Kein Kohleausstieg durch die Hintertür
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
INTERVIEW ZUKUNFTSFRAGEN Kein Kohleausstieg durch die Hintertür Die Bundesregierung hat einen Entwurf zur Neufassung der 13. sowie zur Änderung der 17. Bundes-Immissionsschutz- verordnung (BImSchV) vorgelegt, durch die europäische Vorgaben aus den BVT-Schlussfolgerungen für rund 580 Groß- feuerungsanlagen in Deutschland umgesetzt werden sollen. Sowohl die Erarbeitung der BVT-Schlussfolgerungen auf europäischer Ebene wie auch die Umsetzung in nationales Recht waren von kontroversen fachlichen und politischen Diskussionen begleitet. Vor allem die neuen Grenzwerte für den Ausstoß von Quecksilber und Stickoxiden aus Braunkohle- kraftwerken waren und sind umstritten. Im Interview mit der „et“ erläutert Prof. Dr.-Ing. Alfons Kather die Genese und die technische Umsetzbarkeit der neuen Vorgaben. „et“: Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung hatte sich in ihren abschlie- ßenden Empfehlungen gegen eine zu strenge Auslegung der neuen fachlichen Standards ausgesprochen und sogar einen „Kohleausstieg durch die Hintertür“ befürchtet. Waren diese Erwartungen begründet? Kather: Der vorliegende Entwurf zur 13. und 17. BImSchV erfüllt die im BREF-LCP gesetzten Anforderungen und bedeutet ambitionierte, aber technisch noch erreichbare und wirt- schaftlich verhältnismäßige Grenzwertver- schärfungen für Braunkohlekraftwerke mit einer Leistung über 300 Megawatt. Bezüglich der Emissionsgrenzwerte für mit Kohle befeuer- te Neuanlagen werden insbesondere bei Queck- silber sehr ambitionierte Vorgaben gesetzt, die am unteren Rand der von der EU im BREF-LCP vorgegebenen Spanne liegen. Bei Bestands- und Altanlagen wird es bei vielen Anlagen zu erheb- lichen Nachrüstungen kommen, um die neuen Grenzwerte einhalten zu können. Vor dem Hin- tergrund des inzwischen gesetzlich geregelten Kohleausstiegs stellen die neuen Grenzwerte ambitionierte, aber mit Blick auf die Restlauf- Prof. Dr.-Ing. Alfons Kather, ehemals Leiter des Instituts für Energietechnik der TU Hamburg- zeiten der Bestandsanlagen gerade noch leist- Harburg Bild: TUHH bare Anforderungen dar und führen so zu kei- nem „Kohleausstieg durch die Hintertür“. „et“: Die Verabschiedung der BVT-Schluss- 2016 eine „Expert opinion on BAT-associated Anders wäre dies, wenn zum Beispiel die folgerungen war geprägt durch anhaltenden emission levels for mercury emissions to air Quecksilberemissionsgrenzwerte für braun- fachlichen Dissens. Wie kam es dazu? from existing lignite-fired power plants with kohlebefeuerte Bestands- und Altanlagen nied- pulverised combustion boilers in the LCP riger angesetzt würden. Die dafür von einem Kather: Von Ende 2010 bis Anfang 2013 habe BREF review process“ verfasst, welche auch technisch nicht kompetenten Institut seit Jah- ich mit meinem Institut das vom Umwelt- im europäischen Parlament verteilt wurde. ren verbreiteten geringen Investitionskosten bundesamt beauftragte Projekt „Innovative Obgleich mir das BREF-LCP-Büro (EIPPCB) sind trotz Korrektur immer noch um den Fak- Techniken: Beste verfügbare Technik in aus- in Sevilla in allen Punkten Recht gab, wollte tor von etwa 10 zu niedrig angesetzt und daher gewählten Sektoren“ bearbeitet. Im Rahmen man an der getroffenen Festlegung der Queck- irreführend – eine weitere Verringerung des dieses Projekts haben wir einen Fragenkata- silber-Emissionsgrenzwerte für staubgefeuerte Quecksilber-Grenzwertes für Braunkohlekraft- log erstellt, der die Basis für die neuen BREF- Braunkohle-Anlagen nichts mehr ändern, werke mit einer Leistung über 300 Megawatt LCP-Anforderungen bildete. Da bei der Fest- weil die Abstimmung im europäischen Parla- würde zu sehr hohen Investitionskosten und legung der Quecksilber-Emissionsgrenzwerte ment unmittelbar bevorstand. daher zu einem „Kohleausstieg durch die Hin- durch das Sevilla-Büro EIPPCB eine sachwid- tertür“ führen. rige Ableitung vorgenommen wurde, habe ich „et“: Was waren Ihre konkreten Kritikpunkte? 28 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3
INTERVIEW ZUKUNFTSFRAGEN „Es ist weiterhin kritikwürdig, dass die BVT-Schlussfolgerungen sowohl beim Quecksilber wie auch bei den Stickoxiden auf falschen Ableitungen beruhen. Die neuen Anforderungen an große bestehende Braun- kohlekraftwerke werden gerade noch erfüllbar sein oder im Einzelfall Ausnahmeregelungen für die noch verbleibende Betriebsdauer erfordern.“ Prof. Dr.-Ing. Alfons Kather, ehemals Leiter des Instituts für Energietechnik der TU Hamburg-Harburg Kather: Der Nachweis des Ausstoßes von gen damit aber in einer ähnlichen Größenord- werden müssen, damit die in der vorliegenden weniger als 1 Mikrogramm Quecksilber pro nung wie jene für große Braunkohlekraftwer- Verordnung festgelegten Emissionsgrenzwerte Normkubikmeter Rauchgas für staubgefeu- ke in den USA, die einen Grenzwert von etwa noch eingehalten werden können. erte Braunkohle-Anlagen wurde nie korrekt 5,6 Mikrogramm einhalten müssen. belegt. Weltweit gibt es kein Braunkohle- „et“: Könnte man die von Ihnen erwähnten kraftwerk mit Staubfeuerung, das mit derart „et“: Wie aussagekräftig ist der Vergleich mit Schlauchfilter in Deutschland verwenden? niedrigen Werten betrieben wird. Insofern den USA? kann der untere Wert der Bandbreite nicht Kather: Eine weitere Absenkung der Queck- den Stand der Technik darstellen. Die BREF- Kather: Die im Vergleich zu den US-Grenz- silber-Emissionen durch Austausch der Elektro- LCP-Umfrage ergab für staubgefeuerte Braun- werten leicht höheren Quecksilber-Emissions- Filter gegen Schlauchfilter hätte erhebliche kohle-Anlagen mit mehr als 300 Megawatt grenzwerte für deutsche Kohlekraftwerke sind Umbaumaßnahmen mit langen Stillständen Leistung eher einen Wert von 9 Mikrogramm insofern sachgerecht, weil die US-Kraftwerke der Anlagen zur Folge. Derartige Maßnahmen pro Normkubikmeter und nicht wie von der sehr häufig mit einem Schlauchfilter ausgerüs- machen technisch-ökonomisch bei Bestands- EU festgelegt zwischen weniger als 1 bis 7 tet sind. In solchen Fällen ist auf relativ einfa- anlagen im Hinblick auf die neuen gesetzli- Mikrogramm pro Normkubikmeter. che Weise durch eine Zugabe von Quecksilber chen Restlaufzeiten keinen Sinn. Sie wären bindenden Additiven vor dem Schlauchfilter vielmehr unverhältnismäßig und würden zur „et“: Was bedeutet das für die zukünftige eine hohe Reduktion zu erreichen. In Deutsch- vorzeitigen Abschaltung der Anlagen führen. Praxis? land sind die entsprechenden Kohlekraftwer- Eine weitere Möglichkeit zur Abscheidung ke dagegen mit Elektro-Filter ausgerüstet. von Quecksilber ist das GORE Mercury Con- Kather: Da müssen wir streng zwischen trol System (GMCS). Dieses Verfahren befindet Neu- und Bestandsanlagen unterscheiden. „et“: Welche Minderungstechnik eignet sich sich noch im Bewährungsstadium und hat Mit 1 Mikrogramm pro Kubikmeter Rauch- für deutsche Anlagen? noch nicht unter Beweis gestellt, dass mit ihm gas wurde der Emissionsgrenzwert für unter den Bedingungen in deutschen Kraft- große Braunkohle-Neubaukraftwerke am Kather: Die wesentlichen Maßnahmen zu werken ein längerfristiger Erfolg gesichert ist. unteren Rand des von der EU vorgegebenen einer weiteren Absenkung der Quecksilber- Es ist auch kein positives Kosten-Nutzenver- Intervalls von weniger als 1 bis 7 Mikro- Emissionen in deutschen Kraftwerken ba- hältnis absehbar. gramm pro Normkubikmeter und somit in sieren auf dem in den USA am häufigsten der gleichen Größe wie in den USA gewählt. verwendeten Verfahren – der Zugabe von Bei allen Maßnahmen ist im Übrigen zu be- Dies ist ein sehr ambitionierter, technisch Quecksilber bindenden Additiven vor dem rücksichtigen, dass die deutschen Kohlekraft- aber erreichbarer Wert für Neuanlagen. Die Staubabscheider. Ich habe in den Jahren 2017 werke in den vergangenen Jahren mit einem einzige Unsicherheit dabei ist der zurzeit bis 2019 mehrere solcher Versuchsreihen be- relativ geringen Anteil von etwa 0,07 Prozent auf Basis des bestehenden Regelwerks mess- gleitet und ausgewertet. In diesen Versuchs- zu den weltweiten Quecksilberemissionen technisch nicht mögliche Nachweis dieses reihen wurden, neben der Zugabe verschie- in Höhe von 7.500 Tonnen beitrugen. Dieser sehr niedrigen Grenzwerts. denster Additive vor dem Elektro-Filter, auch Anteil wird infolge der neuen Grenzwerte und die Zugabe des Schwermetall-Fällungsmittels des Kohleausstiegs ab dem Jahr 2030 auf etwa Für Bestandsanlagen wurde im vorliegenden TMT 15 in die Rauchgasentschwefelungsan- 0,03 Prozent mehr als halbiert und bis spätes- Verordnungsentwurf für Braunkohle-Anla- lage und die Zugabe von Natriumbromid zum tens 2038 auf null sinken. gen mit mehr als 300 Megawatt Leistung ein Brennstoff untersucht. Dabei haben sich einige Wert von 5 Mikrogramm je Normkubikmeter der Minderungstechniken als ungeeignet er- „et“: Wie bewerten Sie die neuen Vorgaben Rauchgas und bei natürlich bedingt höheren wiesen und andere aufgrund der unterschied- zum Stickoxidausstoß aus großen Braunkoh- Quecksilbergehalten ein Wert von 7 Mikro- lichen Anlagentechnik zu stark abweichenden leanlagen? gramm je Normkubikmeter festgelegt. Damit Ergebnissen geführt. Die Ergebnisse zeigen liegen die Quecksilber-Emissionsgrenzwerte jedoch, dass solche Minderungsmaßnahmen Kather: Die in den Verordnungs-Entwürfen der nationalen Umsetzung im oberen Bereich speziell auf die eingesetzte Braunkohle und der Bundesregierung festgelegten NOx-Emis- der von der EU vorgegebenen Spanne. Sie lie- die vorhandene Anlagentechnik zugeschnitten sionsgrenzwerte liegen allesamt innerhalb ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3 29
INTERVIEW ZUKUNFTSFRAGEN der von der EU vorgegebenen Emissionsband- minderung ausdrücklich als Beste Verfügbare sichergestellt, noch die Einhaltung des not- breite. Kritisch sehe ich hier die Einhaltung Technik (BVT) für Braunkohlekessel mit Staub- wendigen Temperaturfensters gewährleistet des von der EU geforderten und auch in der feuerung über 300 Megawatt Leistung an. Für werden. Bauartbedingt besteht bei Eindüsung vorliegenden Verordnung übernommenen diese Anlagenart wäre mit den als BVT aner- von Harnstoff als Reduktionsmittel in großen Grenzwerts von 175 Milligramm NOx pro Norm- kannten Primärmaßnahmen ein NOx-Emissi- Brennkammerquerschnitten zudem ein hohes kubikmeter Rauchgas als Jahresmittelwert für onsgrenzwert von 190 Milligramm pro Norm- Korrosionsrisiko, das bei der geforderten staubgefeuerte Braunkohle-Anlagen mit mehr kubikmeter sachgerecht. In einigen Fällen hohen Verfügbarkeit infolge der volatilen als 300 Megawatt Leistung. Dieses obere Ende werden die festgesetzten 175 Milligramm pro Einspeisung erneuerbarer Energien nicht be- der Emissionsbandbreite hätte auf Basis der Normkubikmeter aus technischen Gründen herrschbar wäre. im BREF-LCP-Prozess gemeldeten NOx-Emissi- unverhältnismäßig sein, sodass Ausnahmen onswerte der Referenzanlagen richtigerweise auf Einzelfallebene gerechtfertigt sind, was in „et“: Was ist Ihr Fazit? mit einem Wert von 190 Milligramm pro Norm- der Begründung der neuen 13. BImSchV auch kubikmeter festgelegt werden müssen. anerkannt wird. Kather: Es ist weiterhin kritikwürdig, dass die BVT-Schlussfolgerungen sowohl beim „et“: Gibt es keine technischen Lösungsmög- Die SCR ist unter Berücksichtigung des Umwelt- Quecksilber wie auch bei den Stickoxiden lichkeiten? nutzens unverhältnismäßig. Die Kosten für auf falschen Ableitungen beruhen. Die neuen eine SCR-Nachrüstung vor oder nach der Anforderungen an große bestehende Braun- Kather: Alle im Rahmen des BREF-LCP- Entstaubung in braunkohlestaubgefeuerten kohlekraftwerke werden gerade noch erfüll- Prozesses gemeldeten Braunkohlekessel mit Kraftwerken würden die eingesparten Umwelt- bar sein oder im Einzelfall Ausnahmeregelun- Staubfeuerung verfügten ausschließlich über kosten um mehr als das 2,7-fache übersteigen. gen für die noch verbleibende Betriebsdauer feuerungsseitige Primärmaßnahmen zur Stick- erfordern. oxid-Minderung und über keine Sekundärmaß- Vor einem großtechnischen Einsatz von SNCR nahmen wie die SCR (Selektive katalytische in großen deutschen Braunkohlendampf- „et“: Herr Prof. Kather, vielen Dank für das Reduktion) oder SNCR (Selektive nichtkata- erzeugern wäre noch eine Vielzahl offener Interview. lytische Reduktion). Der BREF-LCP-Beschluss Fragen zu lösen. So kann weder eine hinrei- erkennt daher die ausschließliche Anwendung chend gleichmäßige Verteilung des einge- Das Interview führte Wieland Kramer, von Primärmaßnahmen zur NOx-Emissions- setzten Reduktionsmittels im Dampferzeuger Journalist, Wuppertal, im Auftrag der „et“ 30 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3
ZUKUNFTSFRAGEN Meinungen & Fakten ZUKUNFTSFRAGEN Versorgungssicherheit: Übertragungsnetzbetreiber verhindern Blackout – Neubau netzrelevanter Kraftwerke Am Jahresbeginn 2021 stand Europa kurzfristig am Rande eines Zusammenbruchs seiner Stromnetze. Durch das 2006 eingeführte European Awareness System (EAS) konnte ein flächenhafter Blackout verhindert werden. Zukünftig sollen netzrelevante Kraftwerke zur Sicherstellung einer zuverlässigen Energieversorgung beitragen. Am 08.01.2021 registrierte der für die Syn- 6,3 GW Erzeugungsleistung, während im zu stützen. Zusätzlich wurden 420 MW Leis- chronisierung der Stromnetze verantwort- südöstlichen Teil ein Überschuss von 6,3 GW tung aus dem skandinavischen (Nordic) und liche Netzbetreiber Amprion einen Frequenz- entstand. Dies führte dazu, dass die Fre- 60 MW aus dem britischen Synchrongebiet abfall deutlich unter die vorgeschriebenen quenz im nordwestlichen Netzteil abfiel, automatisiert eingespeist. Diese Maßnah- 50 Hertz. Als Reaktion auf diese gefährliche während sie im südöstlichen Teil sprunghaft men sorgten dafür, dass die Frequenz um Abweichung kam es zu einer Trennung der anstieg: Um 14:05 Uhr fiel die Frequenz im 14:09 Uhr nur noch rund 0,1 Hertz unter der Netzregion Süd-Ost-Europa vom europäischen nordwestlichen Netzteil zunächst auf 49,74 normalen Frequenz von 50 Hertz lag und Verbundnetz zwischen etwa 14.00 und 15.00 Hertz. Nach rund 15 Sekunden stabilisier- sukzessive weiter zurückgeführt wurde. Uhr mitteleuropäischer Zeit. te sich die Frequenz bei 49,84 Hertz – also innerhalb des zulässigen Bandes für Fre- Gegenmaßnahmen Auslöser und Folgen quenzabweichungen (+/-0,2 Hertz). Gleich- zeitig sprang die Frequenz im südöstlichen Aufgrund der erhöhten Frequenz wurden im Auslöser war nach derzeitigem Kenntnis- Netzteil auf 50,6 Hertz, bevor sie sich bei südöstlichen Teil des Netzes automatische stand [1] die automatische Abschaltung einem Wert zwischen 50,2 und 50,3 Hertz und manuelle Gegenmaßnahmen aktiviert, eines 400-kV-Sammelschienenkupplers in stabilisierte (Abb. 2). um den Leistungsüberschuss zu reduzieren. der kroatischen Umspannanlage Ernestinovo Unter anderem reduzierten Erzeugungsan- um 14:04 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Diese Aufgrund der Unterfrequenz gingen im lagen ihre Einspeisung – so ging ein Kraft- Abschaltung führte dazu, dass zwei Sammel- nordwestlichen Teilnetz vertraglich gesi- werk mit einer Leistung von 975 MW in der schienen in der Umspannanlage entkuppelt cherte Kapazitäten mit einer Leistung von Türkei um 14:04:57 Uhr automatisch vom und somit die Stromflüsse aus südöstlicher 1,7 GW in Frankreich und Italien vom Netz. Netz. Folglich lag um 14:29 Uhr in diesem in nordwestliche Richtung unterbrochen Die Betreiber dieser Anlagen der energiein- Teilnetz die Frequenz nur noch bei 50,2 Hertz wurden. Betroffen waren zwei Leitungen von tensiven Industrie hatten im Vorfeld mit den und bewegte sich bis zur Resynchronisierung Ernestinovo in Richtung Nordwesten sowie zuständigen Übertragungsnetzbetreibern um 15:07 Uhr mit dem nordwestlichen Netz- zwei Leitungen von Ernestinovo in Richtung Verträge darüber abgeschlossen, dass ihre teil im Bereich zwischen 50,2 und 49,9 Hertz. Südosten. Dies betraf in nordwestlicher Rich- Anlagen bei einer bestimmten Unterfre- Die anhaltenden Frequenzschwankungen tung die Leitungen nach Zerjavinec (Kroati- quenz automatisch abschalten, um das Netz zwischen 14:30 und 15:06 Uhr wurden verur- en) und nach Pecs (Ungarn). In südöstlicher Richtung waren die Leitungen nach Ugljevik (Bosnien-Herzegowina) und nach Sremska Mitrovica (Serbien) betroffen. Durch die Unterbrechung der Stromflüsse in der Umspannanlage Ernestinovo verlagerte sich der Stromtransport auf umliegende Lei- tungen. Infolge eintretender Überlastungen kam es zu einer Abschaltung der Leitung Su- botica – Novi Sad (Serbien) durch den Über- stromschutz. In der Folge lösten im Umkreis mehrere Leitungen aufgrund des Distanz- schutzes aus. Die Abschaltungen führten zur Aufteilung des europäischen Netzgebietes um 14:05 Uhr. Durch diese Systemauftrennung (Abb. 1) Abb. 1 Systemauftrennung im europäischen Stromnetz am 08.01.2021 Quelle: ENTSO-E fehlten im nordwestlichen Teil des Netzes ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3 31
ZUKUNFTSFRAGEN Meinungen & Fakten 0,5 GW Photovoltaikleistung in Deutschland verfügbar waren, wurde die Versorgungs- sicherheit durch regelbare konventionelle Kraftwerke (Kohle, Erdgas, Kernenergie) sichergestellt. Der Spotmarktpreis für Strom lag bei 95 €/MWh [2]. Die Übertragungsnetzbetreiber Amprion (Deutschland) und Swissgrid (Schweiz) sind verantwortlich für die Beobachtung und das Krisenmanagement bei Frequenzstörungen. Als „Frequenzkoordinatoren“ (Synchronous Area Monitor, SAM) für Europa informieren sie im Falle einer deutlichen Frequenzab- weichung alle europäischen Übertragungs- netzbetreiber über das Warnsystem EAS Abb. 2 Frequenzentwicklung im europäischen Verbundnetz am 08.01.2021 nach der Störung und kurz vor und leiten die entsprechenden Prozesse ein. der Resynchronisierung Quelle: ENTSO-E Sie koordinieren die Gegenmaßnahmen und stellen sicher, dass das System schnellst- sacht, weil das abgetrennte südöstliche Teil- Serbien, Rumänien, Bosnien und Herzegowi- möglich stabilisiert wird. Teil dieser Maß- netz vergleichsweise klein war und einige na sowie die Türkei und Kroatien betroffen. nahmen war am 08.01.2021 eine Telefonkon- Erzeugungsanlagen aufgrund der Überfre- Im südöstlichen Netzteil erfolgte eine auf ferenz zwischen den größten europäischen quenz nicht mehr am Netz waren (Abb. 3). Teile Rumäniens beschränkte Abkopplung Netzbetreibern Amprion, Swissgrid, RTE von Endverbrauchern mit einer Gesamtleis- (Frankreich), Terna (Italien) und REE (Spa- Die automatisierten Reaktionen und koordi- tung von 225 MW. In Deutschland hatte die nien) um 14:09 Uhr. In dieser Konferenz nierten Maßnahmen der kontinentaleuropä- Maßnahme keine Auswirkungen. Hier lag erörterten die Teilnehmer den Zustand des ischen Übertragungsnetzbetreiber sorgten der Stromverbrauch zum Zeitpunkt des Ein- Netzes und Maßnahmen, die bereits einge- dafür, dass der Normalbetrieb im Netz wie- tretens der Störung mit rund 62.000 MWh leitet waren. derhergestellt werden konnte. Um 14:47 Uhr allerdings um knapp 2.000 MWh höher als und 14:48 Uhr konnten die Industrieanlagen die inländische Erzeugung, so dass Strom- Durch die hohe Widerstandskraft des Ver- in Italien und Frankreich wieder ans Netz importe aus den Nachbarländern notwendig bundnetzes und die schnelle Reaktion der gehen. Um 15:07 Uhr synchronisierten die waren. Über eine Inanspruchnahme von Netzbetreiber waren die Versorgungssicher- Netzbetreiber die beiden Teilnetze wieder. vertraglich vereinbarten Lastabwürfen bei heit und die Systemstabilität nach Aussage industriellen Großverbrauchern in Deutsch- der Übertragungsnetzbetreiber nicht in Abb. 1 Nachfrage und Angebot im Gesamtsystem - Vergleich der Emissionen mit den verfügbaren Emissions- Von der berechtigungen Netzabtrennung waren die Länder landseitwurde sowie Entwicklung der Umlaufmenge 2008 nichts bekannt.Quelle:Da zu diesem DEHST Gefahr [3]. Einen wichtigen Beitrag zur Sta- Griechenland, Nord-Mazedonien, Bulgarien, Zeitpunkt nur 4,2 GW Windleistung und bilisierung des Systems leisteten die Indus- trieanlagen in Italien und Frankreich, die entsprechend ihrer vertraglichen Verpflich- tungen vom Netz gingen. Genügend Momentanreserve- und Primärregelleistung im europäischen Stromnetz? Der aktuelle Störfall wirft auch die Frage nach ausreichender Momentanreserve- und Primärregelleistung im europäischen Strom- netz auf. Durch die rotierenden Massen von Generatoren und Dampfturbinen besitzt das System eine gewisse Trägheit. Kurzfristig erzeugt dies – ohne gezielte Eingriffe – eine gewisse Stabilisierung der Frequenz. Primär- regelung (auch Sekundenreserve genannt) muss spätestens eingreifen, wenn eine Fre- Abb. 2 3 Begrenzung des Umfangs der MSR Frequenz in Kontinentaleuropa durchder während denEreignisse Löschungsmechanismus des 08.01.2021ab 2023 quenzabweichung von mindestens 0,02 Hertz Quelle: Quelle: BMU ENTSO-E auftritt. 32 ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3
ZUKUNFTSFRAGEN Meinungen & Fakten Die Primärregelung erfordert keine über- 2022 den Betrieb aufnehmen. Weitere Anla- netzbetreiber sowie Experten der nationalen regionale Koordination, da in jedem Kraft- gen errichten die LEAG im bayerischen Leip- Regulierungsbehörden und der europäischen werk die Netzfrequenz gemessen und ent- heim [4] sowie Uniper am Standort Irsching. Regulierungsbehörde ACER. sprechend darauf reagiert werden kann. Dies erfolgt bislang größtenteils in Groß- Warnsystem „European Fazit kraftwerken, teilweise auch in kleineren Awareness System“ (EAS) Wasserkraftwerken. Insgesamt werden im Die Versorgungssicherheit der Stromversor- kontinentaleuropäischen Stromnetz mehre- Das synchron mit derselben Frequenz von gung ist in Deutschland und Mitteleuropa re Tausend Megawatt Regelleistung bereit- 50 Hertz betriebene europäische Stromsys- davon abhängig, ob der Wind weht und die gehalten. Technisch erfolgt die Primärrege- tem ist eines der größten Stromsysteme der Sonne scheint, das Stromnetz hinreichend lung in einem Kraftwerk mit Dampfturbinen Welt – sowohl bezogen auf seine räumliche ausgebaut und robust ist, ausreichend regel- indem den Turbinen zeitweilig mehr oder Ausdehnung als auch auf die Zahl der be- bare Kraftwerksleistung verfügbar ist, die weniger Dampf zugeführt wird. Hierfür lieferten Verbraucher. Eine Auftrennung Netzbetriebsmittel im gesamten Verbundnetz kann der Dampferzeuger als Reservoir die- des Netzgebietes fand in Kontinentaleuropa funktionieren und die Mitarbeiter der Netzbe- nen, da eine Anpassung der Feuerungsleis- zuletzt am 04.11.2006 statt. Als Reaktion treiber bei Problemen die richtigen Maßnah- tung meist zu träge wäre. Bei einer laufen- darauf entstanden neue Sicherungssysteme men ergreifen. den Gasturbine wirkt sich eine Änderung wie das Warnsystem „European Awareness der Brennstoffzufuhr innerhalb weniger System“ (EAS) [5], das es den europäischen Quellen Sekunden auf die produzierte Leistung aus, Übertragungsnetzbetreibern ermöglicht, sich so dass auf diesem Wege geregelt werden gegenseitig über Beobachtungen und Vorfälle [1] https://www.entsoe.eu/news/2021/01/15/system- kann. im Netzbetrieb zu informieren. Das EAS be- separation-in-the-continental-europe-synchronous- grenzt die Auswirkungen von Netzstörungen area-on-8-january-2021-update/ Neubau von netzrelevanten und machte es am 08.01.2021 möglich, die [2] https://www.smard.de Kraftwerken beiden Teilnetze nach rund einer Stunde wie- [3] Vgl. Hans-Jürgen Brick, Vorsitzender der Geschäfts- der zusammenzuführen. führung von Amprion, in der ZfK - Zeitschrift für kom- Insbesondere die für die Momentanreserve munale Wirtschaft, Ausgabe 2, Februar 2021, S. 8. sorgenden Trägheitseffekte großer Massen Entsprechend Artikel 15 der EU-Regulierung [4] https://www.leag.de/de/news/details/leag-inves- werden durch die Abschaltung großer Kraft- 2017/1485 [6] wird bei einem Vorfall wie tiert-in-gaskraftwerk-leipheim/ werksblöcke im Zuge des Ausstiegs aus der am 08.01.2021 eine Expertenkommission [5] Janicek, F.; Jedinak, M.; Sulc, I.: Awareness System Kernenergie sowie der Kohle tendenziell einberufen. Sie erstellt einen Bericht über implemented in the European Network. In: Journal of knapper. Einen gewissen Ausgleich könn- die Vorkommnisse und leitet daraus – sofern Electrical Engineering, Vol. 65, Nr. 5, 2014, S. 320-324. ten der Bau und die Inbetriebnahme neuer notwendig – weitere Schritte ab, die dazu bei- [6] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/ Gasturbinenkraftwerke in Deutschland tragen können, ein vergleichbares Ereignis PDF/?uri=CELEX:32017R1485&from=LT bringen. Zur Sicherstellung einer zuverläs- in Zukunft zu vermeiden. Die Kommission sigen Energieversorgung in Süddeutschland besteht aus Fachleuten der Übertragungs- „et”-Redaktion haben die Übertragungsnetzbetreiber in Südhessen, Bayern und Baden-Württemberg sog. Netzstabilitätsanlagen mit einer Leis- tung von je 300 MW ausgeschrieben, die im Jahr 2022 in Betrieb gehen sollen. Die Anla- gen sollen vornehmlich die Netzstabilität im Süden bei fluktuierender Netzeinspeisung NEWS | MAGAZINE | JOBS | MARKTPARTNER | TERMINE aus Wind- und PV-Anlagen sichern. Es handelt sich um Gasturbinen-Anlagen, Jobbörse der Energiewirtschaft die auf schnelle Erreichung des Volllastbe- Für Fach- und Führungskräfte triebs ausgelegt sind und bis zu 1.500 Voll- Jobs finden benutzungsstunden im Jahr aufweisen. Am Stellenanzeigen veröffentlichen 13.11.2020 erhielt RWE vom Übertragungs- netzbetreiber Amprion im Rahmen der Aus- schreibung „besonderer netztechnischer Be- Aktuell und triebsmittel“ den Zuschlag für den Bau und www.energie.de/jobs spartenübergreifend den Betrieb einer solchen Anlage am Stand- Das Portal der ort Biblis in Nordrhein-Westfalen. Die Anlage Energiewirtschaft wird eine gesicherte elektrische Leistung von 300 MW bereitstellen und soll bis Oktober ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3 33
Sie können auch lesen