Solidarische Landwirtschaft: mehr Gemeinschaftssinn für Stadt und Land - SWR

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Solidarische Landwirtschaft: mehr Gemeinschaftssinn für
Stadt und Land
Von Jantje Hannover

Sendung: 07.11.2021, 12.05 Uhr
Redaktion: Nela Fichtner
Produktion: SWR 2021

Essen müssen Menschen immer, daher ist die Landwirtschaft ein besonders
profitabler Geschäftszweig. Doch wenn Agrarkonzerne und Discounter die Preise
diktieren, kommen Landwirte und -wirtinnen kaum auf ihre Kosten. Es sei denn, sie
arbeiten für eine Solidargemeinschaft, bei der sich Bäuerinnen und Konsumenten die
Ernte teilen. In der Regel bauen sie ihre Produkte nach biologischen Methoden an.
Das Konzept dazu ist anthroposophisch inspiriert. Auch die größten Landbesitzer
Deutschlands – die Kirchen – streben auf ihren Äckern mehr Naturschutz an. Denn
da ist bislang noch Luft nach oben.

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1 O-Ton
Okay, bei der Roten Bete ist das folgendermaßen () die lassen sich sehr leicht aus dem
Boden ziehen () wir nehmen erst mal alle Größen mit -

Atmo
David hat eine der Knollen an den Blättern gepackt und herausgezogen. Er ist umringt
von acht Erwachsenen und ein paar Kindern, die gleich selber ernten wollen. Darunter
Alex, der hier sehr gerne auf dem Feld mithilft:

2 O-Ton
Es ist nicht so anonym wie im Supermarkt, wo man einfach Geld übergibt und das
Gemüse holt. Hier kann man wirklich die Gärtner und die anderen Mitglieder
kennenlernen, die Hände in die Erde stecken.

Solidarische Landwirtschaft:
Mehr Gemeinschaftssinn für Stadt und Land
Eine Sendung von Jantje Hannover

1 Atmo
Es ist Ende September, die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel herab. Ein Tag wie
gemacht für einen der sogenannten Mitmachsamstage in Ravensburg.

3 O-Ton
Darf ich mal bitte da drauf? Weil ich hol die Kiste,
ich geb sie dir an, klappern,

2 Atmo Kisten
Noah und Felix stehen jetzt oben auf der Ladefläche des Anhängers, ihr Vater reicht
ihnen Kisten aus grünem Plastik hoch:

4 O-Ton
Wir stapeln das - für das Gemüse – Ich hab nochmal was da oben drauf gemacht…

Heute werden viele Kisten auf den Feldern gebraucht, denn es ist Erntezeit. Um elf sollte
es eigentlich losgehen, aber im Moment sind noch nicht so viele Helfer da. David Steyer,
Gärtner und Geschäftsführer der solidarischen Landwirtschaft Ravensburg, muss
einspringen:

5 O-Ton
Guck mal – hier müssen wir einmal so drehen, () und dann kriegen wir die Klappe auch
wieder zu – so!

3 Atmo Klappe – Atmo
6 O-Ton
Das hilft alles nichts – lacht - wir sind noch nicht viele Leute, aber die kommen
normalerweise immer eingetrudelt. Deswegen würde ich sagen, machen wir gar nicht
viel Tamtam, sondern gehen direkt aufs Kürbisfeld, dann zeig ich euch da, was wir tun.

David Steyer ist 32 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. In seinem Kurzhaarschnitt sind die
Überreste einer Irokesenfrisur zu erkennen. Der angehende biologisch-dynamische
Gärtnermeister ist gemeinsam mit einem weiteren Gärtnerkollegen bei der solidarischen
Landwirtschaft Ravensburg angestellt. Zusammen mit einem Auszubildenden und einer
weiteren Mitarbeiterin stemmen sie den Löwenanteil der anfallenden Arbeit:

4 Atmo
Los geht’s, Traktor an, fahren –

Das Kürbisfeld liegt 200 Meter feldeinwärts, zu weit, um 50 Kisten dorthin zu schleppen.
Die Flächen hat die solidarische Landwirtschaft Ravensburg, kurz Solawi, von einer
ehemaligen Milchbauernfamilie übernommen. Solidarisch nennt sich die Wirtschaftsform
deshalb, weil sich hier der Bauer oder die Bäuerin das Risiko der landwirtschaftlichen
Produktion mit den Konsumenten teilt. Zu Beginn des Erntejahres beziffert der Landwirt,
wieviel Einnahmen er dafür benötigt. In einer Bieterrunde verpflichten sich dann die
Mitglieder der Gemeinschaft, jeweils einen bestimmten Betrag davon monatlich zu
übernehmen. Im Gegenzug erhalten sie dann die komplette Ernte des jeweiligen Hofes.
Ist die Ernte schlecht, weil es zum Beispiel zu trocken war, hat die Produzentenfamilie
trotzdem ihr Auskommen, erklärt David:

7 O-Ton
 Wir haben ein Jahresbudget von rund 150.000 €, das wird von rund 150 Haushalten
gestemmt über einen monatlichen Richtwert, der lag dieses Jahr bei 83 €. Das
funktioniert sehr gut, wir können damit knappe drei Vollzeitstellen finanzieren.
Die Solidarische Landwirtschaft Ravensburg wurde 2014 auf Initiative von Menschen
gegründet, die gesagt haben, wir wollen diese Vermarktung und Anbaustruktur auch in
unserer Region haben.

Solidarhöfe haben den Handel ausgeschaltet. Sie sind damit nicht mehr Spielball der
Marktpreise und können von Auberginen bis zu Zwiebeln alles anbauen, was sich die
Mitglieder wünschen.

8 O-Ton David:
Die Gründungsgruppe hat sich als Verein formiert und ist dann auf einen
landwirtschaftlichen Betrieb zugegangen um Fläche zu pachten. Und dann ging auch die
Stellensuche los: wer kann das machen? Und da bin ich dazu gekommen und ich mache
seitdem die Betriebsleitung und den Aufbau der Gärtnerei.

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Das Konzept der Solidarhöfe findet seit der Gründung des Netzwerks Solidarische
Landwirtschaft vor zehn Jahren großen Zulauf – und dennoch handelt es sich um ein
Nischenphänomen. Nur rund ein Promill aller Deutschen sind in einer Solawi organisiert.
Im vergangenen Jahr listete das Netzwerk insgesamt 367 Solidarhöfe, die im Schnitt
etwa 100 Haushalte beliefern.
Wer Tag für Tag am Schreibtisch sitzt, kann als Mitglied einer Solawi gesundheitlich
profitieren, sagt die 39jährige Büromanagerin Lilli.

9 O-Ton
Im Supermarkt kriegt man eigentlich kein vernünftiges Gemüse mehr. Ich musste die
Jahre davor echt viel mit Vitaminpräparaten und Mineralpräparaten ergänzen und seit wir
das Gemüse von hier haben merke ich eine deutliche Verbesserung.
Es macht natürlich auch viel Spaß mit Gleichgesinnten an einem Strang zu ziehen. Das
ist etwas, was in unserer heutigen Gesellschaft oft zu kurz kommt. Dieses
Einzelkämpferdasein…

Tatsächlich gibt es viele Menschen, die sich gerne an einer Solawi beteiligen würden,
weiß Nadine Blanke vom Ernährungsrat Freiburg, aber:

10 O-Ton
Und gleichzeitig müssen Menschen sich auch dafür öffnen mitzumachen.

Weil sich viele Menschen schwertun, ihre Gewohnheiten -wie den bequemen Gang zum
Supermarkt- zu ändern, wird die Solawi wohl eher ein Nischenphänomen bleiben, meint
Nadine Blanke. Denn die meisten wollten in ihrem hektischen Alltag für etwas inzwischen
so Selbstverständliches wie unser tägliches Essen nicht so viel Zeit aufwenden.
Und Zeit braucht es. Zumindest dann, wenn man in der Solawi Verantwortung
übernimmt. Beispiel Lukas, der Vater von Noah und Felix. Er sitzt in Ravensburg mit
sechs weiteren Mitgliedern im Vorstand:

11 O-Ton
Wir kümmern uns eigentlich im Hintergrund um ganz viele Dinge, die nicht
Gärtnerbelang sind: also Mitgliederverwaltung, Einziehung der Gemüsebeiträge. Wir
treffen uns mindestens einmal im Monat, und die Vorstandsitzungen dauern auch mal
den ganzen Abend bis in die Nacht rein. Die ganze Vorstandsarbeit ist ehrenamtlich,
und auch alle Mitglieder, die heute zum Helfen kommen, tun das aus Freude am Helfen.

12 O-Ton
Müssen muss man gar nicht! Wir schaffen es auch nicht jeden Mitmachsamstag, wir
haben‘s jetzt drei, viermal geschafft, das war schon mal ein Anfang!

hält die Büromanagerin Lilli dagegen.
Die solidarische Landwirtschaft setzt bei den Problemen an, unter denen Bäuerinnen
und Bauern heute leiden: Der Strukturwandel bringt sie unter Druck, niedrige Preise

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können ihren Lebensunterhalt nicht mehr sichern. Auf der anderen Seite fragen
Verbraucher und Verbraucherinnen immer mehr nach Qualität und einer transparenten,
umweltfreundlichen und ethisch vertretbaren Produktion.
Da hilft der vielfältige Anbau auf kleinsten Feldern weiter. Denn er schützt Böden und
Klima gleichermaßen. Und macht die Herstellung der Produkte einfacher
nachvollziehbar.

Die Frage ist allerdings, wie stark sich solidarische Landwirtschaft ausweiten lässt, ob sie
überhaupt in der Lage wäre, weite Teile der Bevölkerung zu versorgen.
Könnte sich z.B. eine Stadt weitgehend aus dem Umland ernähren, wenn die
Bäuerinnen und Bauern dort gezielt für ihre Region anbauen würden? Wenn sie sich auf
Obst, Gemüse, Kartoffeln und Viehzucht konzentrierten, statt Mais und Getreide für
Tierfutter, Biogasanlagen und Export zu produzieren?
Nadine Blanke vom Ernährungsrat Freiburg hält das für möglich. Sie verweist auf eine
Studie des Forschungsinstituts für biologischen Landbau in der Schweiz, die die Stadt
Freiburg in Auftrag gegeben hat. Kaffee, Reis oder Mangos wachsen in unseren Breiten
natürlich nicht:

13 O-Ton
Aber wir könnten unsere Hauptbestandteile für eine gesunde, ausgewogene Ernährung
auf jeden Fall von der Region beziehen. Weil unsere Region ist eine sehr vielfältige
Region. Das heißt, wir haben den hügeligen Schwarzwald bis zur Oberrheinebene, den
Kaiserstuhl. Und der Kaiserstuhl hat einen sehr nährstoffreichen Vulkanboden.

Ob sich eine Stadtbevölkerung aus ihrem Umland ernähren kann, hängt auch davon ab,
wie dicht die Region besiedelt ist, ob zum Beispiel weitere Städte in der Nähe liegen.
Das zeigt eine Studie des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung in
Müncheberg bei Berlin. Sie hat ergeben, dass sich selbst die deutsche Hauptstadt
vollständig aus dem Umland versorgen ließe. Weil in Brandenburg nur wenige Menschen
wohnen, sind hier ausreichend Ackerflächen vorhanden.

5 Atmo
In Ravensburg sind der Traktor und die Erntehelfer inzwischen auf dem Kürbisfeld
angekommen. Hier steht das Unkraut stellenweise kniehoch

15 O-Ton
Hier überall untendrunter ist Kürbis, wir laufen da einfach durch, jeder nimmt sich eine
Kiste in die Hand, und dann hier unten auf dem Boden sieht man die Kürbisranken,

David bückt sich, pflückt einen Kürbis ab

16 O-Ton
Die sollen hier vorne abbrechen, und nach Möglichkeit dieser Strunk, also dieser Korken
hier, soll dranbleiben am Kürbis.
                                                                                           5
Weil das Frühjahr kalt war und der Sommer nass, sind viele der knallorangenen
Hokkaido-Kürbisse kleiner als in anderen Jahren. Aber eben auch nicht alle:

17 O-Ton
Guck mal hier, das ist ein ganz großer, das ist ja wie Ostern!

Viele solidarische Landwirtschaftsbetriebe bewirtschaften ihre Flächen biologisch-
dynamisch. Diese Methode wurde vor etwa 100 Jahren von Rudolf Steiner entwickelt. Er
ist der Begründer der Anthroposophie, einer spirituellen Weltanschauung, auf der auch
die Waldorfschulen beruhen Wie beim Bio-Anbau verzichten die Bauern auf
Chemikalien, zusätzlich kommen bestimmte Präparate zum Einsatz, die den Boden
aufbereiten und Humus aufbauen sollen.

6 Atmo
Wasser läuft dicker Strahl in den Topf

David Steyer hat einen großen Topf mit Wasser gefüllt und auf einen Hockerkocher
gestellt, er gibt ein Pulver dazu und rührt das Ganze mit einem Reisigbesen um.

18 O-Ton:
Wir arbeiten viel mit dem Fladenpräparat, wenn wir organisches Material in den Boden
einarbeiten, eine Zwischenfrucht zum Beispiel, dann geben wir dazu Fladenpräparat,
was dafür sorgt, dass die Umsetzung von diesem organischen Material besser und
schneller funktioniert.

19 O-Ton Zucker:
Meine Eltern hatten gehört vom Biologischdynamischen und haben damit angefangen.
Die waren umringt von konventionellen Bauern, die geguckt haben, spritzt er vielleicht in
der Nacht oder so?

erinnert sich die Bauerntochter Ilsabé Zucker, die ursprünglich aus der Lüneburger Heide
stammt. Später hat sie ehrenamtlich die biologisch-dynamischen Höfe in der
Bodenseeregion koordiniert, heute ist sie 74 Jahre alt.

20 O-Ton:
Also der Trauger Groh vom Buschberghof, der war Bauer dort. Und mein Vater und
andere Freunde, die da oben zu der Zeit aktive Bauern waren, die haben die ganze Zeit
überlegt, wie muss es eigentlich richtig gestaltet werden? Weil in den 60er Jahren war
auch die Landwirtschaft in einer großen Krise.

Bereits damals mussten viele Landwirte ihren Betrieb aufgeben. Aus der Krise heraus
entwickelte die anthroposophisch inspirierte Gemeinschaft um den Buschberghof das
Konzept der solidarischen Landwirtschaft, erzählt Ilsabé Zucker:

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21 O-Ton:
Und dann haben sie Leute eingeladen aus der Stadt, in Lübeck, in Hamburg z. B. Und
da waren Lehrer und alle möglichen Leute. Die haben sich davon anstecken lassen,
gesagt, das ist ja interessant, erzählen Sie uns das mal ganz genau!

Bereits Ende der 60er Jahre hatte der Buschberghof sein Land in eine gemeinnützige
Trägerschaft überführt. Zwanzig Jahre später machte Trauger Groh daraus die erste
solidarische Landwirtschaft. Noch heute versorgt der Hof in Fuhlenhagen in der Nähe
von Hamburg 300 Menschen mit Obst und Gemüse, Brot, Fleisch und Milch. Dafür
verlieh ihm das Bundeslandwirtschaftsministerium 2009 den „Förderpreis ökologischer
Landbau“. Da hatte Initiator Trauger Groh das Solawi-Konzept schon längst in die Welt
hinausgetragen:

22 O-Ton:
Und dann ist er nach Amerika, weil er da eine Frau geliebt hat. Und so ist das von
Mensch zu Mensch wie ein kleiner Hefeklumpen oder ein Sauerteiglöffel ist da was
aufgegangen. So ist das gelaufen.

Die Idee aus Deutschland war in den Vereinigten Staaten überaus erfolgreich und
verbreitete sich in den 90er Jahren rasant. Noch im Jahr 2015 meldete das Department
of Agriculture weit über 7000 Projekte, die nach dem Prinzip der „Community Supported
Agriculture“ – also der gemeinschaftsgetragenen Landwirtschaft – produzierten.
Vergleichbare Konzepte existieren in Österreich und der Schweiz, in Frankreich, Belgien,
Italien und in Japan.
In Deutschland ging das Samenkorn dagegen nur langsam auf – noch im Jahr 2009
arbeiteten nur neun Höfe nach diesem Prinzip. 2010 gab es dann erstmal ein Treffen
verschiedener Gemeinschaftshöfe, die das Konzept der solidarischen Landwirtschaft
vorantreiben wollten. Davon hörte auch Sonja Hummels während ihres Studiums in
Göttingen:

23 O-Ton:
Und ich habe mich eben gewundert, zwischen Ulm und Bodensee gab's das nicht. Und
dann habe ich angefangen, Vorträge in der Volkshochschule zu halten, und durch so
einen Vortrag hat sich dann die Solawi hier gegründet und in Bad Waldsee und in
Friedrichshafen.

Hummels ist eines der Gründungsmitglieder in Ravensburg. Viele Landwirte tun sich
schwer, auf ihrem Land oder Teilen davon eine Solawi einzurichten:

24 O-Ton:
Leider. Darüber ging dann meine Bachelorarbeit. Im Landkreis Biberach habe ich ganz
viele Direktvermarkter interviewt, warum sie nicht auf Solawi umsteigen. Und im Prinzip
haben alle die Vorteile von Solawi gesehen.

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Aber die konnten nicht von ihrem Denken, das sie bisher hatten, eben, dass sie liefern
müssen, was sie liefern müssen. Und dafür in Vorleistung gehen mit ihrem Saatgut und
mit allem, das sind ja immense Kosten. Und erst am Markttag erfahren sie, ob sie ihr
Gemüse tatsächlich verkaufen. Und dann regnets an dem Markttag, und dann kommt nur
die Hälfte an Besuchern auf den Markt. Dann haben sie die gleiche Kraft da reingesteckt,
aber es kauft ihnen niemand ab.

In einer Solawi dagegen wird die Ernte garantiert abgenommen. Und zwar zu dem Preis,
den der Landwirt für seinen Aufwand braucht. Die Fachzeitschrift „Agrarheute“
bezeichnete das Konzept daher als „Paradies für Landwirte“.

Die Idee für diese neue Wirtschaftsweise stammt aus der Lehre Rudolf Steiners. Sie
stellt den solidarischen Aspekt in den Vordergrund, sagt die Anthroposophin Ilsabé
Zucker:

25 O-Ton:
Die Bedürfnisse der Anderen befriedigen ist der Kern von Wirtschaft. Das ist ja das
Gegenteil von dem, was heute ist. Heute ist ja Wirtschaft: mein größter Profit. Das ist die
Idee von Adam Smith, der gesagt hat, der war glaub ich Fleischersohn: du sollst nicht
Fleisch essen, damit du mir meine Existenz mitfinanzierst. Sondern du sollst nur Würste
kaufen, weil's dir guttut. Also du sollst auf dich achten mit Wirtschaft.

Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt. Das war grob gesagt die These von
Adam Smith, der als Urvater von Wirtschaftsliberalismus und freiem Wettbewerb gilt. In
der solidarischen Landwirtschaft dagegen achten die Konsumenten auf die Bedürfnisse
der Bäuerin und umgekehrt:

26 O-Ton:
Wenn man auch für die Behinderten, Kranken, Alten und Kinder sorgt, ist allen gesorgt,
nicht nur wenn jeder für sich. Dann ist nur für die, die für sich sorgen können, gesorgt.
Und das ist unser Wirtschaftskonzept heute. Und das reicht aber nicht aus für die
Zukunft.

7 Atmo
Die Wirtschaft der Zukunft kommt in der Abholstelle der Solawi Ravensburg recht
schlicht daher – in einer kleinen Kammer lagern linkerhand große Gemüsekisten mit
Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, Mangold und Salat – neben der Eingangstür steht auf
einem einfachen Holztisch eine winzige Digitalwaage – zum Abwiegen stehen
Plastikschalen aus dem Supermarkt bereit. An der Wand darüber hängt eine Liste,
darauf ist notiert, wieviel von welchem Gemüse sich jedes Mitglied nehmen darf. Alex
holt gerade seine wöchentliche Ration ab:

27 O-Ton:

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Und dann steht hier 500 g Tomaten,–

Alex füllt rote und gelbe Tomaten in die Schale, kontrolliert das Gewicht auf dem Display,
macht ein Häkchen auf der Liste hinter seinem Namen:

28 O-Ton:
Das muss auch ziemlich genau sein, weil Leute nach mir kommen. Wenn ich dann zu
viel nehme, dann fehlt was in der Kiste. Wir müssen wirklich aufpassen, wieviel wir
nehmen.

29 O-Ton:
Das Abholen in einer Abholstelle ist ein contrakapitalistisches, altruistisches Lernfeld

Sagt dazu der hauptverantwortliche Gärtner David mit einem Augenzwinkern.

30 O-Ton:
Da sind unterschiedlich große Blumenkohlköpfe drin. Dann darf ich mir überlegen,
nehme ich den größten, weil ich ein Singlehaushalt bin oder Blumenkohl mag? Oder lass
ich den lieber für eine Familie? Nehme ich immer das Größte, Schönste, Schickste, oder
nehm ich auch mal was, was nicht 1A Ware ist?

Nicht immer nur an sich denken, Nächstenliebe praktizieren und so zu mehr
Gerechtigkeit finden. Das ist auch Thema der evangelischen und katholischen Kirche.
Und beide haben auch eine eigene landwirtschaftliche Geschichte, denn sie besitzen viel
Grund und Boden. Während eine Solawi für ihren intensiven Gemüseanbau zumeist nur
sehr kleine Flächen braucht, sind die beiden großen Kirchen in Deutschland eher eine
Art Großgrundbesitzer. Geschätzt gehören ihnen weit über 500.000 Hektar Acker- und
Forstland – das entspricht der doppelten Fläche des Saarlands. Meistens handelt es sich
allerdings um kleinere Flurstücke, die sich auf viele tausend Kirchengemeinden verteilen.

31 O-Ton:
Ursprünglich wurde das vom Pastor selbst bewirtschaftet um seinen Lebensunterhalt zu
bestreiten,

sagt Jan Menkhaus. Er ist Agrarbeauftragter der EKD, der Evangelischen Kirche in
Deutschland:

32 O-Ton:
Heute werden fast alle landwirtschaftlichen Flächen verpachtet an landwirtschaftliche
Betriebe. Diese Pacht fließt natürlich in den Haushalt der Kirchengemeinde oder des
Kreises mit ein, was dann weiterhin für die Bezahlung der heutigen Pastoren und
Pastorinnen zur Verfügung steht.
Das ist meine Auffassung: wenn man schon dieses Land hat und dafür auch sehr viel
Geld bekommt, da hat man auch eine gewisse Verantwortung. Und diese Verantwortung

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sollte man meiner Meinung nach nicht mitverpachten, sondern sie sollte bei der
Verpächterin, jetzt der Kirche, bleiben…

Die Kirche sollte Menkhaus zufolge strengere Naturschutz-Regeln für ihr Pachtland
aufstellen, als es die europäische Agrarpolitik verlangt. Beispielsweise Blühstreifen
anlegen oder Zwischensaaten ausbringen.
Tatsächlich aber gibt es von den Landeskirchen und auch der EKD nur die Auflage,
keine Gentechnik einzusetzen und keinen Klärschlamm aufzubringen. Selbst zum
umstrittenen Unkrautvernichter Glyphosat macht die Kirche keinerlei Vorgaben.
Während die solidarische Landwirtschaft grundsätzlich biologisch wirtschaftet, liegt es
beim Kirchenland also am guten Willen der jeweiligen Gemeinden, wieviel Naturschutz
tatsächlich praktiziert wird, sagt Jan Menkhaus. Denn sie haben die Verfügungsgewalt
über den Boden:

33 O-Ton:
Manche sind eben auch politisch engagiert und sagen, okay: wir müssen mehr für
Klimaschutz, für Biodiversität, mehr für Bodenschutz tun. Die versuchen dann natürlich
auch, diese Ziele ihrer Kirchengemeinde auf dem Pachtland durchzusetzen. Es gibt aber
auch Kirchengemeinden, wo konventionelle Landwirte sitzen. Und die sagen dann
natürlich: nein, wir sind ja hier schon auf einem relativ hohen Level und wir sehen gar
nicht den Bedarf, dass da was geändert werden sollte.

Während die solidarische Landwirtschaft – seit ihrer offiziellen Gründung vor dreißig
Jahren- noch Pioniercharakter hat, blicken die Kirchen mit ihrem Land auf eine
jahrhundertealte Geschichte zurück, die letztlich eng mit der jeweils bestehenden
Gesellschaftsordnung verbunden ist. Trotzdem gewinnt der Wunsch, auf den
Kirchenflächen mehr zur Bewahrung der Schöpfung zu tun, an Bedeutung. Und das geht
nicht ohne Konflikte ab:

34 O-Ton:
Manchmal pachten die landwirtschaftlichen Familien diese Flächen schon seit
Jahrzehnten. Und jetzt auf einmal möchte die Kirchengemeinde irgendwelche
bestimmten Auflagen, um zum Beispiel Klimaschutz oder Artenschutz zu betreiben. Und
dann sind die Landwirte und Landwirtinnen erst mal enttäuscht, weil sie dann denken:
das was sie die Jahre davor gemacht haben, war nicht richtig. Und warum werden wir
jetzt - neben dem gesellschaftlichen Druck, den wir haben - dann noch von der Kirche
gegängelt, wo wir die ganzen Jahre immer gut mit zusammengearbeitet haben.

In solchen Fällen ist Jan Menkhaus als Vermittler gefragt. In der evangelischen Kirche
Hessen-Nassau ist man schon einen Schritt weiter. Dort arbeitet Agaringenieurin Maren
Heincke für das Zentrum gesellschaftliche Verantwortung mit Sitz in Mainz. Ihre
Landeskirche hat inzwischen durchgesetzt, dass die Gemeinden Neuverpachtungen
ausschreiben müssen, anstatt das Land einfach beim alten Pächter zu belassen.

35 O-Ton:

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Es geht ganz einfach darum, dass Transparenz hergestellt wird. Indem jetzt die
Neuverpachtung im Blättchen oder im Schaukasten öffentlich gemacht wird, kann jeder
Interessierte sich melden Dadurch ist oft auch rausgekommen, dass
Nebenerwerbsbetriebe das Land gar nicht mehr so unbedingt brauchten, während
Neuinteressenten zum Beispiel Haupterwerbsbetriebe waren, die dann auch
reingekommen sind in den Vertrag. Wir haben damit tatsächlich Veränderungen erreicht.

Zum Beispiel, weil neue Pächter versprechen konnten, mehr für den Umweltschutz zu
tun als gesetzlich vorgeschrieben ist. Damit haben sie ihre Chance erhöht, das Land zu
erhalten. Während Land in der evangelischen Kirche in der Obhut der Ortsgemeinden
liegt, wird katholisches Kirchenland häufiger zentral verwaltet,

36 O-Ton:
Nahezu 100% der Kirchengemeinde haben die Verpachtung an das Ordinariat bzw. an
die Stiftungen der Erzdiözese Freiburg übertragen und wir machen die Verpachtung
zentral,

sagt Gerhard Beha, zuständig für Land- und Forstwirtschaft bei der Erzdiözese Freiburg.
Zu einer speziellen Berücksichtigung besonders umweltfreundlicher Pächter kommt es
dabei nicht, denn:

37 O-Ton:
Unsere durchschnittliche Größe liegt etwa bei etwa 0,5 Hektar über all unsere Flächen
hinweg. Und das ist oft, ich sag jetzt mal, mit heutigen Maschinen oder einfach gar nicht
so separat zu bewirtschaften. d.h., wir sind da zum einen, darauf angewiesen ein bissel,
wer bewirtschaftet denn diesen Schlag, wo unsere Fläche mit drin ist?

8 Atmo
Körner schütteln Hühner gackern

Eine kleinere Solawi könnte mit einem halben Hektar durchaus schon etwas anfangen.
Aber ob es irgendwo auf Kirchenland eine gibt, ist nicht bekannt. Denn insgesamt haben
die Kirchen wenig Überblick über ihre Flächen, teilweise werden sie von den Gemeinden
noch auf Karteikarten geführt.
Siegbert Gerster aus Strauben bei Ravensburg jedenfalls hat sein Land von seinem
Vater geerbt – und darauf einen mobilen Hühnerstall aufgestellt:

38 O-Ton:
Streng genommen sind wir eine Hühnersolawi, das verstehen viele im ersten Moment
nicht. Deswegen sagen wir Hühnerpatenschaften.

Mit einer Schüssel voller Getreidekörner in der Hand öffnet Gerster das kleine Gatter zu
einer saftig grünen Wiese. Sofort umringt eine Schar Hühner den Mann mit den langen
grauen Locken, 140 sind es insgesamt. Als Stall dient ein kleines Holzhaus auf Rädern.
Ist das Gras heruntergepickt, zieht das kleine Hühnerparadies einfach 50 Meter weiter.
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39 O-Ton:
Im Prinzip ist es bei uns wie bei der solidarischen Landwirtschaft, wo die Paten für ein
Jahr die Kosten übernehmen und dann alles bekommen was die Hühner hinten
rauslassen. Vorwiegend Eier, wenige nehmen auch den Mist, aber vorwiegend geht es
eben um die Eier.

Etwa 15 Euro im Monat kostet eine Hühnerpatenschaft, dafür bekommt man – je nach
Saison – zwischen zwei und sechs Eiern in der Woche.

40 O-Ton:
Das zahle ich gern, man braucht ja keine 100 Stück in der Woche,

sagt Patin Sieglinde. Soviel Großzügigkeit hätte der Hühnerhalter Siegbert Gerster
seinen Landsleuten nicht zugetraut:

41 O-Ton:
Als ich das erste Mal von der Idee solidarische Landwirtschaft gehört habe hier in
Oberschwaben, habe ich gedacht, das funktioniert nie. Wir Oberschwaben haben ja den
Ruf, ein bisschen aufs Geld zu gucken, um das mal vorsichtig zu formulieren.

…und bei einer Solawi, betont Gerster, zahlen die Mitglieder ja einen festen Betrag,
ohne zu wissen, was genau und wieviel sie dafür erhalten. Doch der Gewinn an Genuss,
Gemeinschaftssinn und Lebensfreude scheint auch die Oberschwaben zu überzeugen.

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