Leseprobe +++ Viel Vergnügen +++ Leseprobe +++ Viel Vergnügen +++ Leseprobe +++ Viel Verg - Arete Verlag

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Marcus Pinsker

Die unsichtbare Mauer –
 eine Grenzerfahrung
 Der Mauerweglauf: 100 Meilen in und um Berlin

               Arete Verlag Hildesheim
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-
grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2020 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim
www.arete-verlag.de

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ges. Dies gilt auch und insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verfilmungen
und die Einspeicherung sowie Datenvorhaltung in elektronischen und digitalen Systemen.

Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten
Titelfoto und alle anderen Fotos: Marcus Pinsker
Druck und Verarbeitung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-96423-035-5
Inhalt

Vorwort ...............................................................................................................    7

Einleitung ..........................................................................................................      8

1. Bau und Fall der Berliner Mauer .................................................                                      11
       1961 – Das Jahr des Mauerbaus ........................................................                             14
       Technische Daten zur Mauer ..............................................................                          28
       Die Opfer der Mauer ...............................................................................                30
       1989 – Eine Pressekonferenz und der Fall der Mauer ............                                                    32

2. Der Mauerweglauf ................................................................................                      38
       Beschreibung der Strecke, entsprechend der offiziellen
       ­Ausschreibung ..........................................................................................          38
       Höhepunkte der Strecke .......................................................................                     40
       Auswahl an der Strecke liegender Gebäude, Denkmäler,
       Sehenswürdigkeiten ...............................................................................                 41
       Versorgungspunkte, Entfernungen und Zwischenzeiten .......                                                         41

3. Von der Anmeldung bis zum Start . .............................................                                        43

4. Die 100 Meilen-Meditationen ........................................................                                   70

5. Die Tage danach ..................................................................................... 192

Literaturverzeichnis ................................................................................... 197

Playlist . ............................................................................................................... 199
Vorwort

Ich kann mich gar nicht mehr so richtig daran erinnern, wann ich
das erste Mal Marcus begegnet bin, wohl aber an den Augenblick,
als wir 2014 ein kleines Stück gemeinsam bei den 100 Meilen auf
dem Mauer­weg unterwegs waren. Diese Momente sind es, die einem
Ul­traläufer im Gedächtnis bleiben.
   Es ist, wie der Buchtitel aussagt, eine Grenzerfahrung im doppel-
ten Sinne, einerseits die sportliche Herausforderung, andererseits
die Erinnerung an ein unmenschliches Bauwerk und die Erinnerung
an die Opfer, an die bei dieser Veranstaltung alljährlich gedacht wird.
Eines Tages wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die berichten kön-
nen, umso wichtiger ist es, die Erinnerung aufrechtzuerhalten, und
dazu wird dieses Buch in großartiger Weise beitragen.
   Der Autor beschreibt sich, sein Training und die Aufgabe, die er sich
gestellt hat, und bleibt dabei authentisch, sodass sich sowohl Läufer
aber auch Nichtläufer mit vielen Passagen identifizieren können. Und
auch der erfahrene Ultraläufer kann für sich vieles entdecken, bei-
spielsweise wie man trotz anstrengenden und anspruchsvollen beruf-
lichen Aufgaben ein gutes Training in den Alltag integrieren kann.
   Es ist auch eine Hommage an eine Veranstaltung, die von allen
Beteiligten mit sehr viel Herzblut organisiert und durchgeführt wird.
Während der Autor die 100 Meilen Berlin mittlerweile mehrfach
erfolgreich bestritten hat, blieb das Rennen in 2014 mein einziges
Finish. Mittlerweile bin ich Race Direktor bei dieser Veranstaltung
und freue mich alljährlich auf ein äußerst emotionales Wochenende.
   Lieber Marcus, vielen Dank für dieses gelungene Buch, es wird vie-
len Menschen Freude bereiten.

Harald Reiff                                   Berlin, im Januar 2020
(Race Direktor „100 Meilen Berlin“)

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Einleitung

Wolken ziehen über den Himmel. Anfang und Ende sind unbestimmt.
Richtungen wechseln. Irgendwann lösen sich einzelne auf, andere ent-
stehen. Der Himmel bleibt davon unverändert. Es gibt keine Spuren.
  Das Leben ist wie ein großer Strom auf seinem Weg durch den
Ozean. Unbedeutende Kleinigkeiten, Zufälle oder Schicksale, Glück
oder Pech bestimmen unsere Tage. Und wie kleine Wassertropfen
einen Fluss formen, so bilden diese einzelnen Momente unsere Tage,
und die Erinnerung an diese Tage unser Leben.
  Das Laufen von sehr langen Distanzen, über spektakuläre Strecken,
auf allen sieben Kontinenten der Erde und dem Nordpol ist eine von
vielen Möglichkeiten, die eigene Reise durch das Leben zu gestalten.
Die äußeren Reisen sind dabei genauso wichtig wie die inneren.
  Ob im ewigen Eis am Pol oder auf glühend heißen Teerstraßen Süd-
afrikas. Über Hochgebirgspfade oder durch die Wolkenkratzer von
New York. Die Erde ist ein schönes Wunder. An viele Orte wäre ich
nie gekommen, wenn ich dort nicht einen Marathon hätte laufen wol-
len. Antarktis, Nordpol, Tasmanien, Dubai, Marienwerder. Dabei liegt
das Abenteuer, Beispiel „Mauerweglauf – 100 Meilen Berlin“, manch-
mal direkt vor der Haustür. Es kann, aber es muss auch nicht immer
der Himalaya sein.
  Gerade beim Ultramarathon spielen ja die inneren Vorgänge eine
ganz wesentliche Bedeutung. Es ist ein meditativer Akt, manchmal
dringt man tief in das sonst verborgene Ich hinein. Durch die langen
Zeiten, die man auf den Beinen ist, meist in langsamer Geschwindig-
keit, kann sich ein tiefer Zustand der Selbstversunkenheit einstellen.
Es ist einfach eine ganz andere Art zu laufen.
  Diese Läufe sind kalkulierte Grenzsituationen, und weil Grenzsitu-
ationen das Leben verändern, verändern sie uns. Und zwar im Sinne
positiver Erkenntnisse. Die Selbsterkenntnis des 100 Meilen Läufers,
so könnte man es überschreiben.
  Mit gesundheitsbewusstem Laufen hat das natürlich nichts zu tun.
Ich laufe ja nicht 161 Kilometer am Stück um das ehemalige West-
Berlin, weil ich länger leben will, meine Telomere verlängern oder ein
paar Pfund abnehmen muss.

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Ich laufe diese Strecken, weil ich damit für mich einen Weg gefun-
den habe, mein Leben zu leben, es ein Stück weit besser zu leben.
Manchmal auch, um es einfach nur zu ertragen und auszuhalten. Nicht
immer geht es dabei um „sich selbst finden“, wie es so schön heißt,
und was bedeutet das eigentlich? Erkenne ich es denn überhaupt,
wenn ich mich selbst gefunden habe?
  Aber wenn ich mich schon nicht selbst finde, so lerne ich mich doch
in jedem Fall ein wenig besser kennen und verschiebe dabei, Stück für
Stück, die eigenen Grenzen der Machbarkeit in meinem Kopf.

Durch die großen Rennen bekommt das Jahr zusätzliche Höhepunkte,
neue Fixpunkte im Kalender. Es sind wahre Fest-Tage, echte, rich-
tige Feier-Tage, auf die man sich freuen kann, und die dem Jahr eine
Struktur geben. „Vive Fiesta del Maraton“, ist das Motto beim Valencia
Marathon. Lebe die Fiesta des Marathons. Man trifft gute alte Freunde,
man läuft und leidet miteinander, und dann feiert man gemeinsam.
Die jährliche Teilnahme am Comrades Marathon ist für viele, die
Jahr für Jahr im Juni nach Durban in Südafrika pilgern, ein wichtiger,
wenn nicht der wichtigste Termin im ganzen Kalenderjahr, vielleicht
nach Weihnachten und Ostern. Für mich ist der Comrades Marathon
genau das, eine jährliche Pilgerfahrt. Die Entbehrungen während vie-
ler Monate hartem Trainings, die karnevalartige Atmosphäre auf der
gesamten Strecke, der rauschartige Triumph, wenn die Ziellinie nach
90 Kilometern endlich überschritten wird. Eine einzigartige Kombi-
nation, sodass ich, so lange ich nur eben kann, dort wieder und wie-
der laufen möchte.
   Laufen bedeutet auch, täglich ein wenig zu fliegen, schweben in der
Schwerelosigkeit, wie ein Adler. Für Sekundenbruchteile abheben,
aus eigener Kraft und ohne Flügel, den Boden unter den Füßen ver-
lieren, wie ein Vogel von der Erde zu starten, in Richtung Himmel. Das
unterscheidet den Läufer vom Jogger, der immer mit einem Fuß auf
der Erde bleibt. Der Läufer schwebt und fliegt, wenn auch nur einen
Moment. Aber wenn man die Summe der Zeit betrachtet, in der man
keinen Fuß auf dem Boden hat, kommt bei einem längeren Lauf eine
ganze Menge Zeit des Schwebens über Mutter Erde zusammen.
   Neben dem sportlichen Ziel, in einer bestimmten Zeit über eine
bestimmte Strecke an das Ziel zu gelangen, geht es bei den langen

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Rennen auch, und häufig in erster Linie, um die Summe aus Erleben
und Empfindungen. Um das oft überwältigende Natur-Erlebnis. Um
die großen körperlichen und geistigen Anstrengungen, trotzdem wei-
terzulaufen, auch wenn man schon lange nicht mehr kann, wenn man
eigentlich schon lange nicht mehr weiterlaufen will. Das Gefühl, das
sich während der vielen Stunden auf den Beinen einstellt, die Ohn-
macht und Allmacht, die Hochs und Tiefs zu durchleben, sie durch-
zustehen, und dabei trotz allem – und vor allem – nicht aufzugeben.
Es geht um das Gefühl des reinen klaren Glücks, wenn man es ins Ziel
geschafft hat, und nicht mehr weiterlaufen muss, keinen Schritt mehr
gehen muss. Einfach ein Bier trinken oder nur im Gras liegen zu kön-
nen, für eine Weile.
  Wenn man es geschafft hat, ist es ein Erfolg. Wenn nicht, bist du
gescheitert. Einfache Welt. Und wenn man es nicht geschafft hat, die
gewünschte Zeit verfehlt, oder gar das Ziel nicht erreicht? Ein DNF, ein
did-not-finish? Dann musst du es eben wieder versuchen. Beim Com-
rades Marathon 2015 ist ein Läufer nach acht vergeblichen Versuchen
das erste Mal innerhalb der offiziellen Renndauer von zwölf Stunden
ins Ziel gekommen. Das ist Leidensfähigkeit und Ausdauer. Acht Jahre
nicht ins Ziel zu kommen und trotzdem Jahr für Jahr wieder am Start
zu stehen, nach all der Vorbereitung, und immer mit dem Wissen, dass
es nun schon so oft nicht geklappt hat. Und trotzdem jedes Jahr aufs
Neue zu denken, aber heute, heute schaffe ich es. Das ist wirklich eine
große Geschichte, echter Sportsgeist.
  Natürlich muss man dafür auch ein wenig verrückt sein.
  Und das ist nun wirklich die Hauptvoraussetzung für das, wovon
dieses Buch handelt: dem „Mauerweglauf“, 100 Meilen, 161 Kilometer
nonstop, zu Fuß, entlang des ehemaligen Verlaufs der Berliner Mauer,
rund um West-Berlin.

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Kapitel 2
Der Mauerweglauf

Der Mauerweglauf wurde erstmals im Jahr 2011 veranstaltet, zum 50.
Jahrestag des Mauerbaus, in der Absicht, eine Erinnerung zu schaf-
fen. Eine Erinnerung an Leid, Verzweiflung, Trennung und Tod der
Maueropfer. Veranstalter ist die LG Mauerweg Berlin e. V., gegründet
am 8.November 2009 in der kleinen Gaststätte „Zweihunderteins“,
direkt am S-Bahnhof Griebnitzsee, von elf Gründungsmitgliedern.
Schirmherr der Veranstaltung ist der ehemalige DDR-Bürgerrechtler
und Vorstandsvorsitzende der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur, Rainer Eppelmann. Ursprünglich war ein Zwei-Jahres-
Rhythmus geplant, nach der Premiere 2011 fand der zweite Lauf 2013
statt. Danach ging man auf einen jährlichen Modus über, wobei die
Laufrichtung ebenfalls jährlich wechseln sollte, hierfür stand der süd-
afrikanische Comrades Marathon Pate. In diesem Jahr sollte im Uhr-
zeigersinn um West-Berlin herum gelaufen werden. Start und Ziel der
ersten beiden Veranstaltungen war noch das Stadion an der Lobeck-
straße in Berlin-Kreuzberg. 92 Läuferinnen und Läufer gingen 2011
an den Start, 78 erreichten das Ziel in der vorgeschriebenen Zeit von
30 Stunden, 2013 waren bereits 254 am Start, 179 im Ziel.
  Start und Ziel sind erstmals im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark,
Cantianstraße 24, im Mauerpark, und damit direkt am Mauerweg.
  Die Anmeldung zum Mauerweglauf startet jeweils am 9. November,
es gibt Startplätze für Einzelläufer, 2er-Staffeln, 4er-Staffeln und mitt-
lerweile 10Plus-Staffeln.
  Der Streckenrekord der Männer von 13h06:52 wurde 2014 vom
Briten Mark Perkins aufgestellt, bei den Frauen 2018 von der Polin
Monika Biegasiewicz mit 15h29:48.

Beschreibung der Strecke, entsprechend der offiziellen
­Ausschreibung
 Mauerweglauf 17. – 18.8., 160,9km.
 Berliner Mauerweg, größtenteils asphaltiert und überwiegend flach.
 Es wird in Uhrzeigerrichtung gelaufen. Es gelten die Markierungen

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und Anweisungen des Veranstalters. Jeder Teilnehmer (Einzelläufer
und Staffel) erhält mit der Ausgabe der Startunterlagen ein Roadbook
mit der genauen Streckenbeschreibung. Die Strecke verläuft teilweise
auch auf befahrenen, öffentlichen Straßen. Die in Deutschland geltende
Straßenverkehrsordnung ist deshalb von allen TN absolut einzuhalten,
ansonsten droht die sofortige Disqualifikation.
   Zwischenzeiten: An bis zu 13 Kontrollstellen werden Zwischenzeiten
elektronisch erfasst und nach Möglichkeit umgehend online bereit
ge­stellt.
   Verpflegung: ca. alle 5-7 Kilometer ein Verpflegungspunkt (VP). Es
werden läufergerechte Lebensmittel und Getränke angeboten. Zusätz­
lich werden tagsüber – je nach Witterung – Posten mit Wasser einge­
richtet.

Im Rahmen der obligatorischen Streckeneinweisung am Abend vor
dem Start, werden von den Veranstaltern folgende Zahlen und Regeln
mitgeteilt:
  288 gemeldete Einzelstarter, 7 x 2er Staffel, 14 x 4er Staffel, 6 x 10er
Staffel. Insgesamt also 418 Läufer aus 24 Ländern, ein neuer Teilneh-
mer-Rekord bis dahin.
  Zum Vergleich: 2019 sind 500 Einzelläufer zugelassen, dazu kom-
men 50 x 2er Staffeln, 50 x 4er Staffeln, 30 x 10plus Staffeln (hier
maximal 27 Teilnehmer pro Staffel). Das macht ungefähr 1100 Teil-
nehmer, also fast dreimal so viele. Und dennoch, die Einzelplätze sind
ausverkauft in wenigen Tagen, die begehrten 4er Staffeln innerhalb
weniger Minuten.
  An den 27 Verpflegungs- und gleichzeitig Kontrollpunkten arbeiten
über 300 freiwillige Helfer. Es gibt zweimal ein Video-Live-Streaming,
alle Zwischenzeiten können über www.100meilen.de oder www.Live-
anzeige.de abgerufen werden.
  Unter den Regeln an erster Stelle wird die Beachtung der Straßen-
verkehrsordnung (StVO) genannt. Wo immer möglich muss auf dem
Gehsteig gelaufen werden, und zwar in Laufrichtung rechts. Wenn
kein Gehsteig vorhanden, auf der rechten Straßenseite – außerhalb
von Ortschaften auf der linken Straßenseite. Disqualifikation droht,
neben dem Überschreiten der Cut-off-Zeiten an den WP 1–3, bei Ver-
stoß gegen diese Straßenverkehrsordnung, insbesondere dem Über-

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queren einer roten Ampelanlage oder eines beschrankten Bahnüber-
gangs, aber auch bei Tragen von Kopfhörern im Stadtgebiet. Weitere
Disqualifikationsmaßnahmen bei Verstoß gegen Umweltbestimmun-
gen, bei Mitnahme der Trinkbecher oder anderem Abfall auf der Stre-
cke, bei Überforderung, unsportlichem Verhalten, Abkürzen und Fahr-
zeugbenutzung. Zur Disqualifikation berechtigt sind die Rennleitung,
die Teamleiter der einzelnen Verpflegungspunkte und der Rennarzt.
Bei Dunkelheit muss jeder Teilnehmer eine Lampe und eine reflek-
tierende Weste tragen, jeder Teilnehmer sollte, es ist noch kein Muss,
ein Handy mitführen.

Höhepunkte der Strecke
Die Strecke führt zunächst vorbei an einigen der Hauptsehenswür-
digkeiten Berlins im innerstädtischen Mauerverlauf, dann geht es
im Süden zwischen Gropiusstadt und Feldern nach Potsdam, an der
Westgrenze Berlins entlang gen Norden, hier erwarten mich Wälder
und Dunkelheit. Dann taucht man wieder ein, in die Stadt, kurz vor
dem Ziel unterquert man die Bornholmer Straße.
  Geschichte und Geschichten der 161 Kilometer langen Strecke kön-
nen hier natürlich nur bruchstückhaft und ausschnittsweise wieder
gegeben werden. Ich beschreibe einige der Orte so, wie sie mir im Lauf
der Vorbereitung und während des Mauerweglaufs selbst begegnet
sind. Im Anhang ist eine kleine Auswahl der reichhaltigen Literatur zu
diesem Thema genannt, aus der teilweise in diesem Buch zitiert wird
oder die einfach lesenswert ist.
  Empfehlenswert in jedem Fall, und daher an dieser Stelle explizit
hervorgehoben, ist das Radtourenbuch „Berliner Mauer-Radweg. Eine
Reise durch die Geschichte Berlins“, von Michael Cramer. Detailliert
und fachkundig wird hier der komplette Weg beschrieben und mit
Karten im Maßstab 1:20.000 ergänzt. Für Berlin-Fans, Mauerwegläu-
fer oder nicht, in jedem Fall ein lohnender Kauf, wenn nicht gar ein
Muss. Ein Kaufbefehl, hätte Harald Schmidt in seiner Harald-Schmidt-
Show gesagt, als diese noch so großartig war, wie leider nichts mehr
nach ihm, nicht einmal er selbst.

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Auswahl an der Strecke liegender Gebäude, Denkmäler,
­Sehenswürdigkeiten:
 Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark (Start) – Mauerpark – Bernauer
 Straße mit Gedenkstätte Berliner Mauer – Wachturm Kieler Straße –
 Gedenkstein Günter Litfin – Invaliden Friedhof – Berliner Hauptbahn-
 hof – Charité – Reichstag – Brandenburger Tor – Wilhelmstraße – Nie-
 derkirchener Straße – Zimmerstraße – Checkpoint Charlie – Mahnmal
 Peter Fechter – Künstlerhaus Bethanien – East Side Gallery – Ober-
 baumbrücke – Wachturm Schlesische Straße/Schlesischer Busch –
 Plänterwald – Sonnenallee – Britzer Zweigkanal, Kaffeefabrik – Mahn-
 mal Chris Gueffroy – Teltowkanal – A113 – Rudower Höhe – Stele
 Spionagetunnel, ehem. US-Radarstation – Schönefeld – Gropiusstadt
 zur rechten, Felder zur linken – Findlinge, Übergang Buckower Damm
 – Lichtenrade, ehem. Geisterstadt – Kirschbaumallee und Mauerreste
 – Teltowkanal – Sportplatz Teltow, WP1 – ehemaliger Kontrollpunkt
 Dreilinden – Überquerung der A115 – Parforceheide – Griebnitzsee
 mit Truman-Villa, Churchill-Villa, Stalin-Villa – Glienicker Brücke –
 Meierei Potsdam – Potsdamer Park – Schloss Cecilienhof – Schloss
 Sacrow, WP2 – Sacrower Heilandskirche in der Nähe, nicht zu sehen
 – Kladow, am Wannsee entlang – Staaken – Mittelheide – Ruderclub
 Oberhavel, WP3 – Hennigsdorf, Stolpe, Frohnau – Stele Marinetta Jir-
 kowsky, Gedenkmedaille 2015 – Hohen Neuendorf – Turm Deutsche
 Waldjugend – Waidmannslust – Lübars – Checkpoint Qualitz – Hei-
 dekrautbahn – Berlin Bird – Friedhof Pankow – Wollankstraße, vor-
 bei am Sowjetischen Ehrenmal, nicht zu sehen – Märkisches Viertel in
 Schönholz – Bösebrücke – Bornholmer Straße – Mauerpark – Fried-
 rich-Ludwig-Jahn-Sportpark (Ziel)

Versorgungspunkte (VP) bzw. Wechselpunkte (WP),
­zurückgelegte Kilometer, meine Laufzeit und die jeweilige Uhr-
 zeit zur Orientierung
 VP1 – Mahnmal Peter Fechter       KM09,02 1h00 = 7.00 Uhr
 VP2 – Schlesischer Busch          KM15,00 1h40 = 7.40 Uhr
 VP3 – Sonnenallee                 KM21,00 2h20 = 8.20 Uhr
 VP4 – Stubenrauchstrasse          KM26,73 2h58 = 8.58 Uhr
 VP5 – U-Bahnhof Rudow             KM31,03 3h29 = 9.29 Uhr
 VP6 – Buckower Damm               KM36,43 4h10 = 10.10 Uhr

                                                                   41
VP7 – Kirchhainer Damm                KM41,97     4h52 = 10.52 Uhr
VP8 – Lichtenrade                     KM46,39     5h25 = 11.25 Uhr
VP9 – Osdorfer Straße                 KM52,16     6h11 = 12.11 Uhr
VP10 – Sportplatz Teltow (WP1)        KM58,57     7h19 = 13.19 Uhr
VP11 – Königsweg                      KM64,75     8h11 = 14.11 Uhr
VP12 – Gedenkstätte                   KM70,93     9h12 = 15.12 Uhr
VP13 – Brauhaus Meierei               KM77,77    10h07 = 16.07 Uhr
VP14 – Revierförsterei Krampnitz      KM83,83    11h04 = 17.04 Uhr
VP15 – Schloss Sacrow (WP2)           KM90,03    12h29 = 18.29 Uhr
VP16 – Pagel & Friends                KM97,66    13h44 = 19.44 Uhr
VP17 – Wilhelmstr./Kladow             KM102,50   14h35 = 20.25 Uhr
VP18 – Falkenseer Chaussee            KM109,08   15h46 = 21.46 Uhr
VP19 – Schönwalde                     KM114,78   16h53 = 22.53 Uhr
VP20 – Grenzturm Nied.Neuendorf       KM122,31   18h30 = 0.30 Uhr
VP21 – Ruderclub Oberhavel            KM127,09   19h36 = 1.36 Uhr
VP22 – Frohnau                        KM131,12   20h25 = 2.25 Uhr
VP23 – Naturschutzturm                KM137,90   21h51 = 3.51 Uhr
VP24 – Oranienburger Chaussee         KM142,65   22h58 = 4.58 Uhr
VP25 – Lübars                         KM148,34   24h18 = 6.18 Uhr
VP26 – S-Bahn Wilhelmsruh             KM154,05   25h27 = 7.28 Uhr
VP27 – Wollankstraße                  KM157,14   25h54 = 7.54 Uhr
Ziel, Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark KM160,90   26h33 = 8.33 Uhr

42
Kapitel 4
Die 100 Meilen-Meditationen

Um 2.40 Uhr bin ich wach. Der Tag, der jetzt seit gut einem halben
Jahr die Gedanken beherrscht hatte, ist gekommen. Ich freue mich
darauf, zu laufen, so viel und so lange ich kann. Das wird in jedem
Fall mein längster Lauf bis heute. Mein längster Tag. In jedem Fall ein
irrer Lauf, ein verrückter Lauf. Stundenlanges Laufen, wie eine ein-
zige, lang andauernde Meditation, und wenn morgen die Sonne wie-
der aufgeht, beginnt ein neuer Tag, und ich werde in jedem Fall eine
Veränderung durchlaufen haben. Es wird ein neuer Tag sein, und ich
freue mich jetzt schon darauf. Ein neuer Tag, ein neuer Mond, eine
neue Sonne, ein neues Leben.
  Die Routine der Marathonvorbereitung, immer das gleiche, und
trotzdem habe ich mir einen Merkzettel geschrieben, eine Liste
gemacht. Damit ich in der Aufregung nichts vergesse. Ich mache mich
fertig, erst mal duschen, zum Wachwerden, dann anziehen. Alles liegt
fertig ausgebreitet auf dem Sofa. Die bewährte schwarze Lauf-Tight.
Dazu mein neongelbes Mauerweg-Shirt. Die Oakley Sonnenbrille, rote
Glücksbringer-Kappe, Kompressionssocken und meine Laufschuhe.
Den Hüftgürtel mit den beiden Flaschen, vor einer Woche gekauft,
zusammen mit der Leuchtweste für die Nacht. Beides hatte ich noch
nicht, beziehungsweise war der Meinung, es könnte verbessert wer-
den. Kein Lauf, bei dem nicht zumindest irgendwas Neues auspro-
biert wird. Dass es gerade der Trinkgürtel ist, ist natürlich eine selten
dämliche Idee, aber ist nun so. Zum Frühstück gibt es zwei Scheiben
Toast mit Butter und Himbeermarmelade, dazu Kaffee, Orangensaft
und eine halbe Tafel Ritter Sport Marzipan aus dem Kühlschrank. Wie
immer, bei jedem Marathon.
  Mit den drei Wechselbeuteln auf dem Rücken laufe ich zum Taxi-
stand um die Ecke. Es ist halb fünf.
  „Bitte zum Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark.“
  Die Stadt ist noch dunkel, und außer ein paar Partygängern sind
keine Menschen auf den Straßen unterwegs. Ich sage dem Taxifahrer
ein paar Mal, wie er fahren soll, er brummelt etwas. „Hier links”, sage

70
ich schließlich, und lasse ihn viel zu früh abbiegen. Das war ein Fehler,
er hatte recht, und ich nicht. Und weil er dann irgendwann keine Lust
mehr hat, lässt er mich 500 Meter weit entfernt vom Stadion ausstei-
gen. Er könne da nicht mehr näher hinfahren. Und ich muss nun ich viel
weiter laufen, weil ich auf der anderen Seite des Sportplatzes stehe.
  Im Stadion angekommen, lege ich die Beutel für die Wechselpunkte
in die Körbe. Es ist immer noch dunkel. Überall stehen Menschen
herum, viele mit einem Becher Kaffee in der Hand. Die meisten sind
eher vom Typ ausgemergelt, es gibt aber auch ein paar Korpulentere.
Bin ich zu dick? Die ewige Frage des Langstreckenläufers. Wer ist hier
dick, fragt Obelix, hier ist kein Dicker. Genau. Sag ich doch. Männer und
Frauen. Bekannte und Freunde, ich begrüße die, die ich kenne, und
trinke auch noch einen Kaffee, erst einmal.
  Die Sonne geht bald auf, über der großen Stadt. Sie interessiert das
nicht, was wir hier unten treiben. Heute Abend wird sie untergehen,
morgen wieder auf, und ich werde dann immer noch unterwegs sein.
Wenn ich Glück habe und nicht vorzeitig aussteigen muss. Sie wird auf-
und wieder untergehen, und wieder aufgehen. The sun always rises,
der Startschuss zur Fiesta wird bald abgefeuert. Ich werde laufen und
gehen, vom Start bis zum Ziel, ohne aufzugeben und ohne unterzuge-
hen. Wenn ich Glück habe.
  Fotos am Start gemacht, ich bin ziemlich aufgeregt jetzt, und Angst
ist auch dabei. Ich versuche am Start, mich ausschließlich auf die Dinge
zu fokussieren, die ich kontrollieren kann, meine Emotionen und wie
ich mich selbst verhalte. Alles andere kann ich nicht beeinflussen, also
sollte es auch mich nicht beeinflussen.
  Im Rahmen meiner Vorbereitungen bin ich auf zwei Aussagen gesto-
ßen, die mir über die Strecke helfen sollen, mich durch den Tag brin-
gen. Die mich vor allem davor bewahren sollen, unterwegs aufzugeben.
  Der erste Satz stammt aus „Lore of Running“ von Tim Noakes,
einem unvergleichlichen Buch, das auf wissenschaftlichem Niveau
alle Aspekte des Laufens abdeckt. „Betrachte die Anstrengungen die-
ses Rennens als wichtiger als alles andere, was du bisher in deinem
Leben geleistet hast.“
  Das zweite Zitat kommt von Lance Armstrong, mittlerweile tief
gefallener, ehemaliger siebenfacher Tour-de-France Sieger, alle Titel
wurden aberkannt und er mit einer lebenslangen Sperre belegt. In

                                                                      71
seinem Buch „Jede Sekunde zählt“ schreibt er: „Wann immer man auf-
geben will, sollte man sich fragen, womit man lieber leben möchte:
mit dem Schmerz oder mit der Resignation.“
  Damit würde ich hoffentlich über die Runden kommen, unter ande-
rem natürlich. Im Zweifel, daran denken. Und nicht verzweifeln. Auf
keinen Fall verzweifeln.

Start, Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark KM0 0h00 = 6.00 Uhr
Es gibt jetzt kein Zurück mehr, kurz vor sechs ist es, gleich geht es los,
ich stehe ziemlich weit vorne, am Start ganz vorne sein, dann bin ich
wenigstens auf dem Startfoto gut getroffen. Soviel Anspannung und
Freude, Angst und Lust, aber es ist jetzt endlich soweit, es gibt kein
Nachdenken mehr. Für einen kurzen Moment scheint es mir, als ob
die Zeit stehen bliebe, als ob alle den Atem anhielten. Dann schlägt ein
Kirchturm 6.00 Uhr morgens, der Startschuss knallt, es geht los. Klat-
schen, Schreie, Jubelrufe, Winken, Fotoblitze, die Zeit läuft weiter, die
Erde dreht sich wieder, das Rennen ist gestartet. Es fühlt sich an, wie
mit voller Kraft in ein großes Feuer hinein zu laufen.
  Alle preschen los, sehr schnell, rennen los, wie verrückt, wie los-
gelassene Rennpferde, als ginge es zu einem zehn Kilometer-Lauf.
Wie immer halt. Langsam loslaufen, sage ich mir, langsam laufen. Das
Leben reduziert sich für die nächsten Stunden auf Laufen, Gehen, ein-
fach irgendwie Vorwärtskommen, Essen und Trinken. Und nicht auf-
zugeben.
  Es sind gute Bedingungen, angenehme Temperaturen, trockene
Straßen. Verrückt, es ist so verrückt, 100 Meilen, 161 Kilometer lie-
gen vor mir. Ich versuche, so langsam, wie nur irgend möglich zu lau-
fen, und bin doch immer noch zu schnell, für einen Start zu meinem
ersten 100 Meilen-Lauf.
  „Lauft, ihr Narren”, ruft uns einer der Zuschauer hinterher.
  Es geht also jetzt los. Das Herz ist leicht, der Geist ist frei. Ich fühle
mich leicht und stark, die Aussicht, eine schier endlose Zeit unterwegs
zu sein, ist im Moment mehr ein Versprechen als eine Last. Wie am
Beginn der Sommerferien oder am Freitagabend vor dem Wochen-
ende. Ein endloser Spaß. Das wird sich ändern, das ist klar, aber jetzt,
die ersten Schritte nach dem Startschuss, Freiheit und Glück in seiner
reinsten Form. Die nächsten Stunden gehören nur mir, mir und mei-

72
nen Gedanken und dieser Strecke und einem Bauwerk, das gar nicht
mehr existiert.
  Bremsen, bremsen und nochmals bremsen. Was hast du dir vor-
genommen, wieder und wieder? Du musst immer das Gefühl haben,
schneller laufen zu können. Das ist jetzt noch kein Problem. Die ersten
Kilometer dienen nur dazu, warm zu werden, hinein zu kommen in
den Tag. Pass gut auf dich auf. Finde deinen eigenen Rhythmus. Keine
Sprünge, keine Beschleunigungen, lass die anderen einfach vorbei,
es spielt keine Rolle. Laufe vorausschauend die Ideallinie, schneide
jeden Meter. Laufe nicht das Tempo der Gruppe, sondern dein eige-
nes. Auf keinen Fall Zwischensprints. Und vor allem, sprich so wenig
wie möglich und hadere nicht mit äußeren Einflüssen, die nicht zu
ändern sind. Alles betrifft hier immer auch alle. Das Wetter, der Weg,
der Wind. Versuche dich zu entspannen, runterzukommen, du läufst
nur gegen dich allein. Spüre bei jedem Schritt die Spannung und die
Entspannung.
  Leicht und stark, jeder Schritt wie auf Wolken, kurze Tippelschritte,
es fühlt sich so langsam an und ist doch, für den Moment, eigentlich
zu schnell. In 20 Stunden werde ich mir nicht mehr vorstellen kön-
nen, so schnell wie jetzt zu laufen. Egal. Der Start ist das reine Glück.
Unter dem Klatschen und Rufen der Zuschauer, die gekommen sind,
werden wir durch das Stadion hinaus begleitet, noch ein paar Fotos
gemacht, irgendwie muss ich mir das für mich selbst erhalten, dann
geht es raus in die Stadt. Dämmerung, 6.02 Uhr Samstagmorgen. Es
geht Richtung Süden, wir laufen im Uhrzeigersinn, West-Berlin wird
immer zu meiner Rechten sein.
  Zuerst geht es aus dem Mauerpark direkt in die Bernauer Straße,
vorbei an der Kapelle der Versöhnung mit den Umrissen der gespreng-
ten Kirche davor, über die Ackerstraße, dahinter Gedenkstätte Berli-
ner Mauer, dann Gedenkstätte Bernauer Straße. Geschichte pur, auf
jedem Meter, aber das ist im Augenblick doch eher Nebensache. Die
Metallstäbe, die den Verlauf der Mauer symbolisieren. Ein kurzer
Blick auf die Uhr, das Lauftempo ist noch schnell, viel zu schnell. Über
die Ampeln und rechts hoch in die Gartenstraße, links unter den Lie-
senbrücken hindurch in die Liesenstraße, hier steht gleich links oben
ein schönes verwachsenes Stückchen Originalmauer. Kurz danach
Friedhöfe, das große Goldkreuz in der Mitte ist ein ehemaliges Turm-

                                                                      73
kreuz vom Berliner Dom. Die „Total-Tankstelle“ an der Ecke und Über-
querung der Chausseestraße. Bertolt Brecht hat in dieser gewohnt, ist
hier gestorben und begraben. Hinter dem Bundeswehrkrankenhaus
in der Kieler Straße ein Wachturm und die Gedenkstätte Günter Lit-
fin, dem ersten erschossenen Maueropfer.
  Ich muss jetzt erst mal runterkommen. Das ganze Adrenalin weg
atmen. Die ersten Kilometer, es läuft doch eigentlich ganz gut, die
Beine sind ausgeruht, der Kopf auch, die Angst vor der Strecke lasse
ich im Stadion hinter mir. Ich bin froh, hier zu sein. Ein kleines Dank-
gebet, dass ich es gesund bis an den Start geschafft habe, mit der Bitte,
es auch gesund ans Ziel zu schaffen. Vater unser, Amen. Noch sind
wir ein Pulk, noch laufen wir in Gruppen, jeder läuft mit sich selbst
und trotzdem nicht allein. Witze werden an den Ampeln gerissen,
hier werden die Gruppen immer wieder etwas größer, wenn langsa-
mere auf schnellere auflaufen, rote Ampeln bedeuten für alle zu war-
ten, bis es wieder grün wird. Disqualifikation droht bei Missachtung.
Ein Marathon, 42 Kilometer, ach ja, das wäre schön, dann wäre ich um
10.30 Uhr fertig, spätestens. Ein Marathon ist ein Viertel der Strecke.
Nicht darüber nachdenken. Bilder von Ärmelkanal-Durchschwim-
mern, gibt es eigentlich ein richtiges Wort dafür? Beängstigend, der
Gedanke, durch den kalten, grauen Ärmelkanal zu schwimmen. Dann
doch lieber hier laufen. Gedanken an Alpinisten mit Eiszapfen an den
großen Vollbärten, und dieser etwas irre Blick, wenn sie nach dem
Gipfel wieder ins Basislager zurückkommen. Ob ich morgen auch mit
einem solchen Blick in das Ziel einlaufe? Irre und nicht mehr von die-
ser Welt?
  Die 100 Meilen liegen wie der Mount Everest vor mir. 100 Meilen
sind 100 Meilen sind nur 100 Meilen. Es ist viel kürzer als der Spart-
athlon, versuche ich mich zu beruhigen.
  Es werden viele Stunden mit mir selbst sein, es geht nur um Essen,
Trinken und Laufen. Keiner stört, keiner will etwas, eine kleine Flucht
aus dem Alltagsstress. Könnte ich auch im Robinson Club verbringen.
Aber lieber bin ich hier. Am liebsten bin ich jetzt genau hier, am Beginn
dieses verrückten Rennens, früh am Morgen, ein ganzes Wochen-
ende vor mir, das nur aus Laufen besteht, den ganzen Samstag und
einen mehr oder minder langen Teil des Sonntags, mit anschließen-
der Erschöpfungsruhe.

74
Ein großer Tag für mich, irrelevant für die Menschheit, die davon
keine Notiz nimmt. Eine große Laufrunde um das alte West-Berlin,
Laufen, Essen, Trinken, eine Herausforderung, wie keine bisher, ein
Ziel, wie ein gewaltiger Berg. Ein Traum von einem Tag. Ein Lauf ent-
lang der Mauer, die fast komplett verschwunden und doch immer prä-
sent ist.
   Ein paar der wirklich großen Monumente der Strecke kommen
also ganz am Anfang. Nach dem Wachturm in der Kieler Straße und
dem Gedenkort für Günter Litfin geht es durch den Invalidenfried-
hof, dahinter das Bundesministerium für Wirtschaft. Vorbei am Medi-
zinhistorischen Museum der Charité, dem Hauptbahnhof, eine Brü-
cke führt über die Spree. Richtung Reichstag, das Brandenburger Tor
wird komischerweise rechts liegen gelassen, statt direkt vorne vor-
bei zu laufen. Wir passieren die streng bewachte britische Botschaft,
hier eine Abweichung vom Mauerverlauf, es geht nicht über den Pots-
damer Platz und die Niederkirchnerstraße, wo ja auch noch ein lan-
ges Stück Mauer steht. Wir laufen stattdessen auf dem Weg Richtung
Kreuzberg durch die Wilhelmstraße, passieren das Finanzministe-
rium, dann links in die Zimmerstraße, die Topographie des Terrors
lassen wir rechts liegen. Durch das Asisi „Berlin Wall“ Panorama hin-
durch, eine tolle Idee der Veranstalter. Kurze Pause eingelegt, Fotos
gemacht, auch das gehört dazu. Direkt danach der Checkpoint Char-
lie, Ort der Panzer-Konfrontation, Oktober 1961. Ein Dritter Weltkrieg
war als Option in den Planungen mit aufgenommen, bis hin zum ulti-
mativen Atomkrieg. Eine falsche Entscheidung eines Einzelnen, ein
Schuss, man mag es sich nicht vorstellen. Ob wir heute noch hier lau-
fen würden? Ob unsere Welt, so wie wir sie kennen, überhaupt noch
existieren würde?
   Hier jedenfalls, Ecke Zimmerstraße/Friedrichstraße, war der „Über-
gang Friedrichstraße für Ausländer“, nur Ausländer und Diplomaten
durften hier durch. Charlie nach der amerikanischen Militärtelegra-
fensprache, Alpha war in Helmstedt, Bravo in Dreilinden, Charlie also
hier. Weil der Originalwachturm nicht unter Denkmalschutz gestellt
worden war, ließ ihn der neue Grundstückseigentümer im Jahr 2000
abreißen. Das Kontrollgebäude wurde ebenfalls entfernt, steht aber
wenigstens heute im Alliierten Museum in Dahlem. Später wurde
dann eine Nachbildung errichtet, mit Sandsäcken und verkleideten

                                                                   75
Soldaten, für Touristen, die begeistert ihre Fotos schießen. Bereits
am 19.10.1962 eröffnete Rainer Hildebrandt das Museum „Haus am
Checkpoint Charlie“, zur Dokumentation und Erinnerung der Mauer-
toten und Flüchtlinge, mit zahlreichen originalen Exponaten. Wegen
seiner Aktivitäten gab es sogar Entführungsversuche durch das SED-
Regime, die aber alle gescheitert sind.
  Viele Tote, zerstörte Existenzen. So viel Leid, dieser Mauer wegen.
Auch darum geht es heute. Ein Lauf der Erinnerung sollte es werden,
und darum wird jeder Mauerweglauf einem der Opfer gewidmet, mit
dem Konterfei auf der Startnummer und der Finisher Medaille. In
diesem Jahr ist es Peter Fechter. Am 17. August 1962 versuchte der
18jährige Bauarbeiter, der „Unter den Linden“ eingesetzt war, zusam-
men mit einem Kollegen in der nahegelegenen Zimmerstraße den
Fluchtversuch. Sein Kollege hatte es schon über die Mauer geschafft,
als die Wachposten auf Peter Fechter schossen. Von hinten zweimal
in die Lunge und einmal in den Bauch getroffen, fiel er von der bereits
erklommenen Mauer zurück, nach Ost-Berlin. Es müssen furchtbare
Momente gewesen sein. Bei der West-Berliner Polizei geht die erste
Meldung um 14.12 Uhr ein. Aus Grenztruppen-Akten geht hervor, dass
insgesamt von vier Grenzposten 35 Schüsse abgegeben wurden. Die
DDR-Grenzer ließen ihn direkt an der Mauer liegen, vor Schmerzen
schreiend und sahen ihm beim Sterben zu. Im Westen versammel-
ten sich immer mehr Menschen, die Polizei hatte Mühe, die immer

76
zorniger werdende West-Berliner Menge zurückzuhalten. „Mörder“-
Rufe im Westen, die Schmerzensschreie des Verletzten im Osten. Als
wäre das nicht schon grotesk genug, warfen Ost-Berliner Grenzsolda-
ten dann auch noch Tränengasgranaten über die Mauer, nach West-
Berlin. Die West-Berliner Polizisten warfen sie zurück. Die Alliierten
hielten sich raus, sie waren angewiesen, bei Grenzverletzungen nicht
einzuschreiten. „It’s not our problem”, soll einer gesagt haben. In der
Zwischenzeit verblutete Peter Fechter. Er starb ungefähr eine Stunde,
nachdem er von den Kugeln getroffen wurde.
  „Soll man von unserer Staatsgrenze wegbleiben – dann kann man
sich Blut, Tränen und Geschrei sparen”, kommentierte DDR-Chefpro-
pagandist von Schnitzler die Proteste des Westens.

VP1 – Mahnmal Peter Fechter             KM09.02 1h00 = 7.00 Uhr
Über die Charlottenstraße, dann erster VP, Kilometer 9. Ich bin genau
eine Stunde unterwegs. Zu schnell für die geplante Durchschnittsge-
schwindigkeit. Viel zu schnell. Wir bekommen Rosen, die wir am Fech-
ter-Denkmal ablegen. Ganz schön viele Blumengestecke und Kränze,
einer sogar vom Regierenden Bürgermeister von Berlin. Ein Betreuer
fragt, ob er ein Foto von mir machen soll.

                                                                    77
Training und Laufen
Armstrong, Lance: Tour des Lebens. Bastei Lübbe, 2001
Armstrong, Lance: Jede Sekunde zählt. Goldmann Verlag, 2005
Cerruty, Percy Wells: Be fit! Or be dammed! PMA Books, 2014
Chinmoy, Sri: Sport und Meditation. The Golden Shore, 1990
Fixx, James F.: Das komplette Buch vom Laufen. Fischer Taschenbuch
  Verlag, 1988
Foden, John: Preparing for & Competing in your first Spartathlon.
Greif, Peter: Greif – for Running Life. Verlag Greif e.K., 2013
Heinrich, Bernd: Laufen. List Taschenbuch, 2005
Herburger, Günter: Lauf und Wahn. Luchterhand Literaturanstalt,
  1988
Jamison, Neal (Hg.): Running through the wall. Breakaway Books,
  2008
Jurek, Scott: Eat & Run. Houghton Mifflin Harcourt, 2012
Karnazes, Dean: Ultramarathonmann. Riva Verlag, 2006
McConell, Kym & Horsley, Dave: Laufen extrem. Copress Sport, 2008
Murakami, Haruki: Wovon ich rede wenn ich vom Laufen rede.
  Dumont, 2008
Noakes, Tim: Lore of Running. Human Kinetics, 2002
Secunda, Brand & Allen, Mark: Fit Soul, Fit Body: 9 Keys to a healthier,
  happier you. BenBella Books, 2008
Shapiro, James E.: Ultramarathon. Bantam Books, 1980
Sheehan, Georg: Running & Being: The Total Experience. Rodale
  Books, 2013
Sonntag, Werner: Irgendwann musst du nach Biel. In: Laufende Vor-
  gänge. Verlag Laufen und Leben, 1996
Sonntag, Werner: Mehr als Marathon – Wege zum Ultralauf. Sport-
  welt Verlag, 2013
Stevens, John: The Marathon Monks of Mount Hiei. Echo Point Books
  & Media, 2015

198
Playlist Mauerweg – Lieder und Alben
In der Reihenfolge der Nennung

Lied                       Interpret               Album              Jahr
                           Elvis Presley and the
Are You Lonesome Tonight                           Single             1960
                           Jordanaires
Weiße Rosen aus Athen      Nana Mouskouri          Single             1961
Looking for Freedom        David Hasselhoff        Single             1989
                                                   That’s why God
Pacific Coast Highway      Beach Boys                                 2012
                                                   made the Radio
                                                   Hangover 2 –
I ran                      Ska Rangers                                2011
                                                   Soundtrack
                                                   Wir Kinder vom
Heroes/Helden              David Bowie             Bahnhof Zoo –      1979
                                                   Soundtrack
She flipped                Girls at our best       Pleasure           1981
Such a shame               Talk Talk               It’s My Life       1984
It’s my Life               Talk Talk               It’s My Life       1984
Hey Joe                    Jimi Hendrix            Smash Hits         1966
The End                    The Doors               The Doors          1967
Autobahn                   Kraftwerk               Autobahn           1974
Hotel California           The Eagles              Hotel California   1976
Bakerman                   Laid Back               Bakerman           2008
Marmor, Stein und Eisen    Drafi Deutscher         Single             1965
bricht
                                                   A New Hope –
Imperial March             Star Wars                                  1997
                                                   Soundtrack
                                                   Wir Kinder vom
Sense of Doubt             David Bowie             Bahnhof Zoo –      1979
                                                   Soundtrack
                                                   Wir Kinder vom
Station to Station         David Bowie             Bahnhof Zoo –      1979
                                                   Soundtrack
                                                   Das Beste von
König von Deutschland      Rio Reiser                                 1986
                                                   Rio Reiser
                           David Bowie             Low                1977
                           David Bowie             Lodger             1979

                                                                        199
Lied                       Interpret             Album              Jahr
Berlin – Du bist so wun-                         Berlin –
derbar 2012 (feat. Henry   Kaiserbase                               2012
                                                 Tag&Nacht
de Winter)
                                                 Berliner Luft.
                                                 Chansons und
Berliner Luft              Paul Lincke                              2009
                                                 Evergreens
                                                 einer Weltstadt
Major Tom                  Peter Schilling       NDW Ultra          1996
Großhirn                   Seed                  Music Monks        2003
                                                 Beach Boys Pla- 1981
Surfer Girl                Beach Boys            tinum Collection
Es gibt kein Bier auf                            Mega 50 – Die
                           Paul Kuhn                                2010
Hawaii                                           60er Jahre
Komm Jesu komm, mein                             The Sacred
                           J.S. Bach                                1999
Leib ist müde                                    ­Cantatas
DaDaDa                     Trio                  Trio               1982
Just an Illusion           Imagination           Single             1984
Titelmelodie Tatort        Klaus Doldinger                          1970
Born to Run                Bruce Springsteen     Born to Run        1975
Californication            Red Hot Chili Peppers Californication    1999
Warm Gun                   The Beatles           White Album        1968
Piggies                    The Beatles           White Album        1968
Christe du Lamm Gottes     J.S. Bach             Epiphany Mess      1998
                                                 Der Ring der
Götterdämmerung            Richard Wagner                           1994
                                                 Nibelungen
                                                 Dark Side of the
Breathe                    Pink Floyd                               1973
                                                 Moon
                                                 Lieder aus
Komm süßer Tod             J.S. Bach             ­Schemellis        1992
                                                  Gesangbuch
                           Wolfgang Amadeus
Kyrie                                            Requiem            1990
                           Mozart
                           Pink Floyd            The Wall           1979

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