Kein Kohleausstieg durch die Hintertür

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Kein Kohleausstieg durch die Hintertür
INTERVIEW
                  ZUKUNFTSFRAGEN

Kein Kohleausstieg durch die Hintertür
Die Bundesregierung hat einen Entwurf zur Neufassung der 13. sowie zur Änderung der 17. Bundes-Immissionsschutz-
verordnung (BImSchV) vorgelegt, durch die europäische Vorgaben aus den BVT-Schlussfolgerungen für rund 580 Groß-
feuerungsanlagen in Deutschland umgesetzt werden sollen. Sowohl die Erarbeitung der BVT-Schlussfolgerungen auf
europäischer Ebene wie auch die Umsetzung in nationales Recht waren von kontroversen fachlichen und politischen
Diskussionen begleitet. Vor allem die neuen Grenzwerte für den Ausstoß von Quecksilber und Stickoxiden aus Braunkohle-
kraftwerken waren und sind umstritten. Im Interview mit der „et“ erläutert Prof. Dr.-Ing. Alfons Kather die Genese und die
technische Umsetzbarkeit der neuen Vorgaben.

„et“: Die von der Bundesregierung eingesetzte
Kommission für Wachstum, Strukturwandel
und Beschäftigung hatte sich in ihren abschlie-
ßenden Empfehlungen gegen eine zu strenge
Auslegung der neuen fachlichen Standards
ausgesprochen und sogar einen „Kohleausstieg
durch die Hintertür“ befürchtet. Waren diese
Erwartungen begründet?

Kather: Der vorliegende Entwurf zur 13. und
17. BImSchV erfüllt die im BREF-LCP gesetzten
Anforderungen und bedeutet ambitionierte,
aber technisch noch erreichbare und wirt-
schaftlich verhältnismäßige Grenzwertver-
schärfungen für Braunkohlekraftwerke mit
einer Leistung über 300 Megawatt. Bezüglich
der Emissionsgrenzwerte für mit Kohle befeuer-
te Neuanlagen werden insbesondere bei Queck-
silber sehr ambitionierte Vorgaben gesetzt, die
am unteren Rand der von der EU im BREF-LCP
vorgegebenen Spanne liegen. Bei Bestands- und
Altanlagen wird es bei vielen Anlagen zu erheb-
lichen Nachrüstungen kommen, um die neuen
Grenzwerte einhalten zu können. Vor dem Hin-
tergrund des inzwischen gesetzlich geregelten
Kohleausstiegs stellen die neuen Grenzwerte
ambitionierte, aber mit Blick auf die Restlauf-
                                                          Prof. Dr.-Ing. Alfons Kather, ehemals Leiter des Instituts für Energietechnik der TU Hamburg-
zeiten der Bestandsanlagen gerade noch leist-
                                                          Harburg                                                                             Bild: TUHH
bare Anforderungen dar und führen so zu kei-
nem „Kohleausstieg durch die Hintertür“.
                                                  „et“: Die Verabschiedung der BVT-Schluss-             2016 eine „Expert opinion on BAT-associated
Anders wäre dies, wenn zum Beispiel die           folgerungen war geprägt durch anhaltenden             emission levels for mercury emissions to air
Quecksilberemissionsgrenzwerte für braun-         fachlichen Dissens. Wie kam es dazu?                  from existing lignite-fired power plants with
kohlebefeuerte Bestands- und Altanlagen nied-                                                           pulverised combustion boilers in the LCP
riger angesetzt würden. Die dafür von einem       Kather: Von Ende 2010 bis Anfang 2013 habe            BREF review process“ verfasst, welche auch
technisch nicht kompetenten Institut seit Jah-    ich mit meinem Institut das vom Umwelt-               im europäischen Parlament verteilt wurde.
ren verbreiteten geringen Investitionskosten      bundesamt beauftragte Projekt „Innovative             Obgleich mir das BREF-LCP-Büro (EIPPCB)
sind trotz Korrektur immer noch um den Fak-       Techniken: Beste verfügbare Technik in aus-           in Sevilla in allen Punkten Recht gab, wollte
tor von etwa 10 zu niedrig angesetzt und daher    gewählten Sektoren“ bearbeitet. Im Rahmen             man an der getroffenen Festlegung der Queck-
irreführend – eine weitere Verringerung des       dieses Projekts haben wir einen Fragenkata-           silber-Emissionsgrenzwerte für staubgefeuerte
Quecksilber-Grenzwertes für Braunkohlekraft-      log erstellt, der die Basis für die neuen BREF-       Braunkohle-Anlagen nichts mehr ändern,
werke mit einer Leistung über 300 Megawatt        LCP-Anforderungen bildete. Da bei der Fest-           weil die Abstimmung im europäischen Parla-
würde zu sehr hohen Investitionskosten und        legung der Quecksilber-Emissionsgrenzwerte            ment unmittelbar bevorstand.
daher zu einem „Kohleausstieg durch die Hin-      durch das Sevilla-Büro EIPPCB eine sachwid-
tertür“ führen.                                   rige Ableitung vorgenommen wurde, habe ich            „et“: Was waren Ihre konkreten Kritikpunkte?

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Kein Kohleausstieg durch die Hintertür
INTERVIEW
                                                                                                         ZUKUNFTSFRAGEN

 „Es ist weiterhin kritikwürdig, dass die BVT-Schlussfolgerungen sowohl beim Quecksilber wie auch bei
 den Stickoxiden auf falschen Ableitungen beruhen. Die neuen Anforderungen an große bestehende Braun-
 kohlekraftwerke werden gerade noch erfüllbar sein oder im Einzelfall Ausnahmeregelungen für die noch
 verbleibende Betriebsdauer erfordern.“

 Prof. Dr.-Ing. Alfons Kather, ehemals Leiter des Instituts für Energietechnik der TU Hamburg-Harburg

Kather: Der Nachweis des Ausstoßes von           gen damit aber in einer ähnlichen Größenord-         werden müssen, damit die in der vorliegenden
weniger als 1 Mikrogramm Quecksilber pro         nung wie jene für große Braunkohlekraftwer-          Verordnung festgelegten Emissionsgrenzwerte
Normkubikmeter Rauchgas für staubgefeu-          ke in den USA, die einen Grenzwert von etwa          noch eingehalten werden können.
erte Braunkohle-Anlagen wurde nie korrekt        5,6 Mikrogramm einhalten müssen.
belegt. Weltweit gibt es kein Braunkohle-                                                             „et“: Könnte man die von Ihnen erwähnten
kraftwerk mit Staubfeuerung, das mit derart      „et“: Wie aussagekräftig ist der Vergleich mit       Schlauchfilter in Deutschland verwenden?
niedrigen Werten betrieben wird. Insofern        den USA?
kann der untere Wert der Bandbreite nicht                                                             Kather: Eine weitere Absenkung der Queck-
den Stand der Technik darstellen. Die BREF-      Kather: Die im Vergleich zu den US-Grenz-            silber-Emissionen durch Austausch der Elektro-
LCP-Umfrage ergab für staubgefeuerte Braun-      werten leicht höheren Quecksilber-Emissions-         Filter gegen Schlauchfilter hätte erhebliche
kohle-Anlagen mit mehr als 300 Megawatt          grenzwerte für deutsche Kohlekraftwerke sind         Umbaumaßnahmen mit langen Stillständen
Leistung eher einen Wert von 9 Mikrogramm        insofern sachgerecht, weil die US-Kraftwerke         der Anlagen zur Folge. Derartige Maßnahmen
pro Normkubikmeter und nicht wie von der         sehr häufig mit einem Schlauchfilter ausgerüs-         machen technisch-ökonomisch bei Bestands-
EU festgelegt zwischen weniger als 1 bis 7       tet sind. In solchen Fällen ist auf relativ einfa-   anlagen im Hinblick auf die neuen gesetzli-
Mikrogramm pro Normkubikmeter.                   che Weise durch eine Zugabe von Quecksilber          chen Restlaufzeiten keinen Sinn. Sie wären
                                                 bindenden Additiven vor dem Schlauchfilter            vielmehr unverhältnismäßig und würden zur
„et“: Was bedeutet das für die zukünftige        eine hohe Reduktion zu erreichen. In Deutsch-        vorzeitigen Abschaltung der Anlagen führen.
Praxis?                                          land sind die entsprechenden Kohlekraftwer-          Eine weitere Möglichkeit zur Abscheidung
                                                 ke dagegen mit Elektro-Filter ausgerüstet.           von Quecksilber ist das GORE Mercury Con-
Kather: Da müssen wir streng zwischen                                                                 trol System (GMCS). Dieses Verfahren befindet
Neu- und Bestandsanlagen unterscheiden.          „et“: Welche Minderungstechnik eignet sich           sich noch im Bewährungsstadium und hat
Mit 1 Mikrogramm pro Kubikmeter Rauch-           für deutsche Anlagen?                                noch nicht unter Beweis gestellt, dass mit ihm
gas wurde der Emissionsgrenzwert für                                                                  unter den Bedingungen in deutschen Kraft-
große Braunkohle-Neubaukraftwerke am             Kather: Die wesentlichen Maßnahmen zu                werken ein längerfristiger Erfolg gesichert ist.
unteren Rand des von der EU vorgegebenen         einer weiteren Absenkung der Quecksilber-            Es ist auch kein positives Kosten-Nutzenver-
Intervalls von weniger als 1 bis 7 Mikro-        Emissionen in deutschen Kraftwerken ba-              hältnis absehbar.
gramm pro Normkubikmeter und somit in            sieren auf dem in den USA am häufigsten
der gleichen Größe wie in den USA gewählt.       verwendeten Verfahren – der Zugabe von               Bei allen Maßnahmen ist im Übrigen zu be-
Dies ist ein sehr ambitionierter, technisch      Quecksilber bindenden Additiven vor dem              rücksichtigen, dass die deutschen Kohlekraft-
aber erreichbarer Wert für Neuanlagen. Die       Staubabscheider. Ich habe in den Jahren 2017         werke in den vergangenen Jahren mit einem
einzige Unsicherheit dabei ist der zurzeit       bis 2019 mehrere solcher Versuchsreihen be-          relativ geringen Anteil von etwa 0,07 Prozent
auf Basis des bestehenden Regelwerks mess-       gleitet und ausgewertet. In diesen Versuchs-         zu den weltweiten Quecksilberemissionen
technisch nicht mögliche Nachweis dieses         reihen wurden, neben der Zugabe verschie-            in Höhe von 7.500 Tonnen beitrugen. Dieser
sehr niedrigen Grenzwerts.                       denster Additive vor dem Elektro-Filter, auch        Anteil wird infolge der neuen Grenzwerte und
                                                 die Zugabe des Schwermetall-Fällungsmittels          des Kohleausstiegs ab dem Jahr 2030 auf etwa
Für Bestandsanlagen wurde im vorliegenden        TMT 15 in die Rauchgasentschwefelungsan-             0,03 Prozent mehr als halbiert und bis spätes-
Verordnungsentwurf für Braunkohle-Anla-          lage und die Zugabe von Natriumbromid zum            tens 2038 auf null sinken.
gen mit mehr als 300 Megawatt Leistung ein       Brennstoff untersucht. Dabei haben sich einige
Wert von 5 Mikrogramm je Normkubikmeter          der Minderungstechniken als ungeeignet er-           „et“: Wie bewerten Sie die neuen Vorgaben
Rauchgas und bei natürlich bedingt höheren       wiesen und andere aufgrund der unterschied-          zum Stickoxidausstoß aus großen Braunkoh-
Quecksilbergehalten ein Wert von 7 Mikro-        lichen Anlagentechnik zu stark abweichenden          leanlagen?
gramm je Normkubikmeter festgelegt. Damit        Ergebnissen geführt. Die Ergebnisse zeigen
liegen die Quecksilber-Emissionsgrenzwerte       jedoch, dass solche Minderungsmaßnahmen              Kather: Die in den Verordnungs-Entwürfen
der nationalen Umsetzung im oberen Bereich       speziell auf die eingesetzte Braunkohle und          der Bundesregierung festgelegten NOx-Emis-
der von der EU vorgegebenen Spanne. Sie lie-     die vorhandene Anlagentechnik zugeschnitten          sionsgrenzwerte liegen allesamt innerhalb

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Kein Kohleausstieg durch die Hintertür
INTERVIEW
                 ZUKUNFTSFRAGEN

der von der EU vorgegebenen Emissionsband-      minderung ausdrücklich als Beste Verfügbare       sichergestellt, noch die Einhaltung des not-
breite. Kritisch sehe ich hier die Einhaltung   Technik (BVT) für Braunkohlekessel mit Staub-     wendigen Temperaturfensters gewährleistet
des von der EU geforderten und auch in der      feuerung über 300 Megawatt Leistung an. Für       werden. Bauartbedingt besteht bei Eindüsung
vorliegenden Verordnung übernommenen            diese Anlagenart wäre mit den als BVT aner-       von Harnstoff als Reduktionsmittel in großen
Grenzwerts von 175 Milligramm NOx pro Norm-     kannten Primärmaßnahmen ein NOx-Emissi-           Brennkammerquerschnitten zudem ein hohes
kubikmeter Rauchgas als Jahresmittelwert für    onsgrenzwert von 190 Milligramm pro Norm-         Korrosionsrisiko, das bei der geforderten
staubgefeuerte Braunkohle-Anlagen mit mehr      kubikmeter sachgerecht. In einigen Fällen         hohen Verfügbarkeit infolge der volatilen
als 300 Megawatt Leistung. Dieses obere Ende    werden die festgesetzten 175 Milligramm pro       Einspeisung erneuerbarer Energien nicht be-
der Emissionsbandbreite hätte auf Basis der     Normkubikmeter aus technischen Gründen            herrschbar wäre.
im BREF-LCP-Prozess gemeldeten NOx-Emissi-      unverhältnismäßig sein, sodass Ausnahmen
onswerte der Referenzanlagen richtigerweise     auf Einzelfallebene gerechtfertigt sind, was in   „et“: Was ist Ihr Fazit?
mit einem Wert von 190 Milligramm pro Norm-     der Begründung der neuen 13. BImSchV auch
kubikmeter festgelegt werden müssen.            anerkannt wird.                                   Kather: Es ist weiterhin kritikwürdig, dass
                                                                                                  die BVT-Schlussfolgerungen sowohl beim
„et“: Gibt es keine technischen Lösungsmög-     Die SCR ist unter Berücksichtigung des Umwelt-    Quecksilber wie auch bei den Stickoxiden
lichkeiten?                                     nutzens unverhältnismäßig. Die Kosten für         auf falschen Ableitungen beruhen. Die neuen
                                                eine SCR-Nachrüstung vor oder nach der            Anforderungen an große bestehende Braun-
Kather: Alle im Rahmen des BREF-LCP-            Entstaubung in braunkohlestaubgefeuerten          kohlekraftwerke werden gerade noch erfüll-
Prozesses gemeldeten Braunkohlekessel mit       Kraftwerken würden die eingesparten Umwelt-       bar sein oder im Einzelfall Ausnahmeregelun-
Staubfeuerung verfügten ausschließlich über     kosten um mehr als das 2,7-fache übersteigen.     gen für die noch verbleibende Betriebsdauer
feuerungsseitige Primärmaßnahmen zur Stick-                                                       erfordern.
oxid-Minderung und über keine Sekundärmaß-      Vor einem großtechnischen Einsatz von SNCR
nahmen wie die SCR (Selektive katalytische      in großen deutschen Braunkohlendampf-             „et“: Herr Prof. Kather, vielen Dank für das
Reduktion) oder SNCR (Selektive nichtkata-      erzeugern wäre noch eine Vielzahl offener          Interview.
lytische Reduktion). Der BREF-LCP-Beschluss     Fragen zu lösen. So kann weder eine hinrei-
erkennt daher die ausschließliche Anwendung     chend gleichmäßige Verteilung des einge-                Das Interview führte Wieland Kramer,
von Primärmaßnahmen zur NOx-Emissions-          setzten Reduktionsmittels im Dampferzeuger           Journalist, Wuppertal, im Auftrag der „et“

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Kein Kohleausstieg durch die Hintertür
ZUKUNFTSFRAGEN
                                                                                                                      Meinungen & Fakten
                                                                                                                  ZUKUNFTSFRAGEN

Versorgungssicherheit:
Übertragungsnetzbetreiber verhindern Blackout –
Neubau netzrelevanter Kraftwerke
Am Jahresbeginn 2021 stand Europa kurzfristig am Rande eines Zusammenbruchs seiner Stromnetze. Durch das 2006
eingeführte European Awareness System (EAS) konnte ein flächenhafter Blackout verhindert werden. Zukünftig sollen
netzrelevante Kraftwerke zur Sicherstellung einer zuverlässigen Energieversorgung beitragen.

Am 08.01.2021 registrierte der für die Syn-      6,3 GW Erzeugungsleistung, während im                 zu stützen. Zusätzlich wurden 420 MW Leis-
chronisierung der Stromnetze verantwort-         südöstlichen Teil ein Überschuss von 6,3 GW           tung aus dem skandinavischen (Nordic) und
liche Netzbetreiber Amprion einen Frequenz-      entstand. Dies führte dazu, dass die Fre-             60 MW aus dem britischen Synchrongebiet
abfall deutlich unter die vorgeschriebenen       quenz im nordwestlichen Netzteil abfiel,               automatisiert eingespeist. Diese Maßnah-
50 Hertz. Als Reaktion auf diese gefährliche     während sie im südöstlichen Teil sprunghaft           men sorgten dafür, dass die Frequenz um
Abweichung kam es zu einer Trennung der          anstieg: Um 14:05 Uhr fiel die Frequenz im             14:09 Uhr nur noch rund 0,1 Hertz unter der
Netzregion Süd-Ost-Europa vom europäischen       nordwestlichen Netzteil zunächst auf 49,74            normalen Frequenz von 50 Hertz lag und
Verbundnetz zwischen etwa 14.00 und 15.00        Hertz. Nach rund 15 Sekunden stabilisier-             sukzessive weiter zurückgeführt wurde.
Uhr mitteleuropäischer Zeit.                     te sich die Frequenz bei 49,84 Hertz – also
                                                 innerhalb des zulässigen Bandes für Fre-              Gegenmaßnahmen
Auslöser und Folgen                              quenzabweichungen (+/-0,2 Hertz). Gleich-
                                                 zeitig sprang die Frequenz im südöstlichen            Aufgrund der erhöhten Frequenz wurden im
Auslöser war nach derzeitigem Kenntnis-          Netzteil auf 50,6 Hertz, bevor sie sich bei           südöstlichen Teil des Netzes automatische
stand [1] die automatische Abschaltung           einem Wert zwischen 50,2 und 50,3 Hertz               und manuelle Gegenmaßnahmen aktiviert,
eines 400-kV-Sammelschienenkupplers in           stabilisierte (Abb. 2).                               um den Leistungsüberschuss zu reduzieren.
der kroatischen Umspannanlage Ernestinovo                                                              Unter anderem reduzierten Erzeugungsan-
um 14:04 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Diese      Aufgrund der Unterfrequenz gingen im                  lagen ihre Einspeisung – so ging ein Kraft-
Abschaltung führte dazu, dass zwei Sammel-       nordwestlichen Teilnetz vertraglich gesi-             werk mit einer Leistung von 975 MW in der
schienen in der Umspannanlage entkuppelt         cherte Kapazitäten mit einer Leistung von             Türkei um 14:04:57 Uhr automatisch vom
und somit die Stromflüsse aus südöstlicher        1,7 GW in Frankreich und Italien vom Netz.            Netz. Folglich lag um 14:29 Uhr in diesem
in nordwestliche Richtung unterbrochen           Die Betreiber dieser Anlagen der energiein-           Teilnetz die Frequenz nur noch bei 50,2 Hertz
wurden. Betroffen waren zwei Leitungen von        tensiven Industrie hatten im Vorfeld mit den          und bewegte sich bis zur Resynchronisierung
Ernestinovo in Richtung Nordwesten sowie         zuständigen Übertragungsnetzbetreibern                um 15:07 Uhr mit dem nordwestlichen Netz-
zwei Leitungen von Ernestinovo in Richtung       Verträge darüber abgeschlossen, dass ihre             teil im Bereich zwischen 50,2 und 49,9 Hertz.
Südosten. Dies betraf in nordwestlicher Rich-    Anlagen bei einer bestimmten Unterfre-                Die anhaltenden Frequenzschwankungen
tung die Leitungen nach Zerjavinec (Kroati-      quenz automatisch abschalten, um das Netz             zwischen 14:30 und 15:06 Uhr wurden verur-
en) und nach Pecs (Ungarn). In südöstlicher
Richtung waren die Leitungen nach Ugljevik
(Bosnien-Herzegowina) und nach Sremska
Mitrovica (Serbien) betroffen.

Durch die Unterbrechung der Stromflüsse in
der Umspannanlage Ernestinovo verlagerte
sich der Stromtransport auf umliegende Lei-
tungen. Infolge eintretender Überlastungen
kam es zu einer Abschaltung der Leitung Su-
botica – Novi Sad (Serbien) durch den Über-
stromschutz. In der Folge lösten im Umkreis
mehrere Leitungen aufgrund des Distanz-
schutzes aus. Die Abschaltungen führten zur
Aufteilung des europäischen Netzgebietes
um 14:05 Uhr.

Durch diese Systemauftrennung (Abb. 1)            Abb. 1   Systemauftrennung im europäischen Stromnetz am 08.01.2021
                                                                                                                                   Quelle: ENTSO-E
fehlten im nordwestlichen Teil des Netzes

ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3                                                                                       31
Kein Kohleausstieg durch die Hintertür
ZUKUNFTSFRAGEN
   Meinungen & Fakten

                                                                                                            0,5 GW Photovoltaikleistung in Deutschland
                                                                                                            verfügbar waren, wurde die Versorgungs-
                                                                                                            sicherheit durch regelbare konventionelle
                                                                                                            Kraftwerke (Kohle, Erdgas, Kernenergie)
                                                                                                            sichergestellt. Der Spotmarktpreis für
                                                                                                            Strom lag bei 95 €/MWh [2].

                                                                                                            Die Übertragungsnetzbetreiber Amprion
                                                                                                            (Deutschland) und Swissgrid (Schweiz) sind
                                                                                                            verantwortlich für die Beobachtung und das
                                                                                                            Krisenmanagement bei Frequenzstörungen.
                                                                                                            Als „Frequenzkoordinatoren“ (Synchronous
                                                                                                            Area Monitor, SAM) für Europa informieren
                                                                                                            sie im Falle einer deutlichen Frequenzab-
                                                                                                            weichung alle europäischen Übertragungs-
                                                                                                            netzbetreiber über das Warnsystem EAS
Abb. 2    Frequenzentwicklung im europäischen Verbundnetz am 08.01.2021 nach der Störung und kurz vor       und leiten die entsprechenden Prozesse ein.
          der Resynchronisierung                                                      Quelle: ENTSO-E
                                                                                                            Sie koordinieren die Gegenmaßnahmen und
                                                                                                            stellen sicher, dass das System schnellst-
sacht, weil das abgetrennte südöstliche Teil-         Serbien, Rumänien, Bosnien und Herzegowi-             möglich stabilisiert wird. Teil dieser Maß-
netz vergleichsweise klein war und einige             na sowie die Türkei und Kroatien betroffen.            nahmen war am 08.01.2021 eine Telefonkon-
Erzeugungsanlagen aufgrund der Überfre-               Im südöstlichen Netzteil erfolgte eine auf            ferenz zwischen den größten europäischen
quenz nicht mehr am Netz waren (Abb. 3).              Teile Rumäniens beschränkte Abkopplung                Netzbetreibern Amprion, Swissgrid, RTE
                                                      von Endverbrauchern mit einer Gesamtleis-             (Frankreich), Terna (Italien) und REE (Spa-
Die automatisierten Reaktionen und koordi-            tung von 225 MW. In Deutschland hatte die             nien) um 14:09 Uhr. In dieser Konferenz
nierten Maßnahmen der kontinentaleuropä-              Maßnahme keine Auswirkungen. Hier lag                 erörterten die Teilnehmer den Zustand des
ischen Übertragungsnetzbetreiber sorgten              der Stromverbrauch zum Zeitpunkt des Ein-             Netzes und Maßnahmen, die bereits einge-
dafür, dass der Normalbetrieb im Netz wie-            tretens der Störung mit rund 62.000 MWh               leitet waren.
derhergestellt werden konnte. Um 14:47 Uhr            allerdings um knapp 2.000 MWh höher als
und 14:48 Uhr konnten die Industrieanlagen            die inländische Erzeugung, so dass Strom-             Durch die hohe Widerstandskraft des Ver-
in Italien und Frankreich wieder ans Netz             importe aus den Nachbarländern notwendig              bundnetzes und die schnelle Reaktion der
gehen. Um 15:07 Uhr synchronisierten die              waren. Über eine Inanspruchnahme von                  Netzbetreiber waren die Versorgungssicher-
Netzbetreiber die beiden Teilnetze wieder.            vertraglich vereinbarten Lastabwürfen bei             heit und die Systemstabilität nach Aussage
                                                      industriellen Großverbrauchern in Deutsch-            der Übertragungsnetzbetreiber nicht in
 Abb. 1 Nachfrage und Angebot im Gesamtsystem - Vergleich der Emissionen mit den verfügbaren Emissions-
Von der berechtigungen
          Netzabtrennung    waren    die Länder       landseitwurde
                       sowie Entwicklung der Umlaufmenge       2008 nichts bekannt.Quelle:Da zu    diesem
                                                                                                DEHST       Gefahr [3]. Einen wichtigen Beitrag zur Sta-
Griechenland, Nord-Mazedonien, Bulgarien,             Zeitpunkt nur 4,2 GW Windleistung und                 bilisierung des Systems leisteten die Indus-
                                                                                                            trieanlagen in Italien und Frankreich, die
                                                                                                            entsprechend ihrer vertraglichen Verpflich-
                                                                                                            tungen vom Netz gingen.

                                                                                                            Genügend Momentanreserve-
                                                                                                            und Primärregelleistung im
                                                                                                            europäischen Stromnetz?

                                                                                                            Der aktuelle Störfall wirft auch die Frage
                                                                                                            nach ausreichender Momentanreserve- und
                                                                                                            Primärregelleistung im europäischen Strom-
                                                                                                            netz auf. Durch die rotierenden Massen von
                                                                                                            Generatoren und Dampfturbinen besitzt das
                                                                                                            System eine gewisse Trägheit. Kurzfristig
                                                                                                            erzeugt dies – ohne gezielte Eingriffe – eine
                                                                                                            gewisse Stabilisierung der Frequenz. Primär-
                                                                                                            regelung (auch Sekundenreserve genannt)
                                                                                                            muss spätestens eingreifen, wenn eine Fre-
 Abb. 2
      3   Begrenzung  des Umfangs der MSR
          Frequenz in Kontinentaleuropa    durchder
                                        während  denEreignisse
                                                     Löschungsmechanismus
                                                               des 08.01.2021ab 2023                        quenzabweichung von mindestens 0,02 Hertz
                                                                                          Quelle:
                                                                                       Quelle:    BMU
                                                                                               ENTSO-E
                                                                                                            auftritt.

   32                                                                                             ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3
Kein Kohleausstieg durch die Hintertür
ZUKUNFTSFRAGEN
                                                                                                                        Meinungen & Fakten

Die Primärregelung erfordert keine über-         2022 den Betrieb aufnehmen. Weitere Anla-        netzbetreiber sowie Experten der nationalen
regionale Koordination, da in jedem Kraft-       gen errichten die LEAG im bayerischen Leip-      Regulierungsbehörden und der europäischen
werk die Netzfrequenz gemessen und ent-          heim [4] sowie Uniper am Standort Irsching.      Regulierungsbehörde ACER.
sprechend darauf reagiert werden kann.
Dies erfolgt bislang größtenteils in Groß-       Warnsystem „European                             Fazit
kraftwerken, teilweise auch in kleineren         Awareness System“ (EAS)
Wasserkraftwerken. Insgesamt werden im                                                            Die Versorgungssicherheit der Stromversor-
kontinentaleuropäischen Stromnetz mehre-         Das synchron mit derselben Frequenz von          gung ist in Deutschland und Mitteleuropa
re Tausend Megawatt Regelleistung bereit-        50 Hertz betriebene europäische Stromsys-        davon abhängig, ob der Wind weht und die
gehalten. Technisch erfolgt die Primärrege-      tem ist eines der größten Stromsysteme der       Sonne scheint, das Stromnetz hinreichend
lung in einem Kraftwerk mit Dampfturbinen        Welt – sowohl bezogen auf seine räumliche        ausgebaut und robust ist, ausreichend regel-
indem den Turbinen zeitweilig mehr oder          Ausdehnung als auch auf die Zahl der be-         bare Kraftwerksleistung verfügbar ist, die
weniger Dampf zugeführt wird. Hierfür            lieferten Verbraucher. Eine Auftrennung          Netzbetriebsmittel im gesamten Verbundnetz
kann der Dampferzeuger als Reservoir die-        des Netzgebietes fand in Kontinentaleuropa       funktionieren und die Mitarbeiter der Netzbe-
nen, da eine Anpassung der Feuerungsleis-        zuletzt am 04.11.2006 statt. Als Reaktion        treiber bei Problemen die richtigen Maßnah-
tung meist zu träge wäre. Bei einer laufen-      darauf entstanden neue Sicherungssysteme         men ergreifen.
den Gasturbine wirkt sich eine Änderung          wie das Warnsystem „European Awareness
der Brennstoffzufuhr innerhalb weniger            System“ (EAS) [5], das es den europäischen       Quellen
Sekunden auf die produzierte Leistung aus,       Übertragungsnetzbetreibern ermöglicht, sich
so dass auf diesem Wege geregelt werden          gegenseitig über Beobachtungen und Vorfälle      [1] https://www.entsoe.eu/news/2021/01/15/system-
kann.                                            im Netzbetrieb zu informieren. Das EAS be-       separation-in-the-continental-europe-synchronous-
                                                 grenzt die Auswirkungen von Netzstörungen        area-on-8-january-2021-update/
Neubau von netzrelevanten                        und machte es am 08.01.2021 möglich, die         [2] https://www.smard.de
Kraftwerken                                      beiden Teilnetze nach rund einer Stunde wie-     [3] Vgl. Hans-Jürgen Brick, Vorsitzender der Geschäfts-
                                                 der zusammenzuführen.                            führung von Amprion, in der ZfK - Zeitschrift für kom-
Insbesondere die für die Momentanreserve                                                          munale Wirtschaft, Ausgabe 2, Februar 2021, S. 8.
sorgenden Trägheitseffekte großer Massen          Entsprechend Artikel 15 der EU-Regulierung       [4] https://www.leag.de/de/news/details/leag-inves-
werden durch die Abschaltung großer Kraft-       2017/1485 [6] wird bei einem Vorfall wie         tiert-in-gaskraftwerk-leipheim/
werksblöcke im Zuge des Ausstiegs aus der        am 08.01.2021 eine Expertenkommission            [5] Janicek, F.; Jedinak, M.; Sulc, I.: Awareness System
Kernenergie sowie der Kohle tendenziell          einberufen. Sie erstellt einen Bericht über      implemented in the European Network. In: Journal of
knapper. Einen gewissen Ausgleich könn-          die Vorkommnisse und leitet daraus – sofern      Electrical Engineering, Vol. 65, Nr. 5, 2014, S. 320-324.
ten der Bau und die Inbetriebnahme neuer         notwendig – weitere Schritte ab, die dazu bei-   [6]   https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/
Gasturbinenkraftwerke in Deutschland             tragen können, ein vergleichbares Ereignis       PDF/?uri=CELEX:32017R1485&from=LT
bringen. Zur Sicherstellung einer zuverläs-      in Zukunft zu vermeiden. Die Kommission
sigen Energieversorgung in Süddeutschland        besteht aus Fachleuten der Übertragungs-                                               „et”-Redaktion
haben die Übertragungsnetzbetreiber in
Südhessen, Bayern und Baden-Württemberg
sog. Netzstabilitätsanlagen mit einer Leis-
tung von je 300 MW ausgeschrieben, die im
Jahr 2022 in Betrieb gehen sollen. Die Anla-
gen sollen vornehmlich die Netzstabilität im
Süden bei fluktuierender Netzeinspeisung                                NEWS | MAGAZINE | JOBS | MARKTPARTNER | TERMINE
aus Wind- und PV-Anlagen sichern.

Es handelt sich um Gasturbinen-Anlagen,                                                                   Jobbörse der Energiewirtschaft
die auf schnelle Erreichung des Volllastbe-                                                               Für Fach- und Führungskräfte
triebs ausgelegt sind und bis zu 1.500 Voll-                                                              Jobs finden
benutzungsstunden im Jahr aufweisen. Am
                                                                                                          Stellenanzeigen veröffentlichen
13.11.2020 erhielt RWE vom Übertragungs-
netzbetreiber Amprion im Rahmen der Aus-
schreibung „besonderer netztechnischer Be-                                                                                   Aktuell und
triebsmittel“ den Zuschlag für den Bau und                              www.energie.de/jobs                                  spartenübergreifend
den Betrieb einer solchen Anlage am Stand-                             Das Portal der
ort Biblis in Nordrhein-Westfalen. Die Anlage                          Energiewirtschaft
wird eine gesicherte elektrische Leistung von
300 MW bereitstellen und soll bis Oktober

ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN 71. Jg. (2021) Heft 3                                                                                           33
Kein Kohleausstieg durch die Hintertür Kein Kohleausstieg durch die Hintertür Kein Kohleausstieg durch die Hintertür
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