Kommentar zur SRF-Sendung "rec "Der Teufel mitten unter uns"

 
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Kommentar zur SRF-Sendung «rec.»:
«Der Teufel mitten unter uns»
Dr. med. Jan Gysi (*)

In der SRF-Sendung «rec.» vom 14.12.2021 über «Verschwörungser-
zählungen» wird über rituelle und satanistische Gewalt berichtet. Der
Film begeht allerdings den schwerwiegenden Fehler, weder zu differen-
zieren noch fachlich einzuordnen. Stattdessen wird eine einseitige, unkri-
tische und nur auf Verschwörungstheorien basierende Perspektive ein-
genommen. Das hat in zweifacher Hinsicht schlimme Konsequenzen:
Zum einen trägt eine solche Berichterstattung dazu bei, Opfer von orga-
nisierter Gewalt (mit oder ohne ritualisierten Aspekten) zu stigmatisieren.
Zum anderen besteht die Gefahr, dass sich diese reine Leugnungsper-
spektive negativ auf Fachleute auswirkt, die sich in Therapie, Beratung,
Prävention und Strafverfolgung für Opfer sexualisierter Gewalt einset-
zen.
Mit diesem Kommentar will ich aus meiner psychotraumatologisch-psy-
chiatrischen Perspektive heraus die Kontroverse um rituelle Gewalt ein-
ordnen - unter anderem aufgrund zahlreicher Mails von Gewaltbetroffe-
nen und Fachleuten, die durch den Bericht sehr irritiert sind, sich stigma-
tisiert behandelt fühlen und mich um eine Stellungnahme gebeten ha-
ben.

Im Filmbeitrag wird rituelle Gewalt immer wieder mit satanistischer Gewalt gleichgesetzt,
ohne klarere Differenzierung. Der Begriff der satanistischen Gewalt findet unter Fachleuten
der Psychotraumatologie und im wissenschaftlichen Diskurs aber kaum Verwendung [1]. 1
Aufgrund der ausgewählten kurzen Interviewsequenzen und den folgenden einseitigen Kom-
mentaren des Journalisten wird der falsche Eindruck vermittelt, die Fachpersonen seien An-
hänger von Verschwörungstheorien. Doch sowohl die interviewte Psychologin und Psycho-
therapeutin wie auch der interviewte Arzt und Psychotherapeut sind engagierte und versierte
Fachpersonen, die sich kompetent für Gewaltopfer einsetzen. Ihr professioneller Umgang mit
Berichten von ritueller Gewalt wird aus dem Beitrag in keiner Art und Weise ersichtlich. Auch
die Stadtpolizei Zürich leistet äusserst kompetente Arbeit beim Untersuchen von Meldungen
zu sexualisierter Gewalt (und anderen Gewaltformen). Sie würde unprofessionell handeln,

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  Im Filmbeitrag wird leider nur unzureichend definiert, was die einzelnen befragten Personen unter ritueller Ge-
walt verstehen. Ich berufe mich auf die Definition des Unabhängigen Beauftragten der deutschen Bundesregie-
rung für Fragen des sexuellen Kindsmissbrauchs:
«Als organisierte sexualisierte Gewalt bezeichnet man die systematische Anwendung schwerer sexualisierter Ge-
walt in Verbindung mit körperlicher und psychischer Gewalt durch mehrere Täter und/oder Täterinnen oder Täter-
netzwerke. Häufig ist sie mit kommerzieller sexueller Ausbeutung, wie zum Beispiel Zwangsprostitution oder der
Herstellung von Missbrauchsdarstellungen verbunden.
Dient eine Ideologie als Begründung oder Rechtfertigung von Gewalt, bezeichnet man dies als rituelle Gewalt.
Eine solche Ideologie kann religiös sein und beispielsweise im Kontext von Sekten und Kulten vorkommen oder
sich aus einer politischen Überzeugung, zum Beispiel in rassistischen oder faschistischen Gruppierungen, ablei-
ten.»
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wenn sie rituelle Gewalt kategorisch ausschliesst. Strafverfolgungsbehörden sind gesetzlich
dazu verpflichtet, Anzeigen zu Sexualstraftaten gründlich zu untersuchen, auch wenn Aussa-
gen bizarr und unglaubwürdig erscheinen.

Es gibt seit Jahrzehnten Berichte von Betroffenen über angebliche ritualisierte Gewalt [2-4].
Diese Berichte gilt es ernst zu nehmen, ohne sie als die absolute Wahrheit anzunehmen. Ei-
nige Berichte zu angeblicher ritueller Gewalt konnten später als falsch nachgewiesen wer-
den. Bekannt wurden vor allem die Falschbeschuldigungen an der McMartin Vorschule in
den USA 1987 bis 1990 [5]. Zu ritueller Gewalt gibt es bisher wenig ermittlungstechnische
Beweise und kaum Verurteilungen. Zu bedenken ist allerdings, dass Ermittlungen im Bereich
organisierter und ritueller Gewalt extrem schwierig sind. Laut Manfred Paulus, pensionierter
Kriminalhauptkommissar in Freiburg i.B., der im Bereich der Rotlichtkriminalität, des Frauen-
und Kinderhandels und der Pädokriminalität tätig war und zu organisierter und ritualisierter
Gewalt publiziert hat, seien viele Gründe dafür verantwortlich, dass bisher kaum Beweise zu
organisierter ritueller Gewalt gefunden worden seien. Dazu gehören beispielsweise Unerfah-
renheit der involvierten Ermittlungsbehörden, Schulungsdefizite, Fehlinterpretationen, man-
gelnde statistische Erfassung, durch Traumatisierung verzerrte Erinnerungen der Opfer-
zeug:innen, ein Versagen des Opfer- und Jugendschutzes durch öffentliche und gemeinnüt-
zige Institutionen und bisher ausgebliebene Fahndungserfolge [6].

Ritualisierte Gewalt darf nicht komplett geleugnet werden

Die komplette Leugnung ritualisierter Gewalt ist gefährlich. Es gibt Urteile wegen organisier-
ter Gewalt, insbesondere wegen sexualisierter Gewalt in Glaubensgemeinschaften, Sekten
oder Gruppierungen mit ideologischem Hintergrund. Aber diese Urteile tragen nicht das Eti-
kett «Rituelle Gewalt» [7]. Zugleich muss darauf hingewiesen werden, dass es international
durchaus einzelne Fälle ritueller Gewalt gegeben hat, die aber wenig Beachtung fanden, wie
zum Beispiel der «Kidwelly Sex Cult» (2011 in Wales, GB) [8].

Als Gesellschaft sind wir verpflichtet, die Berichte von Menschen, die von ritueller Gewalt be-
richten, empathisch anzuhören und zu untersuchen. Der Film nimmt fatalerweise eine einsei-
tige Leugnungsperspektive ein und trägt dadurch zu einer Stigmatisierung bei, welche es uns
als Gesellschaft erschwert, das Phänomen differenziert zu reflektieren und zu untersuchen.
Dadurch werden auch Fachleute in verschiedenen Bereichen angegriffen, die sich für Opfer
sexualisierter Gewalt einsetzen.

Im Beitrag bleibt leider auch unerwähnt, dass andere Länder sich sehr differenziert mit dem
Phänomen der organisierten ritualisierten Gewalt auseinandersetzen. So hat das niederlän-
dische Parlament aufgrund der vielen Berichte zu organisierter und ritueller Gewalt eine spe-
zielle unabhängige Untersuchung zu organisiertem sadistischem Missbrauch an Kindern ein-
gesetzt [9, 10]. In Deutschland gibt es eine von der Bundesregierung eingesetzte «Unabhän-
gige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs», die sich mit organisierter
und ritueller Gewalt auseinandergesetzt hat und dies weiterhin tut [11].

Dass das staatliche Schweizer Fernsehen einen so einseitigen und im internationalen Ver-
gleich qualitativ mangelhaften und undifferenzierten Film produziert und prominent vertreibt,
ist skandalös und kann einmal mehr dazu führen, dass generell Betroffenen organisierter
Gewalt nicht geglaubt wird und diese stigmatisiert und ausgegrenzt werden.

Beitrag verletzt publizistische Leitlinien des SRF
Die Sendung verletzt überdies grundlegende Regeln der publizistischen Leitlinien des SRF
[12]. Sie widerspricht dem veröffentlichten Selbstverständnis von SRF, indem sie weder
sachgerecht ist noch vielfältig und unabhängig. Der Journalist berichtet voreingenommen
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und einseitig. Indem er seine eigene Befindlichkeit und Position in den Vordergrund rückt,
misslingt die Vermittlung eines möglichst faktengetreuen Bildes. Die Sendung heizt ein
Thema über das sachgereichte Mass hinaus auf und verletzt die Gefühle der Opfer von
schwerem sexualisiertem Missbrauch. Es fehlt an einer unabhängigen Grundhaltung, und es
wird eine unangemessene Nähe signalisiert, indem der Autor eine Exponentin im Betrag
duzt.

Indem der Beitrag einseitig und tendenziös auf Satanismus und Verschwörungstheorien fo-
kussiert und anerkannte Fachleute als Verschwörungstheoretiker aussehen lässt, wird von
den realen gesellschaftlichen Problemen im Umgang mit sexualisierter Gewalt abgelenkt.
Dazu gehören: ambulante und stationäre Versorgungslücken für Menschen mit Traumafolge-
störungen, mangelnde Ressourcen für Ermittlungsbehörden im Kampf gegen neue Formen
sexualisierter Gewalt an Kindern im Internet, ein veraltetes Sexualstrafrecht, Mängel in der
Ausbildung vieler Berufsfelder wie beispielsweise Medizin, Justiz, Psychologie, Polizei, Pfle-
gewissenschaften und Sozialarbeit zu Psychotraumatologie und Viktimologie, ein Mangel an
Behandlungsangeboten für Menschen mit Präferenz-Besonderheiten (Pädophilie, Hebephi-
lie), offene Fragen bei der Einschätzung der Glaubhaftigkeit der Aussagen von Opfern (Kin-
der und Erwachsene) und die Tendenz zur gesellschaftlichen Stigmatisierung von Opfern
von sexualisierter Gewalt.

Fachleute der Psychotraumatologie lehnen suggestive Therapieformen ab

Im Filmbeitrag wird zu Recht auf die Gefahr von Verschwörungstheorien zu ritueller und sa-
tanistischer Gewalt hingewiesen. Diese Gefahr ist unter Fachleuten der Psychotraumatologie
bekannt. In einer professionellen Traumatherapie ist es ein Qualitätsstandard, Berichte von
ritualisierter Gewalt mit Vorsicht entgegenzunehmen. Manchmal ist die wahre Missbrauchs-
geschichte in einer ersten Therapiephase im Rahmen der posttraumatischen Vermeidung
noch zu schrecklich zum Erzählen (z.B. bei innerfamiliärer sexueller Ausbeutung, sexualisier-
ter Gewalt mit dem Herstellen von Foto- und Videomaterial von Kindern), weshalb vorüber-
gehend (bewusst oder unbewusst) eine alternative Missbrauchsgeschichte erzählt wird, z.B.
ritualisierte Gewalt. In einigen Fällen muss aber erwogen werden, dass sexualisierte Gewalt
von ritualisierten ideologischen Handlungen begleitet waren.

In einer fachkundigen Traumatherapie gemäss internationalen Richtlinien [13, 14] wird auf
Suggestion verzichtet. Das Suggerieren satanistischer Rituale gilt als Kunstfehler. Zugleich
gehört es zum Therapiestandard, den Berichten von Betroffenen nicht mit Verleugnung und
unreflektierter Abwehr zu begegnen oder Erzählungen von Traumatisierungen zu verhindern.
Manchmal braucht es in einer Traumatherapie viel Zeit und Geduld, um sich der Wahrheit zu
nähern und dadurch posttraumatische Symptome zu heilen. Und manchmal übersteigen die
Erfahrungen von Gewaltbetroffenen die Vorstellungskraft von Nichtbetroffenen, zu welchen
Grausamkeiten Menschen in der Lage sind [15].

Zu ritueller Gewalt kann gerade in Onlineforen und Beratungsangeboten, die einseitig auf ri-
tualisierte Gewalt fokussieren, eine Suggestionsgefahr oder ein Mangel an kritischer Refle-
xion zu Erinnerungen auftreten. Zugleich ist zu bedenken, dass in der Schweiz eine ambu-
lante und stationäre Versorgungslücke in der Behandlung von Menschen mit Traumafolge-
störungen besteht - mit einem entsprechenden Mangel an fundierten professionellen Schu-
lungsmöglichkeiten, weshalb sich viele Betroffene und Interessierte an Laienorganisationen
wenden müssen, die ehrenamtlich arbeiten und die über so komplexe Phänomene wie Sug-
gestion, Falscherinnerungen, posttraumatische Vermeidung, toxische Täterbindungen, Ver-
leugnung und komplexe Traumafolgestörungen nicht ausreichend ausgebildet sind (die ja
auch für Spezialist:innen eine grosse Herausforderung darstellen). Eine solche Laienorgani-
sation wurde im SRF-Beitrag angegriffen, weil sie sich zu wenig kritisch mit dem Phänomen
der rituellen Gewalt auseinandersetzt. Ich will die Schwierigkeiten solcher Laienangebote
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nicht kleinreden, aber es ist mir der Fairness halber ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass
es gerade die Versorgungslücken sind, die solche Angebote mitbegünstigen und Laienorga-
nisationen überfordern können.

Kontroversen um rituelle Gewalt
Organisierte Gewalt mit ritualisierten Aspekten (ORG) hat bereits in der Vergangenheit zu
teilweise intensiven Debatten geführt, wobei den Berichten von Betroffenen oft mit Argwohn
begegnet wurde und immer noch wird [16].
In den vergangenen zehn Jahren wird die Diskussion zunehmend öffentlicher geführt. Inhalt-
lich bleibt die Auseinandersetzung um organisierte Gewalt mit ritualisierten Aspekten jedoch
umstritten. Wie der Betroffenenrat des unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen
Kindesmissbrauchs (D) in einem «Statement zum Umgang mit ritueller Gewalt» schrieb,
existiere seit mehr als zwanzig Jahren ein Narrativ zu ritueller Gewalt, das eine wissen-
schaftliche Beschäftigung mit dieser Form von Gewalt unnötig verzögere und adäquate Hilfe
für Betroffene erschwere: «Seitdem Menschen von ihren Erfahrungen ritueller Gewalt berich-
ten, behaupteten andere, diese Erfahrungen seien unwahr» [17].
In einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem Titel «Plädoyer für solide Information zwi-
schen zwei Extremen» gehen die Betreibenden des «Infoportals Rituelle Gewalt» auf die ak-
tuelle Diskussion ein. Sie weisen darauf hin, dass sich die öffentliche Auseinandersetzung
seit mehreren Jahren zunehmend in zwei Extremen bewege [18]:
•   «Weltverschwörungsideen»: Das Thema rituelle (satanistische) Gewalt werde – teilweise
    vermischt mit rechtsextremen und antisemitischen Aussagen – politisch instrumentali-
    siert, um eine Endzeitstimmung zu erzeugen und Angst zu verbreiten. Dabei werden
    «weltumspannende Netzwerke» und Parallelgesellschaften postuliert, welche die ver-
    steckte Macht über Politik, Wirtschaft und andere Bereiche der Gesellschaft hätten. Dazu
    gehören Verschwörungstheorien wie beispielsweise «QAnon» und «The Gabal» [19].
•   Komplette Leugnung: Im Gegensatz zu Verschwörungsideen behaupteten einige Perso-
    nen und Institutionen, dass ritualisierte Gewalt inexistent sei und nur «von gut vernetzten
    TherapeutInnen eingeredet» werde.
Die AutorInnen weisen in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass es besonders schwierig sei
für eine Gesellschaft, «in die Abgründe menschlich verursachter Gewalt zu schauen». Sie
plädieren dafür, weder eine Position der Leugnung noch der Übertreibung einzunehmen,
sondern sich «nüchtern, empathisch und offen für solide Aufklärung und sachliche Informa-
tion» einzusetzen [18].
Dabei muss jedoch kritisch angefügt werden, dass in gewissen Teilen der Literatur zu Psy-
chotraumatologie zeitweise tendenziell ein zu starker Fokus auf rituelle Gewalt zu beobach-
ten ist. Es werden viele Bücher zu diesem Thema publiziert, während andere Formen sexua-
lisierter Gewalt wie innerfamiliäre sexualisierte Ausbeutung und CSAM (Child Sexual Abuse
Material) ungerechtfertigt verhältnismässig wenig Beachtung finden.
Mir persönlich ist wichtig, auf die häufigen Formen organisierter Ausbeutung hinzuweisen
wie z.B. sexualisierte Gewalt an Kindern und Frauen in Familien und Institutionen, die sexua-
lisierte Ausbeutung von Kindern, das Herstellen von Missbrauchsmaterial mit sexualisierter
Gewalt an Kindern, Loverboy-Missbrauch, Menschenhandel und Zwangsprostitution. Von ei-
nem einseitigen Fokus auf rituelle Gewalt ist abzusehen. In meinem Buch «Diagnostik von
Traumafolgestörungen» erwähne ich «organisierte und ritualisierte Gewalt im familiären Kon-
text» zum Beispiel nur in einem kurzen Textteil (S. 30) [20], während andere Gewaltformen
viel mehr Platz erhalten.
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Weshalb rituelle Gewalt schwierig aufzuklären ist
In einer Untersuchung der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf wurde untersucht, welche
Faktoren die Aufdeckung von organisierten und rituellen Gewaltstrukturen (d.h. vernetzte Tä-
ter:innengruppen mit ideologischen Hintergründen, ORG) erschweren können [11]. In der
Schlussfolgerung schrieben die Autor:innen:
«Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass neben den bezeichneten Täter:innen und
betroffenen Personen auch andere Personen (im direkten Umfeld sowie als Teil der Gesell-
schaft) in systemischen Interaktionsprozessen Bedingungen schaffen können, welche die
Aufdeckung von ORG in Deutschland erschweren. Um dieses System zu verändern, ist eine
sachliche und sensible Aufklärungsarbeit an verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen
hinsichtlich der Wahrnehmung, Eindämmung und Bewältigung typischer Herausforderungen
im Bereich der ORG notwendig. Besonders hervorzuheben sind hierbei die vielschichtigen
Machtverhältnisse zwischen Täter:innen und Betroffenen/anderen Personen, verschwim-
mende Grenzen zwischen Opfer- und Täterschaft, Manipulations- und Vertuschungsstrate-
gien, dissoziative Störungen bei den Betroffenen und eine unspezifische, aber gängige Kul-
tur des Schweigens. Eine transparent informierte Gesellschaft, zum Beispiel durch professio-
nelle Schulungen in pädagogischen Einrichtungen, in der Gesundheitsversorgung, in der
Justiz und bei der Polizei, könnte dazu beitragen, ORG-Strukturen stärker entgegenzuwirken
und Betroffene besser zu unterstützen.»
Diese Erkenntnisse treffen meines Erachtens auch auf die Schweiz zu. So gibt es bei uns
beispielsweise in Medizin und Psychologie kaum professionelle Schulungen zu organisierten
Gewaltstrukturen, in denen differenziert und wissenschaftlich basiert zu organisierter sexuali-
sierter Ausbeutung sowie zu Suggestions- und Verleugnungsgefahren aufgeklärt wird. In den
Weiterbildungen, die ich anbiete, ist mir dies ein grosses Anliegen.

Irritierende Hintergründe zum Beitrag
Leider trägt der SRF-Filmbeitrag nicht zur notwendigen Aufklärungsarbeit bei, im Gegenteil.
Ein irritierender Aspekt ist die Tatsache, dass im August 2021 im «Beobachter» ein Artikel
erschien mit dem fast identischen Titel «Traumatisiert auf Teufel komm raus». In diesem Arti-
kel wurde ohne jegliche Belege behauptet, dass «Schweizer Traumatologen» eine unkriti-
sche Haltung zu traumatischen Erinnerungen einnehmen würden und suggestiv arbeiteten.
In der ersten Version des Artikels wurde ich als «einer der aktivsten Fürsprecher» der Theo-
rie verleumdet, dass «satanistische oder okkulte Netzwerke existieren, die Babys und Kinder
rituell foltern, ihre Persönlichkeiten spalten und die Gesellschaft unterwandern, inklusive Poli-
zei und Gerichte». Zudem wurden mir falsche Zitate unterstellt, Aussagen wurden aus dem
Kontext gerissen verzerrt dargestellt, und vor der Veröffentlichung wurde ich nicht zu einer
Stellungnahme eingeladen. Da es für mich leicht zu beweisen war, dass ich mich schon
lange kritisch sowohl zu den Verschwörungs- wie auch zu den Verleugnungspositionen um
rituelle Gewalt äussere, musste der «Beobachter» diese erste Darstellung vom Internet und
aus der Schweizerischen Mediendatenbank SMD entfernen.
Im Beobachter-Artikel wie auch im SRF-Beitrag traten der forensische Psychiater Dr.
Thomas Knecht und der Religionswissenschaftler und Sektenkenner Georg Schmid auf.
Beide sind in ihren Fachbereichen ausgewiesene und bekannte Experten. Die beiden äus-
sern sich jedoch auch zu Fragen der Psychotraumatologie, ohne darin eine nachgewiesene
Expertise zu besitzen.
Kernelement sowohl des Beobachter-Artikels als auch der SRF-Reportage ist zudem der
gleiche Fall einer jungen Frau, die ihren Eltern sexualisierte Gewalt vorwirft. In beiden Beiträ-
gen kommt die Betroffene selbst nicht zu Wort. Ich kenne ihren Fall nicht persönlich, aber es
fällt auf, dass einige ihrer Aussagen, die durchaus problematisch erscheinen, nicht in einen
Zusammenhang gestellt werden, was es mir als Zuschauer nicht ermöglicht, den Gesamt-
kontext zu verstehen. Damit wird meines Erachtens eine Stigmatisierung und mögliche Ret-
raumatisierung dieser jungen Frau riskiert.
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Der kurze Hinweis auf «Electronic Ancle Bracelets» («Fussfesseln») des «Vereins für Opfer-
sicherheit» für Gewaltopfer ist völlig verzerrt und aus dem Kontext gerissen dargestellt. Es
handelt sich dabei um eine Schutzmöglichkeit für Menschen mit komplexen Traumafolgestö-
rungen und Verdacht auf anhaltende Gewalt, die sich freiwillig zu ihrem Schutz und in Ab-
sprache mit ihrem Umfeld und der Polizei dazu entschliessen, wenn andere Schutzmöglich-
keiten wie Frauenhäuser oder polizeiliche Schutzmassnahmen nicht ausreichen oder nicht
möglich sind.

Schlussfolgerungen

Das Phänomen der organisierten rituellen Gewalt ist ein äusserst komplexes Phänomen, das
viele Herausforderungen beinhaltet: menschliche Abgründe, organisierte Gewaltstrukturen,
toxische Täterbindungen, gesellschaftliche Bagatellisierungs- und Verleugnungsbestrebun-
gen, Vergewaltigungsmythen, fehlende Lobby für Betroffene in der Politik, Versorgungslü-
cken, Schulungsdefizite, mangelnde wissenschaftliche Aufarbeitung, Ressourcenmangel in
Prävention, Ermittlungsbehörden, Beratung und Therapie, Fehlinterpretationen, komplexe
Traumafolgestörungen wie die komplexe posttraumatische Belastungsstörung und die disso-
ziative Identitätsstörung, durch Traumatisierung verzerrte Erinnerungen, Glaubhaftigkeits-
probleme, dissoziative Amnesien, Suggestion, Verschwörungstheorien, Falscherinnerungen,
Falschbeschuldigungen, und viele mehr. Ich behaupte, dass bisher niemand die ganze Prob-
lematik verstanden hat.

Vor diesem Hintergrund können solche undifferenzierten Beiträge wie die besagte SRF-Re-
portage grossen Schaden anrichten – für die behandelnden Fachleute, die mit ihren aus dem
Kontext gerissenen Aussagen als Anhänger von Verschwörungstheorien diffamiert werden,
aber gerade auch für die Betroffenen von organisierter Gewalt, denen nicht geglaubt wird
und die in der Folge stigmatisiert und ausgegrenzt werden.

Bern, 20.12.2021
Dr. med. Jan Gysi, Bern
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

www.jangysi.ch

(*) Ich danke Peter Rüegger herzlich für seine wertvollen Feedbacks beim Entwickeln dieses
Texts.

PS: Ich bin vom 23.12. 2021 bis am 28.2.2022 in einem Sabbatical, das ich bereits seit eini-
gen Jahren geplant habe. In der aktuellen Debatte ist der Zeitpunkt etwas ungünstig, ich
plane aber trotzdem, mir die Auszeit zu nehmen. Ich bitte um Verständnis, in dieser Zeit nicht
für Rückfragen, Reklamationen und Feedback zur Verfügung zu stehen.
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Literatur
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18.     Infoportal_Rituelle_Gewalt, Plädoyer für solide Information zwischen zwei Extremen. 2020.
19.     Zuckerman, E., QAnon and the Emergence of the Unreal. Journal of Design and Science,
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20.     Gysi, J., Diagnostik von Traumafolgestörungen: Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell
        nach ICD-11. 2020, Bern: Hogrefe.
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