Konservierung und Restaurierung eines Gesellschaftskleids aus der Gründerzeit, um 1900

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Konservierung und Restaurierung eines Gesellschaftskleids aus der Gründerzeit, um 1900
CORONA-FÖRDERLINIE

Konservierung und Restaurierung eines
Gesellschaftskleids aus der Gründerzeit,
um 1900
In unserer neuen Serie „Corona-Förderlinie“ geben selbstständige, für öffentliche Museen tätige Restaurator:innen
Einblicke in ihre Projekte, die durch die Ernst von Siemens Kunststiftung gefördert werden. Textilrestauratorin
Sonja Müller restauriert ein zweiteiliges Gesellschaftskleid der Ulmer Industriellengattin Bertha Leube für das
Museum Ulm

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Konservierung und Restaurierung eines Gesellschaftskleids aus der Gründerzeit, um 1900
CORONA-FÖRDERLINIE

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                                           Textilrestauratorin
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                                           Restaurierung des
                                           zweiteiligen Gesell-
                                           schaftskleids der Ul-
                                           mer Industriellengattin
                                           Bertha Leube für das
                                           Museum Ulm

                 ABSTRACT
                 Conservation and restoration of a formal dress
                 from the Wilhelminian period, around 1900
                 In our new series, freelance conservators working
                 for public museums provide insight into projects
                 that are supported by the Ernst von Siemens
                 Kunststiftung. Textile conservator Sonja Müller
                 conserves a two-piece formal dress from the in-
                 dustrialist wife Bertha Leube for the Museum
                 Ulm.
Foto:

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Konservierung und Restaurierung eines Gesellschaftskleids aus der Gründerzeit, um 1900
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2                       Ein Geschenk aus Privatbesitz für das Muse-     dung haben zu einer weiteren Verfremdung
Schadenskartierung      um Ulm: ein höchst repräsentatives Gesell-      beigetragen. Dass es ein langwieriges und
der Vorderseite des
                        schaftskleid aus der Zeit um 1900, an dem Al-   (kosten-)intensives Restaurierungsprojekt
Rocks
                        ter und Gebrauch deutliche Spuren hinterlas-    werden würde, war der Leitung des Muse-
3                       sen haben. Angefertigt wurde das zweiteilige    ums und uns sofort klar: Für eine Umsetzung
Zustand des Rocks vor   Ensemble für Bertha Leube (1845–1907). Die      der notwendigen Maßnahmen waren zu-
der Restaurierung       Unternehmerfamilie Leube gehörte in der         nächst keine Mittel vorhanden. Aber die Far-
                        Gründerzeit zu den angesehensten Familien       be, das Schillern und das zu erwartende, im-
                        Ulms. Ihre Mitglieder prägten das politische,   posante Erscheinungsbild ließen niemanden
                        soziale und kulturelle Leben der Stadt.         los. Dank der großzügigen Unterstützung der
                        Für das Museum ist das Kleid nicht nur stadt-   Ernst von Siemens Kunststiftung im Rahmen
                        geschichtlich von Interesse: Es passt auch      der Corona-Förderlinie konnten die Arbeiten
                        hervorragend in einen Themenraum, der           im Mai 2020 schließlich doch beginnen.
                        2022 eingerichtet werden soll. Mode, Klei-        Das aufwendig gearbeitete Kleid besteht
                        derordnung und -herstellung sollen hier im      aus Rock und Oberteil, deren Oberstoff ein
                        Ulmer gesellschaftlichen Kontext früherer       voluminöses, blau und schwarz changieren-
                        Jahrhunderte beleuchtet werden. Dort soll       des Atlas-Gewebe, wahrscheinlich Seide,
                        das Kleid auf einer Figurine gezeigt werden.    ist. Es ist in schräg zum Fadenverlauf ge-
                        Die Anfertigung der konservatorischen Figu-     schnittenen Partien gearbeitet worden, so-
                        rine erfordert ein Verständnis für die Form,    dass die Außenkanten leicht elastisch sind,
                        die zur Silhouette des Kleides führt. Aller-    was sich für Volants gut eignet. Der Entwurf
                        dings genügt ein Blick auf den Zustand des      spielt mit dem Gegensatz von aufgebausch-
                        Kleides vor der Restaurierung, um zu sehen,     ten, voluminösen Bereichen und flachen,
                        dass dies nicht ohne Weiteres möglich ist:      eng anliegenden Partien. Der Oberstoff ist
                        Das Gewebe hat den Zusammenhalt über            über dem korsettartigen Inneren des Ober-
                        große Partien hinweg verloren, sodass die       teils drapiert: Geraffte und gebauschte Parti-
                        ursprüngliche Form nicht eindeutig zu erken-    en stehen solchen gegenüber, die flach am
                        nen ist. Deformation und starke Faltenbil-      Körper anliegen. Oberarme und Brust gewin-

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                           nen so mehr Volumen und betonen das vor-
                           ne spitz zulaufende, enge Taillenband. Auch
                           die Unterarme sind eng anliegend und wer-
                           den mit Knöpfen geschlossen. Der Rock er-
                           gänzt das Oberteil in Material und Technik
                           und beginnt mit einem anliegenden Volant
                           ab der Taille. Diesem folgen geraffte, dann
                           wieder flach gehaltene Volants. Den Ab-
                           schluss bildet ein Volant, der nur am oberen
                           Rand gerafft ist. Wie weit die angedeutete
                           Schleppe reicht oder wie stark der Rock
                           durch einen cul-de-Paris angehoben wird, ist
                           wegen des instabilen Zustands noch nicht                     5

                           abzulesen.
                             Trotz des verheerenden Eindrucks zeigt
                           sich im Schadensbild ein Muster: Es gibt fast
                           nur diagonale Risse und kaum größere Fehl-
                           stellen. Auffällig ist, dass nur der blaue
                           Schussfaden unter Belastung gebrochen ist,
                           und zwar immer genau an den Kreuzungs-
                           punkten von Kette und Schuss, wo die Rei-
                           bung der Fäden am höchsten ist. Es wird
                           vermutet, dass hier eine Schädigung der Fa-
                           ser durch Färbung oder Ausrüstung vorliegt.
                             Aus dem Zustand ergeben sich die Restau-
                           rierungsmaßnahmen und deren Reihenfolge:
                           Zuerst erfolgt die Stabilisierung des fragilen
                           Gewebes durch Positionieren eines passen-
                           den Unterleggewebes und nähtechnisches Si-
                           chern mit Spannstichen, nachdem die Fäden
                           geordnet und geglättet wurden. Die lokale Tro-
                           ckenreinigung kann erst im gesicherten Zu-       Schnittmuster gefolgt und haben die einzel-       4
                           stand erfolgen. Eine große Schwierigkeit be-     nen Paneele folglich auch schräg zum Faden-       Rechter Ärmel wäh-
                                                                                                                              rend der Restaurierung
                           stand darin, ein geeignetes Unterleggewebe       verlauf zugeschnitten. Länge und Abstand
                           zu finden. Es muss mehrere Bedingungen           der Spannstiche müssen immer wieder vari-         5
                           erfüllen: Es soll dem originalen Gewebe si-      iert und den Erfordernissen angepasst wer-        Zustand des Rock-
                           cheren, festen Halt und den Spannstichen ei-     den. Die nähtechnische Sicherung wurde mit        saums vor der Restau-
                           nen soliden Grund geben. Gleichzeitig muss       den „einfachen“ Partien begonnen: Den fast        rierung

                           es weich genug sein, sich dem Fluss der          glatten Volants am Rock. Es zeigt sich, dass
                           Raffungen anzupassen. Es darf nicht zu viel      durch sorgsames Auslegen der Fäden die Di-
                           Eigengewicht mitbringen, wodurch das Ori-        mensionen der einzelnen Gewebestücke
                           ginalgewebe belastet und möglicherweise          und damit auch die Gesamtform gut zu re-
                           heruntergezogen wird.                            konstruieren waren. Die Unterlegseide si-
                             Es soll vielmehr das Volumen der aufge-        chert nicht nur die Gewebestreifen und flot-
                           bauschten Partien mit seiner leichten Festig-    tierende Fäden, sie sorgt auch dafür, dass
                           keit unterstützen. Und obwohl es kaum flä-       die gerafften Bereiche wieder ein Volumen
                           chige Fehlstellen gibt, soll das Unterlegmate-   erhalten und die scharfen Faltlinien abgerun-
                           rial letztlich dem Farbton des originalen        det werden.
Fotos: Sonja Müller M.A.

                           Stoffs angepasst sein. Schließlich wurde ein       Mit Spannung erwarten wir die Fertigstel-
                           nachtblauer Seidentaft ausgewählt. Auf-          lung des Rockes: Dann können wir sehen,
                           grund der vielen Raffungen, Wellen und Fal-      welche Art und Ausmaß von cul-de-Paris sich
                           ten ist es nicht möglich eine Gesamtunterle-     unter dem Rock verborgen haben könnten!
                           gung anzubringen. Wir sind dem originalen                                   Sonja Müller M.A.

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