Leseprobe +++ Viel Vergnügen +++ Leseprobe +++ Viel Vergnügen +++ Leseprobe +++ Viel Verg - Arete Verlag
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Marcus Pinsker Die unsichtbare Mauer – eine Grenzerfahrung Der Mauerweglauf: 100 Meilen in und um Berlin Arete Verlag Hildesheim
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio- grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2020 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim www.arete-verlag.de Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verla- ges. Dies gilt auch und insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verfilmungen und die Einspeicherung sowie Datenvorhaltung in elektronischen und digitalen Systemen. Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten Titelfoto und alle anderen Fotos: Marcus Pinsker Druck und Verarbeitung: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-96423-035-5
Inhalt Vorwort ............................................................................................................... 7 Einleitung .......................................................................................................... 8 1. Bau und Fall der Berliner Mauer ................................................. 11 1961 – Das Jahr des Mauerbaus ........................................................ 14 Technische Daten zur Mauer .............................................................. 28 Die Opfer der Mauer ............................................................................... 30 1989 – Eine Pressekonferenz und der Fall der Mauer ............ 32 2. Der Mauerweglauf ................................................................................ 38 Beschreibung der Strecke, entsprechend der offiziellen Ausschreibung .......................................................................................... 38 Höhepunkte der Strecke ....................................................................... 40 Auswahl an der Strecke liegender Gebäude, Denkmäler, Sehenswürdigkeiten ............................................................................... 41 Versorgungspunkte, Entfernungen und Zwischenzeiten ....... 41 3. Von der Anmeldung bis zum Start . ............................................. 43 4. Die 100 Meilen-Meditationen ........................................................ 70 5. Die Tage danach ..................................................................................... 192 Literaturverzeichnis ................................................................................... 197 Playlist . ............................................................................................................... 199
Vorwort Ich kann mich gar nicht mehr so richtig daran erinnern, wann ich das erste Mal Marcus begegnet bin, wohl aber an den Augenblick, als wir 2014 ein kleines Stück gemeinsam bei den 100 Meilen auf dem Mauerweg unterwegs waren. Diese Momente sind es, die einem Ultraläufer im Gedächtnis bleiben. Es ist, wie der Buchtitel aussagt, eine Grenzerfahrung im doppel- ten Sinne, einerseits die sportliche Herausforderung, andererseits die Erinnerung an ein unmenschliches Bauwerk und die Erinnerung an die Opfer, an die bei dieser Veranstaltung alljährlich gedacht wird. Eines Tages wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die berichten kön- nen, umso wichtiger ist es, die Erinnerung aufrechtzuerhalten, und dazu wird dieses Buch in großartiger Weise beitragen. Der Autor beschreibt sich, sein Training und die Aufgabe, die er sich gestellt hat, und bleibt dabei authentisch, sodass sich sowohl Läufer aber auch Nichtläufer mit vielen Passagen identifizieren können. Und auch der erfahrene Ultraläufer kann für sich vieles entdecken, bei- spielsweise wie man trotz anstrengenden und anspruchsvollen beruf- lichen Aufgaben ein gutes Training in den Alltag integrieren kann. Es ist auch eine Hommage an eine Veranstaltung, die von allen Beteiligten mit sehr viel Herzblut organisiert und durchgeführt wird. Während der Autor die 100 Meilen Berlin mittlerweile mehrfach erfolgreich bestritten hat, blieb das Rennen in 2014 mein einziges Finish. Mittlerweile bin ich Race Direktor bei dieser Veranstaltung und freue mich alljährlich auf ein äußerst emotionales Wochenende. Lieber Marcus, vielen Dank für dieses gelungene Buch, es wird vie- len Menschen Freude bereiten. Harald Reiff Berlin, im Januar 2020 (Race Direktor „100 Meilen Berlin“) 7
Einleitung Wolken ziehen über den Himmel. Anfang und Ende sind unbestimmt. Richtungen wechseln. Irgendwann lösen sich einzelne auf, andere ent- stehen. Der Himmel bleibt davon unverändert. Es gibt keine Spuren. Das Leben ist wie ein großer Strom auf seinem Weg durch den Ozean. Unbedeutende Kleinigkeiten, Zufälle oder Schicksale, Glück oder Pech bestimmen unsere Tage. Und wie kleine Wassertropfen einen Fluss formen, so bilden diese einzelnen Momente unsere Tage, und die Erinnerung an diese Tage unser Leben. Das Laufen von sehr langen Distanzen, über spektakuläre Strecken, auf allen sieben Kontinenten der Erde und dem Nordpol ist eine von vielen Möglichkeiten, die eigene Reise durch das Leben zu gestalten. Die äußeren Reisen sind dabei genauso wichtig wie die inneren. Ob im ewigen Eis am Pol oder auf glühend heißen Teerstraßen Süd- afrikas. Über Hochgebirgspfade oder durch die Wolkenkratzer von New York. Die Erde ist ein schönes Wunder. An viele Orte wäre ich nie gekommen, wenn ich dort nicht einen Marathon hätte laufen wol- len. Antarktis, Nordpol, Tasmanien, Dubai, Marienwerder. Dabei liegt das Abenteuer, Beispiel „Mauerweglauf – 100 Meilen Berlin“, manch- mal direkt vor der Haustür. Es kann, aber es muss auch nicht immer der Himalaya sein. Gerade beim Ultramarathon spielen ja die inneren Vorgänge eine ganz wesentliche Bedeutung. Es ist ein meditativer Akt, manchmal dringt man tief in das sonst verborgene Ich hinein. Durch die langen Zeiten, die man auf den Beinen ist, meist in langsamer Geschwindig- keit, kann sich ein tiefer Zustand der Selbstversunkenheit einstellen. Es ist einfach eine ganz andere Art zu laufen. Diese Läufe sind kalkulierte Grenzsituationen, und weil Grenzsitu- ationen das Leben verändern, verändern sie uns. Und zwar im Sinne positiver Erkenntnisse. Die Selbsterkenntnis des 100 Meilen Läufers, so könnte man es überschreiben. Mit gesundheitsbewusstem Laufen hat das natürlich nichts zu tun. Ich laufe ja nicht 161 Kilometer am Stück um das ehemalige West- Berlin, weil ich länger leben will, meine Telomere verlängern oder ein paar Pfund abnehmen muss. 8
Ich laufe diese Strecken, weil ich damit für mich einen Weg gefun- den habe, mein Leben zu leben, es ein Stück weit besser zu leben. Manchmal auch, um es einfach nur zu ertragen und auszuhalten. Nicht immer geht es dabei um „sich selbst finden“, wie es so schön heißt, und was bedeutet das eigentlich? Erkenne ich es denn überhaupt, wenn ich mich selbst gefunden habe? Aber wenn ich mich schon nicht selbst finde, so lerne ich mich doch in jedem Fall ein wenig besser kennen und verschiebe dabei, Stück für Stück, die eigenen Grenzen der Machbarkeit in meinem Kopf. Durch die großen Rennen bekommt das Jahr zusätzliche Höhepunkte, neue Fixpunkte im Kalender. Es sind wahre Fest-Tage, echte, rich- tige Feier-Tage, auf die man sich freuen kann, und die dem Jahr eine Struktur geben. „Vive Fiesta del Maraton“, ist das Motto beim Valencia Marathon. Lebe die Fiesta des Marathons. Man trifft gute alte Freunde, man läuft und leidet miteinander, und dann feiert man gemeinsam. Die jährliche Teilnahme am Comrades Marathon ist für viele, die Jahr für Jahr im Juni nach Durban in Südafrika pilgern, ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Termin im ganzen Kalenderjahr, vielleicht nach Weihnachten und Ostern. Für mich ist der Comrades Marathon genau das, eine jährliche Pilgerfahrt. Die Entbehrungen während vie- ler Monate hartem Trainings, die karnevalartige Atmosphäre auf der gesamten Strecke, der rauschartige Triumph, wenn die Ziellinie nach 90 Kilometern endlich überschritten wird. Eine einzigartige Kombi- nation, sodass ich, so lange ich nur eben kann, dort wieder und wie- der laufen möchte. Laufen bedeutet auch, täglich ein wenig zu fliegen, schweben in der Schwerelosigkeit, wie ein Adler. Für Sekundenbruchteile abheben, aus eigener Kraft und ohne Flügel, den Boden unter den Füßen ver- lieren, wie ein Vogel von der Erde zu starten, in Richtung Himmel. Das unterscheidet den Läufer vom Jogger, der immer mit einem Fuß auf der Erde bleibt. Der Läufer schwebt und fliegt, wenn auch nur einen Moment. Aber wenn man die Summe der Zeit betrachtet, in der man keinen Fuß auf dem Boden hat, kommt bei einem längeren Lauf eine ganze Menge Zeit des Schwebens über Mutter Erde zusammen. Neben dem sportlichen Ziel, in einer bestimmten Zeit über eine bestimmte Strecke an das Ziel zu gelangen, geht es bei den langen 9
Rennen auch, und häufig in erster Linie, um die Summe aus Erleben und Empfindungen. Um das oft überwältigende Natur-Erlebnis. Um die großen körperlichen und geistigen Anstrengungen, trotzdem wei- terzulaufen, auch wenn man schon lange nicht mehr kann, wenn man eigentlich schon lange nicht mehr weiterlaufen will. Das Gefühl, das sich während der vielen Stunden auf den Beinen einstellt, die Ohn- macht und Allmacht, die Hochs und Tiefs zu durchleben, sie durch- zustehen, und dabei trotz allem – und vor allem – nicht aufzugeben. Es geht um das Gefühl des reinen klaren Glücks, wenn man es ins Ziel geschafft hat, und nicht mehr weiterlaufen muss, keinen Schritt mehr gehen muss. Einfach ein Bier trinken oder nur im Gras liegen zu kön- nen, für eine Weile. Wenn man es geschafft hat, ist es ein Erfolg. Wenn nicht, bist du gescheitert. Einfache Welt. Und wenn man es nicht geschafft hat, die gewünschte Zeit verfehlt, oder gar das Ziel nicht erreicht? Ein DNF, ein did-not-finish? Dann musst du es eben wieder versuchen. Beim Com- rades Marathon 2015 ist ein Läufer nach acht vergeblichen Versuchen das erste Mal innerhalb der offiziellen Renndauer von zwölf Stunden ins Ziel gekommen. Das ist Leidensfähigkeit und Ausdauer. Acht Jahre nicht ins Ziel zu kommen und trotzdem Jahr für Jahr wieder am Start zu stehen, nach all der Vorbereitung, und immer mit dem Wissen, dass es nun schon so oft nicht geklappt hat. Und trotzdem jedes Jahr aufs Neue zu denken, aber heute, heute schaffe ich es. Das ist wirklich eine große Geschichte, echter Sportsgeist. Natürlich muss man dafür auch ein wenig verrückt sein. Und das ist nun wirklich die Hauptvoraussetzung für das, wovon dieses Buch handelt: dem „Mauerweglauf“, 100 Meilen, 161 Kilometer nonstop, zu Fuß, entlang des ehemaligen Verlaufs der Berliner Mauer, rund um West-Berlin. 10
Kapitel 2 Der Mauerweglauf Der Mauerweglauf wurde erstmals im Jahr 2011 veranstaltet, zum 50. Jahrestag des Mauerbaus, in der Absicht, eine Erinnerung zu schaf- fen. Eine Erinnerung an Leid, Verzweiflung, Trennung und Tod der Maueropfer. Veranstalter ist die LG Mauerweg Berlin e. V., gegründet am 8.November 2009 in der kleinen Gaststätte „Zweihunderteins“, direkt am S-Bahnhof Griebnitzsee, von elf Gründungsmitgliedern. Schirmherr der Veranstaltung ist der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Vorstandsvorsitzende der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Rainer Eppelmann. Ursprünglich war ein Zwei-Jahres- Rhythmus geplant, nach der Premiere 2011 fand der zweite Lauf 2013 statt. Danach ging man auf einen jährlichen Modus über, wobei die Laufrichtung ebenfalls jährlich wechseln sollte, hierfür stand der süd- afrikanische Comrades Marathon Pate. In diesem Jahr sollte im Uhr- zeigersinn um West-Berlin herum gelaufen werden. Start und Ziel der ersten beiden Veranstaltungen war noch das Stadion an der Lobeck- straße in Berlin-Kreuzberg. 92 Läuferinnen und Läufer gingen 2011 an den Start, 78 erreichten das Ziel in der vorgeschriebenen Zeit von 30 Stunden, 2013 waren bereits 254 am Start, 179 im Ziel. Start und Ziel sind erstmals im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, Cantianstraße 24, im Mauerpark, und damit direkt am Mauerweg. Die Anmeldung zum Mauerweglauf startet jeweils am 9. November, es gibt Startplätze für Einzelläufer, 2er-Staffeln, 4er-Staffeln und mitt- lerweile 10Plus-Staffeln. Der Streckenrekord der Männer von 13h06:52 wurde 2014 vom Briten Mark Perkins aufgestellt, bei den Frauen 2018 von der Polin Monika Biegasiewicz mit 15h29:48. Beschreibung der Strecke, entsprechend der offiziellen Ausschreibung Mauerweglauf 17. – 18.8., 160,9km. Berliner Mauerweg, größtenteils asphaltiert und überwiegend flach. Es wird in Uhrzeigerrichtung gelaufen. Es gelten die Markierungen 38
und Anweisungen des Veranstalters. Jeder Teilnehmer (Einzelläufer und Staffel) erhält mit der Ausgabe der Startunterlagen ein Roadbook mit der genauen Streckenbeschreibung. Die Strecke verläuft teilweise auch auf befahrenen, öffentlichen Straßen. Die in Deutschland geltende Straßenverkehrsordnung ist deshalb von allen TN absolut einzuhalten, ansonsten droht die sofortige Disqualifikation. Zwischenzeiten: An bis zu 13 Kontrollstellen werden Zwischenzeiten elektronisch erfasst und nach Möglichkeit umgehend online bereit gestellt. Verpflegung: ca. alle 5-7 Kilometer ein Verpflegungspunkt (VP). Es werden läufergerechte Lebensmittel und Getränke angeboten. Zusätz lich werden tagsüber – je nach Witterung – Posten mit Wasser einge richtet. Im Rahmen der obligatorischen Streckeneinweisung am Abend vor dem Start, werden von den Veranstaltern folgende Zahlen und Regeln mitgeteilt: 288 gemeldete Einzelstarter, 7 x 2er Staffel, 14 x 4er Staffel, 6 x 10er Staffel. Insgesamt also 418 Läufer aus 24 Ländern, ein neuer Teilneh- mer-Rekord bis dahin. Zum Vergleich: 2019 sind 500 Einzelläufer zugelassen, dazu kom- men 50 x 2er Staffeln, 50 x 4er Staffeln, 30 x 10plus Staffeln (hier maximal 27 Teilnehmer pro Staffel). Das macht ungefähr 1100 Teil- nehmer, also fast dreimal so viele. Und dennoch, die Einzelplätze sind ausverkauft in wenigen Tagen, die begehrten 4er Staffeln innerhalb weniger Minuten. An den 27 Verpflegungs- und gleichzeitig Kontrollpunkten arbeiten über 300 freiwillige Helfer. Es gibt zweimal ein Video-Live-Streaming, alle Zwischenzeiten können über www.100meilen.de oder www.Live- anzeige.de abgerufen werden. Unter den Regeln an erster Stelle wird die Beachtung der Straßen- verkehrsordnung (StVO) genannt. Wo immer möglich muss auf dem Gehsteig gelaufen werden, und zwar in Laufrichtung rechts. Wenn kein Gehsteig vorhanden, auf der rechten Straßenseite – außerhalb von Ortschaften auf der linken Straßenseite. Disqualifikation droht, neben dem Überschreiten der Cut-off-Zeiten an den WP 1–3, bei Ver- stoß gegen diese Straßenverkehrsordnung, insbesondere dem Über- 39
queren einer roten Ampelanlage oder eines beschrankten Bahnüber- gangs, aber auch bei Tragen von Kopfhörern im Stadtgebiet. Weitere Disqualifikationsmaßnahmen bei Verstoß gegen Umweltbestimmun- gen, bei Mitnahme der Trinkbecher oder anderem Abfall auf der Stre- cke, bei Überforderung, unsportlichem Verhalten, Abkürzen und Fahr- zeugbenutzung. Zur Disqualifikation berechtigt sind die Rennleitung, die Teamleiter der einzelnen Verpflegungspunkte und der Rennarzt. Bei Dunkelheit muss jeder Teilnehmer eine Lampe und eine reflek- tierende Weste tragen, jeder Teilnehmer sollte, es ist noch kein Muss, ein Handy mitführen. Höhepunkte der Strecke Die Strecke führt zunächst vorbei an einigen der Hauptsehenswür- digkeiten Berlins im innerstädtischen Mauerverlauf, dann geht es im Süden zwischen Gropiusstadt und Feldern nach Potsdam, an der Westgrenze Berlins entlang gen Norden, hier erwarten mich Wälder und Dunkelheit. Dann taucht man wieder ein, in die Stadt, kurz vor dem Ziel unterquert man die Bornholmer Straße. Geschichte und Geschichten der 161 Kilometer langen Strecke kön- nen hier natürlich nur bruchstückhaft und ausschnittsweise wieder gegeben werden. Ich beschreibe einige der Orte so, wie sie mir im Lauf der Vorbereitung und während des Mauerweglaufs selbst begegnet sind. Im Anhang ist eine kleine Auswahl der reichhaltigen Literatur zu diesem Thema genannt, aus der teilweise in diesem Buch zitiert wird oder die einfach lesenswert ist. Empfehlenswert in jedem Fall, und daher an dieser Stelle explizit hervorgehoben, ist das Radtourenbuch „Berliner Mauer-Radweg. Eine Reise durch die Geschichte Berlins“, von Michael Cramer. Detailliert und fachkundig wird hier der komplette Weg beschrieben und mit Karten im Maßstab 1:20.000 ergänzt. Für Berlin-Fans, Mauerwegläu- fer oder nicht, in jedem Fall ein lohnender Kauf, wenn nicht gar ein Muss. Ein Kaufbefehl, hätte Harald Schmidt in seiner Harald-Schmidt- Show gesagt, als diese noch so großartig war, wie leider nichts mehr nach ihm, nicht einmal er selbst. 40
Auswahl an der Strecke liegender Gebäude, Denkmäler, Sehenswürdigkeiten: Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark (Start) – Mauerpark – Bernauer Straße mit Gedenkstätte Berliner Mauer – Wachturm Kieler Straße – Gedenkstein Günter Litfin – Invaliden Friedhof – Berliner Hauptbahn- hof – Charité – Reichstag – Brandenburger Tor – Wilhelmstraße – Nie- derkirchener Straße – Zimmerstraße – Checkpoint Charlie – Mahnmal Peter Fechter – Künstlerhaus Bethanien – East Side Gallery – Ober- baumbrücke – Wachturm Schlesische Straße/Schlesischer Busch – Plänterwald – Sonnenallee – Britzer Zweigkanal, Kaffeefabrik – Mahn- mal Chris Gueffroy – Teltowkanal – A113 – Rudower Höhe – Stele Spionagetunnel, ehem. US-Radarstation – Schönefeld – Gropiusstadt zur rechten, Felder zur linken – Findlinge, Übergang Buckower Damm – Lichtenrade, ehem. Geisterstadt – Kirschbaumallee und Mauerreste – Teltowkanal – Sportplatz Teltow, WP1 – ehemaliger Kontrollpunkt Dreilinden – Überquerung der A115 – Parforceheide – Griebnitzsee mit Truman-Villa, Churchill-Villa, Stalin-Villa – Glienicker Brücke – Meierei Potsdam – Potsdamer Park – Schloss Cecilienhof – Schloss Sacrow, WP2 – Sacrower Heilandskirche in der Nähe, nicht zu sehen – Kladow, am Wannsee entlang – Staaken – Mittelheide – Ruderclub Oberhavel, WP3 – Hennigsdorf, Stolpe, Frohnau – Stele Marinetta Jir- kowsky, Gedenkmedaille 2015 – Hohen Neuendorf – Turm Deutsche Waldjugend – Waidmannslust – Lübars – Checkpoint Qualitz – Hei- dekrautbahn – Berlin Bird – Friedhof Pankow – Wollankstraße, vor- bei am Sowjetischen Ehrenmal, nicht zu sehen – Märkisches Viertel in Schönholz – Bösebrücke – Bornholmer Straße – Mauerpark – Fried- rich-Ludwig-Jahn-Sportpark (Ziel) Versorgungspunkte (VP) bzw. Wechselpunkte (WP), zurückgelegte Kilometer, meine Laufzeit und die jeweilige Uhr- zeit zur Orientierung VP1 – Mahnmal Peter Fechter KM09,02 1h00 = 7.00 Uhr VP2 – Schlesischer Busch KM15,00 1h40 = 7.40 Uhr VP3 – Sonnenallee KM21,00 2h20 = 8.20 Uhr VP4 – Stubenrauchstrasse KM26,73 2h58 = 8.58 Uhr VP5 – U-Bahnhof Rudow KM31,03 3h29 = 9.29 Uhr VP6 – Buckower Damm KM36,43 4h10 = 10.10 Uhr 41
VP7 – Kirchhainer Damm KM41,97 4h52 = 10.52 Uhr VP8 – Lichtenrade KM46,39 5h25 = 11.25 Uhr VP9 – Osdorfer Straße KM52,16 6h11 = 12.11 Uhr VP10 – Sportplatz Teltow (WP1) KM58,57 7h19 = 13.19 Uhr VP11 – Königsweg KM64,75 8h11 = 14.11 Uhr VP12 – Gedenkstätte KM70,93 9h12 = 15.12 Uhr VP13 – Brauhaus Meierei KM77,77 10h07 = 16.07 Uhr VP14 – Revierförsterei Krampnitz KM83,83 11h04 = 17.04 Uhr VP15 – Schloss Sacrow (WP2) KM90,03 12h29 = 18.29 Uhr VP16 – Pagel & Friends KM97,66 13h44 = 19.44 Uhr VP17 – Wilhelmstr./Kladow KM102,50 14h35 = 20.25 Uhr VP18 – Falkenseer Chaussee KM109,08 15h46 = 21.46 Uhr VP19 – Schönwalde KM114,78 16h53 = 22.53 Uhr VP20 – Grenzturm Nied.Neuendorf KM122,31 18h30 = 0.30 Uhr VP21 – Ruderclub Oberhavel KM127,09 19h36 = 1.36 Uhr VP22 – Frohnau KM131,12 20h25 = 2.25 Uhr VP23 – Naturschutzturm KM137,90 21h51 = 3.51 Uhr VP24 – Oranienburger Chaussee KM142,65 22h58 = 4.58 Uhr VP25 – Lübars KM148,34 24h18 = 6.18 Uhr VP26 – S-Bahn Wilhelmsruh KM154,05 25h27 = 7.28 Uhr VP27 – Wollankstraße KM157,14 25h54 = 7.54 Uhr Ziel, Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark KM160,90 26h33 = 8.33 Uhr 42
Kapitel 4 Die 100 Meilen-Meditationen Um 2.40 Uhr bin ich wach. Der Tag, der jetzt seit gut einem halben Jahr die Gedanken beherrscht hatte, ist gekommen. Ich freue mich darauf, zu laufen, so viel und so lange ich kann. Das wird in jedem Fall mein längster Lauf bis heute. Mein längster Tag. In jedem Fall ein irrer Lauf, ein verrückter Lauf. Stundenlanges Laufen, wie eine ein- zige, lang andauernde Meditation, und wenn morgen die Sonne wie- der aufgeht, beginnt ein neuer Tag, und ich werde in jedem Fall eine Veränderung durchlaufen haben. Es wird ein neuer Tag sein, und ich freue mich jetzt schon darauf. Ein neuer Tag, ein neuer Mond, eine neue Sonne, ein neues Leben. Die Routine der Marathonvorbereitung, immer das gleiche, und trotzdem habe ich mir einen Merkzettel geschrieben, eine Liste gemacht. Damit ich in der Aufregung nichts vergesse. Ich mache mich fertig, erst mal duschen, zum Wachwerden, dann anziehen. Alles liegt fertig ausgebreitet auf dem Sofa. Die bewährte schwarze Lauf-Tight. Dazu mein neongelbes Mauerweg-Shirt. Die Oakley Sonnenbrille, rote Glücksbringer-Kappe, Kompressionssocken und meine Laufschuhe. Den Hüftgürtel mit den beiden Flaschen, vor einer Woche gekauft, zusammen mit der Leuchtweste für die Nacht. Beides hatte ich noch nicht, beziehungsweise war der Meinung, es könnte verbessert wer- den. Kein Lauf, bei dem nicht zumindest irgendwas Neues auspro- biert wird. Dass es gerade der Trinkgürtel ist, ist natürlich eine selten dämliche Idee, aber ist nun so. Zum Frühstück gibt es zwei Scheiben Toast mit Butter und Himbeermarmelade, dazu Kaffee, Orangensaft und eine halbe Tafel Ritter Sport Marzipan aus dem Kühlschrank. Wie immer, bei jedem Marathon. Mit den drei Wechselbeuteln auf dem Rücken laufe ich zum Taxi- stand um die Ecke. Es ist halb fünf. „Bitte zum Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark.“ Die Stadt ist noch dunkel, und außer ein paar Partygängern sind keine Menschen auf den Straßen unterwegs. Ich sage dem Taxifahrer ein paar Mal, wie er fahren soll, er brummelt etwas. „Hier links”, sage 70
ich schließlich, und lasse ihn viel zu früh abbiegen. Das war ein Fehler, er hatte recht, und ich nicht. Und weil er dann irgendwann keine Lust mehr hat, lässt er mich 500 Meter weit entfernt vom Stadion ausstei- gen. Er könne da nicht mehr näher hinfahren. Und ich muss nun ich viel weiter laufen, weil ich auf der anderen Seite des Sportplatzes stehe. Im Stadion angekommen, lege ich die Beutel für die Wechselpunkte in die Körbe. Es ist immer noch dunkel. Überall stehen Menschen herum, viele mit einem Becher Kaffee in der Hand. Die meisten sind eher vom Typ ausgemergelt, es gibt aber auch ein paar Korpulentere. Bin ich zu dick? Die ewige Frage des Langstreckenläufers. Wer ist hier dick, fragt Obelix, hier ist kein Dicker. Genau. Sag ich doch. Männer und Frauen. Bekannte und Freunde, ich begrüße die, die ich kenne, und trinke auch noch einen Kaffee, erst einmal. Die Sonne geht bald auf, über der großen Stadt. Sie interessiert das nicht, was wir hier unten treiben. Heute Abend wird sie untergehen, morgen wieder auf, und ich werde dann immer noch unterwegs sein. Wenn ich Glück habe und nicht vorzeitig aussteigen muss. Sie wird auf- und wieder untergehen, und wieder aufgehen. The sun always rises, der Startschuss zur Fiesta wird bald abgefeuert. Ich werde laufen und gehen, vom Start bis zum Ziel, ohne aufzugeben und ohne unterzuge- hen. Wenn ich Glück habe. Fotos am Start gemacht, ich bin ziemlich aufgeregt jetzt, und Angst ist auch dabei. Ich versuche am Start, mich ausschließlich auf die Dinge zu fokussieren, die ich kontrollieren kann, meine Emotionen und wie ich mich selbst verhalte. Alles andere kann ich nicht beeinflussen, also sollte es auch mich nicht beeinflussen. Im Rahmen meiner Vorbereitungen bin ich auf zwei Aussagen gesto- ßen, die mir über die Strecke helfen sollen, mich durch den Tag brin- gen. Die mich vor allem davor bewahren sollen, unterwegs aufzugeben. Der erste Satz stammt aus „Lore of Running“ von Tim Noakes, einem unvergleichlichen Buch, das auf wissenschaftlichem Niveau alle Aspekte des Laufens abdeckt. „Betrachte die Anstrengungen die- ses Rennens als wichtiger als alles andere, was du bisher in deinem Leben geleistet hast.“ Das zweite Zitat kommt von Lance Armstrong, mittlerweile tief gefallener, ehemaliger siebenfacher Tour-de-France Sieger, alle Titel wurden aberkannt und er mit einer lebenslangen Sperre belegt. In 71
seinem Buch „Jede Sekunde zählt“ schreibt er: „Wann immer man auf- geben will, sollte man sich fragen, womit man lieber leben möchte: mit dem Schmerz oder mit der Resignation.“ Damit würde ich hoffentlich über die Runden kommen, unter ande- rem natürlich. Im Zweifel, daran denken. Und nicht verzweifeln. Auf keinen Fall verzweifeln. Start, Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark KM0 0h00 = 6.00 Uhr Es gibt jetzt kein Zurück mehr, kurz vor sechs ist es, gleich geht es los, ich stehe ziemlich weit vorne, am Start ganz vorne sein, dann bin ich wenigstens auf dem Startfoto gut getroffen. Soviel Anspannung und Freude, Angst und Lust, aber es ist jetzt endlich soweit, es gibt kein Nachdenken mehr. Für einen kurzen Moment scheint es mir, als ob die Zeit stehen bliebe, als ob alle den Atem anhielten. Dann schlägt ein Kirchturm 6.00 Uhr morgens, der Startschuss knallt, es geht los. Klat- schen, Schreie, Jubelrufe, Winken, Fotoblitze, die Zeit läuft weiter, die Erde dreht sich wieder, das Rennen ist gestartet. Es fühlt sich an, wie mit voller Kraft in ein großes Feuer hinein zu laufen. Alle preschen los, sehr schnell, rennen los, wie verrückt, wie los- gelassene Rennpferde, als ginge es zu einem zehn Kilometer-Lauf. Wie immer halt. Langsam loslaufen, sage ich mir, langsam laufen. Das Leben reduziert sich für die nächsten Stunden auf Laufen, Gehen, ein- fach irgendwie Vorwärtskommen, Essen und Trinken. Und nicht auf- zugeben. Es sind gute Bedingungen, angenehme Temperaturen, trockene Straßen. Verrückt, es ist so verrückt, 100 Meilen, 161 Kilometer lie- gen vor mir. Ich versuche, so langsam, wie nur irgend möglich zu lau- fen, und bin doch immer noch zu schnell, für einen Start zu meinem ersten 100 Meilen-Lauf. „Lauft, ihr Narren”, ruft uns einer der Zuschauer hinterher. Es geht also jetzt los. Das Herz ist leicht, der Geist ist frei. Ich fühle mich leicht und stark, die Aussicht, eine schier endlose Zeit unterwegs zu sein, ist im Moment mehr ein Versprechen als eine Last. Wie am Beginn der Sommerferien oder am Freitagabend vor dem Wochen- ende. Ein endloser Spaß. Das wird sich ändern, das ist klar, aber jetzt, die ersten Schritte nach dem Startschuss, Freiheit und Glück in seiner reinsten Form. Die nächsten Stunden gehören nur mir, mir und mei- 72
nen Gedanken und dieser Strecke und einem Bauwerk, das gar nicht mehr existiert. Bremsen, bremsen und nochmals bremsen. Was hast du dir vor- genommen, wieder und wieder? Du musst immer das Gefühl haben, schneller laufen zu können. Das ist jetzt noch kein Problem. Die ersten Kilometer dienen nur dazu, warm zu werden, hinein zu kommen in den Tag. Pass gut auf dich auf. Finde deinen eigenen Rhythmus. Keine Sprünge, keine Beschleunigungen, lass die anderen einfach vorbei, es spielt keine Rolle. Laufe vorausschauend die Ideallinie, schneide jeden Meter. Laufe nicht das Tempo der Gruppe, sondern dein eige- nes. Auf keinen Fall Zwischensprints. Und vor allem, sprich so wenig wie möglich und hadere nicht mit äußeren Einflüssen, die nicht zu ändern sind. Alles betrifft hier immer auch alle. Das Wetter, der Weg, der Wind. Versuche dich zu entspannen, runterzukommen, du läufst nur gegen dich allein. Spüre bei jedem Schritt die Spannung und die Entspannung. Leicht und stark, jeder Schritt wie auf Wolken, kurze Tippelschritte, es fühlt sich so langsam an und ist doch, für den Moment, eigentlich zu schnell. In 20 Stunden werde ich mir nicht mehr vorstellen kön- nen, so schnell wie jetzt zu laufen. Egal. Der Start ist das reine Glück. Unter dem Klatschen und Rufen der Zuschauer, die gekommen sind, werden wir durch das Stadion hinaus begleitet, noch ein paar Fotos gemacht, irgendwie muss ich mir das für mich selbst erhalten, dann geht es raus in die Stadt. Dämmerung, 6.02 Uhr Samstagmorgen. Es geht Richtung Süden, wir laufen im Uhrzeigersinn, West-Berlin wird immer zu meiner Rechten sein. Zuerst geht es aus dem Mauerpark direkt in die Bernauer Straße, vorbei an der Kapelle der Versöhnung mit den Umrissen der gespreng- ten Kirche davor, über die Ackerstraße, dahinter Gedenkstätte Berli- ner Mauer, dann Gedenkstätte Bernauer Straße. Geschichte pur, auf jedem Meter, aber das ist im Augenblick doch eher Nebensache. Die Metallstäbe, die den Verlauf der Mauer symbolisieren. Ein kurzer Blick auf die Uhr, das Lauftempo ist noch schnell, viel zu schnell. Über die Ampeln und rechts hoch in die Gartenstraße, links unter den Lie- senbrücken hindurch in die Liesenstraße, hier steht gleich links oben ein schönes verwachsenes Stückchen Originalmauer. Kurz danach Friedhöfe, das große Goldkreuz in der Mitte ist ein ehemaliges Turm- 73
kreuz vom Berliner Dom. Die „Total-Tankstelle“ an der Ecke und Über- querung der Chausseestraße. Bertolt Brecht hat in dieser gewohnt, ist hier gestorben und begraben. Hinter dem Bundeswehrkrankenhaus in der Kieler Straße ein Wachturm und die Gedenkstätte Günter Lit- fin, dem ersten erschossenen Maueropfer. Ich muss jetzt erst mal runterkommen. Das ganze Adrenalin weg atmen. Die ersten Kilometer, es läuft doch eigentlich ganz gut, die Beine sind ausgeruht, der Kopf auch, die Angst vor der Strecke lasse ich im Stadion hinter mir. Ich bin froh, hier zu sein. Ein kleines Dank- gebet, dass ich es gesund bis an den Start geschafft habe, mit der Bitte, es auch gesund ans Ziel zu schaffen. Vater unser, Amen. Noch sind wir ein Pulk, noch laufen wir in Gruppen, jeder läuft mit sich selbst und trotzdem nicht allein. Witze werden an den Ampeln gerissen, hier werden die Gruppen immer wieder etwas größer, wenn langsa- mere auf schnellere auflaufen, rote Ampeln bedeuten für alle zu war- ten, bis es wieder grün wird. Disqualifikation droht bei Missachtung. Ein Marathon, 42 Kilometer, ach ja, das wäre schön, dann wäre ich um 10.30 Uhr fertig, spätestens. Ein Marathon ist ein Viertel der Strecke. Nicht darüber nachdenken. Bilder von Ärmelkanal-Durchschwim- mern, gibt es eigentlich ein richtiges Wort dafür? Beängstigend, der Gedanke, durch den kalten, grauen Ärmelkanal zu schwimmen. Dann doch lieber hier laufen. Gedanken an Alpinisten mit Eiszapfen an den großen Vollbärten, und dieser etwas irre Blick, wenn sie nach dem Gipfel wieder ins Basislager zurückkommen. Ob ich morgen auch mit einem solchen Blick in das Ziel einlaufe? Irre und nicht mehr von die- ser Welt? Die 100 Meilen liegen wie der Mount Everest vor mir. 100 Meilen sind 100 Meilen sind nur 100 Meilen. Es ist viel kürzer als der Spart- athlon, versuche ich mich zu beruhigen. Es werden viele Stunden mit mir selbst sein, es geht nur um Essen, Trinken und Laufen. Keiner stört, keiner will etwas, eine kleine Flucht aus dem Alltagsstress. Könnte ich auch im Robinson Club verbringen. Aber lieber bin ich hier. Am liebsten bin ich jetzt genau hier, am Beginn dieses verrückten Rennens, früh am Morgen, ein ganzes Wochen- ende vor mir, das nur aus Laufen besteht, den ganzen Samstag und einen mehr oder minder langen Teil des Sonntags, mit anschließen- der Erschöpfungsruhe. 74
Ein großer Tag für mich, irrelevant für die Menschheit, die davon keine Notiz nimmt. Eine große Laufrunde um das alte West-Berlin, Laufen, Essen, Trinken, eine Herausforderung, wie keine bisher, ein Ziel, wie ein gewaltiger Berg. Ein Traum von einem Tag. Ein Lauf ent- lang der Mauer, die fast komplett verschwunden und doch immer prä- sent ist. Ein paar der wirklich großen Monumente der Strecke kommen also ganz am Anfang. Nach dem Wachturm in der Kieler Straße und dem Gedenkort für Günter Litfin geht es durch den Invalidenfried- hof, dahinter das Bundesministerium für Wirtschaft. Vorbei am Medi- zinhistorischen Museum der Charité, dem Hauptbahnhof, eine Brü- cke führt über die Spree. Richtung Reichstag, das Brandenburger Tor wird komischerweise rechts liegen gelassen, statt direkt vorne vor- bei zu laufen. Wir passieren die streng bewachte britische Botschaft, hier eine Abweichung vom Mauerverlauf, es geht nicht über den Pots- damer Platz und die Niederkirchnerstraße, wo ja auch noch ein lan- ges Stück Mauer steht. Wir laufen stattdessen auf dem Weg Richtung Kreuzberg durch die Wilhelmstraße, passieren das Finanzministe- rium, dann links in die Zimmerstraße, die Topographie des Terrors lassen wir rechts liegen. Durch das Asisi „Berlin Wall“ Panorama hin- durch, eine tolle Idee der Veranstalter. Kurze Pause eingelegt, Fotos gemacht, auch das gehört dazu. Direkt danach der Checkpoint Char- lie, Ort der Panzer-Konfrontation, Oktober 1961. Ein Dritter Weltkrieg war als Option in den Planungen mit aufgenommen, bis hin zum ulti- mativen Atomkrieg. Eine falsche Entscheidung eines Einzelnen, ein Schuss, man mag es sich nicht vorstellen. Ob wir heute noch hier lau- fen würden? Ob unsere Welt, so wie wir sie kennen, überhaupt noch existieren würde? Hier jedenfalls, Ecke Zimmerstraße/Friedrichstraße, war der „Über- gang Friedrichstraße für Ausländer“, nur Ausländer und Diplomaten durften hier durch. Charlie nach der amerikanischen Militärtelegra- fensprache, Alpha war in Helmstedt, Bravo in Dreilinden, Charlie also hier. Weil der Originalwachturm nicht unter Denkmalschutz gestellt worden war, ließ ihn der neue Grundstückseigentümer im Jahr 2000 abreißen. Das Kontrollgebäude wurde ebenfalls entfernt, steht aber wenigstens heute im Alliierten Museum in Dahlem. Später wurde dann eine Nachbildung errichtet, mit Sandsäcken und verkleideten 75
Soldaten, für Touristen, die begeistert ihre Fotos schießen. Bereits am 19.10.1962 eröffnete Rainer Hildebrandt das Museum „Haus am Checkpoint Charlie“, zur Dokumentation und Erinnerung der Mauer- toten und Flüchtlinge, mit zahlreichen originalen Exponaten. Wegen seiner Aktivitäten gab es sogar Entführungsversuche durch das SED- Regime, die aber alle gescheitert sind. Viele Tote, zerstörte Existenzen. So viel Leid, dieser Mauer wegen. Auch darum geht es heute. Ein Lauf der Erinnerung sollte es werden, und darum wird jeder Mauerweglauf einem der Opfer gewidmet, mit dem Konterfei auf der Startnummer und der Finisher Medaille. In diesem Jahr ist es Peter Fechter. Am 17. August 1962 versuchte der 18jährige Bauarbeiter, der „Unter den Linden“ eingesetzt war, zusam- men mit einem Kollegen in der nahegelegenen Zimmerstraße den Fluchtversuch. Sein Kollege hatte es schon über die Mauer geschafft, als die Wachposten auf Peter Fechter schossen. Von hinten zweimal in die Lunge und einmal in den Bauch getroffen, fiel er von der bereits erklommenen Mauer zurück, nach Ost-Berlin. Es müssen furchtbare Momente gewesen sein. Bei der West-Berliner Polizei geht die erste Meldung um 14.12 Uhr ein. Aus Grenztruppen-Akten geht hervor, dass insgesamt von vier Grenzposten 35 Schüsse abgegeben wurden. Die DDR-Grenzer ließen ihn direkt an der Mauer liegen, vor Schmerzen schreiend und sahen ihm beim Sterben zu. Im Westen versammel- ten sich immer mehr Menschen, die Polizei hatte Mühe, die immer 76
zorniger werdende West-Berliner Menge zurückzuhalten. „Mörder“- Rufe im Westen, die Schmerzensschreie des Verletzten im Osten. Als wäre das nicht schon grotesk genug, warfen Ost-Berliner Grenzsolda- ten dann auch noch Tränengasgranaten über die Mauer, nach West- Berlin. Die West-Berliner Polizisten warfen sie zurück. Die Alliierten hielten sich raus, sie waren angewiesen, bei Grenzverletzungen nicht einzuschreiten. „It’s not our problem”, soll einer gesagt haben. In der Zwischenzeit verblutete Peter Fechter. Er starb ungefähr eine Stunde, nachdem er von den Kugeln getroffen wurde. „Soll man von unserer Staatsgrenze wegbleiben – dann kann man sich Blut, Tränen und Geschrei sparen”, kommentierte DDR-Chefpro- pagandist von Schnitzler die Proteste des Westens. VP1 – Mahnmal Peter Fechter KM09.02 1h00 = 7.00 Uhr Über die Charlottenstraße, dann erster VP, Kilometer 9. Ich bin genau eine Stunde unterwegs. Zu schnell für die geplante Durchschnittsge- schwindigkeit. Viel zu schnell. Wir bekommen Rosen, die wir am Fech- ter-Denkmal ablegen. Ganz schön viele Blumengestecke und Kränze, einer sogar vom Regierenden Bürgermeister von Berlin. Ein Betreuer fragt, ob er ein Foto von mir machen soll. 77
Training und Laufen Armstrong, Lance: Tour des Lebens. Bastei Lübbe, 2001 Armstrong, Lance: Jede Sekunde zählt. Goldmann Verlag, 2005 Cerruty, Percy Wells: Be fit! Or be dammed! PMA Books, 2014 Chinmoy, Sri: Sport und Meditation. The Golden Shore, 1990 Fixx, James F.: Das komplette Buch vom Laufen. Fischer Taschenbuch Verlag, 1988 Foden, John: Preparing for & Competing in your first Spartathlon. Greif, Peter: Greif – for Running Life. Verlag Greif e.K., 2013 Heinrich, Bernd: Laufen. List Taschenbuch, 2005 Herburger, Günter: Lauf und Wahn. Luchterhand Literaturanstalt, 1988 Jamison, Neal (Hg.): Running through the wall. Breakaway Books, 2008 Jurek, Scott: Eat & Run. Houghton Mifflin Harcourt, 2012 Karnazes, Dean: Ultramarathonmann. Riva Verlag, 2006 McConell, Kym & Horsley, Dave: Laufen extrem. Copress Sport, 2008 Murakami, Haruki: Wovon ich rede wenn ich vom Laufen rede. Dumont, 2008 Noakes, Tim: Lore of Running. Human Kinetics, 2002 Secunda, Brand & Allen, Mark: Fit Soul, Fit Body: 9 Keys to a healthier, happier you. BenBella Books, 2008 Shapiro, James E.: Ultramarathon. Bantam Books, 1980 Sheehan, Georg: Running & Being: The Total Experience. Rodale Books, 2013 Sonntag, Werner: Irgendwann musst du nach Biel. In: Laufende Vor- gänge. Verlag Laufen und Leben, 1996 Sonntag, Werner: Mehr als Marathon – Wege zum Ultralauf. Sport- welt Verlag, 2013 Stevens, John: The Marathon Monks of Mount Hiei. Echo Point Books & Media, 2015 198
Playlist Mauerweg – Lieder und Alben In der Reihenfolge der Nennung Lied Interpret Album Jahr Elvis Presley and the Are You Lonesome Tonight Single 1960 Jordanaires Weiße Rosen aus Athen Nana Mouskouri Single 1961 Looking for Freedom David Hasselhoff Single 1989 That’s why God Pacific Coast Highway Beach Boys 2012 made the Radio Hangover 2 – I ran Ska Rangers 2011 Soundtrack Wir Kinder vom Heroes/Helden David Bowie Bahnhof Zoo – 1979 Soundtrack She flipped Girls at our best Pleasure 1981 Such a shame Talk Talk It’s My Life 1984 It’s my Life Talk Talk It’s My Life 1984 Hey Joe Jimi Hendrix Smash Hits 1966 The End The Doors The Doors 1967 Autobahn Kraftwerk Autobahn 1974 Hotel California The Eagles Hotel California 1976 Bakerman Laid Back Bakerman 2008 Marmor, Stein und Eisen Drafi Deutscher Single 1965 bricht A New Hope – Imperial March Star Wars 1997 Soundtrack Wir Kinder vom Sense of Doubt David Bowie Bahnhof Zoo – 1979 Soundtrack Wir Kinder vom Station to Station David Bowie Bahnhof Zoo – 1979 Soundtrack Das Beste von König von Deutschland Rio Reiser 1986 Rio Reiser David Bowie Low 1977 David Bowie Lodger 1979 199
Lied Interpret Album Jahr Berlin – Du bist so wun- Berlin – derbar 2012 (feat. Henry Kaiserbase 2012 Tag&Nacht de Winter) Berliner Luft. Chansons und Berliner Luft Paul Lincke 2009 Evergreens einer Weltstadt Major Tom Peter Schilling NDW Ultra 1996 Großhirn Seed Music Monks 2003 Beach Boys Pla- 1981 Surfer Girl Beach Boys tinum Collection Es gibt kein Bier auf Mega 50 – Die Paul Kuhn 2010 Hawaii 60er Jahre Komm Jesu komm, mein The Sacred J.S. Bach 1999 Leib ist müde Cantatas DaDaDa Trio Trio 1982 Just an Illusion Imagination Single 1984 Titelmelodie Tatort Klaus Doldinger 1970 Born to Run Bruce Springsteen Born to Run 1975 Californication Red Hot Chili Peppers Californication 1999 Warm Gun The Beatles White Album 1968 Piggies The Beatles White Album 1968 Christe du Lamm Gottes J.S. Bach Epiphany Mess 1998 Der Ring der Götterdämmerung Richard Wagner 1994 Nibelungen Dark Side of the Breathe Pink Floyd 1973 Moon Lieder aus Komm süßer Tod J.S. Bach Schemellis 1992 Gesangbuch Wolfgang Amadeus Kyrie Requiem 1990 Mozart Pink Floyd The Wall 1979 200
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