KLIMAPFADE 2.0 Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft - Gutachten für den - Verband Beratender Ingenieure
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Die Boston Consulting Group (BCG) unterstützt führende Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft in partnerschaftlicher Zusammenarbeit dabei, Heraus- forderungen zu meistern und Chancen zu nutzen. Seit der Gründung 1963 leistet BCG Pionierarbeit im Bereich Unternehmensstrategie. Die Boston Consulting Group hilft Kunden, umfassende Transformationen zu gestal- ten: Die Beratung ermöglicht komplexe Veränderungen, eröffnet Wachstumschancen, schafft Wettbewerbsvor- teile, verbessert die Kunden- und Mitarbeiterzufrieden- heit und bewirkt so dauerhafte Verbesserungen des Geschäftsergebnisses. Nachhaltiger Erfolg erfordert die Kombination aus menschlichen und digitalen Fähigkeiten. Die vielfältigen, internationalen Teams von BCG bringen tiefgreifende Expertise in unterschiedlichen Branchen und Funktionen mit, um Veränderungen anzustoßen. BCG verzahnt führende Management- Beratung mit Expertise in Technologie, Digital und Analytics, neuen Geschäftsmodellen und der über- geordneten Sinnfrage für Unternehmen. Sowohl intern als auch bei Kunden setzt BCG auf Gemeinschaft und schafft dadurch Ergebnisse, die Kunden nach vorne bringen. Gender-Hinweis: Wenn in dieser Studie aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Form (generisches Maskulinum) verwendet wird, sind damit stets wertfrei alle Geschlechter (w/m/d) gemeint.
KLIMAPFADE 2.0 Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft Kernaussagen Mit dem Klimaschutzgesetz 2021 hat die Bundesregie- Naturgemäß bestehen große Unsicherheiten bezüglich rung ihre bisher gesetzlich vereinbarten Klimaschutz- technologischer Fortschritte, Kosten und gesellschaft- ziele noch einmal deutlich verschärft und damit einen licher Akzeptanz für einzelne Klimaschutzmaßnahmen. ehrgeizigen deutschen Beitrag zur Begrenzung der Aus- Die Studie „Klimapfade 2.0“ beschreibt einen aus heu- wirkungen des Klimawandels angekündigt. Die Studie tiger Sicht kosteneffizienten Zielpfad auf Basis einer „Klimapfade 2.0“ legt einen Vorschlag für ein Programm vorrangig nationalen Perspektive.1 Natürlich ist effek- vor, das in allen Sektoren die Erreichung der gesetzlich tiver Klimaschutz eine globale Aufgabe, die sowohl vereinbarten Klimaschutzziele für 2030 (insgesamt langfristig international vergleichbarere Ziele als auch 65 Prozent Emissionssenkung im Vergleich zu 1990) eine stärkere internationale, mindestens gesamteuro- ermöglicht und die wichtigsten Weichen in Richtung päische Steuerung erfordert. Außerdem können zukünf- Treibhausgasneutralität im Jahr 2045 stellt. Gleich- tige technologische Entwicklungen – zum Beispiel zeitig sollen der Erhalt von Deutschlands Wettbewerbs- beeinflusst durch weltweite Investitionsoffensiven in fähigkeit und Industriestruktur sowie eine sozial mög- Technologien wie Wasserstoff –, gesellschaftliche Prä- lichst ausgewogene Kostenverteilung sichergestellt ferenzen oder eine erstrebenswerte stärkere interna- werden. Die Ergebnisse wurden in einem umfang- tionale Abstimmung als bisher vorhanden zu anderen reichen und intensiven „Bottom-up“-Prozess mit der langfristigen Technologiepfaden führen. deutschen Industrie erarbeitet und validiert. Mehr als 150 Experten von BCG, dem Bundesverband der Die Kernergebnisse der Studie „Klimapfade 2.0“ Deutschen Industrie (BDI) sowie aus rund 80 Unter- werden in diesem Dokument zusammengefasst. nehmen und Verbänden waren von März bis September 2021 darin eingebunden. Klimapfade 2.0 1
Klimapfade 2.0 auf einen Blick 1 Deutschland steht vor der größten Trans- formation seiner Nachkriegsgeschichte. Die gesetzlich verankerte Erreichung der Treibhausgasneutralität bis 2045 2 erfordert einen fundamentalen Umbau unseres Energiesystems, unserer inter- Bereits die in diesem Jahrzehnt erforder- nationalen Energieversorgung, unseres lichen Veränderungen sind drastisch. Gebäude- und Fahrzeugbestands, unserer Zur Erreichung der gesetzlich verein- Infrastruktur sowie großer Teile unserer barten Klimaschutzziele 2030 braucht produzierenden Wirtschaft. Deutschland innerhalb der nächsten neun Jahre einen weitgehenden Verzicht auf Reinvestitionen in fossile Tech- nologien – in manchen Sektoren sofort. Zudem muss die Kohleverstromung deutlich schneller zurückgehen als bisher geplant. 3 Die Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen erfordert bis 2030 Mehrinvestitionen in Höhe von rund 860 Mrd. Euro, etwa 100 Mrd. Euro pro Jahr. Das entspricht jährlich knapp 2,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP). 4 Die Erreichung der gesetzlich vereinbarten Klimaschutzziele im Jahr 2030 erfordert beinahe eine Halbierung der Emissionen gegenüber 2019. Die aktuelle Klimapolitik reicht dafür in keinem Sektor aus. Ohne Umsteuerungen würde Deutschland bis 2030 etwa 184 Mt CO2ä an jährlichen Emissionen einsparen – nur knapp halb so viel wie nötig. Bereits in der im Herbst 2021 beginnenden Legislaturperiode sind kritische Entscheidungen und Steuerungsimpulse erforderlich. Verzögern sich diese, wären die gesetzlich vereinbarten Klimaschutzziele nicht mehr oder nur noch unter Einsatz von deutlich höheren Investitionen zu erreichen. 5 Die Umsetzung der benötigten Klimaschutz- maßnahmen ist politisch und regulatorisch komplex. Einfache Antworten greifen zu kurz. Es braucht einen breiten Instrumentenmix 6 mit übergreifenden und sektorspezifischen Maßnahmen, der zügigen Infrastrukturaufbau durchsetzt, die Nutzung fossiler Brennstoffe effektiv verteuert, erneuerbare Technologien günstiger macht, den erheblichen Investitions- bedarf für Bürger und Unternehmen tragbar „Klimapfade 2.0“ schlägt ein Wirtschafts- macht und entscheidende Weichen für die programm für Klima und Zukunft aus Treibhausgasneutralität im Jahr 2045 stellt. rund 20 Instrumenten vor, welches den Auf- bau zukunftsfähiger Infrastruktur vorantreibt, die Energie-, Verkehrs- und Wärmewenden deutlich beschleunigt sowie den treibhaus- gasneutralen Umbau von Deutschlands industrieller Basis einleitet. 2 Boston Consulting Group
Durch steigende CO2-, Energie- und Materialkosten entstehen Unternehmen im Jahr 2030 dabei etwa 15 bis 23 Mrd. Euro Mehrbelastungen.2 Zum Erhalt industrieller Wettbewerbsfähigkeit sind daher verlässliche Ausgleichs- 7 instrumente für besonders betroffene Branchen erforderlich. 8 Die Umsetzung dieses Programms wird im Jahr 2030 zu 20 bis 30 Mrd. Euro Mehr- belastungen für private Haushalte führen, die nicht auf emissionsarme Technologien wechseln (können). Um eine faire Lasten- verteilung sicherzustellen, sind daher soziale Ausgleichsmaßnahmen nötig. 9 Die staatliche Unterstützung der Transformation und der Ausgleich entstehender Belastungen für private Haushalte und Unternehmen werden im Jahr 2030 47 bis 50 Mrd. Euro zusätzliche Ausgaben der öffentlichen Hand erfordern, zwischen 2021 und 2030 insgesamt 230 bis 280 Mrd. Euro. Diese müssen mit Einsparungen im Bundeshaushalt, Ab- gaben, Steuern oder Schulden finanziert werden. 10 Diese nationale Anstrengung wird nur dann einen wesentlichen Einfluss auf das Weltklima haben, wenn sie international Nachahmer und Partner findet. Umso 11 mehr sollte sich Deutschland stärker für eine europäisch und international abge- Um Deutschland auf den stimmte Klimapolitik einsetzen. Zudem schmalen Pfad in Richtung sollte Deutschland auf eine deutlich offe- Treibhausgasneutralität zu nere Ausgestaltung des EU-Beihilferechts navigieren, muss die nächste hinwirken, die die öffentliche Unterstüt- Bundesregierung sehr schnell zung der Transformation ermöglicht. sehr viele Weichen stellen. Dafür benötigt Deutschland sowohl eine effektivere und politisch besser koordinierte politische Steuerung auf Bundes- und Landesebene als auch eine erhebliche Be- schleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. 12 Die Erreichung der gesetzlich vereinbarten Klimaschutzziele ist eine gesamt- gesellschaftliche Mammutaufgabe. Sie erfordert bereits in den ersten Mona- ten der neuen Legislaturperiode sofortige Umsteuerungen. Gleichzeitig bietet eine erfolgreiche Umsetzung des hier beschriebenen umfassenden Moderni- sierungsprogramms eine historische Chance, Deutschland zu einem klima- neutralen Industrieland zu transformieren, einen ambitionierten Beitrag zur Begrenzung der Auswirkungen des Klimawandels zu leisten und damit den Wohlstand dieser und kommender Generationen zu sichern. Klimapfade 2.0 3
AUSBLICK: Klimaneutrales Deutschland im Jahr 2045 CCS-Infrastruktur für Transport und Speicherung von CO an Land und auf See ~ 305 TWh PtL-Nachfrage für Netto-Nullemissionen im Luft- und Seeverkehr, in der Chemie sowie in den auf der Straße verbleibenden Ver- brennern, davon ~ 295 TWh Importe > 480 GW Wind und PV Ausbau von 2021 rund 110 GW bis an Potenzial- grenzen, um ~ 990 TWh Stromnachfrage zu bedienen Stark ausgebaute Stromnetze u. a. Ausweitung des ambitioniertesten NEP 2035 und Vorziehen auf 2030 > 88 GW Backup-(H-)Kraftwerke Bereitstellung gesicherter Leistung, zu 100 % betrieben mit grünen Gasen 100 % grüne Industriewärme aus erneuerbarer Erzeugung mit Power-to-Heat, Wärmepumpen, Biomasse, grünen Gasen Neuer Anlagenpark in Stahl, Chemie, Zement, Kalk Vollständiger Wechsel auf Wasserstoff-DRI für Primärstahl, stoffliche Defossilisierung in der Grundstoffchemie und CCS-Anlagen in Zement und Kalk ~ 240 TWh H-Nachfrage davon ~ 130 TWh über Importe aus europäischem Wasserstoffnetz; Aufbau einer nationalen Infrastruktur 4 Boston Consulting Group
100 % treibhausgasneutraler Luftverkehr Umstellung auf 100 % grüne Kraftstoffe sowie alternative Antriebe 59 Mt negative Emissionen durch Biomasse-CCUS und Direct Air Capture, zusätzlich 11 Mt CCUS bei fossilen Prozessemissionen in Baustoffen 100 % grüne Fernwärme und Quartierslösungen 4 Mio. angeschlossene Gebäude Starker Verkehrsmittelwechsel Schienenverkehrsleistung wächst um 50 % für Personen und 70 % für Güter gegenüber 2019 Dekarbonisierung im Straßenverkehr 39 Mio. batterieelektrische Pkw, damit > 85 % des Fahrzeugbestands; 480 Tsd. batterie- elektrische und 115 Tsd. H-betriebene Lkw Flächendeckende Lade- und H-Infrastruktur Zur Ermöglichung des Hochlaufs vor allem früh- zeitiger Ausbau auf bereits 9 Mio. private und 6 Mio. öffentliche Ladepunkte bis 2030 Nachhaltige Land- und Forstwirtschaft Effizientere Landnutzung und Düngereinsatz, Schaffen von CO-Senken durch LULUCF 2,1 % energetische Gebäudesanierungsrate Gebäudesanierungen auf durchschnittlich ~ 70 kWh/(m² a) 100 % grüne Gebäudewärme u. a. 15 Mio. Wärmepumpen Klimapfade 2.0 5
1 Deutschland steht vor der größten Transformation seiner Nach- kriegsgeschichte. Die gesetzlich verankerte Erreichung der Treibhaus- gasneutralität bis 2045 erfordert einen fundamentalen Umbau unseres Energiesystems, unserer internationalen Energieversorgung, unseres Gebäude- und Fahrzeugbestands, unserer Infrastruktur sowie großer Teile unserer produzierenden Wirtschaft. Das neue Klimaschutzgesetz sieht vor, dass Deutsch- In der Industrie muss zur Zielerreichung innerhalb von land bis 2045 Treibhausgasneutralität erreicht. Bis nur einer Anlagengeneration die Wärmeerzeugung dahin muss Deutschland einen wesentlichen Teil seiner vollständig erneuerbar werden. Industrielle Wärme- fossilen Anlagenbasis ersetzen, erneuerbare Strom- produktion – 2019 noch fast vollständig durch fossiles erzeugung bis an die Grenze des Erzeugungspotenzials Gas erzeugt – muss zukünftig in allen Branchen auf ausbauen und komplett neue Infrastrukturen aufbauen. Strom, Biomasse und „grüne“ Gase umgestellt werden. Dieser Umbau muss innerhalb von nur 24 Jahren Gleichzeitig müssen die Stahl-, Chemie-, Kalk- und geschehen, also einer einzigen Anlagengeneration. Zementindustrien, die derzeit für über die Hälfte der Das ist ein nationales Transformationsprojekt von deutschen Industrieemissionen verantwortlich sind, historischer Tragweite. einen großen Teil ihres Anlagenparks komplett aus- tauschen. In der Stahlherstellung dürfen nur noch Das Ziel der Treibhausgasneutralität setzt einen sehr wasserstoffbetriebene Direktreduktionsanlagen an- engen Rahmen für zulässige Maßnahmen, da es einen stelle von Hochöfen eingesetzt werden. Die chemische vollständigen Verzicht auf fossile Brenn- und Rohstoffe Industrie muss jeden Steamcracker elektrifizieren oder erfordert – bis hin zur stofflichen Nutzung in der ersetzen und Kernprozesse wie die Synthese von Chemie. Für einen überraschend großen Teil des Ziel- Ammoniak und Methanol auf treibhausgasneutralen pfades ist ein Lösungsweg ersichtlich, und die meisten Wasserstoff umstellen. Außerdem müssen alle fossilen Technologien dafür sind bekannt. Brennstoffe in der stofflichen Nutzung durch recycelte Klimaschutzgesetz: Sektorziele für 2030, Treibhausgasneutralität in 2045 Abbildung 1 | Relative Emissionsentwicklung in Deutschland nach Sektoren 1990 – 2045 % der Emissionen von 1990 1990 Industrie Verkehr Gebäude Energiewirtschaft Andere1 100 % -34 % -41 % -38 % -48 % (-48 % vs. 2019) -45 % Breite beschreibt Emissionen in 1990 (insg. 1.249 Mt CO2ä) -24 % -14 % (-22 %) (-37 % vs. 2019) 1991 – 2019 -27 % 2020 – 2030-Ziele (-46 % vs. 2019) -10 % (-16 %) 2031 – 2045-Ziel Restemissionen -32 % (-58 % vs. 2019) durch DACCUS/ LULUCF zu -52 % kompensieren (-52 % vs. 2019) -41 % (-62 % vs. 2019) -32 % (-54 % vs. 2019) -25 % (-46 % vs. 2019) 0% 1. Landwirtschaft, Abfallwirtschaft und Sonstiges Anmerkung: Verkehr 2019 ungefähr konstant ggü. 1990; Bioenergy with Carbon Capture, Utilization and Storage (BECCUS) sind als negative Emissionen in Industrie und Energiewirtschaft enthalten; DACCUS = Direct Air Carbon Capture, Utilization and Storage; LULUCF = Land Use, Land-Use Change and Forestry) Quelle: UBA (2021) Emissionsübersichten in den Sektoren des Bundesklimaschutzgesetzes; BCG-Analyse 6 Boston Consulting Group
Strom ist zentraler Energieträger der Transformation Abbildung 2 | Endenergieverbräuche und Nettostromverbrauch TWh Nettostrom- Industrie Verkehr Gebäude verbrauch2 Internat. Verkehre1 1.029 993 183 880 155 796 84 701 722 678 142 639 185 68 113 69 612 361 613 43 94 210 155 141 84 507 219 68 124 101 108 839 376 100 107 140 655 163 208 394 400 297 47 214 279 262 260 163 2019 2030 2045 2019 2030 2045 2019 2030 2045 2019 2030 2045 Kohle Benzin Kerosin Biokraft-/-brennstoffe Fernwärme Strom Direkter Stromverbrauch Heizöl Diesel Erdgas H2/PtL/PtG Umweltwärme Sonstige Strom für H2 und PtL/PtG 1. Annahme: Internationale Verkehre von Deutschland ausgehend sollen bis 2045 ebenfalls auf treibhausgasneutrale Kraftstoffe umgestellt werden 2. Summierter Stromverbrauch aus allen Sektoranwendungen exkl. Kraftwerkseigenverbrauch oder Import/Export; inkludiert inländische H2-Produktion Anmerkung: Exkl. stofflicher Verbräuche H2/PtL/PtG für Naphtha und Bitumen Quelle: BCG-Analyse oder synthetische Kohlenwasserstoffe ersetzt werden. sinken – und vollständig auf erneuerbare Energien In der Zement- und Kalkindustrie müssen Carbon- umgestellt werden. Dafür muss sich die Geschwindig- Capture-Anlagen errichtet und die eingefangenen keit energetischer Gebäudesanierung annähernd ver- Emissionen dauerhaft gespeichert oder stofflich doppeln (von 2019 durchschnittlich 1,1 auf 2,1 Prozent gebunden werden (Carbon Capture, Utilization and vollsanierte Gebäudeflächen pro Jahr bis 2045). Zudem Storage, CCUS). Nicht zuletzt müssen Potenziale der muss der Gebäudebestand für den Einsatz erneuer- Kreislaufwirtschaft weiter ausgeschöpft werden, was barer Wärme ertüchtigt und fast jedes Gebäude in insbesondere bei Kunststoffen und Metallen nicht nur Deutschland mit einer neuen Wärmelösung versorgt erhebliche Primärressourcen, sondern auch Emissio- werden – Wärmepumpen in weniger dicht besiedelten nen einspart. In manchen energieintensiven Industrie- Gebieten sowie Fern-/Quartierswärme in städtischen zweigen sind zur Erzielung von Nullemissionen noch Gebieten bieten sich besonders an. technische Fragen zu lösen, zum Beispiel bei der Ver- wendung inerter Anoden in der Aluminiumproduktion. Strom wird zum zentralen Energieträger der anstehen- den Transformation. Neue Verbraucher wie batterie- Im Verkehrssektor ist bis 2045 ein fast vollständiger elektrische Fahrzeuge, Wärmepumpen, industrielle Austausch der Fahrzeugflotte auf alternative Antriebe Power-to-Heat-Anlagen oder Carbon-Capture, neu ent- nötig – vor allem auf Batterie-Pkw im Personenverkehr stehende Industriezweige wie die Batterieproduktion sowie einen Mix aus Batterie- und Wasserstoff-Lkw im sowie die inländische Produktion von grünem Wasser- Güterverkehr. Dafür ist der Aufbau einer flächendecken- stoff führen bis 2045 zu einer Verdoppelung des Netto- den Infrastruktur an Ladestationen und Wasserstoff- stromverbrauchs – von 507 TWh im Jahr 2019 auf tankstellen erforderlich. Außerdem müssen alle ver- bleibenden Verbrennermotoren im Straßen-, Schienen-, 993 TWh im Jahr 2045 im Zielpfad. Um diesen Ver- Luft- und Seeverkehr vollständig auf grüne, vor allem brauch zu bedienen, muss sich die deutsche Strom- synthetische Kraftstoffe umgestellt sein – im Zielsze- produktion in weniger als 24 Jahren annähernd ver- nario für 2045 noch mehr als ein Sechstel des gesam- doppeln und gleichzeitig bis 2045 komplett treibhaus- ten heutigen Kraftstoffverbrauchs aller Verkehre. gasneutralgestellt werden. Dafür müssen erneuerbare Energien bis an ihre Potenzialgrenzen aus- und zur Zur Erreichung eines treibhausgasneutralen Gebäude- Gewährleistung der Versorgungssicherheit zusätzliche sektors muss der Energiebedarf im Bestand deutlich flexible Kraftwerke aufgebaut werden, die bis 2045 aus- Klimapfade 2.0 7
schließlich mit grünen Gasen betrieben werden müssen. Vor allem in der Land- und Abfallwirtschaft wie auch Zusammen mit einer stark ausgebauten und digitali- einzelnen Industrieprozessen werden im Jahr 2045 sierten Netzinfrastruktur stellt dies das bisher größte nicht vermeidbare Restemissionen verbleiben (59 Mt Auf- und Umbauprojekt des deutschen Stromsystems dar. CO2ä im Zielpfad). Um diese auszugleichen, sind zukünftig auch „negative“ Emissionen nötig, beson- Landwirtschaftliche Emissionen müssen durch effizien- ders aus dem Aufbau natürlicher Senken (Land Use, tere Landnutzung, neue Prozesse in der Düngerausbrin- Land-Use Change and Forestry, LULUCF) sowie der gung, aber auch durch eine Reduktion der Emissionen Abscheidung und Speicherung von CO2 aus Biomasse- des Tierbestands deutlich sinken – zum Beispiel durch verbrennung (Bioenergy with Carbon Capture, Utiliza- weniger fleisch- und milchbasierte Ernährung oder den tion and Storage, BECCUS) und aus der Luft (Direct Air Einsatz methanausstoßhemmender Futtermittelzusätze. Carbon Capture, Utilization and Storage, DACCUS). Zudem muss Deutschland zukünftig enorme Mengen Die dargestellten Entwicklungen beschreiben einen erneuerbarer Energieträger importieren. Im Zielpfad aus heutiger Sicht kosteneffizienten Zielpfad in Rich- benötigt Deutschland im Jahr 2045 insgesamt 237 TWh tung Treibhausgasneutralität im Jahr 2045. Vor allem treibhausgasneutralen Wasserstoff, wovon mehr als die für die Zeit nach 2030 bestehen hinsichtlich der Ent- Hälfte aus Regionen wie Südeuropa und Nordafrika, die wicklung internationaler Klimaambitionen, Energie- über eine eigene Pipeline-Infrastruktur angeschlossen trägerpreise und zukünftiger Technologielernkurven werden können, importiert werden muss. Außerdem naturgemäß hohe Unsicherheiten. Zusätzlich machen braucht Deutschland 305 TWh synthetische Kohlen- Umsetzungsgeschwindigkeit und Veränderungsdruck wasserstoffe für den Einsatz in Verkehr und Grundstoff- die Maßnahmen für jeden Menschen in Deutschland chemie („E-Fuels“). Auch diese werden überwiegend spürbarer. Um flexibel auf technologische Unsicher- importiert. heiten sowie mögliche Umsetzungs- und Akzeptanz- hürden reagieren zu können, sollte Deutschland den Dazu muss eine erhebliche Produktionsinfrastruktur in Technologie- und Maßnahmenraum auch für abwei- Ländern mit guten Bedingungen für erneuerbare Ener- chende Entwicklungen offenhalten – zum Beispiel für gien aufgebaut werden – mit einem Strombedarf jen- eine erheblich umfangreichere Verfügbarkeit von güns- seits der Größe des heutigen deutschen Stromsystems. tigem treibhausgasneutralen Wasserstoff. Industrie, Verkehr und Energiewirtschaft treiben H2-/PtL-Nachfrage Abbildung 3 | H2- und PtL-Nachfrage nach Sektoren und Anwendungen 2030 – 2045 TWh H2-Nachfrage PtL-Nachfrage 5 20 9 34 Mrd. € Mrd. € Mrd. € Mrd. € 305 305 237 237 173 96 138 295 21 27 20 57 57 43 43 92 96 99 17 24 54 43 36 8 3 9 10 2030 2045 2030 2045 Industrie Internationale Verkehre Strom und Fernwärme Importe Beschaffungs- Verkehr Gebäude Raffinerien Inländische Produktion preise Anmerkung: H2 = Wasserstoff aus der Elektrolyse von erneuerbaren Energien (übergangsweise – vor 2040 – auch Bezug von blauem Wasserstoff denkbar); PtL = erneuerbare synthetische Brenn- und Kraftstoffe aus grünem Wasserstoff (v. a. Syncrude, Methanol); internationale Verkehre = von Deutschland abgehender See- und Luftverkehr; im Jahr 2019 betrug der Wert fossiler Energieträgerimporte 91 Mrd. € Quelle: BCG-Analyse 8 Boston Consulting Group
Klimapfade 2.0 2.0| Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft 9
Industrie Was zur Klimaschutz-Zielerreichung bis 2030 passieren muss Ersatz von Hochöfen mit 100 % fossilfreie Wärme Emissionssenkung 6-mal 10 Mt Produktionskapazität bei fast jeder Reinvestition schneller als letzte 20 Jahre durch Direktreduktionsanlagen Vermeidung von Erdgas, Öl, Jährliche Reduktion 2020 – 2030 (~ 30 % der Primärstahlproduktion) Kohle, wo möglich gegenüber 2000 – 2019 Verkehr Weitgehende Elektrifizierung ~ 70 % THG-neutrale- > 3 Mt Importe synthetischer neuer Pkw bis 2030 LKW-Neuzulassungen Kraftstoffe in 2030 ~ 90 % vollelektrische Heute: Heute: Neuzulassungen de facto null de facto null Gebäude ~ 70 % mehr energetische Sanierung auf halben Ab 2023: Keine neuen Öl- und Sanierungen ab 2023 Energieverbrauch Gaskessel, wo immer möglich Beschleunigung von jährlich 70 kWh/(m² a) in vollsanierten Einbau Wärmepumpen, Fernwärme 1,1 % auf 1,9 % in 2030 Gebäuden (~ 50 % akt. Durchschnitt) o. Ä. bei möglichst jeder Reinvestition Energiewirtschaft Verdoppelung Beschleunigung Netz- + 43 GW Gas bis 2030, Wind- und PV-Zubau ausbau und Flexibilisierung nötig für Auslaufen Kohle 10 Boston Consulting Group + 65 GW Wind gesamt (auf NEP 2035 auf 2030, Digitalisierung im Für Versorgungssicherheit See und Land) bis 2030 Verteilnetz, Flexibilisierung Verbrauch (Gas 2019: 31 GW)
Petrochemie Stahl Prozesswärmemix Anteil Produktion Anteil Produktion Anteil Wärmeverbrauch Was zur Klimaschutz-Zielerreichung bis 2030 passieren muss 10 % 5% 5% 5% 22 % 8% 11 % 30 % 4% 20 % 15 % 14 % 55 % 22 % 70 % 23 % 40 % 13 % 90 % 75 % 70 % 72 % 49 % 12 % 40 % 45 % 50 % 18 % 8% 0% 2019 2030 2045 2019 2030 2045 2019 2030 2045 Stoffliche Defossilisierung Mechanisches Recycling DRI-Stahl Hochofenstahl Biomasse Power-to-Heat Fossil Chemisches Recycling Fossile Steamcracker Sekundärstahl (EAF) H Sonstige Neuzulassungen E-Pkw Bestand E-Pkw Grüne Kraftstoffe Mio. vollelektrische Pkw Mio. vollelektrische Pkw Anteil verbliebener Kraftstoffe 2,9 39 100 % 2,8 14 22 % 0,1 0,1 4% 2019 2030 2045 2019 2030 2045 2019 2030 2045 Wasserstoff Biokraftstoff PtL-Kraftstoff Gebäudeeffizienz Wärmepumpen Wärmemix Gebäude Energetische Sanierungsrate p. a. Mio. Raumwärme- und Warmwasserverbrauch 2,1 % 15 1,9 % 4% 7% 25 % 13 % 53 % 16 % 1,1 % 47 % 13 % 6 29 % 30 % 1 24 % 13 % 11 % 2019 2030 2045 2019 2030 2045 2019 2030 2045 Wärmepumpen Grüne Gase, Biomasse, PtL Öl Fernwärme Erdgas Sonstige Stromverbrauch Installierte Leistung Nettostromerzeugung TWh GW TWh 993 621 1.095 180 240 722 230 72 753 100 163 384 48 624 137 507 72 51 37 155 140 9 12 12 68 126 731 225 250 314 49 186 449 126 434 423 61 108 90 31 74 88 42 171 194 124 44 43 53 2019 2030 Klimapfade 2.0 2045 2019 2030 2045 2019 2030 2045 11 Power-to-Heat E-Mobilität Sonstige PV Wind Sonstige Erdgas Kohle Wärmepumpen Elektrolyse
2 Bereits die in diesem Jahrzehnt erforderlichen Veränderungen sind drastisch. Zur Erreichung der gesetzlich vereinbarten Klimaschutz- ziele 2030 braucht Deutschland innerhalb der nächsten neun Jahre einen weitgehenden Verzicht auf Reinvestitionen in fossile Techno- logien – in manchen Sektoren sofort. Zudem muss die Kohleverstro- mung deutlich schneller zurückgehen als bisher geplant. Der technologische Pfad zur Erreichung der gesetzlich Studienerstellung noch nicht im großindustriellen vereinbarten Klimaschutzziele im Jahr 2030 ist klarer Maßstab zuverlässig verfügbar oder werden in als der langfristige Pfad bis 2045, aber unglaublich Deutschland noch nicht angewendet. schmal. Deutschland muss innerhalb von weniger als zehn Jahren seine Emissionen fast halbieren. Das Im Verkehr müssen Neufahrzeugflotten bis zum Jahr muss im Wesentlichen mit Technologien geschehen, 2030 bereits weitgehend auf alternative Antriebe die bereits am Markt verfügbar sind. Gleichzeitig ist umgestellt sein: Im Zielpfad sind 9 von 10 neu zuge- dieses Ziel in den meisten Sektoren so ambitioniert, lassenen Pkw im Jahr 2030 vollelektrisch (2,8 Mio. dass ein sehr großer Teil aller Reinvestitionen für von insgesamt 3,1 Mio. Neuzulassungen, 14 Mio. im einen Technologiewechsel genutzt werden muss. Bestand), mehr als 7 von 10 Lkw-Neuzulassungen haben einen Batterie- oder Brennstoffzellenantrieb Deutschland steht vor einem entscheidenden Jahr- (63.000 von 83.000 Neuzulassungen, mehr als 200.000 zehnt, in dem die Klimawende endgültig „beim im Bestand). Dafür muss schon innerhalb der nächs- Bürger“ ankommt. In den kommenden neun Jahren ten neun Jahre eine massive koordinierte Investition in müssen Millionen Menschen andere Entscheidungen flächendeckende Ladeinfrastruktur und Wasserstoff- treffen als bisher – was beispielsweise die Nutzung tankstellen entlang aller großen Verkehrstrassen er- von Elektrofahrzeugen und erneuerbarer Wärme folgen. Darüber hinaus sind auch im Fahrzeugbestand angeht. Gleichzeitig muss Deutschland Milliarden in umfangreiche Treibhausgasreduktionen erforderlich. den Aufbau neuer Infrastrukturen investieren und Dafür werden im Zielpfad bereits mehr als 3 Mt syn- bereits entscheidende Weichen für die Erreichung thetischer Kraftstoffe importiert. Die Quote grüner von Nullemissionen bis 2045 stellen. Kraftstoffe steigt damit auf mehr als 20 Prozent.3 In der Industrie erfordert das gesetzlich vereinbarte Im Gebäudesektor muss sich das Investitionsverhalten Klimaschutzziel 2030, dass ab sofort wo immer mög- der Akteure sogar noch schneller verändern. De facto lich bei neuen Reinvestitionsvorhaben von fossilen ab sofort sollte jeder Neubau nur noch mit vollständig Technologien abgesehen wird. Das bedeutet zum Bei- lokal emissionsfreien Wärmelösungen ausgestattet spiel, dass bei fast jeder Investition in einen Wärme- werden. Die jährliche Sanierungsrate muss bereits erzeuger von derzeit vor allem Erdgas auf Power-to- kurzfristig erheblich steigen – um mindestens 70 Pro- Heat, Biomasse oder grüne Gase umgestellt werden zent bis 2030 (gradueller Anstieg auf 1,9 Prozent in muss. Dies gilt nicht für solche Fälle, in denen entwe- 2030 gegenüber 1,1 Prozent in 2019) – bei gleichzeitig der Infrastruktur oder Technologien noch nicht verfügbar steigender Sanierungstiefe (im Durchschnitt ~ 70 kWh sind, beispielsweise für einige Hochtemperaturpro- pro Quadratmeter und Jahr bei Wohngebäuden in zesse. Die Stahlindustrie muss bis 2030 bereits ein 2030). Außerdem sollte, wo immer möglich, auch in Drittel ihrer Hochöfen durch Direktreduktionsanlagen Bestandsgebäuden bei jedem Heizungstausch eine ersetzen, die Chemie einen Teil ihrer Prozesse auf Umstellung auf Wärmepumpen, Fernwärme oder min- treibhausgasneutralen Wasserstoff umstellen und destens eine hybride Wärmelösung mit hohem erneu- erste Steamcracker elektrifizieren. In Zement und Kalk erbaren Anteil erfolgen. Im Zielpfad für 2030 gibt es im sind bereits erste Demonstrationsprojekte für die Gebäudebestand bereits 6 Mio. Wärmepumpen und Abscheidung und Speicherung von CO2 erforderlich. mehr als 2 Mio. Fernwärme- und Quartiersanschlüsse. Mehrere dieser Technologien sind zum Zeitpunkt der 12 Boston Consulting Group
Starke Zunahme von Erzeugung erneuerbaren Stromes bereits vor 2030 Abbildung 4 | Nettoerzeugungsleistung und Nettostromerzeugung im Zielpfad GW TWh 621 1.095 95 91 145 139 753 53 384 292 624 84 54 70 24 27 25 106 86 101 225 180 208 28 23 26 440 8 98 90 53 57 0 31 114 194 74 882 21 75 67 10 2019 2030 2045 2019 2030 2045 Erforderliche Gaskapazität für vollständiges Auslaufen der Kohleverstromung bis 2030 Solar PV, Aufdach Wind auf See Biomasse/dezentrales Biogas1 Speicher Grüne Gase2 Steinkohle Kernenergie Solar PV, Freifläche Wind an Land Wasser Sonstige Erdgas Braunkohle 1. Feste Biomasse und dezentrale Verstromung von Biomethan in heute EEG-geförderten Anlagen 2. Grüner Wasserstoff, PtX, Biomethan in Gaskraftwerken Anmerkung: Nettostromerzeugung beschreibt die gesamte inländische Stromerzeugung mit Ausnahme der Kraftwerkseigenverbräuche Quelle: BCG-Analyse Zur Durchführung der vorgenannten Maßnahmen ist netzagentur um fünf Jahre (von 2035 auf 2030). Außer- in allen Sektoren sowohl ein erheblicher Aufbau und dem sind auf Ebene der Stromverteilnetze zur System- Anschluss neuer Infrastruktur als auch die Bereit- integration der zahlreichen neuen Stromverbraucher stellung signifikanter Mengen erneuerbarer Energie- aus der Industrie, dem Verkehrs- und dem Gebäude- träger nötig. sektor umfangreiche Investitionen in Flexibilisierung und Digitalisierung erforderlich. Das deutsche Stromsystem steht in dieser Dekade daher vor einer beispiellosen Zäsur. Der Sektor muss In dieser Dekade muss auch die Wasserstoffwirtschaft bis 2030 eine mehr als 40 Prozent höhere Stromnach- extrem wachsen. Aus der Umsetzung der beschriebe- frage bedienen, während er gleichzeitig seine absolu- nen Maßnahmen entsteht im Zielpfad im Jahr 2030 ten Emissionen um fast 60 Prozent senken muss. bereits eine Nachfrage nach 43 TWh treibhausgas- Dafür ist der jährliche Zubau erneuerbarer Energien zu neutralem Wasserstoff, erheblich mehr als in der verdoppeln. Zur Erreichung des gesetzlich vereinbarten aktuellen nationalen Wasserstoffstrategie vorgesehen. Klimaschutzziels läuft im Zielpfad parallel zum Aus- Um diesen von der Nordseeküste zu großen Industrie- stieg aus der Kernenergie unter den getroffenen zentren zu transportieren, muss Deutschland mit dem Annahmen bereits 2030 die Kohleverstromung aus, Bau einer eigenen Wasserstoff-Netzinfrastruktur be- neun Jahre vor dem gerade vereinbarten Kohleaus- ginnen. Gleichzeitig muss an Standorten ohne Infra- stieg. Um diese Kapazitäten bei Aufrechterhaltung strukturanbindung für die ersten (Pilot-)Projekte eine einer gesicherten Stromversorgung vom Netz nehmen dezentrale Wasserstoffproduktion aufgebaut werden. zu können, ist der Zubau von mehr als 40 GW neuer („H2-ready“) Gaskraftwerke nötig – dies wäre der größte Zubau thermischer Stromerzeugungsleistung, den es in Deutschland bis dahin je gegeben haben wird. Der Ausbau der Netzinfrastruktur muss radikal beschleu- nigt werden, unter anderem durch eine Aufstockung und ein Vorziehen des aktuell ambitioniertesten Aus- baupfades im Netzentwicklungsplan (NEP) der Bundes- Klimapfade 2.0 13
3 Die Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen erfordert bis 2030 Mehrinvestitionen in Höhe von rund 860 Mrd. Euro, etwa 100 Mrd. Euro pro Jahr. Das entspricht jährlich knapp 2,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen erfordert Der Umfang dieses Investitionsvorhabens hat histori- zwischen 2021 und 2030 Mehrinvestitionen in Höhe sche Dimension. Im Schnitt betragen die zur Ziel- von 860 Mrd. Euro. Davon entfällt rund die Hälfte auf erreichung erforderlichen jährlichen Mehrinvestitionen den Energiesektor, vor allem für den Zubau von er- knapp 100 Mrd. Euro beziehungsweise rund 2,5 Prozent neuerbaren Energien und Stromnetzen. Auf den Verkehr des BIP Deutschlands. entfällt mit rund 220 Mrd. Euro der zweitgrößte Anteil, vorwiegend für Infrastruktur und Fahrzeuge mit alter- Durch die Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen nativen Antrieben. Außerdem sind rund 175 Mrd. Euro entstehen den Akteuren im Jahr 2030 Nettomehr- im Gebäudesektor und rund 50 Mrd. Euro in der Indus- kosten in Höhe von 16 Mrd. Euro. Die tatsächlichen trie erforderlich. Die Industrie hat im Vergleich zu finanziellen Betroffenheiten sind allerdings höher: anderen Sektoren das geringste Investitionsaufkom- Maßnahmen mit Mehrkosten (zum Beispiel die Dekar- men, muss jedoch für die Wechsel auf erneuerbare bonisierung der Industrie, die Nutzung grüner Kraft- Energieträger und neue Prozesse die höchsten Netto- stoffe oder der Aufbau einer flächendeckenden Lade- mehrkosten tragen. infrastruktur) summieren sich im Jahr 2030 auf 41 Mrd. Euro. Parallel führt vor allem die Elektromobilität aus Sicht der Fahrzeughalter zu Einsparungen von insge- samt 25 Mrd. Euro. Einordnung verschiedener Kostenperspektiven Mehrinvestitionen umfassen alle Investitionsausgaben, zwischen Referenzpfad (bestehende Regulierung) und die über den Erhalt der bestehenden Anlagenbasis hin- Zielpfad (Zielerreichung der gesetzlich vereinbarten aus zur Umsetzung technischer Klimaschutzmaß- Klimaschutzziele), welche durch zusätzliche politische nahmen getätigt werden müssen. Das beinhaltet sowohl Instrumente adressiert werden muss. direkte Mehrinvestitionen in teurere Geräte, Fahrzeuge oder Anlagen (zum Beispiel die Kostendifferenz zwischen Mehrbelastungen beschreiben die nach Einführung einem Elektroauto und einem gleichwertigen Verbren- aller politischen Instrumente entstehenden tatsächli- ner) als auch dadurch ausgelöste Investitionen in Infra- chen jährlichen Mehrausgaben privater Haushalte und struktur (zum Beispiel zusätzliche Lade- und Verteilnetz- Unternehmen gegenüber dem Jahr 2019. Diese entste- infrastruktur). Gezeigte Werte sind reale 2019er-Preise; hen durch nicht von der öffentlichen Hand getragene sie sind weder annualisiert noch diskontiert. Mehrkosten bei der regulatorisch induzierten Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen (zum Beispiel Mehraus- Mehrkosten bilden die erforderlichen jährlichen Mehr- gaben für grüne Kraftstoffe bei Einführung einer Quote) ausgaben zur Umsetzung der technischen Klimaschutz- oder aus politischen Instrumenten selbst (zum Beispiel maßnahmen aus Sicht der jeweiligen betriebswirtschaft- CO2-Bepreisung fossiler Brennstoffe). lichen Entscheider ab. Sie beinhalten alle Investitionen, annualisiert über die Lebenszeit der jeweiligen Anlagen, Die fiskalische Belastung beschreibt den Saldo aus Finanzierungskosten mit akteurspezifischen Realzins- durch die Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen ent- sätzen sowie eingesparte und zusätzliche Energieträger- stehenden zusätzlichen Einnahmen (zum Beispiel aus und Betriebskosten inklusive der zum Zeitpunkt der CO2-Bepreisung), Ausgaben (zum Beispiel Förderungen Erstellung der Studie gültigen akteurspezifischen und Zuschüsse) und Einnahmeverlusten (zum Beispiel Steuern, Abgaben und Umlagen. aus Steuern für fossile Energieträger) der öffentlichen Hand gegenüber dem Jahr 2019. Sie enthält alle wesent- Die Regulierungslücke beschreibt die nach der Fort- lichen Auswirkungen der in „Klimapfade 2.0“ vorgeschla- schreibung der bestehenden politischen Instrumente ver- genen Instrumente für Klimaschutz, die Entlastung von bleibende Mehrinvestitions- und Mehrkostenlücke Unternehmen und sozialen Ausgleich. 14 Boston Consulting Group
860 Mrd. Euro Mehrinvestitionen für Klimaschutz bis 2030 Abbildung 5 | Kumulierte Mehrinvestitionen 2021 bis 2030 Mrd. € kumuliert, real 2019 415 860 860 Strom-, H2-, CO2-Netze Vorziehen des NEP von 2035 auf 2030, 155 Aufbau neuer Infrastrukturen für H2 und CO2 Wind an Land 63 auf 98 GW Energie 415 Wind auf See 40 Ziel- auf 28 GW pfad Photovoltaik 560 67 auf 140 GW Ausbau Gas 48 auf 74 GW 22 Grüne Fernwärme 175 18 Sonstige (Speicher, H2) Gebäudesanierung 80 von 1,1 % auf 1,9 % energetische Sanierungsrate Gebäude 175 67 Erneuerbare Wärme (WP, FW, H2) auf u. a. 6 Mio. Wärmepumpen 220 27 Effiziente Geräte und Prozesse PtL-Anlagen (Ausland) und H2-Anlagen (Inland) 45 für ~ 3 Mt PtL und ~ 10 TWh H2 für nat. Verkehr in 2030 39 Elektrische Pkw 14 Mio. BEV im Bestand (> 90 % Neuzulassungen in 2030) E- und H2-Lkw 30 Verkehr > 220 Tsd. im Bestand (> 75 % Neuzulassungen in 2030) Referenz- 220 Lade- und H2-Infrastruktur pfad 9 Mio. private Ladepunkte, 240 Tsd. Schnellladepunkte, 74 5 Mio. Ladepunkte am Arbeitsplatz und > 1 Mio. öffentlich 300 zugängliche Ladepunkte sowie 500 H2-Tankstellen Stoffliche Ausbau Schiene Defossil. 25 + 30 % Personenverkehrs-, + 40 % Güterverkehrsleistung 50 Sonstige 5 21 Effiziente Prozesse Industrie 18 Erneuerbare Wärme 3 Neue Anlagen in Stahl, Chemie, Zement 50 10 Industrie Verkehr Gebäude Energie Gesamt Anmerkung: Bei erneuerbarer Wärme sowie alternativen Antrieben im Verkehr beschreiben die Mehrinvestitionen die Anschaffungskosten ggü. konventionellen Technologien; kumulierte Mehrinvestitionen beinhalten keine Investitionen in Projekte im Bauzustand, welche vor 2030 angestoßen, aber erst nach 2030 in Betrieb gehen werden Quelle: BCG-Analyse Klimapfade 2.0 2.0 15
4 Die Erreichung der gesetzlich vereinbarten Klimaschutzziele im Jahr 2030 erfordert beinahe eine Halbierung der Emissionen gegenüber 2019. Die aktuelle Klimapolitik reicht dafür in keinem Sektor aus. Ohne Umsteuerungen würde Deutschland bis 2030 etwa 184 Mt CO2ä an jährlichen Emissionen einsparen – nur knapp halb so viel wie nötig. Bereits in der im Herbst 2021 beginnenden Legislaturperiode sind kritische Entscheidungen und Steuerungsimpulse erforderlich. Verzögern sich diese, wären die gesetzlich vereinbarten Klimaschutz- ziele nicht mehr oder nur noch unter Einsatz von deutlich höheren Investitionen zu erreichen. Deutschland unterliegt in mehreren Sektoren durch ausreichend, um Deutschlands gesetzlich vereinbarte Instrumente wie dem Emissionshandelssystem der Klimaschutzziele zu erreichen; auch die nationale Europäischen Union (EU Emissions Trading System, Regulierung reicht derzeit dafür nicht aus. EU-ETS, kurz ETS), den EU-Flottengrenzwerten oder der Erneuerbare-Energien-Richtlinie zunehmend ambi- Im Industriesektor sind Investitionsanreize in CO2- tionierter europäischer Regulierung für den Klima- arme Technologien zum Stand der Studienerstellung schutz. Im Juli 2021 hat die EU-Kommission mit dem auf allen Ebenen unzureichend. Investitionen in die „Fit for 55“-Paket ein umfangreiches Bündel an Regu- meisten Dekarbonisierungstechnologien – wie neue lierungsvorschlägen entwickelt. Würde dieses umge- Prozesse, grünen Wasserstoff und erneuerbare Wärme setzt, hätte Europa damit die wohl ambitionierteste – sind in der Industrie oft teurer als Investitionen in CO2-Regulierung der Welt. Trotzdem wäre sie nicht konventionelle Technologien und daher ohne zusätz- 188 Mt CO2ä Emissionslücke in 2030 mit heutigen Instrumenten Abbildung 6 | Treibhausgasemissionen in Deutschland 1990 – 2030 Mt CO2ä 1990: 1.249 Mt Wichtigste bestehende politische Instrumente 1.200 als Basis der Referenzentwicklung CO2-Bepreisung: BEHG und ETS Kohleausstieg bis 2038 1.000 EEG-Ausbaupfad 2019: 810 Mt Gebäudeförderung (BEG + Sofortprogramm) RED II und Flottengrenzwerte 800 626 Mt mit bestehenden Befreiung Lkw-Maut für E-/H2-Lkw Instrumenten Umweltbonus, Kfz-Steuerbefreiung und reduzierte Dienstwagensteuer für E-/H2-Pkw 600 2015 188 Mt 438 Mt Lücke zum Ziel Reduktionsziel 65 % laut neuem Klimaschutzgesetz 0 1990 2020 2025 2030 Referenzpfad Zielpfad Anmerkung: Emissionen 2021 basierend auf Agora-Energiewende-Analyse Quelle: UBA (2021) Emissionsübersichten in den Sektoren des Bundesklimaschutzgesetzes; Agora Energiewende (2021) Abschätzung der Klimabilanz Deutschlands für das Jahr 2021; BCG-Analyse 16 Boston Consulting Group
Regulierungslücke von 28 Mrd. Euro in 2030 Abbildung 7 | Akteursperspektive: Betriebswirtschaftliche Mehrkosten der Klimaschutzmaßnahmen in 2030 Mrd. €, real 2019 Erneuerbare Gebäudewärme 7 8 Sonstige5 Elektrifizierung GHD1 1 1 13 Energetische Gebäudesanierung2 1 BEHG6 4 Verkehrsmittelwechsel ETS7 1 Lade- und H2-Infrastruktur 13 5 Gebäude 41 13 Verkehr Grüne Kraftstoffe3 8 Regulierungslücke 28 Umstellung der Industriewärme 5 11 Industrie Umstellung industrieller Prozesse4 7 -1 Energieeffizienzen in der Industrie E- und H2-Pkw sowie -Lkw: -18 Steuer- und Mautvorteile -25 E- und H2-Pkw sowie -Lkw: -6 Anschaffung und Betrieb Betriebswirtschaftliche Wirkung aktuell bestehender Resultierende Mehrkosten/Einsparungen Instrumente in 2030 (Referenzpfad) Regulierungslücke in 2030 in 2030 gegenüber 2019 1. Elektrifizierung von Geräten und Prozessen in Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (GHD) 2. Inkl. Gebäudeautomation und effizientem Neubau 3. Biokraftstoffe, treibhausgasneutrale synthetische Kraftstoffe, grüner Wasserstoff 4. In Stahl, Chemie, Zement 5. Im Verkehr: RED II, Umweltbonus, CO2- Flottengrenzwerte, bestehende Fördermittel für alternative Antriebe und Ladeinfrastruktur; in Gebäuden: v. a. BEG-Fördermittel 6. BEHG-Preis von 80 €/t CO2ä in 2030 7. ETS-Preis von 90 €/t CO2ä in 2030 (für über kostenlose Zuteilungen hinausgehende Emissionen) Quelle: BCG-Analyse liche Anreize unwirtschaftlich. Der Industriesektor renzpfad sinken Verkehrsemissionen bis 2030 um senkt seine Emissionen im Referenzpfad bis 2030 um 47 Mt CO2ä. Dieser Rückgang verfehlt das deutsche 17 Mt CO2ä. Zur Zielerreichung verbleibt eine Lücke Sektorziel um 32 Mt CO2ä. von 52 Mt CO2ä, die relativ größte aller Sektoren. Die Energiewirtschaft hat die größte absolute Ziellücke Im Gebäudesektor wird umfangreichere Förderung die aller Sektoren. Mit dem ETS, dem Kohleausstiegs- Sanierung des Bestands beschleunigen, allerdings gesetz und dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) nicht genug für eine Zielerreichung. Gleichzeitig ver- sind die wichtigsten Instrumente bereits angelegt. teuern CO2-Preise im deutschen Emissionshandel Jedoch reicht das aktuelle Ambitionsniveau der (Brennstoffemissionshandelsgesetz, BEHG) zwar die Instrumente für das neue gesetzlich vereinbarte Nutzung von Öl- und Gaskesseln, sind aber zu gering, Klimaschutzziel nicht aus. Außerdem scheitert schnel- um im Bestand den Wechsel auf andere Energieträger lerer Klimaschutz in der deutschen Energiewirtschaft anzureizen. Im Referenzpfad gehen Emissionen bis an mangelnder Umsetzungsgeschwindigkeit. Insbeson- 2030 um 17 Mt CO2ä zurück. Es verbleibt eine Lücke dere der Zubau CO2-ärmerer Erzeugungskapazitäten von 39 Mt CO2ä zum Ziel im Jahr 2030. – erneuerbarer Energien und Gaskraftwerke zur Ab- sicherung – und von Stromnetzen erfolgt nicht aus- Die Verkehrswende hat durch Instrumente wie Kauf- reichend ambitioniert. Obwohl Emissionen im Referenz- prämien und CO2-Preise auf Benzin und Diesel spür- pfad bis 2030 bereits um 93 Mt CO2ä sinken, verbleibt baren Aufwind bekommen. Das aktuelle Fördervolumen eine Lücke von 57 Mt CO2ä. reicht jedoch nicht aus, um den erforderlichen Markt- hochlauf anzureizen. Zudem wird der Ausbau von Insgesamt sinken die deutschen Gesamtemissionen Ladeinfrastruktur – die derzeit größte Hürde für Auto- im Referenzpfad, also bei angenommener Fortschrei- käufer – nicht ausreichend beschleunigt. Für grüne bung aktueller politischer Rahmenbedingungen, von Kraftstoffe gelten in Deutschland bereits doppelt so 2019 bis 2030 um 184 Mt CO2ä. Ohne Umsteuerungen hohe Quoten wie in der europäischen Renewable verfehlt Deutschland sein 2030-Ziel damit um Energy Directive (RED) II. Diese reichen allerdings 188 Mt CO2ä.4 immer noch nicht aus, um Investitionen in zukunfts- fähige Power-to-X-(PtX-)Kraftstoffe anzureizen. Im Refe- Klimapfade 2.0 17
Viele der technischen Maßnahmen zur Schließung Hier bremsen jedoch vor allem der höhere Kaufpreis dieser Emissionslücke führen bei den Akteuren – also von E-Fahrzeugen und Mehrkosten im Infrastrukturauf- handelnden Unternehmen und privaten Haushalten – bau einen schnelleren Umstieg bei den Antriebswech- zu einer betriebswirtschaftlichen Kostenlücke, die durch seln. Grüne Kraftstoffe verursachen insgesamt 8 Mrd. neue politische Instrumente geschlossen werden muss.5 Euro Mehrkosten gegenüber fossilem Benzin und Diesel. Hier muss für Produzenten synthetischer Kraft- Insgesamt belaufen sich die Mehrkosten der Klima- stoffe langfristige Nachfrage- und Investitionssicher- schutzmaßnahmen auf 41 Mrd. Euro im Jahr 2030. heit geschaffen werden. Nach Abzug der Wirkung Zusätzlich ist für Maßnahmen, die betriebswirtschaft- bestehender Instrumente verbleibt eine Regulierungs- lichen Entscheidern bereits Nettoeinsparungen brin- lücke im Verkehr von 13 Mrd. Euro in 2030. gen, trotzdem öffentliche Steuerung erforderlich, um andere Umsetzungshürden zu überwinden – zum Im Gebäudesektor besteht eine Regulierungslücke von Beispiel einen Mangel an Infrastruktur oder hohe 5 Mrd. Euro im Jahr 2030, vor allem durch den oft Anfangsinvestitionen. unwirtschaftlichen Wechsel zu erneuerbarer Wärme. Gebäudesanierung löst relativ geringe Mehrkosten aus, Die bestehende Regulierung – zum Beispiel die da diese annuisiert über einen Zeithorizont von rund CO2-Bepreisung im BEHG, Fördermaßnahmen wie die 30 Jahren betrachtet wird. Jedoch erfordert sie erheb- Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG) sowie liche Anfangsinvestitionen, für die die bestehende För- Kaufprämien für Fahrzeuge mit alternativen Antrieben derung noch nicht ausreicht. Darüber hinaus muss oder ordnungsrechtliche Vorgaben wie die RED II und eine erhebliche Systemträgheit überwunden werden, EU-Flottengrenzwerte – deckt von diesen 41 Mrd. Euro die aus einer Mischung aus Intransparenz, hohen im Jahr 2030 lediglich 13 Mrd. Es verbleibt daher eine Investitionskosten und langen Amortisationszeiten Regulierungslücke in Höhe von 28 Mrd. Euro, die durch sowie mangelndem Handlungsdruck bei vielen Eigen- neue oder ambitionierter ausgestaltete Klimaschutz- tümern rührt. Zudem gibt es Kapazitätsbeschränkun- instrumente geschlossen werden muss. gen bei Handwerkern. Die Industrie hat eine Regulierungslücke von bis zu In der Energiewirtschaft müssen neben einem erheb- 11 Mrd. Euro im Jahr 2030, da sich bis auf Energieeffi- lich höheren Ambitionsniveau bei erneuerbaren Ener- zienz die wenigsten Klimaschutzmaßnahmen unter gien und Netzen vor allem beträchtliche operative bestehender Regulierung betriebswirtschaftlich rech- Umsetzungshindernisse überwunden werden (Flächen- nen. Über alle Industriezweige hinweg muss vor allem ausweisungen, Straffung von Genehmigungsverfahren, die teils erhebliche Mehrkostenlücke zwischen fossilen Bündelung von Kompetenzen). Außerdem sind für den und erneuerbaren Technologien geschlossen werden. Zubau neuer Gaskraftwerke und die Flexibilisierung Darüber hinaus stehen vor allem die Grundstoff- von Stromverbrauchern neue Anreize nötig. industrien wie Stahl, Chemie und Baustoffe vor einer enormen Investitionsherausforderung. Um in diesen All das erfordert entschlossene politische Weichen- Industrien „Investment-Leakage“ – die Abwanderung stellungen in der kommenden Legislaturperiode. Über- von Neuinvestitionen ins Ausland – zu vermeiden, geordnete Zielsetzung muss die volkswirtschaftlich benötigen sie Unterstützung bei frühzeitigen Investi- effiziente Erreichung der gesetzlich vereinbarten Klima- tionsvorhaben in neue Technologien. schutzziele für 2030 beziehungsweise 2045 sein. Dafür müssen Maßnahmen so weit wie möglich im Einklang Im Verkehr entstehen über alle Klimaschutzmaß- mit üblichen Lebensdauern und Reinvestitionszyklen nahmen hinweg sogar Nettoeinsparungen von 3 Mrd. angereizt werden. Verpasste Weichenstellungen in den Euro im Jahr 2030. Fahrzeuge mit alternativen Antrie- nächsten Jahren können später nur noch zu höheren ben werden 2030 bereits unter gegebener Regulierung Kosten nachgeholt werden. Vollkostenvorteile in Höhe von 24 Mrd. Euro haben. 18 Boston Consulting Group
5 Die Umsetzung der benötigten Klimaschutzmaßnahmen ist politisch und regulatorisch komplex. Einfache Antworten greifen zu kurz. Es braucht einen breiten Instrumentenmix mit übergreifenden und sektorspezifischen Maßnahmen, der zügigen Infrastrukturaufbau durchsetzt, die Nutzung fossiler Brennstoffe effektiv verteuert, erneuerbare Technologien günstiger macht, den erheblichen Investi- tionsbedarf für Bürger und Unternehmen tragbar macht und entschei- dende Weichen für die Treibhausgasneutralität im Jahr 2045 stellt. Grundsätzlich stehen dem Staat mit (CO2-)Bepreisung, Das bedeutet auch, dass eine Steuerung allein mit Förderung und Ordnungsrecht verschiedene regulatori- sektorübergreifenden Instrumenten unrealistisch ist. sche Ansätze zur Verfügung. Keiner der drei ist allein Die zu überwindenden Umsetzungshürden sind in sinnvoll in der Lage, die Erreichung der gesetzlich ver- jedem Sektor sehr spezifisch, und grüne Technologien einbarten Klimaschutzziele volkswirtschaftlich kosten- sind in unterschiedlichem Reifegrad und zu sehr unter- effizient und ohne finanzielle Verwerfungen zu gewähr- schiedlichen Vermeidungskosten verfügbar. Angesichts leisten. des bereits kurzfristig sehr hohen gesetzlich vereinbar- ten Klimaschutzziels müssen trotzdem sehr ambitio- Es erfordert einen balancierten Mix aus verschiedenen nierte Maßnahmen in allen Sektoren gleichzeitig regulatorischen Ansätzen, um die gesetzlich vereinbar- umgesetzt werden. Deswegen ist für eine effiziente ten Klimaschutzziele effizient, fair und mit möglichst und effektive Erreichung der gesetzlich vereinbarten geringen unerwünschten Folgeeffekten für Bürger und Klimaschutzziele eine stark sektorspezifische politi- Unternehmen zu erreichen. Dieser Mix sollte sich an sche Steuerung nötig. tatsächlich beobachteten Hürden orientieren, die in den einzelnen Sektoren überwunden werden müssen. Klimapfade 2.0 2.0 19
Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft Zusätzliche Instrumente zu bestehender Regulierung Industrie Verkehr Fossile Energieträger unattraktiver machen EU-ETS, höhere CO-Bepreisung in Nicht-ETS-Sektoren (wo durchsetzbar), Ausrichtung der Energiebesteuerung an Energiegehalt und Nachhaltigkeitsgrad Wechsel zu Strom anreizen Entlastung der Strompreise für erneuerbare Wärmeanwendungen in Industrie und Gebäuden Übergreifende Instrumente Nationales Infrastrukturprogramm Ausbau Stromnetze, Fernwärme und Schiene, Aufbau nationaler Infrastrukturen für E-Mobilität, Wasserstoff und CO Nationale Biomassestrategie Umverteilung in großtechnische Industrie- und Fernwärmeanlagen (perspektivisch BECCUS), Auslauf Förderung des Einsatzes in Gebäuden und dezentraler Verstromung Klimaschutzverträge (CCfDs) Förderung Lade- u. H-Infrastruktur Förderung grüner Produkte und Wärme Investitionszuschüsse für Hochlauf Investitionsförderung Kaufanreize für E-Pkw Sektor- für erneuerbare Industriewärme zur Angleichung der Anschaffungskosten spezifische Instrumente Effizienzstandards und Förderung CO-basierte Lkw-Maut Erhöhung und Sonderabschreibungen zusätzlich zu Mautbefreiung für E/H Grüne Leitmärkte PtX-Quoten und -Auktionen zum Beispiel durch Quoten Invest.-/Planungssicherheit im Hochlauf Forschungs- und Innovationsagenda Forschung Grundlagen-Klimaforschung, gezielte Investitionen in Game-Changer (Batterien, Quanten- computing …), beschleunigte Skalierung (Hochtemperatur-Power-to-Heat, CCUS …) Sozialer Ausgleich Carbon-Leakage-Schutz Zuteilungen, Grundsicherung, Härtefallfonds, (teilweise) CBAM, Ausnahmen, Härtefallfonds, SPK Ausgleich, Abschaffung EEG-Umlage … Finanzierung Gegenfinanzierung Kombination aus Einsparungen, Abgaben, Steuern, Schulden – zur Finanzierung fiskalischer Belastung von bis zu 50 Mrd. Euro pro Jahr in 2030 Klima-Governance Stärkere Bündelung und zentralere Koordination politischer Verantwortung, Monitoring von Frühindikatoren, Beschleunigung Verfahren, Kapazitäten für Länder/Kommunen … Politischer Prozess Gesellschaftsvertrag Legislaturperioden überdauernder Konsens für Infrastrukturausbau, faire Verteilung der Belastungen … 20 Boston Consulting Group
Sie können auch lesen