"Lasse schlafen Dream of Jeannie - * Thema: Grenzerfahrungen "Nahtod" geboren aus

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"Lasse schlafen Dream of Jeannie - * Thema: Grenzerfahrungen "Nahtod" geboren aus
*
»Lasse schlafen «
    ›Dream of Jeannie‹

*Thema: Grenzerfahrungen
"Nahtod" geboren aus
Fiktion und Leben,
wie eben üblich und normal.
„Das Leben ist wie eine Pusteblume. Wenn die Zeit gekommen ist,** muss jeder alleine fliegen.“
Zitat von Cindy Lembke

http://www.fotocommunity.de/pc/pc/mypics/985208/display/26926433
»Vitamin D Mangel... ich brauche Sonne«
Fotonegativ von Nelli Bergen

** Impressum

Dieser Text wurde von Nico Fuchs 2010/2011 im Tage-Bau.de verfasst und 2012 neu bearbeitet. Der Autor ist erreichbar
unter fuchsn@arcor.de. Kommentare und Kritik sind jederzeit willkommen und werden bei zukünftigen Versionen
berücksichtigt. Eine aktualisierte Version dieses Textes im PDF-Format gibt es unter http://home.arcor.de/er.fror/. Dieses
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Sylvia Hagenbach 1 schrieb:

                                                      lieber Nico,

ich les sonst immer gern deine beiträge – aber mit diesem – uff! habe ich mich ganz schön geplagt… also es ist
   irre viel text und für mein gefühl ists diesmal ziemlich unstrukturiert oder vielleicht auch nur nicht leserinnen-
                    freundlich;-))) vielleicht ein bisschen mehr unterteilungen? kleinere häppchen?
  die geschichte an sich find ich spannend, aber ich würdse wohl noch ein wenig – ähm – entrümpeln? oder so
               umgestalten, […] vielleicht so wie’n auftritt im theater, jede(r) setzt sich anders in szene.
                      denn szenen sind es ja, die dem kranken da durch den kopf gehn… ich find,
                                       da ist noch eine ganze menge mehr drin;-))).
                                                         liebe grüße
                                                            sylvia

 Mir gefällt sehr, dass Deine Texte, obwohl Prosa, oft so innere Reime haben und die Alliterationen find ich auch
sehr Klasse! Und den, trotz des sehr ernsten und schwierigen Themas, wo man beim Lesen immer zwischen Ent-
            setzen und Lachen schwankt, - der ganzganz hinreissende Humor!!! […] toll die Verbindung
                                    - Gitterstäbe Kinderkrankenbett - Gitterstäbe
                                              Zoo - Rilkescher Panther -
                […] Die Fotos find ich, trotz der Kleinschnipsigkeit, sehr ein- und ausdrucksvoll. […]
                        Die bezaubernde Jeannie:-) - was für eine schöne Geschichte! Also für
                      die würd ich mir auch noch was extraes überlegen, vielleicht immer sonen
                    kleinen "Tusch" (also im übertragenen Sinne") wenn sie (oder eine von ihnen,
                          denn es sind ja mehrere, obwohls ja doch "die eine" Fee ist - ihren
                                                       Auftritt hat.

                                               Nun zur Form 2:-) .
                         Überleg doch mal, ob Du die Traumszenen und die Rückblenden
                     von der Haupterzählung etwas absetzen kannst durch kursive Schrift oder
                                            irgend etwas ähnliches.

                                                Werner Theis schrieb:

       der tod ist eine beiläufigkeit, er geschieht sozusagen beim laufen. beim auslaufen. beim ablaufen.
                                            beim weglaufen. laufend eben.
    da setzt das herz aus. der Kopf aus. das licht aus. egal, ob stehend, liegend, sitzend. es ist ein einziges
                                         ausatmen. wenn es dazu noch reicht.
        und es bleiben ein paar zurück auf den laufbändern. hin und her. rechts und links. hoch und tief.
                    eine träne stiehlt sich in augenwinkel. in blickwinkel. macht trüb. vernebelt.
  beim grablegen ist es oft so kalt, dass die nasen laufen. geschneuze. geschluchze. die eine träne bekommt
                                        gesellschaft. soll ja nicht so allein sein.
es halten sich hände, die vorher nichts gehalten haben, nicht mal die leeren versprechen. der sarg ist nicht leer,
                                                   aber die augen.
  danach verläuft sich das, was gekommen ist. jeder strebt seinem ende zu. die richtungen sind verschieden.
            und wie sie auch gehen eilen laufen rennen hasten: sie kommen alle da an, nämlich hier.
                lass sie laufen, bruder. wenn es soweit ist, werden sies erfahren. Ganz beiläufig.

    lb. nico, mir gefällt deine lyrische prosa mit den binnenreimen. :-) aber das habe ich dir schonmal gesagt,
                                  ich erinnere mich genau. lg w. ps: bitte mehr davon!

                                             Brummix und Mathi schrieb:

                               Mir erscheint die Geschichte etwas atemlos erzählt,
            aber ich kann gut assoziieren. […] sehr interessanter text, generell eine sehr schöne art zu
                                               schreiben. [...] grüße

1   Hab herzlichen Dank, liebe Sylvia, für deine großartigen Gedanken und Notizen am Blattrand. Das half mir bei der Neu-
    fassung sehr. »I feel even kissed litera ry« Wer mehr von dir sehen/verstehen will, klickt: www.sylviahagenbach.de
2   Darüber habe ich lange nachgedacht. Aber ich finde, ein bisschen Verwirrung schadet nicht und ist Teil der Geschichte.
    Es geht Lasse die gesamte Zeit über so. Und jeder Zeitsprung wird eingeleitet oder ergibt sich aus der Handlung.
1)
   Lasse schlief verwegen tief und lief und lief und lief.
                    Bis er plötzlich den Halt verlor und rutschte. Oje, überall lag heißer Schnee und wo lag er?
                    Auf dem Rücken. Wie ein Bob sauste Lasse die Bahn herunter. Na, wenn das nicht munter
                 machte, lachte Lasse lauthals los.
                    Einen Wimpernschlag später war er nicht mehr auf der Bahn, sondern mitten auf der Straße,
                 diesig, seltsam, an jenem Ort befand, den er aus Kindertagen kannte. Und wenn er sich steifer
machte, wie bekannter Teddybär, beschleunigte seine Fahrt noch um einiges mehr. Achtung, ein Auto, dort: mit
dem linken Fuß gesteuert, feuerte er dicht an dem Wagen vorbei.
  Sei froh, dachte Lasse und das ging noch mal gut.

   Nun hing er wie ein Schluck in der Kurve und reiste in die Vergangenheit. Es rauschten links und rechts die
Häuser an ihm vorüber, die er als Kind gesehen, wenn er zur Schule und von dieser Veranstaltung wieder nach
Hause gehen musste.
   Lernen und Lehrer waren nicht sein Ding gewesen. Er fing wieder an, sich zu erinnern. Da war zum einen
Sabbernack! Bei ihm hatte Lasse Lesen und, Tränen in die Augen treiben, natürlich auch Schreiben. Da tat er
sich schwer und sogar noch im Traum martialisch leiden. Regelmäßig im Aufsatz hatte es geheißen, Inhalt und
Ausdruck: Eins, aber, ein Großes mit Kopfschütteln, die Orthographie, Frage- und Ausrufezeichen?! Auf die
kannst du sch...

   Hier stand er nun, im alten Schulgebäude und ganz allein. Wieder überkam ihn ein ungutes Gefühl. Und dieser
Pfeiler, an dem er sich als Kind blutig geschlagen, war ebenfalls präsent. Er wusste noch genau, dass er sich
nicht traute, zuzugeben, wie das geschah. Dass er im Laufen nicht nach vorne sah und erst bevor er da, der blöde
Pfeiler, wie eben jetzt in dem Moment, ganz nah, den Kopf nach vorne drehte und gewaltig an denselben, mit
demselben, knallte. Und sogleich begann es sich zu drehen und es schallte. Ein bisschen wurde ihm mulmig. Er
lallte unverständliches Zeugs, verdrehte die Augen und schloss die Lider und fiel zu Boden nieder.

  Sabbernack war eigentlich kein Lehrer für die Unterstufe. Er kam aus der Erwachsenenbildung. Doch aus wel-
chen Gründen auch immer, schlimmer konnte es nicht kommen, unterrichtete er seine Klasse. Er sabberte wort-
wörtlich beim Sprechen und wirklich was vermitteln konnte er Kindern nicht. Die Klasse sprang ihm bald auf
der Nase herum, was wiederum dazu führte, dass Sabbernack die Schlimmsten von der Sorte Störenfriede bald
gehörig antanzte. Trotz seiner gewaltigen Leibesfülle, seines permanenten Rotzes und seines ebenfalls beeindru-
ckenden Stiernackens konnte Sabbernack eine ganz erstaunlich flotte Sohle aufs Parket legen.

  So ging das eine ganze Weile. Durch das Pauken von Gedichten konnte sich Lasse von Fall zu Fall im Fach
behaupten. Selbst die Längsten ließen ihn nicht schrecken und brachten regelmäßig Einsen zwischen die Ortho-
graphie. Doch Schreiben und Lesen können, wäre auch schön gewesen. Doch es ging auch so.
  Nur, als Sabbernack Lasse eines Tages in die Rippen boxte, als wieder mal die Klasse außer Rand und Band,
da fand er es nicht mehr ungerecht, von seinem Lehrer auch mal schlecht zu reden. Er war sonst nicht so und so
war es von Lasse auch nicht gewollt. Doch wenn der Stein einmal rutscht und rollt, ist der Rest nicht mehr zu
halten.

  dt. Lehrer a. D.

  Es wäre im Nachhinein lieber schon früher geschehen, so tat es Lasse aus der Distanz verstanden heute sehen.
Lieber das Ende mit Schrecken erleben, als den Schrecken ohne Ende in einer Schleife immer und immer wieder
zu arrangieren. Aber wie oft kommt das vor? Bloß nichts riskieren. Heute war´s gar nicht so schlimm. Nimm das
nicht persönlich. Morgen sieht alles ganz anders aus. Mach dir nichts draus. Wird schon werden. Irgendwann im
Himmel dann, wenn schon nicht auf Erden.

  alles Quatsch.

  Um ihn herum war alles dumm, dunkel und es tat ihm gar nicht gut gehen.
  So einen kräftigen Schlag hatte er zuvor noch nie bekommen. Dagegen war der Knüppel, den er im Indianer-
sommer, von ›Lotterfeder‹ geworfen, an die Stirn bekam und von dem er sogar eine kleine Narbe davontrug,
Clownerie mit Konfetti gewesen. Ihm fiel wieder ein, wie warm das geblutet hatte. Trotzdem, viel passierte
damals nicht. Die Platzwunde wurde nur mit einem Pflaster versehen und schon konnte Lasse weiter spielen
gehen.

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2)
    »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, scherzte seinerzeit ein gut gelaunter Medizinstudent. »Wer flennt,
                rennt sein Leben lang weg.« oder so ähnlich. Lasse war ganz froh darüber, dass er sich nach
                gefühlten tausend Jahren noch erinnern konnte.
                   Gut, Sabbernack war Geschichte. Doch kriegte die Sache jetzt richtig Schmackes. Es wech-
                selten die Lehrer und -innen. Und erst das Fräulein von der Uni, ein süßes Luder mit Sommer-
                sprossen im Gesicht und nicht nur dort, riss das Ruder rum und so manchen in der Klasse, in
                der Schule mit und um. Sie motivierte einen weiten Teil der Klasse. Absolut und resolut, voll
brennender Glut und irgendwie, jetzt sah er sie, mit sehr viel Mut.

   Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. Schon wieder verabschiedete sich sein wacher Verstand. Nach-
dem es für einen Augenblick lichter wurde und er dachte zu erkennen, tat er wieder ins heimliche Dunkel glei-
ten. So verbrachte er Lebenszeit zwischen Licht und Schein, nicht und sein, um Folgendes festzustellen:
   Lieber wollte er wieder rodeln. Und da er eh schon am Boden lag, setze er seine Fahrt, diesmal ohne Schlitten,
fort und befand sich wieder dort, wo er noch eben dem Wagen entkommen war. Wieder je steifer der Teddybär,
je schneller wurde die Tour, die sich echt anfühlte und Lasse gewaltig aufwühlte.
   Wo bitteschön, war denn ›Hier‹?

   Den Gang entlang, der kleine Junge lag mit seinem Kopf quer und regte sich schon eine ganze Weile nicht
mehr, kamen drei Mädchen aus der Oberstufe am Flur, nur wenige Schritte entfernt, vorbei. Jeannie, Wow,- die
›Zauber‹ -frau, hatte es faustdick hinter den Ohren und sah verstohlen, - gut aus - mehr zufällig an ihren beiden
Freundinnen vorbei, als sie Lasse liegen sah. Wären sie, wie in diesem Alter üblich, ein klein bisschen mehr mit
sich und ihrer Welt, was alles Scheiße ist und was gefällt, beschäftigt gewesen und hätten sie ihren Blick voraus
gewandt oder ihn ausschließlich einander geteilt, wäre die folgende Geschichte nicht entstanden. Alles begann
damit, dass sie Lasse fanden.

  »Was ist denn da passiert?« mit einem rauen Ruck stieß sie Hanni an. »Mann guckt doch mal.« Sie gingen alle
drei zu dem Knirps hinüber. Hanni und Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, ließen ihre Rucksäcke fallen, wäh-
rend die Dritte im Bunde, die gesunde Frage stellte, ob sie nicht gleich jemanden holen sollte?

   »Du? Du nicht! Du hast doch Erste Hilfe gemacht«, sagte Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, geradezu vor-
wurfsvoll. »Nu zeig mal, was du kannst. Oder hast du nur den Hmmmhh verschlungen? Hab ich doch gleich
gesagt.«
   »Quatsch.«
   »Denn mach.«
   Ohne eine weitere Aufforderung lief Hanni los. Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, ließ sich auf den Boden
nieder und wieder machte Lasse sich steif. »Nun zeig doch mal, was der Hmmmhh euch beigebracht hat. Seiten-
lage und so.« Und Nanni machte.
   Ganz sachte kam Lasse zurück. Ihn kitzelte eine Träne oder Jeannies Haar im Gesicht. Da sich Nanni nicht
sicher war, ob der Kleine überhaupt noch atmete, musste Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, ganz dicht an ihn
heran. Und dann?
   Verschwamm das Licht.

   Wieder heißer Schnee. Oje, es waren Laken. An einem Haken hing eine Infusionsflasche, die bereits bis auf
ein Viertel geleert war. Langsam wurde ihm klar, dass das soeben Erlebte schon sehr lange her war und er war
nicht mehr der kleine Junge von damals, sondern Patient, der auf Station lag und einen tödlichen Feind sein
eigen nannte. Was wohl aus Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, geworden war?

  Klar, die Sorte liebes Mädchen war Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, nie gewesen. Eher von der, die sich
gerne mal haute und sich Verrücktes traute, das niemand für möglich hielt. Für ihn, den Kleinen Lasse, konnte es
keine krassere, bessere Freundin in seinem noch nicht allzu lange währenden Leben geben. Er musste schmun-
zeln, als er an sie dachte, lachte sogar, obwohl ihm zum Heulen war, als das Bild von Jeannie, Wow,- der ›Zau-
ber‹ -frau, ganz klar in seinem Geiste wieder Form fand.

   Er ballte die Hand und genoss den darauf zu spürenden Schmerz. Denn er wollte sich nicht mit seinem Herzen
beschäftigen. Nicht heute und nicht jetzt. Viel lieber versuchte er, sich an den Unterricht zu erinnern. Und
komisch, ihm kam in den Sinn, wie er oft im Bad, spät am Abend, saß und Gedichte lernte. Was für ein
Schwachsinn dachte Lasse und drehte sich ein Stück weit. Nun schmerzte auch sein Rücken, der total steif und
starr gefroren schien. Und ihm fiel die Rodelfahrt wieder ein. Kein Vergnügen war das gewesen.
   Doch von Angst war er befreit.

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3)
   Ihm tat so vieles in seinem Leben leid.
                   In der Vergangenheit hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken, was alles in seinem Leben
                falsch, bucklig und nicht rund lief. Da er aber nun in einem Krankenhausbett, im Schweiße sei-
                ner Schmerzen und mit einem brennenden Herzen in der Brust, schlief, holte ihn sein Versäum-
                nis auf beeindruckende Art und Weise ein.
                   Es gab nicht viele, überlegte Lasse, die einen prägen. Natürlich die Eltern, die Familie. Aber
                außerdem? Von all den Namen kamen nur wenige Stück für Stück in sein Gedächtnis zurück.
  Krumm? Nein, gerade, weil sie für immer in seine Seele gebrannt waren.
  Dumm! Und eben auch die Lehrer, die beide ihm das Schreiben, Lesen und Leiden lehrten. Sie machten ihre
Sache gut.

  Mit feuchten Händen lag er nun in seinem Bett. Allein in einem Zimmer der modernen Art, mit Radio, TV
und Telefon. Schon schön, aber wozu? Für´s stundenlange Grübeln und Trauern, um innerlich ordentlich zu
mauern, brauchte es kein Telefon, brauchte es kein Radio und - -genau - - auch kein TV. Es hatte geheißen, die
Therapie würde mörderisch sein. Ein Farbenspiel zwischen Vogelbeere, Kirsche und ab und zu ein paar weisen
Nuancen. Ihm schwante langsam, er ahnte es, was weise in diesem Zusammenhang heißen sollte.

   Der Unterricht bei dem Fräulein von der Uni mit den Sommersprossen machte Spaß. Sie kam daher, als junge
Referendarin und wurde, wie konnte es anders sein, erst einmal nicht für voll genommen. Doch dann, etwas spä-
ter, war sie als ›echte‹ Lehrerin wieder gekommen. Ein Glück, nicht für jeden, aber jeden kann man auch nicht
retten. Dazu sind die Ketten der Macht zu schwach, zu fein gegliedert und nur für jenen stark genug, der etwas
zu seiner Rettung beitrug. So sah er das und was ihn beeindruckte, war der scheinbare Widerspruch gegenüber
dem, was jetzt in seinem Kopf umherspukte. Denn auch jetzt gelang die Therapie nur dann, wenn zu dem Gift,
dass nun in seinen Körper drang, sein Wille stark genug und er den Schmerz und er die Angst und er sich selbst
ertrug.

  Er war ganz klar dem Leid erlegen. Für heute reicht´s, dachte Lasse und wieder an Jeannie, Wow,- die ›Zau-
ber‹ -frau. Dass er aber auch kein Bild von ihr hatte. War sie wirklich so groß und er so klein gewesen? Was
würde er nicht dafür geben, sie heute noch einmal zu sehen?
  Sein Leben?

   Lasse lachte und bekam einen prächtigen Reizhusten. Schleimbrocken prustete er auf die Bettdecke. Iie, wie
er das hasste. Jetzt musste er die Schwester rufen und sich wie ein Kleinkind den Sabber vom Mund, der Nase
und der Decke wischen lassen.
   Schrecklich war das.

   Wieder alleine im Zimmer waren seine Gedanken wieder oder noch immer bei Jeannie, Wow,- der ›Zauber‹
-frau, und dem Eisenpfeiler aus grauem Metall. Sicher würde sie sich nicht mehr erinnern. An einen Pimpf der
Unterstufe, den sie mal verarztet hatte. Haar und Haut hell und vertraut. Wahrscheinlich übertrieb er maßlos,
bloß, um sich ein Fünkchen mehr noch zu erinnern. Doch fürs Erste packte er Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau,
wieder ein. Nicht in eine Flasche, nein, gewickelt in Stanniolpapier, würde sein Herz ein Konfektkästchen sein
und ihr Heim.

  Wie schön, im Schatten gediehen, sein Leben doch war. Ein Schmunzeln, ein Runzeln. Oje, ihm wurde klar,
dass er bereits in der Vergangenheit dachte. Nun mal ganz sachte. Lass sie reden! Die Ärzte haben dich noch
nicht verloren gegeben. Und wegen kleinerer Rückschläge wirst du heute nicht aufgeben.
   Hörst du?

  Wie lange am Stück hatte er eigentlich gelegen? Er wollte nicht noch einmal die Schwester bemühen, um nach
dem Tag zu fragen. Er würde es später, am Nachmittag erfahren. Bestimmt waren es schon mehr als zwei
Wochen. Er fühlte sich taub. War sein Rücken gebrochen? Warum zum Teufel hatte keiner der Ärzte von sol-
chen Dingen gesprochen?

 Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren Arzt oder apoShékere, kam ihm in den Sinn und er sah die
Werbezwillinge vor sich faxen. Sie flüsterten leise, auf surreale Art und Weise. In einem gespenstischen Chor.
 Er fror.

  ›Gute Besserung‹

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4)
     Natürlich war das alles furchtbar und ungerecht. Ihm wurde regelrecht schlecht und immer wieder kam es
                   vor, dass er die Contenance verlor und sich übergab. Das lag, wer mag - kann (ver-)zweifeln,
                   am Toxikum, das fortwährend, lähmend in seinen Körper kroch.
                      Und doch, er kannte solche Brechattacken auch noch gut aus lange vergangenen Kinderta-
                   gen. Chemie, die helfen und heilen sollte, rollte mit einem Gefühl von Wärme, immer mal wie-
                   der und wunderbar schlecht durch seinen Magen und die Gedärme. Süß und (ungeheuer-) säuer-
lich, brach, tief aus dem Bauch, hier und da, die Freude forschender Pharmaunternehmen, sporadisch und erupti-
onsartig aus.

  Mit 5 Jahren, zum Beispiel, Straßenbahn gefahren, spie keiner weit und breit sein Leid so schön, in einem so
hohen Bogen, ungelogen, wie er. Wenigstens drei kräftige Schübe, vier waren alle dabei, brüllten nach Aufmerk-
samkeit. Zum Glück war der Wagen an manchen Tagen nicht voll. Toll. Denn so blieb der Gang, die Bahn, für
den kleinen Lasse und seinem Drang frei!

  Sie waren fast da. Ein kurzer Zwischenhalt dergestalt, dass der Fahrer auf die Kotze Sand gab, die da auf dem
Boden, in der Mitte und am Rand lag. Wo er den her bekam, das wusste er nicht mehr? Vielleicht wurde der zum
Feuerschutz mitgeführt? Erbrochenes brannte schließlich sehr.
  Und immer wieder die Frage, ob nun gut sei. Doch Lasse fühlte sich wohl und wollte unbedingt in den Zoo.

  Wo die Elefanten immer tuteten, wenn er am Gehege stand.
  - Ob sie ihn erkannten? - - fand er erst heute bedeutend und ein bisschen amüsant.

  Und auch die Sache am Affengehege. Nun lachte er darüber, über seine Dummheit und den Streit, den er ent-
fachte. Dabei wollte er nur wissen, wie die Tiere hießen. Sie ließen ihm einfach keine Ruhe.
  »Nu schau doch mal«, ein prächtiges Männchen drehte ab und zeigte allen sein Hinterteil. Weil an dem
Gehege kein Schild zu finden, suchte Lasse überall. Auch an besagtem Teil. Weil es so schön rosa leuchtete und
hin und her baumelte, was da am Affen hing. Was war das nur für ein komisches Ding? Lasse hielt es für ein Eti-
kett und wollte es vorgelesen haben.

   »Was denn für ein Schild, Lasse?«
   »Na da. Am Hintern. Guck´doch mal.«
   Noch immer am Suchen wurden jetzt auch umherstehende Besucher neugierig, schauten interessiert auf das
favorisierte Tier und lehnten sich sogar ein wenig über die Absperrung. Was meint der Junge? dachte sich sicher
eine ältere Dame und rückte sich die Brille auf ihrer Nase zurecht. Sie sah ja nicht mehr ganz so gut. Aber doch
so schlecht?

  Dann erkannte Lasses Majka den Irrtum ihres Sohnes. Sie begann zu flüstern. Doch für Lasse ergaben ihre
Worte keinen Sinn.
  Der Opa neben der älteren Dame beantwortete die Frage mit deftigen Worten.
  »Ordentliches Gehänge, lieber Mann.« Dann rotzte er in ein blaues Stofftaschentuch und hinter ihm, eine
deutlich jüngere Frau, als die ältere Dame daneben, gluckste ein »Huch«, denn am Affen hingen prächtige Eier.

  Mächtige Hoden in leuchtendem Rosa. Da musste Lasse plötzlich schmunzeln. War er damals dumm.
Unglaublich. Sich dermaßen zu blamieren, in reiferen Jahren undenkbar. Doch glücklicherweise war er damals
noch Kind. Wenn er heute daran dachte, blieb ihm nur ein Kopfschütteln. Später, bei Familienfeiern, fragte hin
und wieder einer nach den dicken Affeneiern.

   Jetzt war ihm richtig übel. Im Magen rumorte es, im Darm gab es Krämpfe. Für einen Augenblick beliebte er,
zu scherzen. Ihm war, als ›tumorte‹ es. Schreckliche Kämpfe und noch kein Sieger in Sicht. Er fühlte sich, öfter
als gut für ihn war, als Verlierer, doch eingestehen oder gar aufgeben wollte er nicht.

  Nach einer erschöpfenden Kraftanstrengung, die Beine selbständig anzuwinkeln und ein bisschen seitlich zum
Liegen zu kommen, war die schlimmste Übelkeit erst einmal verronnen. Er kannte schließlich das Prozedere. Es
half nichts, nach der Schwester zu rufen.

  Und Fluchen? - Versuchen -
  Auch nicht.

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7/24
5)
   Die Schmerzen waren nicht in Worte zu fassen.
                  Also tat er es lassen und sie geschehen.
                  Ein bisschen half es, sich abzulenken. Sobald es der Schmerz zuließ, ergriff er die Chance zu
               entfliehen. Dabei half ihm eine tierische These, die besagte, dass es keinen Schmerz gab, der
               sich nicht ertragen ließ. Es hieß in einer Theorie in etwa so:
                  Ein Beutetier, welches gerissen wurde, wäre nicht in der Lage, bis zum bitteren Ende den
               Schmerz zu spüren. Deshalb setzt zuvor ein Mechanismus ein, der lindernd wirkt oder gar das
Bewusstsein ausschaltet. Schon im Vorfeld werden schmerzstillende Substanzen freigesetzt. Wir kennen Ohn-
macht und Koma. Sie sorgen dafür, im Augenblick der größten Not, dem Tod verhältnismäßig zu begegnen.
  So gesehen würde also nichts Außergewöhnliches geschehen.

   Nach einer OP, Probenentnahme hinter dem Ohr, lag Lasse in einem Metallgitterbettchen auf der Kindersta-
tion der Uniklinik und kühlte die noch frische Narbe mit seinen Händen. Hierzu umklammerte er die kalten
Stäbe. Für einen kurzen Augenblick war ihm wieder so, als läge er in jenem Bett auf Station. Doch schon ein
leichtes Husten unterbrach sein Träumen. Ein Blick zur Seite ließ das weiße Gitter vergeblich suchen. Und doch
erinnerte er sich noch gut daran. Sie fühlte sich komisch an. Heiße und geschwollene Knubbel waren zu ertasten.
Später stellte sich heraus, dass es die Fäden und die verkrusteten Knoten waren, die beim Ziehen derselben ziem-
lich toll ziepten.
   Und es brachte ihn wieder zu einer Begebenheit, die nach dem Etikettenschwindel vor dem Affengehege, sich
ebenfalls im Zoo so oder andersähnlich begab.

  Eisenstäbe, ungefähr von der Dicke eines Fingers, ungefähr, weil schlecht zu schätzen und sehr lange her,
säumten die Gehege größerer Tiere. Schwarz, so dachte Lasse damals, passte sehr gut. Schließlich war ihr Fell
hell, manchmal. Aber auch dunkel. Und wie verhielt es sich mit Kanarienvögeln? Löwen und Meerschweinen?
Er hatte keine Ahnung, wohin diese Gedanken führen sollten. Vielleicht sollte er sich nur im Kreis drehen?
Gleich einem Kreisel. Dem Brummen in seinem Kopf zufolge war er gar nicht so weit davon weg.
  Er erinnerte sich an Dreck. Der triste Betonboden des Menschenaffenhauses war leer. Wer sich von den
Dreien vergnügen wollte, sollte alsbald kreativ werden. Von den Pflegern angebracht, hingen lediglich ein paar
dicke Seile von der Decke herunter. Ein fetter Treckerreifen baumelte in der Mitte des Geheges herum. Und wie
schon erwähnt, wer sich nicht langweilen wollte, musste alsbald kreativ werden.

  Die Stäbe, so verglich Lasse in Gedanken nicht nur die Dicke dieser, sondern auch die Abstände zwischen
ihnen, standen weiter auseinander, als die seines Kinderkrankenbettes. Locker hätte ein Arm zwischen diese
gepasst. Aber lasst uns verzweifeln, ganz im Sinne Rilkes:
  „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“
  Eines seiner Lieblingszitate. Für sich allein konnte es für so vieles stehen. Traurig und wahr. Nicht nur ein
Raubtier wurde hier vorzüglich beschrieben. Er erkannte sich. Und es spendete ihm Trost.
  Und sicher sahen es die Insassen im Affengehege wie er, der von draußen nach innen starrte.

   Aber durch die Breite der Stäbe ermöglichte man den Tieren etwas zu tun, womit keiner der Architekten wohl
gerechnet hatte. Als sich nämlich für einen der Menschenaffen, ein kräftiges Männchen, die Gelegenheit bot, hob
er diese vom Boden auf und schmiss in die Menge Gaffender Kot. Erst mal ziellos, unbehindert vom Gestänge.
   Später begann er sogar, kleine Kügelchen zu machen. Den Besuchern verging sehr schnell das Lachen, als sie
begriffen, was der dumme Affe mit seiner Knetkunst letztlich vorhatte. Ein Spektakel war das gewesen.
   Lasse selbst war zu der Zeit nicht so nah am Geschehen. Ihn interessierten die großen Primaten nicht sonder-
lich. Doch dieser Aktion zollte er Respekt. Es war für ihn ein großes Wunder, zu erkennen, was für Kreativität in
tierischen Hirnen steckt.

  Aufgeweckt von einem Stechen, musste er die Infusion und seinen Halbtraum unterbrechen. Mit zittriger
Hand tastete er nach dem Alarm. Unwillkürlich musste er noch einmal an den Affen denken, dessen Arm durch
das Gehegegitter passte und er fühlte sogar ein bisschen, wie sich das Scheißekügelchen anfasste. Doch jetzt
musste er selber mal ganz dringend wo hin.
  Er ließ den Geist aus der Flasche. Von jeher lehnte er es ab, in eine solche zu machen. Wenn es irgendwie
ging und hing er auch wie ein Schluck in der Kurve, musste er allein aufs Klo. Wenn auch, wie zurzeit der Fall,
von Schwester Jeannie, Wow,- der ›Zauber‹ -frau, an die Hand genommen.

  Los!
  Bloß nicht kleckern.

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6)
   Er kannte natürlich die Vorschriften und Bestimmungen.
                   Doch die, davon war er überzeugt, musste man der Würde wegen manchmal ignorieren.
                   »Nein«, warten sie, wollte die Schwester noch sagen, als sie Herrn Loewenzahm allein aus
                dem Bett krabbeln sah. Doch dann kam Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, hinzu und stellte die
                kleine Schwester, die Lasse noch nicht kannte, zur Seite.
                   »Das geht schon in Ordnung. Ich mach das hier.«
  Ohne Fragen zu stellen, mit mäßiger Verwunderung, ging die Kleine aus dem Zimmer.

   »Wer?« Ein Zischen unterbrach die Frage und ließ sie offen. Ob es reichte? Aber eigentlich war ihm die Ant-
wort im Moment mal sagen scheißegal. Viel mehr beschäftigte ihn nun sein Schließmuskel, der unbedingt noch
bis zur Toilette halten musste. Mehr wollte er für diesen Tag nicht. Nur noch ein paar Sekunden, ein paar Stun-
den ruhen und er war vollbracht. Wenigstens der helle Teil lag dann hinter ihm, was später folgte, war wieder
und immer wieder Nacht.

  Lasse Loewenzahm, nahm die Hilfe seines Gegenüber notgedrungen in Anspruch. Und er war, im Gegensatz
zu ihm, dem unheimlich, peinlichen Umstand, nicht so schwer. Denn wäre er stämmiger und schwerer gewesen,
wäre sicher ein Pfleger gekommen und hätte ihn beim Kacken an die Hand genommen. Nun war es nicht unbe-
dingt besser, von einer Frau auf den Topf gesetzt zu werden.
  Oder?
  Gedanken schossen ins Nichts.
  Egal!
  Wenn es denn irgend ging, wollte er sein Leiden nicht mit allzu vielen teilen.
  »Sie ist Pflegeschülerin.«

  »Dachte« heiße Schauer liefen ihm über den Rücken »ich mir.« Wenn er sich jetzt hätte bücken sollen, watt ne
Sauerei. Zum Glück konnte er sich an einer Schulter festhalten. Zum Klo war es nicht weit. Links und rechts
hatte sich Lasse zwei Haltestützen installieren lassen. Schon früher hatte er die Notfallleine belächelt, die er ein-
mal aus Unwissenheit, für die Spülung hielt und zog, und die, sollte man zusammenbrechen, nicht wirklich eine
Hilfe bot.

   Sobald er links und rechts zu fassen bekam, nahm Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, Abstand. Er brauchte
nur noch sein Kleidchen zu heben, sich setzen und alles rauszulassen. Ein Privileg, selbstständig kacken zu dür-
fen, das war ihm klar. Und immer wenn er nach dem Akt, halbnackt in der Kabine stand, fand er keine Worte für
seine Pein. Ihm blieben nur Blicke, die zu seinem Glück verstanden worden.

  Sieben Minuten. Exakt sieben Minuten. Nach dieser Zeit kam Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, wieder und
erkundigte sich nach dem Stand der Dinge.
  »Ich ringe nach Luft.« konnte Lasse schon wieder ulken, denn unmittelbar nach der Erlösung wurde sein
Befinden viel besser.
  »Ein Duftbaum würde dem Raum gutstehen. Wir sehen uns in zwei Minuten. Soweit alles klar.«
  Das war wichtig. Denn mehr als diese Zeit konnte man einen Patienten nicht allein auf der Toilette lassen.
Wäre er umgekippt, hätten schnell Maßnahmen ergriffen werden müssen. Und auf den Alarm war nicht in jedem
Fall Verlass.

   »Ist gut. Dann komm ich gleich noch mal.«
   Lasse atmete noch einmal tief durch. Beschwerlich empfand er das Abputzen, irgendwie schmerzte sein
DArm dabei. Außerdem musste er sich ein bisschen weiter nach vorne legen. Bei dieser Akrobatik musste er höl-
lisch aufpassen, sich nicht zu übergeben. Doch das Schlimmste war schon überstanden.

  Die paar Schritte zurück zum Bett sind leicht zu schaffen, dachte Lasse, als plötzlich sein Herz zu zerspringen
drohte. Denn im Becken war alles Rot. Offensichtlich hatte er Blut im Stuhl gehabt. Komisch, es roch ja gar
nicht so? Scheiße! Wo war denn die Scheiße? Heiße Angst kribbelte wie verrückt seinen Rücken herunter. Er
fühlte sich gar nicht mehr gut und zog Leine.

  Dass ich ja nicht weine, -- keine Träne log -- dachte Lasse. Sei ein Mann! Ein Mann?
  Oh Mann! Und dann nur noch

  Hilfe!

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7)
    Sommerlust und Wochenende.
                   Acht Hände von vier kleinen Jungs, die nichts mit sich anzufangen wussten, mussten hinaus
                in die Welt, sie erkunden, gar nicht weit und nur für ein paar Stunden.
                   Mit fatalem Resultat.
                   Das Thermometer zeigte 36 Grad (und es wird noch heißer). Zu heiß, um weit entfernt zu
                spielen. Lieber im Garten liegen und dösen, wo Schatten ist, dachte sich Lasse, unter den Zwei-
gen der Forsythienbüsche. Doch mit einem solchen Vorschlag hätte er bei diesen Dreien schon vor der Partie
verloren. Ganz komische Gedanken kursierten zwischen ihnen. Wie, auf Enten schießen und diese am gemütli-
chen Lagerfeuer, wie äschte Cowboys, aufspießen und genießen?! Ein Abenteuer sollte es sein, ungeheuer heiß
und hoch der Preis, wie sich bald schon herausstellen sollte.

  Eigentlich war Lasse kein Kugellagertyp. Blieb lieber mit dem Arsch zu Hause hängen. Da er aber schon mit
jungen Jahren oft und lang in der Klinik lag, mochte diese Trägheit nicht wirklich verwundern. Doch dieses Mal
verhielt es sich anders, weil etwas anders war.
  Tick, Trick und Track kamen zu ihm. Zu ihm nach Hause. Das kam nicht oft vor und so wollte er die Drei
nicht enttäuschen, weil zumindest zwei von ihnen einen längeren Weg zurückgelegt hatten.

   Tick war ganz Ok. So eine Art großer Bruder. Durchaus von der Sorte Haudegen. Später würde er die Katego-
rie Schläger erfüllen und wieder später, sich wahrhaftig die Kugel geben und augenblicklich nicht mehr am
Leben teilnehmen. Trick dagegen war ein urgemütlicher, sehr verträumter Charakter. Aber auf ihn war Verlass.
Dass er mal eine Verabredung verpasste, kam nicht vor. Mit ihm und mit Tick verstand sich Lasse gut. Noch
besser verstand er sich mit Track.

  »Wir könnten nach Ticks«, meinte Track mit einem verschmitzten Lächeln. Er nahm seine Hand vor die Hose
und tat, als schüttelte er eine Dose. »Seine Schwester ist zu Haus.«
  »Ehrlich?«
  »Sieht so aus.« Sie war ne verrückte Torte, von der Sorte Sexbomb, in den Augen aller 4, weil sie Sie mal in
Unterwäsche gesehen hatten. Die Vorstellung, dass sie immer in Unterwäsche durch die Wohnung springen
würde, war natürlich Quatsch. Aber so war es halt gewesen. Und Tick wohl egal. Er unterstützte sogar den
Mythos von der älteren und immer geilen Schwester.

  »Läster mal nicht so rum, ja?« Aber aus irgendeinem Grund war es Tick an jenem Tag zu dumm. Also schied
dieser Vorschlag schon mal aus. Trick war eigentlich immer alles recht. Nur in einer solchen Situation, wo Vor-
schläge gefragt waren, war das schlecht. Und so kam Lasses Idee tatsächlich in die engere Wahl.

  »Ich hab Pfeil und Bogen.« was sagte er denn da?
  »Geil. Echt? Mit Spitze?« wollte Track wissen.
  »Ich übe immer in der Garage, kann ich euch zeigen.« Und die Drei folgten Lasse. Dazu mussten sie nur ein
paar Stufen wieder hinunter und von der Mauer in die Einfahrt springen. Stolz präsentierte Lasse seinen Bogen.

   »Hey, damit gehen wir jagen.« Tick war Feuer und Flamme. »Tauben. Tricks Opa schlachtet Tauben.«
   »Ja. Und dann machen wir ein Lagerfeuer.« Die Romantik war perfekt. Zumindest die Vorstellung davon. Zu
viert, mit einem Bogen und einigen Pfeilen, zogen sie los.

   Tatsächlich machten sie kurz bei Ticks zu Hause Halt. Natürlich war von seiner Schwester weit und breit
nichts zu sehen. Ihr Zimmer abgesperrt. Durchs Schlüsselloch gab es jedoch wenigstens ein „sexy“ Nenaplakat
zu sehen. Die Achselhaare waren der Hit. Muss man aber fühlen, nicht verstehen.

  Während Lasse und Trick im Flur warteten, rannte Tick noch in der Wohnung hin und her. Denn auch wenn
die zündende Idee, sowie das Bildnis von beherrschbarer Wildnis prima passte, hasste es der moderne Mensch,
aus dem Nichts Feuer zu machen. Mit Streichhölzern und Spiritus hingegen?
  »Das Leben kann so einfach sein!«

  Die Köpfe gingen rauf und runter und munter trappelten sie drauf los. Sie wollten nicht weit. Bloß auf den
„Alten“ – ein Acker hinter den 7 Bergen. Und wundervolle olle Kirschbäume säumten sie bei ihrer steinspucken-
den Wanderung.

  Nach einer Weile wurde Trick durstig.

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    »Ich muss unbedingt was trinken.«
                    gab Trick zu bedenken und Tick gab, wonach ihm dürstete. Er hatte für jeden eine Flasche
                 dabei. Warum er diese aber alleine trug, wusste Lasse nicht zu beantworten.
                    Komisch war das. Ihn überraschte ein bisschen die Fürsorglichkeit. Ein sicheres Zeichen
                 dafür, dass sie immer noch mitten im Kennenlernen waren. Doch es überraschte nicht sonder-
                 lich, denn wie oft war er denn schon mit Tick unterwegs gewesen? Ihm fehlte schlicht das
                 Schema vergleichbarer Verhaltensmuster, um überhaupt eine Wertung abgeben zu können.
Damit ließ er es bleiben und forderte stattdessen selbst einen kräftigen Schluck aus der inzwischen pisswarmen
Pulle.

  »Das ist gut. Was ist das?«
  »Nestea. Hat uns die Tante geschickt.«
  Nesseltee? Da musste Lasse an etwas denken, dass er vor Kurzem erst probierte. Eine Art Supermixtur für den
Garten. Gegen Ungeziefer und zur Düngung verabreichte er der Natur eine Kur aus eingelegten Brennnesseln.
Eine Woche eingeweicht, reicht – so hatte es geheißen. Dann mit Wohlwillen auf den Beeten verteilt, stylt alles
im Umkreis von mehreren Metern. Wenn´s half, wie es stank, denn grüner Daumen, besten Dank.

  Weiter ging das, immer weiter und an der großen Biegung, waren sie da. Ein weites Feld mit Nix vor ihnen.
Nur Gras. Und das noch nicht einmal in sattem Grün, sondern in verdorrtem Grau. Aufregender dagegen waren
die Maisfelder gewesen, die es zu plündern galt, wenn es der Lust entsprach, frischen Mais zu kösteln. Dieses da
war nicht so doll!

   »Und bitteschön, wo sollen wir hier ein Tier erlegen?« gab Track zu bedenken und ließ den Blick verhei-
ßungsvoll auf Lasse sinken, der daraufhin denselben zu verschlucken suchte, aber erleichtert war, vermutlich
nicht zu meucheln.

  Ein bisschen alberten sie herum, so lange, bis es Trick zu dumm wurde. Es war abzusehen, dass sie mit
Sicherheit nicht mehr zum Schuss kamen und deshalb, und weil es schon fortgeschritten in der Zeit war, wollte
Trick gehen.
  »Dann lasst uns wenigstes ein Feuer machen.« schlug Lasse vor. Schon immer schlummerte in ihm ein kleiner
Teufel. Er zündelte gerne im Kohlenkeller, indem er ein Holzscheit in den Ofen steckte und dabei zusah, wie es
glühte. Doch das hier war etwas ganz anderes. Aufregender und verboten, dessen war er sich bewusst. Das
machte ja ein Großteil aus, der Lust.

   »Also, was ist?«
   »Womit willst du hier ein Feuer machen?«
   Lasse musste lachen. »Aus Holz?«
   Aber es gab kaum was. Die Bäume trugen ihre Äste hoch und es lag nur wenig Material herum. Dafür gab es
jede Menge Gras, was bald zum Verhängnis werden sollte.

  Sie trugen das Wenige zusammen, was sie finden konnten und stapelten es zu einem Haufen auf. Groß wurde
dieser nicht, aber es sollte reichen. Mit Spiritus versehen, mussten sie in Deckung gehen, als Trick zur Beloh-
nung, weil er doch geblieben war, das Streichholz warf.

  Es gab ein irres Knacken, gleich nach der Stichflamme, die wie ein entfesselter Geist hoch emporschoss. Sie
brachte die nähere Umgebung zum Schmelzen und danach krachte es.
  Irgendwer prägte den Begriff »Wir machen ein Züchtefeuer.«
  Plötzlich, das Ungeheuer war groß genug, um den dichteren Bewuchs selbständig zu erreichen, wurde aus der
Begeisterung ein fiebriger Wettlauf. Es galt, die Situation unter Kontrolle zu halten. Aber wie denn nur, ganz
ohne Wasser?

   »Los. Mensch. Wir müssen machen«, schrie Tick Trick an. Dann bewegte er sich wieder. Im Gegensatz zu
ihm war Ticks Gesicht knallrot. Track schlug sich mit Lasse auf der anderen Seite ganz gut. Jedoch, es war aus-
sichtslos. Sie versuchten das Feuer auszuhungern, indem sie wie besessen Gras rupften. Es sollte eine Schneise
entstehen. Aber sie waren nur vier und der hier lodernde Kreis war bereits so groß und so heiß, dass es aussichts-
los war.

  Der Verzweiflung nah sprang einer der Jungs auf die Flammen zu und trampelte sie nieder.
  Immer wieder, wieder, wieder, so und so und so und so immer weiter.

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9)
    »Macht schon. Trampeln!«
                   »Okay«
                   »Ja, so geht´s.«
                   Gerade noch mal gutgegangen mochten sie gedacht haben, als zu erkennen war, dass da nur
                 noch Schwärze vor ihnen lag. Es gab nichts mehr, was noch hätte brennen können.
                   Doch nun mussten sie rennen!
  Vielleicht hätte Lasse es allein geschafft. Aber Tick war bereits von einem stämmigen Kerl an der Kandare
und Trick ebenfalls fest im Griff. Track rannte noch, wurde jedoch gleich von Zweien attackiert. So ließ Lasse
Pfeil und Bogen los und blieb ebenfalls stehen.

  »Also. Wessen Idee war das gewesen?«
  Die Jungs und das Mädchen stellten sich natürlich nicht vor. Sie gingen alle auf die gleiche Schule, vom
Sehen her erkannte man sich. Vielleicht sahen sie aber auch nur so groß aus, weil sie sich selbst so klein fühlten?
Das traf zumindest auf Lasse zu, wie es die anderen sahen? Das ließ ihn lange Zeit nicht mehr in Ruh.

  »Wessen Idee war das gewesen?« Der Blick des großen dicken Jungen, mit ungewöhnlich roten Wangen,
wanderte von einem zum anderen und blieb auf dem Kleinsten liegen und wog schwer. »Dich haben sie sicher
angestiftet, was? Brauchst du nur zu sagen, dann kannst du gehen.«

  Lasse hatte Angst. Ihm war sein Verbrechen bewusst, doch einfach so verschwinden kam nicht infrage.
Außerdem, es war tatsächlich so, dass er den Vorschlag brachte und sich mehr als alle anderen an diesem
Unglück schuldig machte. Er verneinte und blieb stehen.

   »Guck mal, wie das hier aussieht. Wir sollten die Polizei rufen«, gab einer der Älteren an. Dann mischte sich
das Mädchen ein, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, gemein, weil es nur tuschelte. Für einen Augenblick waren sie
allein. Ein bisschen verflog der Schreck, die Gemeinschaft stärkte die Moral. Dann kamen die Jugendlichen wie-
der.
   »Ihr meldet euch alle in der nächsten Woche bei der Feuerwache. Ich bin freiwilliger Helfer und ihr werdet
dort belehrt. Wenn ihr nicht kommen solltet, informieren wir eure Klassenlehrer. Kapiert?«

  »Gut.«
  »Ja.« Da nickten alle.
  Das war ja auch nicht weiter schwierig zu verstehen. Nur eines wollte Lasse nicht in den Kopf. Bei aller
Schuld und allem Schreck, woher diese Milde? Wer war dieses Mädchen? Es war offenbar, dass sie Einfluss
nahm. Aber warum?
  Das war nicht ohne Weiteres zu verstehen. Später, viel später dachte er kindisch, wie Kinder so denken, er
hätte einen Engel, Wow,- eine ›Zauber‹ -frau, oder Geistreicheres gesehen.

  Auf dem Rückweg sprachen sie nicht viel Miteinander. Tick und Track waren sich einig, dass alles noch mal
gut ausgegangen sei.
  »Ist doch nichts passiert.«
  »Ja, nu lache mal. Wir gehen da nächste Woche hin, drehen ne Runde mit dem Einsatzwagen und fertig.«
  Dass Track das so sah, verstand Lasse gut. Hätte er auch nicht anders erwartet. Die Reaktion von Tick freute
ihn schon mehr, denn der stellte eine Selbstverständlichkeit heraus, die keine war. Für einen Augenblick half das
sogar über die Schande tröstend hinweg.

  »Hättest auch abhauen können. Wer weiß, ich hätte es vielleicht getan?«
  »Nein. Hättest du nicht.« Das war auch so ziemlich das Einzige, dass Lasse an diesem Tag noch sprach. Er
grübelte stattdessen über dieses Mädchen, Wow,- diese ›Zauber‹ -frau, nach, dass er irgendwie kannte und wild
darauf brannte, drauf zu kommen, woher? Die ihn beim Namen nannte, obwohl sie einander fremd. Kann das
möglich sein, dass man eine Freundin hat, ohne es zu wissen und die man gar nicht kennt?

  Track hatte eine Freundin, die viel älter war als er. Naja, ob es wirklich seine Freundin war, blieb unklar.
Doch dass sie sich auf Zunge küssten, hatte er selbst gesehen. Ihm blieb der Mund dabei offen stehen. Im Leben
hätte er es nicht geglaubt. Seinen Augen nicht getraut. Aber würden sie für ihn Theater spielen?

  Abends im Bett fand Lasse keinen Schlaf. Feuer, ungeheuer heiß und rot, ein Brennen überall und immer wie-
der rennen. Sie holte ihn ein, nein, er wünschte sich tot.

  Du liebe Not.

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        Aus dem Brennen wurde zunehmend ein Stechen.
                     Ein heißer Schmerz im Unterleib und weit und breit kein Acker mehr, der eh, das wurde
                  Lasse klar, schon sehr, sehr lange her war. Er musste unbedingt die Ärzte fragen, was sie ihm
                  für Mittel gaben. Diese Albträume, von wegen Fantasie, nahmen an Gestalt und Wesen von
                  immer herberer Gewalt dramatisch zu.

   In einer Not-OP wurde die Blutung gestoppt. Jetzt lag er im Aufwachraum und fühlte sich ironischerweise
eher in einem Traum als zuvor. Ihm fiel es schwer, zwischen beiden Seiten zu unterscheiden. Langsam sah er
sich um. Weiße Laken, Schläuche, Metall und das Gefühl von einem Fall ins Nichts. Was hatten sie gemacht? Er
fühlte nur Schmerz. Ein einziger Schmerz war er. Körperlos lag er im Bett und wünschte sich nichts sehnlicher
als weg von hier.

  »Ne, wa? Der Brandstifter.« Lasse erkannte das Mädchen, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, und wollte unbedingt
sagen, dass er bei der Wache war. Wie sie es zu jenen Tagen vorgeschlagen, hatte er getan. Ja, aber es wurde
nicht geöffnet. Er stand vor dem Tor und klingelte. Einmal, zweimal, dreimal – du kannst mich mal.

  Doch dazu war er zu benommen. Wer war eigentlich die andere da und wie war er hierher gekommen?
  Ach ja, richtig. Der Pfeiler und das Blut an seiner Stirn. Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, hatte ein Taschen-
tuch auf die Wunde gelegt. Tatsächlich war es von Nanni, aber legal.
  »Du kannst mich unmöglich kennen.« fispelte Lasse. »Der Brand fand noch gar nicht statt. Viel zu jung ...«

  »Was hat er gesagt?« fragte Nanni. »Er fiel um?«
  »Ich hab keine Ahnung.« gab Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, an.
  Jetzt kam Hanni wieder. Sie hatte eine Horterzieherin mitgebracht, die nach dem Rechten sah. Da es Lasse
fürs Erste gut ging, verzichteten sie auf Tatütata. Von wegen, drehen ne Runde mit dem Einsatzwagen und fertig.

   »Wäre eine von euch so gut und begleitet den Kleinen zum Arzt?«
   »Jepp.« Sich freiwillig melden? Jeannie?! Das erstaunte Hanni und Nanni. Sie sagten aber nichts. »Ihr könnt
ja mitkommen.«

  Derweil stand Lasse wieder auf den Füßen. Immer wieder bestätigte er die Frage, ob es ihm gut gehe mit Ja.
»Alles in Ordnung.« Er hätte nur den Pfeiler nicht gesehen, weil er zurückgeschaut und nicht nach vorne. Das
könnte übrigens der Schlüssel sein, für meine lebhaften Träume, dachte sich Lasse. Dass ich nur immer fort
zurück schau und mich nicht trau, in die Zukunft zu blicken. Vielleicht verstricken sich deshalb immer mehr
Dinge aus meiner Kindheit und vielleicht ergibt das alles keinen Sinn?

   In der Kinderklinik angekommen, hatten sie alle im Wartezimmer Platz genommen. Eigentlich war es keine
richtige Klinik. Mehrere Ärzte waren dort und es gab mehrere Sprechzimmer. Im Keller war ein Inhalationsraum
und ganz hinten, am Ende es Flures, wurden Röntgenaufnahmen gemacht. Das alles wusste Lasse genau, denn er
war schon oft dort gewesen. Und immer hatte er Angst vor Spritzen gehabt.

  Als Kleinkind hatte er schon mal auf der hart bezogenen Pritsche gelegen und auf Wickel gewartet. Es waren
heftige Fieberschübe, die behandelt werden mussten. Es gab kalten Tee, ein paar Tabletten und die besagten
Wadenwickel.
  Da Da Da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht, ein Kleinkind jauchzte laut auf. Es unterbrach für kurz das
verhaltene Gebrabbel der wartenden Leute. Eigentlich fühlte sich Lasse wieder ganz gut und ihm begann die
Sache, mächtig peinlich zu werden. Und auf einmal sprach sie ihn auch noch an.

  »Ich bin Jeannie. Wie heißt du eigentlich?« fragte sie den Kleinen neben sich.
  »Lasse L..., Loewenzahm.« murmelte der eher vorsichtig.
  »Is ja lustig!« Dachte sie an Peter aus der ähnlich klingenden Kindersendung oder an Korbblütler?

  »Guck mal an, der kann ja doch reden.« scherzte Nanni, der die ganze Sache allmählich auf die Nerven ging.
Vielleicht war Jeannies Vermutung gar nicht so verkehrt. Sie tippte nämlich eher darauf, dass der neue Sport-
und Geschichtslehrer der eigentliche Grund für Nannis Interesse am ›Sanierern‹ war.

  Zugeben würde sie das selbstverständlich nie.
  Wenigstens das war sonnenklar.

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11)
     »Ja klar.« Sport und Geschichte und von den Schülern kaum zu unterscheiden.
                    Er hieß Torero und war ja so süß. Das gab Nanni mal in einem unbedachten Moment zu. Seit
                 dem hatte sie vor Jeannie, Wow,- der ›Zauber‹ -frau, - - die Geister, die ich rief - - keine Ruhe
                 mehr. Wann immer es passte, kam ein Grinsen oder ein Zwinkern, das ahnen ließ, worum es
                 ging und Nanni ärgerte sich immer herrlich darüber. Doch weil es zu keiner Zeit überhand-
                 nahm, kam es nie zum Streit zwischen den beiden. Es war nur ein Spaß gewesen. Niemand
wollte ›Tränen‹ leiden oder ›Hassen‹ lassen. Die Spielregeln waren somit klar definiert. Keine der Beiden hätte
etwas anderes riskiert. Die Flasche blieb verschlossen und das Leben wurde in vollen Zügen, leeren Räumen,
zusammen oder allein genossen.

In das Sprechzimmer sollte nur eine, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, mit rein. Das ergab sich ganz von allein, weil
Lasse automatisch ihre Hand ergriff, als sein Name aufgerufen wurde. Die beiden anderen blieben für Sekunden
unberührt und schon entschied sich, ganz selbstverständlich, wer von den Dreien beim Doktor mit dabei sein
sollte.
  Wollte sie ihn adoptieren?

   Es war eine Frau Doktor, die Lasse schon kannte.
   »Was haben wir denn heute?« fragte sie und sah dabei abwechselnd Lasse und Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹
-frau, an. Und die prustete sogleich.
   »Er ist wo gegengelaufen.« zog die Atemluft tief ein und ließ Lasse genauer ergänzen:
   »Es war ein grauer Pfeiler.« Pu! Als ob es auf die Farbe ankam.
   »So? Dann lasse mal sehen.«
   »Ha.« jauchzte Jeannie. »Lasse mal sehen« ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht.
   Frau Doktor befasste sich mit Lasses Kopf und machte einige Tests. Soweit schien alles in Ordnung. Ober-
flächlich war jedenfalls kein Grund zur Sorge. Aber zur Sicherheit sollte noch eine Aufnahme gemacht werden.
Was jedoch wieder warten hieß.

  Lasse ließ los. Ihre Hand und den Verstand eines Kindes, welches vor Kurzem erst vor einen grauen Metall-
pfeiler gerannt war. Klar konnte er auch alleine warten.
  »Gut.« Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, nickte freundlich der Doktorin zu. »Also dann, mach´s gut?«
  Lasse nickte und lächelte. Er hatte sich verliebt.

  »Geht es ihnen besser?« eine Ärztin beugte sich über sein Krankenbett. »Sie hatten eine OP. Wir mussten eine
Blutung in ihrem Darm stoppen.« Sie sprach ruhig, aber lauter als normal, weil der Patient noch sehr verträumt
aussah.
  »Es ging alles gut. Sie müssen aber noch ein paar Tage hier bleiben. Sie werden künstlich ernährt.« und
geleert, hätte sie noch hinzufügen sollen.

   Lasse nickte und lächelte. Er hatte überlebt. Wieder mal und die Qual nahm und nahm kein Ende. Er würde
für lange Zeit, so dachte er, hier liegen bleiben und die Wände anstarren. Doch plötzlich bewegte sich sein Bett.
Es ging hinaus in den Flur und diesen hinunter. Rechts von ihm nahm er verschwommen ein paar Türen wahr.
Wer ihn da schob, blieb ihm jedoch verborgen, weil er den Kopf nicht zu drehen vermochte. Oder besser, er
wollte es lieber nicht versuchen.

  Jeannie, Wow,- die ›Zauber‹ -frau, war nicht einfach so gegangen, hatte er wieder zu fantasieren angefangen,
weil es ihm half, der tödlichen Wirklichkeit zu entfliehen und dadurch Kraft zu schöpfen. Sie hatte seine Hand
gehalten. So gesehen half sie ihm schon wieder. Nicht nur, aber auch und jeder Schlauch in und aus seinem Kör-
per, hielt ihm jetzt am Leben.

   Wie ihnen aufgetragen, meldete sich Lasse bei der Feuerwache. Die Sache mit dem Brand hatte ihn mächtig
mitgenommen. Er schämte sich seines Vergehens sehr und überlegte hin und her, ob er nicht doch seine Eltern
ins Vertrauen ziehen sollte. Was, wenn es doch der Lehrer erfuhr? Sie wären ganz sicher erbost und mehr noch
enttäuscht gewesen. Darüber, dass er nichts von dem erzählte und sich lieber allein damit quälte. Überhaupt
waren sie solche Vergehen von ihm nicht gewohnt. Es entsprach so gar nicht seiner Art und im Nachhinein sah
er den Sinn seines Handelns selbst nicht mehr ein.

  Es vergingen Minuten. Lasse stand allein vor der Wache. Kein Mensch war zu sehen und nichts war zu hören.
Er wollte am liebsten wieder gehen und nicht weiter stören. Doch das Gewissen wog schwer. Es war immerhin
schon zwei Nächte her und der Drang nach Sühne wuchs in ihm immer mehr. Also?
  Klingelte er.

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12)
    Klingelingeling, Klingelingeling, …
                    Ein Weilchen horchte er.
                    Nichts!
                    Unbedingt musste er es ein zweites Mal versuchen.
                    Wieder blieb die Reaktion aus. Nur sein Bauch meldete knurrige Bedenken. Denn wäre hier
                 ein Bett, Lasse rieb sich die Augen, äh!, Bett rieb, wäre es sicher nicht so still. Doch von einer
anderen Wache wusste er nichts. Wieso öffnete sich nicht endlich diese verdammte Tür? War außer ihm denn
keiner hier vorhanden und fanden die Gedanken jetzt oder später statt?

  Er hörte sich erklären. Wäre doch immerhin möglich, dass die hier von dem ganzen Vorfall noch gar nichts
wussten. Sie mussten es nicht zwangsläufig.
  Ein drittes und viertes Mal schrillte die Klingel. Dann ging Lasse ein paar Schritte und versuchte etwas im
Inneren zu erkennen. Vielleicht war er wirklich falsch? Gab es eine andere Wache, von der die Rede war? Wie
war das noch gewesen? Er war furchtbar aufgeregt und vielleicht hatte er nicht richtig zugehört? Traurig und
noch mehr verwirrt schritt er zurück.

   Jetzt war es egal. Er musste beichten. Sein schlechtes Gewissen schrie und tobte wie ein Tornado durch seine
Eingeweide. Ach! Wie fühlte er sich elend. Seiner Majka vertraute er sich schließlich am späteren Abend an.
   »Ich hab ganz viel blöd gebaut!«
   Längst hatte seine Majka bemerkt, dass etwas war. Nur wartete sie auf sein Entgegenkommen. Auf die Frage,
ob denn etwas sei, hatte sie schließlich nur ein Nein bekommen. Was half das Drängen und Bohren? Sie kannte
ihren Sohn genau. Am Ende hatte er noch jeden Bluff verloren.

  Er erzählte von Feuer und wie sie erwischt wurden.
    •   Dass aber nichts Schlimmeres passiert war, weil es erlosch.
    •   Dass sie sich bei der Wache melden sollten und dass er auch da war, aber keiner ihm öffnete.
    •   Dass es ihm leidtat und er selbst nicht wusste, wie er so einen Schwachsinn hatte anstellen können. Und
        noch mehr.
    •   Dass er ihr und vielen anderen etwas vorgemacht hatte, wog und zog in ihm schwer.

  Traurig sah sie aus - verärgert? Auch! - aber vor allem, traurig, fand Lasse. Trotzdem war er erleichtert. Jetzt
war es raus. Egal was auch immer da kommen wolle, seine Majka wusste davon und konnte entsprechend reagie-
ren. Er hatte selbst schon längst entschieden, alle Konsequenzen zu tragen und nun die Wahrheit, die ganze
Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Ein großer Schritt für einen kleinen Jungen.

   Mit einer entsprechenden Mitteilung ging er beruhigt am nächsten Morgen zur Schule. Auf dem Schulhof
fragte er zuerst die Jungs, wo sie gestern waren. Es stellte sich heraus, dass Lasse vor der falschen Wache stand.
Aber Gott zum Dank fand noch einer den Weg, den richtigen zur richtigen. Doch dort wusste niemand was.
Trick, Glück ist Geschick, fragte nämlich nur nach den Jugendlichen, die sie hinbestellten.

   »Ey,« mischten sich Track und Tick ein. »Könnt ihr nicht sagen, dass wir auch mit waren?« Und Trick war
der Idee nicht abgeneigt. Doch formulierte er es nicht so direkt. Da aber in Gemeinschaft mehr Vertrauen steckt
als in einem, der ganz alleine unterwegs, stimmten Trick und Lasse zu und sie gingen zusammen zur Oberstufe
hinüber. Wie in jeder Schule hatten die oberen Klassen auch hier besondere Stellplätze. Und jedem viel sofort
auf, dass vier aus der Unterstufe ›Großes‹ vorhatten.

  »Wir w... waren bei der W... Wache«, fing Tick als Erster an. Dann folgte Gelächter. Nicht alle wussten von
denen Bescheid, aber die, die es anging, taten sich köstlich amüsieren.

  »Ihr wart echt bei der Feuerwache? Mann, das haben wir doch nur so gesagt!« Wie vor den Kopf gestoßen,
begriff Lasse nur langsam. Alles ein Klamauk gewesen? Und er so sehr aufgelaufen, dass ihm schlecht wurde.
Trotzdem, etwas Gutes hatte die Sache. Ihm war klar, das solche Dinge nichts für ihn waren. Selbst wenn es im
Nachhinein gut ausging, hatte er seine Lektion gelernt.
  Blieb nur noch eine Frage offen.

  Wie man einen Eintrag aus dem ›Muttiheft‹ entfernt?
  Der Menschen Geist lernt ein Leben lang.
  Fang an das zu begreifen!

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15/24
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