As Long as I'm Walking - Francis Alÿs

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Francis       As Long as
Alÿs          I’m Walking

              15.10.2021 –
              16.1.2022

Ausstel­
lungsführer

              MUSÉE CANTONAL
              DES BEAUX-ARTS
              LAUSANNE
Einführung

Francis Alÿs (*1959 in Antwerpen) wendet       indem er bestimmte Gegenstände zieht,
sich nach seinem Architekturstudium der        schiebt oder trägt, die als Hinweis dienen,
bildenden Kunst zu, als er sich in Mexiko-     um die durch den Körper in Bewegung
Stadt aufhält, wo er sich 1986 niederlässt.    erzählte Geschichte zu verstehen.
Auf seinen zahlreichen Spaziergängen
durch die Metropole beobachtet und doku­       Während Alÿs in den meisten seiner frühen
mentiert er das tägliche Leben in der          Videos als Protagonist auftritt, steht er
und um die Hauptstadt mittels performa­        in einer 1999 begonnenen Werkserie, den
tiver Aktionen. Die Stadt wird zu seinem       Children’s Games («Kinderspiele»), hinter
Material, und der Körper in Bewegung so­       der Kamera. In diesen in verschiedenen
wie die Spielregeln, die er sich selbst        Ländern gedrehten Videos treffen die ima­
auferlegt, werden zu seinen Instrumenten,      ginären Räume der Kindheit auf die fikti­
während der Film die Spur seiner Aktio­        ven Räume des Künstlers und bieten ihm
nen festhält. Im Lauf der Jahre dehnt Alÿs     einen Einstiegsort, um sich unbekannten
seine Streifzüge auf andere urbane             Situationen oder Kontexten zuzuwenden.
Räume – von Havanna über Venedig und           So beobachtet Alÿs während seiner ers­
Jerusalem bis nach London – aus, in­­dem       ten Reise nach Kabul im Jahr 2010 spielen­
er jeden dieser Orte durch seine Routen        de Kinder und filmt eines ihrer Lieblings­
für sich neu erfindet. In seinem gesam­        spiele, das ihn zu Reel-Unreel (2011)
ten Werk hinterfragt er die Verknüpfung        inspiriert, einem der zentralen Werke, die
zwischen künstlerischem Schaffen und           aus seinen Recherchen in Afghanistan
politischer Intervention, arbeitet jedoch      hervorgehen und die in Lausanne zusam­
stets mit Anspielungen sowie mit be­           men mit Gemälden und Arbeiten auf Papier
merkenswerter Präzision und Effektivität,      gezeigt werden. In diesem Projekt wie
indem er die poetische Vieldeutigkeit dem      in seinen urbanen Streifzügen enthüllt der
frontalen politischen Kommentar vorzieht.      Künstler das zutiefst subversive Potenzial
                                               des Spiels und der Fiktion und ermöglicht
Die Ausstellung As Long as I’m Walking         uns, die Realität wenn nicht neu zu ge­
bietet einen Überblick über die Videoarbei­    stalten, so doch anders zu denken.
ten der letzten dreissig Jahre. Dabei steht
ein zentrales Thema des Künstlers, das
Gehen, im Mittelpunkt. Durch seine schein­
bar harmlosen Streifzüge erdenkt sich
Alÿs nicht nur die Stadt, sondern er erzählt
auch Geschichten, verbreitet Gerüchte
und kartografiert das soziale Gefüge durch
mehr oder weniger lange Aktionen,
1. Etage                                        Children’s Games
Raum 1

Seit 1999 filmt Alÿs Kinderspiele, die er auf   einander, als der Junge sein Spiel unter­
seinen Reisen in Städten, Dörfern oder          bricht, da er das Geräusch eines Militär­
in Kriegsgebieten beobachtet. Diese Video­      hubschraubers hört: An die Stelle der
reihe, die er bis heute fortführt, hat er       Silhouette seines Drachens tritt jene des
unter dem Titel Children’s Games zusam­         Kriegsgeräts. In Children’s Game #11
mengefasst. Auch wenn die Spiele, die           (Wolf and Lamb) versucht eine Gruppe
er filmt, gewisse Sitten, Bräuche und Ritu­     von Jungen, einen ersten Spieler, das
ale einer bestimmten Region spiegeln,           «Lamm», vor einem zweiten Spieler, dem
überrascht die ganze Serie durch die Uni­       «Wolf», zu schützen, indem sie diesen
versalität der Gesten und Regeln, die           daran hindern, in den Kreis einzudringen,
sich von einem Land zum anderen wieder­         den sie bilden, indem sie sich an den
holen: Reise nach Jerusalem, Drachen            Händen halten, um der Beute Schutz zu
steigen lassen, Murmeln, Sandburgen,            bieten. Zwischen Provokationen und
Schnick–Schnack–Schnuck… In dieser              Drohungen, Gruppendynamik und List in­
Serie zeigt Alÿs das Spiel als ungemein         szeniert dieses Spiel die in der Gesell­
poetische und unproduktive Tätigkeit,           schaft allgemein vorherrschenden Codes
die sich am Rand entfaltet und es den Prot­     der Ein- und Ausgrenzung, wobei sich
agonisten erlaubt, Geschichten zu erfin­        das Kinderspiel als kleine Allegorie der Er­
den, Verbindungen zu knüpfen und mit dem        wachsenenwelt zu erkennen gibt.
Raum zu experimentieren.

Die beiden in diesem Raum präsentierten
Kinderspiel-Videos wurden 2011 in
Afghanistan gedreht, als der Künstler auf
Einladung der dOCUMENTA (13) – einer
alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden
Ausstellung zeitgenössischer Kunst –,
Reisen in dieses Land unternahm. In
Children’s Game #10 (Papalote) hält ein
Junge die fast unsichtbare Schnur eines
Drachens in den Händen, den er mit
lebhaften, präzisen Gesten bewegt. Das
Spiel besitzt aufgrund des Kontexts, in
dem es ausgeübt wird, einen subversiven
Wert, weil die Taliban das Steigenlassen        → 1. Children’s Game #10 (Papalote), 2011
von Drachen verboten haben. Die Welt der        → 2. Children’s Game #11 (Wolf and
Kindheit und jene der Gewalt treffen auf­         Lamb), 2011
1. Etage                                       Afghanistan Projekt,
Raum 2                                         2010 – 2014

Zwischen 2010 und 2014 hält sich Francis       Kriegsbilder zu gönnen. Auch wenn all
Alÿs mehrmals in Afghanistan auf, so           diese Gemälde täuschend echt an geome­
auch 2013 als eingebetteter «Kriegskünst­      trische Abstraktionen erinnern, sind sie
ler» in der Task Force der britischen          doch auch eine Art, über eine Realität zu
Armee in der Provinz Helmand. In diesem        berichten, die sich der Darstellung entzieht.
Zusammenhang ist das Zeichnen für ihn
nicht nur eine Möglichkeit, zu den Soldaten,   In der Mitte des Raums zeigt Sometimes
mit denen er zusammen ist und die sich         Doing Is Undoing and Sometimes
für seine Tätigkeit interessieren, in Bezie­   Undoing Is Doing (2013) auf zwei Rücken
hung zu treten, sondern auch seine             an Rücken hängenden Monitoren Auf­
Er­fahrungen des Orts und des Krieges          nahmen von zwei einzeln gefilmten Män­
zu verarbeiten. Die Zeichnungen, die           nern, die ihre Waffe auseinandernehmen
er anfertigt, sind Kommunikationsmittel,       und wieder zusammensetzen. Diese
Notizen, Beobachtungen, eine katharti­         Tätigkeit wird zum einen von einem nach
sche Strategie und Vorskizzen für künftige     Afghanistan entsandten britischen Sol­
Gemälde zugleich. Er stellt Collagen und       daten und zum anderen von einem Taliban-
abstrakte Formen zusammen, als wären           Kämpfer ausgeübt. Obwohl beide die
es aufeinanderfolgende Schichten, um           gleichen Gesten vollziehen, sind ihre Mo­
Eindrücke zu schildern, die sich in einem      tivationen und der Kontext, in dem sie
Kriegskontext der Darstellung entziehen.       gefilmt wurden, gegensätzlich. Das Werk
                                               verdeutlicht, wie sehr dieses Paradox
In dieser Zeit entstehen auch nach der         Teil der konträren Bewegungen ist, die
Rückkehr in sein Atelier Gemälde mit farbi­    Kriegen zugrunde liegen, wie die Aktionen
gen Quadraten und Rauten, die an die           des Zusammensetzens und Auseinan­
Erkennungsabzeichen der Soldaten erin­         dernehmens, von Aufbau und Abbau, Be­
nern. Bereits 2011–2012 hatte er in einer      drohen und Davonlaufen, Zerstörung
Serie mit dem Titel Color Bars abstrakte       und Wiederaufbau.
Kompositionen mit einer Abfolge verti­
kaler Farbbalken geschaffen, die an die
Testbilder des Fernsehens erinnerten,
das heisst an jene Bilder, die auf den Bild­
schirmen erschienen, um das Programm­
ende anzuzeigen, bevor die analoge Tech­       → 3. Afghanistan Projekt, 2010 – 2014
nik von der digitalen abgelöst wurde.            (Zeichnungen und Gemälde)
Der Nachrichtenfluss des Mediums wurde         → 4. Sometimes Doing Is Undoing and
in der Nacht unterbrochen, um den                Sometimes Undoing Is Doing
Zuschauer*innen eine kurze Pause ohne            (AK47 – Sa80), 2013
1. Etage                                       Reel-Unreel
Raum 3

Auf seiner ersten Afghanistanreise sieht       Kindeshöhe, ein indirektes Porträt von
Alÿs Kindern beim Spielen zu und beob­         Kabul und seinen Bewohner*innen. Inspi­
achtet das beliebteste lokale Spiel, das da­   riert von der Inbrandsteckung Tausender
rin besteht, Veloreifen mit Hilfe eines        von Filmrollen aus afghanischen Filmarchi­
Stocks zum Rollen zu bringen. Das 2010 in      ven durch die Taliban im September
Bamiyan gedrehte Video Children’s              2001, ist Reel-Unreel somit mehr als die
Game #7 (Hoop and Stick) zeigt, wie sich       Inszenierung eines Spiels. Der Film be­
Jungen diesem Spiel widmen und dann            leuchtet das zutiefst subversive Potenzial
ihre Leistungen vergleichen. Einige Details    des Spiels, der Fiktion und in diesem
– die Kleidung der Spieler, die Lehm­          Fall des Kinos, was durch das Wortspiel
architektur, einige Hintergrundgeräusche –     des Titels – reel/real (Spule/real), unreel/
situieren die Szene, während die Einfach­      unreal (abspulen/unreal) – unterstrichen
heit des Spiels, die offensichtliche Freude    wird. Der Titel bezieht sich auch auf das
der Kinder, ihre grenzenlose Hingabe           Bild, das sich der Westen von Afghanistan
an diese ebenso grundlegende wie freie         macht, eine Fiktion, die durch den Bilder­
Tätigkeit mit dem Bild eines Lands im          flut der Medien entsteht.
Kriegszustand kontrastieren.

Dieses Spiel inspiriert eines der zentralen
Werke, das aus den Recherchen und
der Arbeit des Künstlers in Afghanistan
hervorging, den Film Reel-Unreel (2011).
Der in Kabul gedrehte Streifen beginnt mit
dem gleichen Spiel wie Hoop and Stick
und zeigt zwei Jungen, die durch die stau­
bigen, steilen Strassen der Hauptstadt
laufen. Der eine schiebt eine rote Filmrolle
vor sich her, deren Film sich im Rhyth­
mus des Laufs abwickelt, der andere spult
den Film auf eine leere Rolle auf, die er
mit der Hand schiebt. Manchmal macht
sich die Rolle selbstständig und kullert
den Hang hinunter, bevor der Junge sie in
der Kurve einer Gasse wiederfindet. Der
von seinem holprigen Weg zerkratzte          → 5. Children’s Game #7 (Hoop and
Film trägt den Staub der Stadt, und die        Stick), 2010
Kamera, die ihm folgt, zeigt, meist auf      → 6. Reel-Unreel, 2011
Verzeichnis der
Werke der 1. Etage

1                                           4
Children’s Game #10 (Papalote), 2011        Sometimes Doing Is Undoing
Video, Farbe, mit Ton, 4'13''               and Sometimes Undoing Is Doing
Balkh, Afghanistan                          (AK47 – Sa80), 2013
In Zusammenarbeit mit Julien Devaux         2-Kanal-Video, Farbe, mit Ton, 5'42''
und Félix Blume                             FOB Shawqat, Provinz Helmand und
                                            Provinz Herat, Afghanistan
2                                           In Zusammenarbeit mit Ajmal Maiwandi
Children’s Game #11 (Wolf and Lamb), 2011   und den in Afghanistan stationierten
Video, Farbe, mit Ton, 3'01''               britischen Streitkräften
Yamgun, Afghanistan
In Zusammenarbeit mit Julien Devaux         5
und Félix Blume                             Children’s Game #7 (Hoop and Stick), 2010
                                            Video, Farbe, mit Ton, 5'22''
3                                           Bamiyan, Afghanistan
Afghanistan Projekt, 2010 – 2014            In Zusammenarbeit mit Natalia Almada
Auswahl von Gemälden und Zeichnungen
Mischtechniken, unterschiedliche            6
Abmessungen                                 Reel-Unreel, 2011
Courtesy Ihrer Majestät die Königin         Video, Farbe, mit Ton, 19'32''
                                            Kabul, Afghanistan
                                            In Zusammenarbeit mit Julien Devaux
                                            und Ajmal Maiwandi

                                            Falls nicht anders angegeben, sind alle
                                            Werke courtesy des Künstlers und
                                            der Galerien Peter Kilchmann (Zürich) und
                                            David Zwirner (New York, London, Paris,
                                            Hongkong)
1. Etage

                Raum 1                 Raum 2

                                          3
                                  Afghanistan Projekt

                                          3

                   2
          Children’s Game #11
           (Wolf and Lamb)

→
Eingang
                                          4

                                          4
                                  Sometimes Doing Is
          Children’s Game #10
                                Undoing and Sometimes
               (Papalote)
                                   Undoing Is Doing
                    1
                                    (AK47 – Sa80)

                                  Afghanistan Projekt
                                          3
Raum 3

5   Children’s Game #7
    (Hoop and Stick)

        Reel-Unreel
             6
2. Etage

→                          4                                 11
Eingang             Perro Durmiendo                    Re-enactments

                             5    6
1                   Paradox of    The
As Long as             Praxis 1   Collector
I’m Walking

                                    Looking Up
                                             7
                                                  8
                                                  Duett

                                                 Children’s Game #1
                                                        (Caracoles)
                                                                  9
2
Patriotic
Tales

              Ambulantes              Magnetic Shoes
                  3                        10
15
                     Albert’s Way

      Railings
      12                                                 18
                                           Prohibited Steps

              13
Retoque/Painting
                                    Paradox of Praxis 5
                                                     16

    The Green Line             Semáforos
          14                      17
2. Etage                                       As Long as
                                               I’m Walking

Auf dieser Etage wird die Ausstellung          und Ertrag: Mehr als neun Stunden lang
durch ein Wandtext eröffnet, das aus Sät­      schob Alÿs einen grossen rechteckigen
zen besteht, die Francis Alÿs im Laufe         Eisblock vor sich her, bis fast nichts mehr
der Jahre geschrieben hat und das der          von ihm übrigblieb.
Lausanner Schau ihren Titel gibt: As Long
as I’m Walking (1992). In der Tat ist Alÿs   In anderen Werken hinterfragt Alÿs explizi­
seit mehr als dreissig Jahren zu Fuss unter­ ter die Beziehung zwischen künstleri­
wegs. Seine Begehungen begannen              schem Akt und politischer Intervention.
in Mexiko-Stadt, seiner Wahlheimat seit      In The Green Line (2004) zum Beispiel
1986. In dieser Stadt filmte er die meisten  geht der Künstler mit einem Topf grüner
seiner Streifzüge, bevor er sie auf andere   Farbe in der Hand der Grenze entlang,
städtische Räume ausdehnte.                  die im Waffenstillstand von 1949 zwischen
                                             Israel und den arabischen Staaten fest­
In einer seiner ersten Arbeiten, The         gelegt wurde, eine «grüne Linie», die sich
Collector (1990–1992), läuft Alÿs durch      seit dem Sechstagekrieg von 1967 und
Mexiko-Stadt und zieht an einer Leine        der Besetzung der palästinensischen Ge­
einen Magneten auf Rädern, der nach und biete weiter nach Osten verschob. So
nach alle Metallrückstände auf seinem        reaktiviert Alÿs die ursprüngliche Grenze,
Weg anzieht. Hier arbeitet der Künstler wie auf die er mit seinem Gang hinweist,
ein Archäologe oder ein Detektiv, der        und hinterlässt dabei einen unregelmässi­
Indizien sammelt. An anderer Stelle ist zu gen Fluss grüner Farbe auf dem Boden,
sehen, wie die einfache Tatsache, sich       eine schwache, doch für die Dauer der
ohne offensichtliches Ziel im urbanen Raum Aktion sehr reale Spur.
zu bewegen, die sich dort abspielende
soziale Dynamik unmerklich verändert.
Wenn Alÿs auf einem Platz steht und in
die Höhe blickt, als ob er etwas beobachtet,
und dadurch eine wachsende Menschen­
menge anzieht, die mit ihm die Leere
absucht, bevor sich der Künstler aus dem
Staub macht (Looking Up, 2001), schafft
er ein Ereignis aus fast nichts. Das Gegen­
teil unternahm er in einer seiner emble­
matischsten Aktionen, Paradox of Praxis 1
(1997), die ebenfalls im Zentrum von
Mexiko-Stadt stattfand, einer Allegorie
des Missverhältnisses zwischen Aufwand
Verzeichnis und
Beschreibungen
der Werke der
2. Etage

1                                             3
As Long as I’m Walking, 1992                  Ambulantes, 1992–2010
Wandtext                                      Projektion von 35-mm-Dias
                                              Mexiko-Stadt, Mexiko
Diese Liste, die Francis Alÿs über mehrere
Jahre hinweg zusammenstellte, enthält         Ambulantes ist eine Sammlung von Foto­
alles, was der Künstler nicht tut, wenn er    grafien, deren Zahl im Laufe der Jahre
geht: weinen, fliegen, rauchen oder           zunahm und welche die informelle Nutzung
malen. Sie macht das Gehen zu einer poe­      des öffentlichen Raums als alternativen
tischen Disziplin und einem Akt des Wi­       Geschäftsort dokumentiert. So sieht man
derstands, denn jeder urbane Streifzug ist    Kaufleute oder Boten, die ihre Waren
eine Zeitklammer, die den sozialen und        durch die Stadt tragen, schieben und trans­
wirtschaftlichen Zwängen der Produktivi­      portieren, deren Strassen sich so den
tät entzogen ist.                             üblichen räumlichen oder wirtschaftlichen
                                              Regelungen entziehen.
2
Patriotic Tales (Cuentos Patrióticos), 1997   4
Video, Farbe, mit Ton, 25'36''                Perro Durmiendo, 1999–2006
Dokumentation einer Aktion,                   Video, Farbe, mit Ton, 7'15''
Mexiko-Stadt, Mexiko                          Mexiko-Stadt, Mexiko
In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega
                                              Francis Alÿs fängt auf Bodenhöhe das
Im Zusammenhang mit den Studenten­            Bild streunender Hunde ein, die im öffent­
protesten von 1968 in Mexiko-Stadt, bei       lichen Raum schlafen. Nach Ansicht
denen Tausende von Beamten in einer           des Künstlers handelt es sich dabei um
spontanen Protestaktion zu blöken began­      Figuren des Widerstands gegen die
nen, stellt sich Francis Alÿs eine Action-    urbane Entwicklung, da die Zähmung von
Fiction vor, in der er Schafe um den sym­     Tieren oder der Ausschluss von Wild­
bolträchtigen Mast auf dem Zócalo drehen      tieren aus den Stadtzentren historische
lässt. In diesem perfekt choreografierten     Marker der Moderne sind.
Reigen wird der Anführer schliesslich
zum Mitläufer.
5                                             7
Paradox of Praxis 1 (Sometimes Making         Looking Up, 2001
Something Leads to Nothing), 1997             Video, Farbe, mit Ton, 3'33''
Video, Farbe, mit Ton, 9'54''                 Dokumentation einer Aktion,
Dokumentation einer Aktion,                   Mexiko-Stadt, Mexiko
Mexiko-Stadt, Mexiko                          In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega

Mehr als neun Stunden lang schiebt            Francis Alÿs steht regungslos auf einem
Francis Alÿs einen Eisblock durch die         Platz in Mexiko-Stadt und blickt in die
Strassen von Mexiko-Stadt, bis von ihm        Höhe, wobei er sich auf die Kraft der Sug­
nur noch eine Wasserlache übrigbleibt.        gestion und den Nachahmungstrieb der
Diese Aktion hinterfragt das Missverhältnis   Passant*innen verlässt, von denen einige
zwischen Aufwand und Ertrag, das den          ihn schliesslich nachahmen. Dann macht
lateinamerikanischen Alltag kennzeichnet:     sich der Künstler diskret aus dem Staub
Auch wenn der Aufwand gross ist,              und hinterlässt eine Ansammlung von
erweist sich der Ertrag als lächerlich.       Menschen, die in den Himmel starren, ein
                                              Event, der aus fast nichts entstanden ist.
6
The Collector (Colector), 1990–1992           8
Video, Farbe, mit Ton, 8'56''                 Duett, 1999
Dokumentation einer Aktion,                   Video, Farbe, mit Ton, 10'55''
Mexiko-Stadt, Mexiko                          Dokumentation einer Aktion, Venedig,
In Zusammenarbeit mit Julien Devaux           Italien
und Octavio Iturbe                            In Zusammenarbeit mit Honoré d’O

Francis Alÿs geht durch die Strassen          Francis Alÿs und der belgische Künstler
von Mexiko-Stadt und zieht dabei ein ma­      Honoré d’O kommen einzeln in Venedig an
gnetisches Spielzeug auf Rädern hinter        und gehen ziellos durch das Strassen­
sich her. Dieser «Magnethund» sammelt         labyrinth der Stadt, wobei jeder die Hälfte
die Metallrückstände ein, welche die          einer Helikontuba trägt. Nach dreitägi­
Strasse verschmutzen, und schmückt sich       gem Herumlaufen treffen sie sich schliess­
so mit Abfällen, die von Geschichten          lich am Ende eines vom Zufall bestimm­
und Fragmenten des städtischen Lebens         ten Parcours.
zeugen.
9                                             11
Children’s Game #1 (Caracoles), 1999          Re-enactments, 2000
Video, Farbe, mit Ton, 4'34''                 2-Kanal-Video, Farbe, mit Ton, 5'23''
Mexiko-Stadt, Mexiko                          Dokumentation einer Aktion, Mexiko-
In Zusammenarbeit mit Frédéric de             Stadt, Mexiko
Smedt, Constantin Felker und Julien           In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega
Devaux
                                              Nach dem Erwerb einer Pistole in einem
Gedreht in Mexiko-Stadt, ist Caracoles        Geschäft in Mexiko-Stadt läuft Francis Alÿs
das erste Video der sich ständig weiterent­   am helllichten Tag mit der Waffe durch
wickelnden Serie Children’s Games.            die Strassen und wird erst nach geraumer
Darin filmt der Künstler einen einsamen       Zeit von der Polizei verhaftet, deren
Jungen in einer steilen Gasse von Mexiko-     Trägheit dieses Video aufdeckt. Auf den
Stadt, der mit dem Fuss auf eine halb­        beiden Monitoren sind zwei Fassungen
leere Plastikflasche tritt.                   derselben Szene zu sehen: zum einen die
                                              Dokumentation der Aktion, zum anderen
10                                            deren Rekonstruktion.
Magnetic Shoes (Zapatos Magnéticos),
1994                                          12
Video, Farbe, mit Ton, 4'24''                 Railings, 2004
Dokumentation einer Aktion, Havanna,          Video, Farbe, mit Ton (Park Crescent,
Kuba                                          2'25'', Sample 1, 1'35'', Onslow Gardens,
                                              1'21''), Ed. 3/4
Francis Alÿs wandert jeden Tag durch die Dokumentation einer Aktion, London,
Strassen von Havanna und trägt dabei          Grossbritannien
magnetische Schuhe, auf denen die Metall­ In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega
rückstände, mit denen der Asphalt über­       und Artangel
sät ist, hängen bleiben. Auf seinen täglichen Musée cantonal des Beaux-Arts Lausanne.
Streifzügen sammelt er den Müll der           Erwerbung, 2014
Stadt, der von den besuchten Orten zeugt,
und bringt ihn in Umlauf.                     Francis Alÿs geht durch London und zieht
                                              einen Schlagzeugstock über die Gitter,
                                              um einen ortsspezifischen urbanen Klang
                                              zu erzeugen. Diese Partitur legt sich über
                                              die Geräusche der Umgebung – Hund­
                                              gebell, heulende Sirene, Autolärm –, um
                                              daraus Musik zu machen.
13                                             15
Retoque/Painting, 2008                         Albert’s Way, 2014
Video, Farbe, mit Ton, 8'31''                  Video, Farbe, mit Ton, 3'48''
Dokumentation einer Aktion, Paraíso,           Dokumentation einer Aktion,
Panamá                                         Mexiko-Stadt, Mexiko
In Zusammenarbeit mit Raúl Ortega und          In Zusammenarbeit mit Félix Blume
Magali Arriola                                 und Julien Devaux

Francis Alÿs erneuert die Farbe der Mittel­    Sieben Tage lang legt Francis Alÿs von
streifen der Strasse am Panamakanal,           9 Uhr morgens bis 19 Uhr abends in
der seit 1914 den Pazifik mit dem Atlantik     seinem Atelier eine Strecke von 118 km
verbindet. Die Aktion des Künstlers unter­     zurück, die jener der Pilger auf dem engli­
streicht die Schwierigkeit, die Komple­        schen Jakobsweg nach Santiago de
xität der historischen Probleme eines          Compostela entspricht. Diese Aktion be­
bestimmten Orts durch Kunst darzustellen       zieht sich auf eine Anekdote, laut der Albert
und zu vermitteln.                             Speer, der Architekt des Dritten Reiches,
                                               während seiner Gefängniszeit eine Welt­
14                                             umrundung in seiner Zelle unternommen
The Green Line (Sometimes Doing                haben soll.
Something Poetic Can Become Political,
and Sometimes Doing Something                  16
Political Can Become Poetic), 2004             Paradox of Praxis 5 (Sometimes We
Video, Farbe, mit Ton, 17'41''                 Dream as We Live and Sometimes We
Dokumentation einer Aktion,                    Live as We Dream), 2013
Jerusalem, Israel                              Video, Farbe, mit Ton, 7'49''
In Zusammenarbeit mit Philippe Bellaiche,      Dokumentation einer Aktion, Ciudad
Rachel Leah Jones und Julien Devaux            Juárez, Mexiko
                                               In Zusammenarbeit mit Rafael Ortega,
Mit einem mit grüner Farbe gefüllten           Julien Devaux, Alejandro Morales
durchlöcherten Topf in der Hand geht           und Félix Blume
Francis Alÿs in Jerusalem den Teil der
«grünen Linie» entlang, der die Stadt teilt.   Nachts in Ciudad Juárez – einer Grenzstadt
Auf dem Boden zeichnet er symbolisch           zwischen Mexiko und den Vereinigten
die Grenze nach, die im Waffenstillstand       Staaten, die für ihre endemische Gewalt
von 1949 zwischen Israel und den arabi­        berüchtigt ist – läuft Francis Alÿs durch
schen Staaten festgelegt wurde und sich        die verwüsteten Strassen und kickt einen
1967 nach dem Sechstagekrieg ver­              brennenden Ball vor sich her. Das Feuer
schob, was zur Besetzung der palästinen­       erhellt kurz die Umgebung und entwirft all­
sischen Gebiete östlich der Demarkations­      mählich die Kartografie einer Geisterstadt.
linie führte.
17                                         2. Etage, Sammlung:
Semáforos, 1995 – heute
Video, Farbe, mit Ton, 9'57''              Choques, 2005
Aus aller Welt                             9-Kanal-Video-Installation, Farbe, mit Ton
                                           (Camera Lateral, 1'50''; Frontal Semi Close,
Semáforos ist eine Sammlung von Bildern,   1'44''; Diagonal Piso, 2'53''; Frontal, 1'47'';
die Francis Alÿs auf seinen Reisen auf­    Diagonal Ventana, 1'35''; CCTV, 3'39'';
nahm, und entwirft eine globale urbane     Frontal Piso, 0'27''; Lateral+Back, 3'08'';
Geografie, deren gemeinsamer Nenner die    POV Perro, 3'01''), Ed. von 4 Ex., E. A. 1/2
Silhouette des Fussgängers der Verkehrs­   Mexiko-Stadt, Mexiko
ampeln ist, des Symbols des Stadt­         Collection du Fonds d’art contemporain
wanderers.                                 de la Ville de Genève

18                                        Mit Choques, einem Video, das neun in den
Prohibited Steps, 2020                    Räumen verteilte Monitore bespielt,
Video, Farbe, mit Ton, 3'22''             hält die Werkschau Einzug in die Dauer­
Dokumentation einer Aktion, Insel         ausstellung des Musée cantonal des
Lamma, Hongkong                           Beaux-Arts. Die neun Kanäle zeigen alle
                                          dieselbe Szene aus leicht unterschiedli­
Mit verbundenen Augen und zögernden       chen Blickwinkeln. Der Künstler stolpert an
Schritten bewegt sich Francis Alÿs        einer Strassenecke in Mexiko-Stadt über
auf dem Flachdach eines Bungalows. Das einen streunenden Hund. Die neun erhöht
Video wurde im Oktober 2020 am elften     angebrachten Monitore sind so verteilt,
Tag der dem Künstler in Hongkong aufer­   dass die Besucher*innen beim Rundgang
legten Quarantäne gedreht und doku­       jeweils nur eine Szene sehen können.
mentiert die räumliche Enge und die damit Choques spielt folglich mit dem Gefühl
verbundene Einsamkeit in Zeiten der       des «Déjà-vu», der Wiederholung ein und
Pandemie. In erweitertem Sinn bezieht sie desselben Ereignisses in aufeinander­
sich auf das Problem der Freiheitsräume.  folgenden Räumen und erinnert sowohl
                                          durch seine Konstruktion als auch
                                          durch die Art seiner Präsentation an die
                                          Art und Weise, wie Überwachungs­
                                          kameras jede unserer Bewegungen im
                                          öffentlichen Raum aufzeichnen.
Organi­sation
                Ausstellungskuratorin:           Nicole Schweizer (Hg.),
                Nicole Schweizer,                Francis Alÿs. As Long as I’m

und
                Konservatorin zeitgenössische    Walking, mit Beiträgen von
                Kunst, in Zusammenarbeit mit     Julia Bryan-Wilson, Luis Pérez-
                Elisabeth Jobin, wissenschaft­   Oramas und Judith Rodenbeck,
Publikation     liche Mitarbeiterin              Ko-Edition Musée cantonal
                                                 des Beaux-Arts de Lausanne
                                                 und JRP Editions, Genf 2021
                                                 (zwei Ausgaben in F und E),
                                                 160 S., 277 Abb.
                                                 CHF 50.– im Buchhandel /
                                                 CHF 45.– im Buchshop des
                                                 MCBA während der Ausstellung
                                                 → shop.mcba@vd.ch
Rendez-   Reservierung erforderlich für
          alle Rendezvous
                                            Familienführung
                                            (auf Französisch):

vous
          →mcba.ch/agenda                   «Jeux de rues d’ici et
                                            d’ailleurs»
          Führung (auf Französisch):        Sonntag 14. November,
          Jeden Donnerstag um               12. Dezember und 9. Januar,
          18.30 Uhr, jeden Sonntag um       15–16.30 Uhr
          11 Uhr (ausser am 26. Dezember)   Die Videoserie Children’s
                                            Games anschauen und die
          Guided tour (in English):         beobachteten Spiele in der
          Jeden ersten Sonntag des          Familie nachspielen.
          Monats um 14 Uhr
                                            Workshop für Kinder
          Führung für die Amis du           (auf Französisch):
          Musée (auf Französisch):          «Bouger dans la ville»
          Donnerstag 11. November um        Samstag 13. November,
          18 Uhr                            11. Dezember und 8. Januar,
          Mit Nicole Schweizer              14–16 Uhr
                                            Nach der Besichtigung der
          Führung mit der                   Ausstellung durchstreifen die
          Ausstellungskuratorin             Kinder die Stadt und stellen
          (auf Französisch):                sich Spuren und Anzeichen
          Donnerstag 2. Dezember um         ihrer Bewegungen im urbanen
          18.30 Uhr und Sonntag             Raum vor.
          16. Januar um 15 Uhr              6–12 Jahre
                                            CHF 15.–
          Vortrag:
          Donnerstag 18. November um        Workshop für Erwachsene
          18.30 Uhr                         (auf Französisch):
          «Francis Alÿs: il n’y a pas de    Samstag 20. November,
          pas perdus»                       14–17 Uhr
          Von Thierry Davila, Philosoph     Im Gehen verschiedene
          und Kunsthistoriker               Zeichentechniken erproben.
          Eintritt frei                     Mit Stephanie Pfister,
                                            Künstlerin
                                            CHF 70.– / 50.–

                                            Begleitheft (auf Französisch):
                                            Ab 7 Jahren
                                            Gratis, am Empfang erhältlich

                                            Programm für Schulen und
                                            private Besuche:
                                            → mcba.ch
Ihr      Museumsshop:
         shop.mcba@vd.ch
                                    Weitere Herbstausstellungen
                                    im MCBA:

Besuch   Café-Restaurant Le Nabi:   Espace Projet
         Reservierung empfohlen     Unique et multiple. Neuere
         T. +41 21 311 02 90        Werke aus der Kunstsammlung
         info@lenabi.ch             der BCV
                                    24.9.2021 – 9.1.2022
         Musée cantonal des         Eintritt frei
         Beaux-Arts
         PLATEFORME 10              Espace Focus
         Place de la Gare 16        Aloïse Corbaz. Im Papierwahn
         1003 Lausanne              22.10.2021 – 23.1.2022
         Schweiz                    Eintritt frei

         www.mcba.ch                Die Sammlung
          @ mcbalausanne            Eintritt frei
          @ mcba.lausanne

                                    Ausstellungspartner

                                    Hauptpartner – Bau MCBA
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