wert-
vermehrung geleitete Waren- und Dienstleistungsproduktion ver-
langt eine Wachstumsdynamik ohne Grenzen. Sie muss mit der
begrenzten Regenerationsfähigkeit von Mensch und Erde kollidie-
ren. Bereits Karl Marx stellte diesen grundlegenden Widerspruch
fest: «Die kapitalistische Produktion entwickelt … die Technik und
Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem
sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde
und den Arbeiter.»

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Die Wachstumslogik, deren Kehrseite eine Vernichtung von
      «Human- und Naturkapital» ist, hat zur Grundlage ein rationales
      Handeln. Sein Hauptkennzeichen ist rein formal: rational ist,
      Zwecke mit grösstmöglicher Effizienz des Mitteleinsatzes zu ver-
      folgen. Je totaler im Zuge der ökonomischen Globalisierung die
      Marktlogik herrscht, desto mehr werden Effizienzsteigerung, Kos-
      tendruck und Wettbewerbsfähigkeit zu obersten Werten, die über
      die Geltung aller Werte entscheiden. Wenn aber die Vernunft der
      Mittel jede andere verdrängt, ist es rational, konkurrenzfähiger zu
      sein, – selbst wenn als nichtintendierter Seiteneffekt Lebensgrund-
      lagen zerstört werden. Franz Hinkelammert hat die «Irrationalität
      dieser Rationalisierung» auf den Punkt gebracht: «Es gewinnt, wer
      am schnellsten den Ast absägt, auf dem wir sitzen».

      «Reproduktive Rationalität»
      Um Auswege aus der tödlichen Wachstumsfalle zu finden, braucht
      es eine Rationalität, welche die Vernunft der Mittel übersteigt und
      sie in den Dienst der Reproduktion des Lebens stellt. Kriterium ist
      dabei letztlich die Bejahung des Lebens der andern, ohne die das
      eigene nicht möglich wäre. «Reproduktive Rationalität» führt zur
      Option für das konkrete Subjekt, dessen Leben bedroht ist. Sie gibt
      damit aber auch zu erkennen, was in wirtschaftlicher Hinsicht ge-
      recht ist: «den Reichtum auf solche Weise produzieren, dass zu-
      gleich die Springquellen allen Reichtums bewahrt werden» (Hin-
      kelammert). Das reicht über blosse Verteilungsgerechtigkeit hinaus,
      ist auf die Reproduktionsfähigkeit der Erde und der auf ihr arbei-
      tenden Menschen bezogen.
          Es zeigt sich heute, dass die Krise der modernen, auf Techniken
      der Naturberrschung aufbauenden Rationalität mit der Perfektio-
      nierung ihrer eigenen Mittel nicht bewältigt werden kann. Die Kli-
      maerwärmung auf eine technologische Frage zu reduzieren hiesse
      den Kern der Problematik verkennen. Der Klimawandel ruft nach
      einem Kulturwandel, der zur Überwindung der kurzsichtigen, auf
      privater Nutzenmaximierung beruhenden Zweck-Mittel-Rationa-
      lität führt.
          Ältere Formen des Wissens und Handelns können zu dem not-
      wendigen Paradigmenwechsel beitragen. Was als «vormodernes»
      Wissen vermeintlich überholt ist, kann durchaus eine produktive
      Ungleichzeitigkeit enthalten, welche über den engen Horizont der
      gegenwärtig vorherrschenden «pensée unique» hinausweist. Alle
      Kulturen kennen noch einen Fundus von Haltungen und Leitbil-
      dern, die Elemente einer reproduktiven Vernunft enthalten. Der

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Satz «Ich bin, weil du bist» umschreibt im afrikanischen Kontext
ein solches Ethos. Es schliesst auch die natürliche Mitwelt ein, die
Erde, die den Menschen nährt. Für eine andere als die gegen-
wärtig dominierende Kultur sind Mensch und Natur in wechsel-
seitiger Abhängigkeit zu verstehen.
   Es macht auch den Kerngehalt vieler religiöser Traditionen aus,
dass wir uns nicht uns selber verdanken. Dass die «Gabe des Le-
bens» als Fest gefeiert und als Gnade erlebt wird, bildet einen Wi-
derstandspol zur instrumentellen Vernunft. Darin ist auch ein Wis-
sen angelegt, das an Stelle der Konkurrenz eine Option für
Konvivenz begründet. «Durch unser Wissen um die Ganzheit und
Verflochtenheit aller Teile der Schöpfung fühlen wir uns auch mit
allen Menschen solidarisch und eins», formulierte eine ökume-
nische Konsultation zum Schutz der Erdatmosphäre 1991 diesen
Gedanken. Das siegreiche Wissen der europäischen Moderne hat
dieses «andere Wissen» nicht gänzlich entmachten und entwerten
können. Es ist ein Wissen um das unverfügbare Ganze, das gerade
deshalb eine Solidarität begründet, die nicht anthropozentrisch
bleibt. Dorothee Sölle hat dies mit den Worten zum Ausdruck ge-
bracht: «Der Glaube an die gute Schöpfung ist ein Weg, die Erde
mit andern zu teilen».

Ob die Abkehr vom gegenwärtigen Raubbausystem rechtzeitig ge-
lingen wird? Um ein gefährliches Kippen des Klimas zu verhindern,
mit dem bei einer globalen Temperaturerhöhung von über 2 Grad
Celsius zu rechnen ist, sind drastische Umstellungen im Energiever-
brauch erforderlich. Faktisch geht es darum, in den nächsten Jahr-
zehnten den Umstieg von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare
Energien zu vollziehen. Zugleich aber stehen die Industrieländer in
der Pflicht, den ärmeren Ländern in den verletzlichen Weltregionen
bei der Bewältigung der Klimafolgen zur Seite zu stehen. Die Kli-
mapolitik wird zum Testfall werden für Gerechtigkeit im 21. Jahr-
hundert.

Lesehinweise

Brot für alle, «Gerechtigkeit im Klimawandel», EinBlick, H. 1, Bern 2008.
H. Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt am
Main 2008.

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