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1 | 19 Büchergilde B U C H G E M E I N S C H A F T S E I T 19 2 4 CHRISTOPHER ISHERWOODS BUCHHANDLUNGSPREIS 2018: KEIN HEIMATROMAN: GLAMOURÖSES BERLIN DER MONIKA GRÜTTERS ZUR PETRA PIUKS SATIRISCHER ZWANZIGERJAHRE FÖRDERUNG DER BUCHKULTUR ROMAN TONI UND MONI
Liebe Leserin, lieber Leser, erst vor Kurzem hatte ich wieder einmal das Eine aktuelle Übersicht unserer Partnerbuch- Vergnügen, in einer unserer mehr als 90 Part- handlungen haben wir Ihnen auf den Seiten nerbuchhandlungen zu Gast zu sein. In der 144 und 145 zusammengestellt. Zürcher Altstadt wurde – nach fünf Jahren ohne Ein guter Anlass von vielen, wieder einmal in Büchergilde-Stützpunkt vor Ort – „Never Stop Ihrer Büchergilde-Buchhandlung vorbeizu- Alexander Elspas Reading“ mit einer wunderbaren Buchsoiree schauen, ist sicherlich unser neues Programm Verleger und eröffnet. mit Autorinnen und Autoren wie Lucy Fricke, Geschäftsführer Geht es Ihnen in einer Buchhandlung auch Francesca Melandri oder Robert Seethaler, das so? Für mich gibt es kaum einen anderen Ort, wir Ihnen in diesem Magazin vorstellen. Ein an dem man so unmittelbar so viel Inspirati- Buch daraus möchte ich Ihnen besonders ans on erfahren kann. Besonders, wenn das An- Herz legen: Den erstmals 1939 erschienen Ro- gebot mit Liebe ausgewählt und präsentiert man Leb wohl, Berlin von Christopher Isher- wird, wenn das Buch als Herzensangelegen- wood. Man muss diesen Roman gelesen ha- heit spürbar ist. Das macht Lust aufs Stöbern ben, wenn man verstehen will, wie es im Berlin und Entdecken. So finde ich oft Bücher, nach der Zwanzigerjahre wirklich zuging! Mit foto- denen ich gar nicht gesucht habe, die vielmehr grafischer Präzision erfasst der britisch-ameri- mich gefunden haben und ich verliebe mich kanische Autor die letzten Tage der Weimarer augenblicklich in Gestaltung, Typografie und Republik und zeichnet unvergessliche Porträts Ausstattung. der Menschen, die seinen Weg kreuzen. Chris- In den Büchergilde-Buchhandlungen finden Sie tine Nippoldts atmosphärische Illustrationen eine große Auswahl unserer Bücher und schö- fangen die freizügige, glamouröse und deka- ner Dinge zum Anfassen und Anlesen. Unsere dente Stimmung dieser Zeit grandios ein. Partnerbuchhandlungen sind inhabergeführ- Wir laden Sie ein, dieses und viele weitere te und unabhängige Läden mit Persönlichkeit, großartige Bücher in Ihrer Buchhandlung, un- Orte kultureller Begegnung, des Dialogs und ter buechergilde.de und natürlich in diesem Austauschs. Die Buchhändlerinnen und Buch Magazin zu entdecken. Erfreuen Sie sich und händler vertreten unser Anliegen vor Ort und be- Ihre Lieben mit einer guten Lektüre – denn ein raten Sie gerne individuell zu allen Fragen rund sorgsam ausgesuchtes, inhaltlich ansprechen- um Bücher und Ihre Mitgliedschaft. des und hochwertig ausgestattetes Buch ist im- Es freut mich außerordentlich, dass auch mer ein wunderbares Geschenk. 14 Büchergilde-Partner unter den mehr als Ich wünsche Ihnen frohe Festtage und ein 100 engagierten Buchhandlungen vertreten gutes neues Jahr. sind, die beim Deutschen Buchhandlungspreis durch Staatsministerin Monika Grütters ausge- zeichnet wurden. Wir haben uns mit der Kultur- Herzlich, politikerin über die Intention des Preises und die Bedeutung des Buchhandels unterhalten. Ihr Alexander Elspas Das Gespräch finden Sie auf Seite 12–14. Damit zukünftig noch mehr Mitglieder die Möglichkeit haben, ihre Büchergilde auch vor PS: Sie haben Fragen, Anregungen, Kritik? Ort zu finden, arbeiten wir daran, unser Netz an Schreiben Sie mir an elspas@buechergilde.de. Partnerbuchhandlungen stetig zu erweitern. Ich freue mich darauf.
STICHPROBE STICHPROBE Unsere Neuerscheinungen Unsere Neuerscheinungen Seite 8 Seite 8 Seite 27 Seite 30 Seite 56 Seite 58 Seite 60 Seite 62 Seite 32 Seite 34 Seite 36 Seite 38 Seite 64 Seite 77 Seite 99 Seite 100 Seite 40 Seite 42 Seite 44 Seite 46 Seite 101 Seite 102 Seite 103 Seite 107 Seite 48 Seite 50 Seite 52 Seite 54 Seite 108 Seite 108 Seite 111 Seite 125 4 5
Autorin Petra Piuk im Gespräch (S. 27) © Jürgen Sander JOURNAL NEUERSCHEINUNGEN Stichprobe unserer Neuerscheinungen 4 PETRA PIUK 27 CHRISTINA DALCHER 40 JONATHAN B. LOSOS 54 Toni und Moni oder: Vox Glücksfall Mensch Zum Schmunzeln und zum Stirne 8 Anleitung zum Heimatroman Mundtot Das Leben von vorne gedacht Dokument seiner Zeit – Der Spießer-Spiegel von George Grosz (S. 8) Runzeln Das eine ist die Wut ... – Von Nina Lorenzen Von Martin Kistner Hendrikje Hüneke über Leb wohl, Berlin Interview mit Petra Piuk von Christopher Isherwood und Von Jürgen Sander DAVID SZALAY 42 MADELEINE ALBRIGHT 56 Der Spießer-Spiegel von George Grosz Was ein Mann ist Faschismus FRANCESCA MELANDRI 30 Außen hart und innen ganz weich Verstehen, wie Faschismus entsteht Berlin der Zwanzigerjahre 11 Alle, außer mir Von Lukas Morgenstern Von Silvio Mohr-Schaaff BUCHPROGRAMM SERVICE Die Gegenwart der Vergangenheit Damit wird unsere Demokratie 12 Von Sophie Weigand HENNING MANKELL 44 GEORG M. OSWALD 58 Internationale Literatur 67 Impressum 142 verteidigt Der Sprengmeister Unsere Grundrechte Deutschsprachige Literatur 72 Vorschau auf das 2. Quartal 2019 143 Staatsministerin Prof. Monika Grütters CHRISTIAN TORKLER 32 Henning Mankell als Debütant „Die Würde des Menschen Weltlese 76 Buchhandlungen 144 zur Förderung der Buchkultur Der Platz an der Sonne Von Julia Schmitz ist unantastbar“ Lyrik 77 Register/AGB 146 Gespiegelte Verzweiflung Von Vera Lejsek Klassiker 78 Bestellung 148 Unsere neuen Buchhandlungen 15 Von Uwe Kalkowski IAN MCGUIRE 46 Krimi 82 Nordwasser WOLFGANG ENGLER / JANA HENSEL 60 Illustriertes Buch 84 An einem anderen Ort 16 ROBERT SEETHALER 34 Nackter Überlebenskampf im Wer wir sind Die Tollen Hefte 89 Eine Kurzgeschichte von Philipp Böhm Das Feld arktischen Eis Gesprächskultur zwischen Buchdeckeln Graphic Novel 90 Heimat der Toten Von Jochen Kienbaum Von Lukas Morgenstern Sachbuch 92 Anstiftung zum Nachdenken – 20 Von Frank O. Rudkoffsky Kochbuch 98 der Westend Verlag DONNA LEON 48 GUILLAUME PAOLI 62 Englischsprachige Literatur 100 Christiana Walde im Gespräch mit LUCY FRICKE 36 Heimliche Versuchung Die lange Nacht der Metamorphose Gecko Kinderseite 104 Verleger Markus J. Karsten Töchter Brunetti zwischen Moral und Gesetz Die mutierte Gesellschaft Kinderbuch 106 Vorwärtsbewegung mit Rückspiegel Von Renate Bojanowski Von Julia Schmitz Innovativ, clever und im Geist der Zeit 22 Von Marlen Heislitz DIE SCHÖNEN DINGE 112 Ausgefuxt und zugeklappt: MATTHIAS BELTZ 50 CARLO BERNASCONI / MYRIAM LANG / 64 Natalie Acksteiner über Spielspaß mit OLIVIER GUEZ 38 Parmesan und Partisan LARISSA BERTONASCO (ILL.) HÖREN UND SEHEN dem PAPPKA®-Haus Das Verschwinden des Josef Mengele Liberté, Egalité, Varieté La grande cucina vegetariana Am Stammtisch der Gauleiter Von Isabella Caldart Es lebe das Gemüse! Film 118 Die Leseförderung der Büchergilde: 24 Von Stephan Kosa Von Oliver Fründt Hörbuch 124 Die Welt des Lesens e. V. HANS MAGNUS ENZENSBERGER 52 Kinderhörbuch 126 „LeseHunde“ als ideale Lesepartner Überlebenskünstler Das illustrative Interview mit 66 Musik 128 Psychiatrien, Armut, Diktaturen Christine Nippoldt Veranstaltungen 25 Von Isabella Caldart ARTCLUB 136 Büchergilde-Reisen 26 Spielspaß für Kinder – Das PAPPKA®-Haus (S. 22) 5
ILLUSTRIERTES BUCH Christopher Isherwood / Christine Nippoldt (Ill.) Leb wohl, Berlin Zum Schmunzeln und Die 1920er-Jahre in Berlin: Ein Tanzen am Abgrund! In der Rolle eines passiven Beobachters liefert Isherwood Porträts schillernder, dekadenter, (über)lebenshung- zum Stirne Runzeln riger, aber auch abgehängter und zunehmend kraftlo- ser Charaktere, die die Widersprüchlichkeiten der deut- Mit zwei Neuerscheinungen widmet sich die Büchergilde dem Berlin schen Metropole in dieser Zeit greifbar werden lassen. der 1920er-Jahre aus dem Blick zweier präziser Beobachter. Der Maler Am Horizont droht der Nationalsozialismus, dessen Vor- George Grosz und der Schriftsteller Christopher Isherwood sind läufer sich bereits in die Leben von Isherwoods Figuren hineindrängen. Diese aber verschließen die Augen vor Chronisten einer Zeit, wie sie widersprüchlicher nicht sein könnte. der Katastrophe und feiern sich um den Verstand. nn – mw Christine Nippoldt illustriert die einzigartigen Moment- Von Hendrikje Hüneke 3. Lauf – Fotosatz Ama aufnahmen in fulminantem Stil und mit viel Gespür für die Dekade. D as Berlin der 1920er Jahre übt heute arrogante Offiziere, Prostituierte, brave Ehefrau- der mit Geld und Einfluss das Schicksal des Lan- mehr denn je eine hohe Anziehungs- en, Arbeitslose, hungernde Kinder. Er sah das des bestimmte. kraft aus. Der Start der Serie Babylon absurde Nebeneinander von Arm und Reich, von Der Engländer Christopher Isherwood, der von Berlin ist nur eines von vielen Anzeichen dieser Hunger und Völlerei, von Arbeitsqual, Arbeitslo- 1929 bis 1933 in Berlin lebte, beobachtete mit anhaltenden Faszination. Charleston, Shag und sigkeit und Vergnügungssucht. vergleichbarer Präzision. „I am a camera with its Lindy Hop sind mit dem Electroswing der Jahr- Grosz war Protagonist eines umfassenden Pa- shutter open, quite passive, recording, not thin- tausendwende und 1920er-Jahre-Remixes wie- radigmenwechsels in der Kunst. Er war Mitbe- king“, sagte Isherwood von sich selbst. Für den der en vogue geworden. Grafikdesigner stür- gründer der Dada-Bewegung und Vertreter ei- homosexuellen Schriftsteller waren die Jahre in zen sich auf Schrifttypen und Ornamente aus ner Kunst, die sich nicht mit einer vermeintlich Berlin eine wichtige Phase. Er lebte die Freihei- Jugendstil und Art déco. Mit Rhythmen, die ins glorreichen Vergangenheit, sondern mit der ten, die diese Stadt ihm bot. Er verdiente sein © Picture Alliance © Privat Blut gehen, wird in den Partylocations von Ber- Gegenwart auseinandersetzen wollte. „Jeden- Brot mit Englischunterricht und er notierte, was lin versucht, die Intensität der wilden Zwanzi- falls glaube ich“, schrieb er, „daß heute noch ein um ihn herum geschah. Leb wohl, Berlin, das AUTOR ger heraufzubeschwören, eine Intensität, die ziemlicher Haufen Mist wegzukarren ist – und erstmals 1939 unter dem englischen Titel Goo- Christopher Isherwood, 1904 in England geboren, brach sein Stu- sich aber vor allem aus der politischen und wirt- ich beteilige mich gern an dieser Arbeit.“ Mit sei- dbye to Berlin erschienen war, ist eines der Bü- dium in Cambridge und London ab und ging 1929 nach Berlin. Von schaftlichen Unsicherheit der Zeit speiste. Eine nen Bildern offenbarte der Künstler die eklatan- cher, die aus diesen Erfahrungen schöpften. Zu- 1942 bis zu seinem Tod im Jahr 1986 lebte er im kalifornischen San- ta Monica. Mit Werken wie Leb wohl, Berlin, A Single Man, Mr Norris Generation junger Menschen, die während des ten Mängel dieser hochgelobten Zivilisation, die sammen mit Mr. Norris Changes Trains war es steigt um und Praterveilchen zählt Isherwood zu den berühmtesten Krieges erwachsen werden musste, hatte sich in auf dem Rücken eines Teils der Bevölkerung ver- die Grundlage für den Film Cabaret, der unser Schriftstellern seiner Generation. das Vergnügen der Tanzlokale gestürzt – mit un- wirklicht worden war. Bild vom Berlin der 1920er- und beginnenden ILLUSTRATORIN ermesslicher Sehnsucht nach Liebe und Glück. Eine Sammlung seiner Zeichnungen ist 1925 1930er-Jahre stark geprägt hat. Christine Nippoldt, 1979 in Regensburg geboren, schrieb, Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs als Spießer-Spiegel im Carl Reißner Verlag in Der Roman Leb wohl, Berlin ist eine Folge lose illustrierte und veröffentlichte mit 18 ihr erstes Buch. Sie studierte an 1918 und der Machtübernahme der National- Dresden publiziert und dann auch bei der Bü- zusammenhängender Geschichten, in denen Is- der Bauhaus-Universität in Weimar. 2006 war sie Gründungsmitglied sozialisten 1933, beeinträchtigt durch Inflati- chergilde veröffentlicht worden. Das Buch er- herwood schillernde Charaktere porträtiert. Am der Ateliers Hafenstraße 64 in Münster. Dort veröffentlicht sie unter ihrem Künstlernamen „Lilli L’Arronge“. Ihre Bücher wurden in 20 on 1923 und Wirtschaftskrise 1929, waren die scheint nun in einer veränderten Neuauflage, berühmtesten unter ihnen ist sicher die schö- Sprachen übersetzt und sie durfte sich 2017 zu den Finalisten des 1920er-Jahre eine „Goldene“ Zeit. Geprägt wa- ergänzt durch Textpassagen aus der Autobiogra- ne, herrlich naive Sally Bowles, eine Sängerin, Kirkus-Awards in den USA zählen. ren sie vielleicht durch viel Hoffnung und einen fie des Künstlers. Die zeichnerischen Betrachtun- die von der großen Karriere und der reichen Hei- Robert Nippoldt wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Stiftung Buchkunst für das schönste kulturellen Wandel, aber auch durch politische gen und die schriftlichen Erinnerungen zeugen rat träumt und sich leicht übers Ohr hauen lässt. Buch Deutschlands. Kämpfe und wirtschaftliche Ungerechtigkeit. in gleichem Maße von seiner Beobachtungsga- Sie probt die Bühnenallüren mehr als den Ge- Der Maler und Grafiker George Grosz war einer be. Das Buch ist vor allem einem Typus gewid- sang für die Karriere, flunkert sich durchs Leben, Aus dem Englischen von Kathrin Passig und Gerhard Henschel, der Beobachter dieser Ära. Entgegen der gän- met: dem selbstgefälligen Herrn mit Hut, Knei- verlobt sich in einer wilden Nacht mit einem mit 30 Illustrationen und einer Nachbemerkung der Illustratorin, gigen Praxis in den Kunstakademien, in denen fer, Zigarre und Spazierstock. Dieser behäbige Scharlatan und muss letztlich immer von einem vierfarbig bedrucktes, seidig glänzendes Leinen, Fadenheftung, antike Skulpturen oder menschliche Modelle in Herr saß am Nachbartisch beim Kartenspiel; er Freund gerettet werden. Ein anderer ist der char- Lesebändchen, 320 Seiten, Buchgestaltung von Robert Nippoldt immer denselben Posen akribisch gezeichnet zeigte sich beim Sonntagsspaziergang mit Frau mante, eitle Otto Nowak, der mit seiner Familie € 28,— (€ 20,– Ausgabe Hoffmann und Campe) | SFR 33,50 NR 169185 wurden, ging George Grosz auf die Straße, be- und Kind; er saß an der Bar und kniff einer Dir- in einer ärmlichen Dachwohnung lebt, arbeits- obachtete und zeichnete, was ihm vor die Feder ne genüsslich in den Po. Es ist ein Typus, der für los und voll Selbstmitleid die Tage verbringt und Limitierte Vorzugsausgabe mit einem Holzschnitt von Christine Nip- kam. Grosz skizzierte, so sagte er selbst, „das Lä- George Grosz der Inbegriff des konservativ-reak- die Nächte mit Mädchen durchfeiert. poldt, signiert und nummeriert, im Schuber, Auflage: 120 Exemplare € 128,— | SFR 153,– cherliche und Groteske“ der Welt um ihn herum: tionären Bürgertums der Weimarer Republik ge- Der Ich-Erzähler Isherwood beschreibt das NR 169193 Glamour der Zwanzigerjahre: seidig glänzender Leinenumschlag Die schnellen Skizzen zeigen Kriegskrüppel, wesen zu sein scheint, der Spießer schlechthin, Zusammenleben in einer großen Berliner 8 JOURNAL JOURNAL 9
ILLUSTRIERTES BUCH George Grosz Altbauwohnung, in der jedes Zimmer einzeln Die Illustrationen von Christine Nippoldt fan- voneinander abgesetzten Illustrationen unter- Der Spießer-Spiegel untervermietet ist und die eigentliche Miete- gen die Stimmung des Textes ein. Sie schaf- stützt, sodass für den Leser die Kontraste auch rin auf dem Wohnzimmersofa hinter einem Pa- fen eine Atmosphäre, aus der man als Leser die atmosphärisch vermittelt werden. Es ist fast, als Lodenmantel oder Rauschebart auftragend, mit Filz- ravent schläft. Als er sich das Zimmer nicht mehr Musik der Zeit heraushören kann. Man wird von wäre man dort, auf der glamourösen Party mit hut stolzierend oder fettglänzend im Klubsessel sit- leisten kann, kommt er in der Dachwohnung der Sallys Charme mitgerissen, man empfindet die Champagner, auf der Sally Bowles mit Federboa zend – anklagend und erfrischend boshaft karikiert Familie seines treuen Freundes Otto unter, in Ausweglosigkeit der dunklen Hinterhöfe, man und Zigarettenspitze nach einem reichen Mann George Grosz die Spießer seiner Zeit. Grosz gilt als der die Eltern sich die zwei ohnehin illegal be- spürt die bedrückende Trivialität einer Szenerie, Ausschau hält, in der zugigen Dachwohnung, in der aufsässigste und explosivste unter den Grafikern wohnten Zimmer nun nicht nur mit ihren drei in der die Menschen in einem Café die Nachmit- der Mutter Nowak wegen ihres Hustens nächte- und Malern der 1920er-Jahre. Der Spießer-Spiegel Kindern, sondern zusätzlich mit dem Gast teilen tagssonne genießen, während über ihnen die lang wachliegt, und auf dem Gartenfest der Fa- erschien zum ersten Mal im Jahr 1925. Speziell für müssen. Gleichzeitig geht Isherwood als Lehrer Flaggen der Nationalsozialisten wehen. Es ist milie Landauer unter einem leuchtend hellen, die Büchergilde-Ausgabe des Spießer-Spiegels wur- in reichen Häusern ein und aus, so wie im Haus deutlich, dass die Entwürfe auf umfassende Bil- Hoffnung verbreitenden Mond. den Textauszüge aus Grosz Autobiografie ausgewählt der jüdischen Familie Landauer, die eine Kauf- drecherchen zurückgehen. Die holzschnittarti- Der Spießer-Spiegel mit Zeichnungen von Ge- und begleiten seine Zeichnungen. Erinnerungen und hauskette führt und den Ernst der Lage nicht be- ge Gestaltung knüpft an eine künstlerische Tech- orge Grosz und der Roman Leb wohl, Berlin von Zeichnungen treten in Dialog, ergänzen oder wider- greifen will. „Und was glauben Sie, wie es mit nik an, die vor dem Zweiten Weltkrieg noch ein Christopher Isherwood sind zwei Bücher zum sprechen sich und bieten einen ergänzenden Blick auf Deutschland weitergeht?“, fragte der Lehrer den gängiges Darstellungsmittel war. Mit dem Flair Schmunzeln und zum Stirne Runzeln, zum La- den einmaligen Künstler. Neffen der Landauers. „Gibt es einen Naziputsch der Zeit war Christine Nippoldt bereits vertraut, chen und zum Nachdenken. Mit eindrucksvollen oder eine kommunistische Revolution?“ Für die- unter anderem, weil sie mit ihrem Mann Robert Zeitdokumenten ist es der Büchergilde gelun- se Frage wird er ausgelacht und bekommt zur Nippoldt an dessen Buchprojekten über das Hol- gen, ein facettenreiches Bild der Phase zwischen Antwort: „Ich sehe, Sie sind so enthusiastisch wie lywood und das Berlin der 1920er-Jahre gear- den Weltkriegen zu zeigen, deren vergnügliche eh und je! Leider erscheint mir diese Frage nicht beitet hat. Auch in den Illustrationen zu Isher- und freiheitliche Seite heute für so viele eine Ins- so wichtig wie Ihnen ...“ Kapitel für Kapitel zeigt woods Roman zeigen sich die Widersprüche der pirationsquelle ist. sich der Prozess der Machtübernahme der Nazis Zeit. Fast jedes Kapitel widmet sich einem ande- mehr und mehr, bis das Buch in erschütternden ren Teil des Berliner Lebens. Der Charakter der Kurzbeobachtungen aus dem Jahr 1933 endet. verschiedenen Kapitel wird durch die farblich Berlin der 20er-Jahre NEU NEU Marion Rampal, Babylon Berlin – Curt Moreck Quatuor Manfred Collection (St. 1 & 2) Ein Führer durch das Bye-Bye Berlin Deutschland 2017 lasterhafte Berlin Das deutsche Babylon 1931 Es ist die Welt der Berlin, Ende der Zwanzi- Zwanzigerjahre im gerjahre: Gereon Rath, Dieser Bestseller aus Berlin des Blauen Kommissar aus Köln, dem Jahr 1931 führt Engel, zu deren Neuentdeckung Marion soll den Fall eines von den Leser mitten hi- Rampal und das Quatuor Manfred ein- der Berliner Mafia geführten Pornorings lö- nein in die pulsierende Metropole Berlin laden. Marion Rampal singt in französi- © Wikimedia Commons sen. Was auf den ersten Blick eine simple Er- auf dem Höhepunkt der „Goldenen Zwan- scher, deutscher und englischer Sprache. pressung zu sein scheint, entpuppt sich bald ziger“. Folgen Sie dem Autor bei seinen Aus- Neben Instrumentalstücken von Hanns Eis- AUTOR als Skandal, der Gereons Leben und das seiner flügen zu den Hotspots des damaligen Nacht- ler und Paul Hindemith sind die Nummern George Grosz (1893–1959) wurde in Berlin geboren und an der Dresdner Akademie und der Kunstgewerbeschule Berlin engsten Vertrauten für immer verändern wird. lebens – in sagenumwobene Varietés und Youkali, Die Moritat von Mackie Messer, Die ausgebildet. Er war als Mitbegründer der Berliner Dadagruppe Zusammen mit der Stenotypistin Charlotte Rit- Tanzpaläste, in Vergnügungsparks und Kaf- Ballade vom ertrunkenen Mädchen, oder (1918) entscheidend an der Dadabewegung beteiligt. 1932 ter und seinem Partner Bruno Wolter sieht sich feehäuser, in angesagte Bars und Schwulenk- Barbara-Song von Kurt Weill besonders be- erhielt Grosz einen Lehrauftrag in New York, und ab 1933 lebte er, in Deutschland als „entartet“ verfemt und ausgebürgert (1938), in Rath mit einem Dschungel aus Korruption, Dro- neipen, aber auch an die Orte der Prostitution rührend. Und dann die großartig rauchig ge- den USA. 1959 kehrte er nach Berlin zurück, wo er wenige Wochen gen- und Waffenhandel konfrontiert, der ihn in und des Verbrechens. Erweitere Neuausgabe hauchten Lieder The Lavender Song von Arno später starb. einen existenziellen Konflikt zwischen Loyalität des Klassikers – mit Glossar, Register und vie- Billing bzw. die Hits Falling in love again, Black und Wahrheitsfindung stürzt. len historischen Fotos. Market oder The Ruins of Berlin von Friedrich Mit 60 Zeichnungen, zahlreichen autobiografischen Texten von Holländer. Ein echtes Hörerlebnis! George Grosz und einem Vorwort von Walter Mehring, mit drei Charaktere einer Epoche in präzisem Strich FSK 12 Fester Einband mit Schutzumschlag, Sonderfarben bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, Regie: Tom Tykwer, Henk Handloegten, Achim mit 30 Abbildungen und 2 Karten, 208 Seiten Harmonia Mundi, 1 CD, 42-seitiges Booklet, ca. 63 Min. 136 Seiten von Borries; Darsteller: Volker Bruch, Matthias Brandt, € 22,— (Ausgabe bebra) | SFR 26,50 | NR 197138 € 17,— | SFR 20,50 | CD 299881 € 24,— | SFR 28,90 Hannah Herzsprung, Lars Eidinger u. a.; NR 170582 Sprache: Deutsch; 4 DVDs, 16 Episoden, 730 Min. € 40,— | SFR 48,90 | DVD 211519 10 JOURNAL JOURNAL 11
JOURNAL JOURNAL Ja, es ist immer wieder schön, wenn ich das Sie- kann das natürlich im Norden in Stralsund oder Es gibt ja doch immer wieder Versuche, z.B. gel bei meinen Spaziergängen in Berlin und im Süden in Bayreuth sein. Gerade beim Deut- die reduzierte Mehrwertsteuer zu kippen. überall in Deutschland bemerke. schen Buchhandlungspreis wie auch beim Ki- Ist das auf EU-Ebene auch ein Thema? Berlin ist ja immer die Vorzeigestadt … Am noprogrammpreis versuchen wir, dieses bun- Bestrebungen auf EU-Ebene gezielt die Mehr- Prenzlauer Berg machen ständig neue Buch- desweite Netz zu stabilisieren. Wir reden ja von wertsteuer auf Bücher zu kippen, sind mir nicht handlungen auf, und alle funktionieren sie sechseinhalbtausend Buchhandlungen und bekannt. Im Gegenteil, wir haben sogar E-Books irgendwie. wenn da 118 berücksichtigt werden, ist das im- in den Katalog der reduzierten Mehrwertsteuer Das ist nicht nur in Berlin so. Die Buchhandlung mer noch eine relativ kleine Zahl. neu aufgenommen. Das war ein jahrelanges zä- von Herrn Bittner in Köln, die den Spitzenpreis Ist der Preis nicht auch Wirtschaftsförde- hes Ringen. Die 28 Mitgliedsländer haben na- gewonnen hat und die von Frau Laaff – die, weil rung? Gibt es da Probleme von Seiten ande- türlich jeweils hohe Normal- und ermäßigte sie im letzten Jahr den Spitzenpreis gewonnen rer Wirtschaftszweige? niedrigere Steuersätze auf bestimmte Waren; hat, eine Laudatio hielt – liegen in Köln sehr Nein. Da gibt es keinen Neid. Die Größenord- dahinter steht immer auch eine gesellschafts- nah beieinander. Im Gespräch erzählten sie nungen sind dafür wohl auch zu bescheiden. politische Entscheidung. Damit man gleiche mir sehr heiter, dass sie sich gegenseitig aus- Man muss immer unterscheiden zwischen Sub- Bedingungen innerhalb der EU hat, gibt es ei- helfen, wenn ein Kunde im Laden steht und ein ventionen, also Wirtschaftsförderung, und der nen Katalog, welche Waren niedriger besteu- bestimmtes Buch will. Wenn es nicht im Regal Kulturförderung, wie beispielsweise bei den ert werden dürfen. Ob das jeweilige Land da- steht, fragen sie bei der anderen Buchhandlung Programmkinos oder jetzt bei den Buchhand- von Gebrauch macht, ist wieder seine eigene an. Statt sich also als Wettbewerber zu empfin- lungen. Das Prinzip hinter den Preisen zur Kul- Entscheidung. Aber ehe man eine neue Waren- den, empfehlen sie sich lieber gegenseitig. Es turförderung ist dasselbe: Wir müssen die gruppe aufnimmt, also etwa elektronische Pub- sind spezielle und beeindruckende Menschen, kleinen unabhängigen inhabergeführten Kul- likationen, muss man lange dafür werben. Das die solche Buchhandlungen betreiben. tureinrichtungen stabilisieren, damit sie sich ist uns hier aber jetzt gelungen. „Auch hier gilt: Sichtbarkeit herstellen, Wertschätzung erteilen, Ermutigung aus © Jürgen Sander sprechen, für den Erhalt der vielen sorgen. Das ist die bundespolitische Kulturlogik.“ Damit wird unsere Demokratie Das ist ja auch bei den Verlagen so … gegenüber den großen Ketten und Monopolis- Das Zweite, was damit zusammenhängt, ist verteidigt Ja, das ist ein Charakterzug, das ist das Selbst- ten behaupten können. Bei den Buchhandlun- die Buchpreisbindung. Sie haben ja gestern verständnis dieser „Geistesbranche“. gen kommt ja noch die starke Konkurrenz durch gesagt, dass die Buchpreisbindung vertei- Wie kommt eigentlich die Zahl der ausge- den Online-Handel dazu. Eine echte Kritik, dass digt wird. zeichneten Buchhandlungen zustande. Ist es eine systemrelevante Maßnahme ist, gibt es Ja, und zwar vehement. Als die Monopolkom- Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien über den Deutschen Buchhandlungspreis, das vor allem eine Budgetfrage? hier deshalb nicht – zumal jeder, der als Kriti- mission ohne Auftrag im Frühjahr eine Empfeh- Letztes Jahr waren es 117, dieses Jahr ker in Frage käme, weiß, wie bescheiden Buch- lung vorlegte, man könne doch wieder einmal den geplanten Deutschen Verlagspreis, die Perspektiven angesichts einer schwindenden Leserschaft 118 Buchhandlungen. Die maximale Anzahl ist händler und Buchhändlerinnen leben und dass über die Buchpreisbindung nachdenken, weil und die Herausforderungen durch rechte Akteure. in den Preisbedingungen festgelegt. So können das keine wirtschaftlichen Strukturen durchein- das ein wettbewerbsverzerrendes Element sei Wir haben die Staatsministerin am Tag nach der Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises 2018 zum Beispiel in der Kategorie 7 000 Euro bis zu ander bringt. Eine Sache muss ich noch ergän- und weil ihre Abschaffung gar keine negativen zum Frühstück getroffen. 100 Buchhandlungen ausgezeichnet werden. zen: Auch die großen Buch-Ketten haben sich Auswirkungen auf den Buchmarkt habe, war ich Wir brauchen einen Spitzenpreis, weil der die nicht beschwert, aber was wir nach dem ersten fassungslos und habe das auch öffentlich be- Berichterstattung stimuliert und es auch um Durchgang hörten, war, dass inhabergeführte kundet, weil das geradezu absurd falsch ist. Die Die Fragen stellten Silvio Mohr-Schaaff und Jürgen Sander eine öffentliche Wahrnehmung und Beachtung Buchhandlungen, die über eine Million Umsatz öffentliche Reaktion auf die Empfehlung der geht. Ein weiterer Aspekt sind auch die Unter- machen, sich zurückgesetzt fühlten, obwohl Monopolkommission war ja zum Glück auch schiede innerhalb eines Spektrums wirklich gu- und eben gerade weil sie so erfolgreich waren. eindeutig. Die Buchpreisbindung ist eines der Der Deutsche Buchhandlungspreis wurde Wertschätzung und Ermutigung und es hat den Jahr zwischen den Bewerbungen liegen muss, ter und tapferer Buchhandlungen. Zum Feld der Das konnten wir nachvollziehen, denn auch die- wichtigsten Instrumente zum Erhalt der Viel- bereits zum vierten Mal verliehen. Wie stellt schönen Nebeneffekt, dass man zu einer Art Fa- damit auch andere eine Chance haben. Die Lo- ausgezeichneten Preisträger: Wir könnten na- se großen Buchhandlungen leisten ja einen zahl kleinerer Verlage, damit auch der Vielfalt sich das aus Ihrer Sicht dar? Das ist ja ein milientreffen kommt. Das spüre ich bei diesen gik ist ja, dass wer einmal gut ist, dies auch im türlich auch 50 Preise mit jeweils 15 000 Euro wichtigen Beitrag für den Erhalt der vielfälti- des Buchmarktes. ziemlicher Erfolg? Veranstaltungen immer. folgenden Jahr bleibt. Damit wir die Spitzen- vergeben. Aber um die Vielfalt in der deutschen gen und historisch gewachsenen Buchkultur in Kürzlich hat der Börsenverein Zahlen veröf- Das war nicht nur ein „ziemlicher“, sondern Es ist auch ein Familientreffen, auch weil vie- preise in der Fläche verteilen können, haben wir Buchhandlungslandschaft zu erhalten, be- Deutschland. Deshalb haben wir entschieden, fentlicht. Danach gibt es 6,4 Millionen we- ein großer Erfolg. Ich habe den Eindruck, als le der Teilnehmer Wiederholungstäter sind. diese kleine Karenzzeit eingebaut. darf es eines flächendeckenden Ansatzes. Es ist sie mit einem Gütesiegel zu würdigen, denn niger Leser. Was kann man da tun? Viele hätte die Branche darauf gewartet. Es geht ja Wir haben schon bei der Konzeption des Preises Jetzt nach vier Jahren hat das Siegel ja auch ein zentrales Ziel der Bundeskulturpolitik, das die finanzielle Unterstützung benötigen sie we- Buchhandlungen, das haben wir gestern ge- nicht nur um Geld, sondern auch um eine bun- darauf geachtet, dass bei den Spitzenpreisen in einen Wiedererkennungswert. ganze Netz geistiger Einrichtungen zu erhal- niger als die kleinen. Da haben wir nach einem sehen, engagieren sich ja sehr stark in Lese- desweite Aufmerksamkeit, gleichzeitig um den letzten beiden Kategorien mindestens ein ten, also nicht punktuell zu agieren. Und dann Jahr nachjustiert. förderung etc. 12 JOURNAL JOURNAL 13
JOURNAL Das ist eine ganz wichtige Frage. Die Zahlen, und lebendigsten Verlagsmärkte der Welt. Hier wird auch, etwas pathetisch ausgedrückt, unsere Unser Buchhandelsnetz wird größer die der Börsenverein erhoben und veröffent- werden auch Bücher verlegt, die rein wirtschaft- Demokratie verteidigt. licht hat, muss man aber bitte sehr differenziert lich schwer zu rechtfertigen sind, aber wesent- Wenn man sieht, welche rechten Akteure Wir freuen uns, dass wir neue und engagierte Buchhandlungen gewinnen lesen. Es ist zwar die Anzahl der Buchkäufer zu- lich zur kulturellen Vielfalt im Buchmarkt beitra- sich mittlerweile auf der Buchmesse breit konnten, die das Programm der Büchergilde in Zukunft präsentieren werden. rückgegangen, nicht aber die Zahl der Buchkäu- gen. Deshalb wollen wir diese kleinen Verlage, machen, was kann da die Politik machen? fe. Diejenigen, die immer schon gelesen haben, die das ja in der Regel leisten, unterstützen. Das ist natürlich in erster Linie Sache der Mes- Ab dem 21. Januar werden wir in Freising und Passau vertreten sein Ab 14. Januar zum dritten Mal in Berlin kaufen nach wie vor und gelegentlich sogar ein Und deshalb will ich einen Verlagspreis auslo- segesellschaften. Da kann und wird sich die Po- Buch mehr. Insbesondere Menschen zwischen ben, der sich ein bisschen an dem Buchhand- litik nicht einmischen. Aber wir beobachten na- 20 und 49 Jahren kaufen und lesen allerdings lungspreis orientiert, also in der ganzen Breite türlich als Bürger mit einer gewissen Sorge, was heute deutlich weniger Bücher als noch vor ei- wirken soll. heute buchstäblich hoffähig gemacht werden nigen Jahren. Man muss sich also fragen, wie Wir haben uns auch hier das Marktsegment an- soll. Und wenn man einen Stand mieten kann, man diese Generation dazu bringt, sich wie- gesehen. Wie viele Verlage gibt es denn über- dann kann man das schlecht verbieten. Wir der mit dem Buch zu beschäftigen. Das scheint haupt? 2017 waren es in ganz Deutschland rund müssen uns alle wappnen, was den Umgang die eigentliche gesellschaftspolitische Aufga- dreitausend Verlage, darunter sind rund 2 000 mit derartigen Trends angeht. Unser aller Aufga- be zu sein. In einer zunehmend digitalisierten kleine und mittelständische Verlage mit einem be ist, sie inhaltlich zu stellen und überzeugen- Welt, die vom Tempo bestimmt ist, wird die kon- Umsatz von weniger als 3 Millionen Euro, die de eigene Angebote zu machen. templative Tätigkeit des Lesens zunehmend als wir mit dem neuen Verlagspreis des Bundes ad- Auf der Buchmesse war der Aufgang zu un- anachronistisch wahrgenommen. Und deshalb ressieren wollen. Das ist eine erkleckliche Zahl. serer Halle 4.1 einige Stunden komplett © Bücher Pustet Freising © Bücher Pustet Passau © Simone Hawlisch Wir sind dann nach der müssen wir uns alle, auch im Interesse der Ge- Auch hier gilt: Sichtbarkeit herstellen, Wertschät- Buchhandlung am Witten- gesperrt. Bücher Pustet Freising Bücher Pustet Passau Buchhandlung ocelot bergplatz und dem Buch sellschaft, darum bemühen, solche Kulturtech- zung erteilen, Ermutigung aussprechen, für den Das ist ein Kollateralschaden, der ist zu groß. Obere Hauptstraße 45 Nibelungenplatz 1 Brunnenstraße 181 laden im ver.di-Haus auch niken wieder attraktiver zu machen und da- Erhalt der vielen sorgen. Das ist die bundespo- Und die Rechten haben immer gewonnen. 85354 Freising 94032 Passau 10119 Berlin in Berlin-Mitte vertreten. für werben, dass Bücher und das Lesen wieder litische Kulturlogik. Die Kommunen und Län- Da wurde ein Herr Höcke eingeladen. Sagt mehr ins Bewusstsein rücken. Gerade auch bei der sind bei der Förderung auf ihr jeweiliges man: „Sie können hier nicht auftreten“ … jungen Eltern, die ihren Kindern wieder täglich Gebiet begrenzt. Es ist Aufgabe des Bundes, die … dann hat er die gleiche Aufmerksamkeit, wie 14 unserer Partnerbuch- etwas vorlesen sollten. gesamte Republik ins Visier zu nehmen und im wenn die Veranstaltung doch stattfindet. Gestern waren ja auch viele Verlagskolle- Schulterschluss mit den Ländern eine bundes- Wenn man abgesagt hätte, wäre der Vorwurf gen da und die Frage war: „Wo bleibt die weit wirkende Förderung der kulturellen Viel- laut geworden, das sei Zensur … Verlagsförderung?“ Richtig ist, dass die kleinen, inhabergeführten falt sicherzustellen. Und das Wichtigste dabei ist, dass die wir auch in der Politik ein Bewusstsein Es ist ein fatales Zeichen, wenn allein die Andro- hung rechtsextremistischen Drucks dazu führt, handlungen wurden mit dem Buchhandlungen ohne die kleinen, inhaberge- dafür entwickeln, wie wichtig unsere Branchen dass Kulturveranstaltungen abgesagt werden. Besonders herausragende Buchhandlungen Buchhandlungspreis 2018 ausgezeichnet – führten Verlage nicht überleben könnten und umgekehrt. Deutschland hat einen der größten sind: die kleinen Filmemacher, die kleinen Buch- handlungen, die kleinen Buchverlage – damit Es gehört zur Kunstfreiheit, Dinge zu ermög- lichen, auch wenn man sie persönlich ablehnt Buchhandlung Dombrowsky St. Kassians Platz 6 Herzlichen Glückwunsch soweit sie verfassungsrechtlich in Ordnung 93047 Regensburg sind. Selbst rechtsgerichtete Trends sind, wie Herausragende Buchhandlungen auch linksgerichtete, bis zu einem gewissen Grad von der Kunstfreiheit erfasst. Und das ist Anna Rahm mit Büchern Büchergilde Buchhandlung Literarische Buchhandlung Buchhandlung Backhaus ein so hohes Gut, auch weil uns die bittere Er- unterwegs und Galerie Ilse Wierny am Literaturhaus fahrung von zwei Diktaturen noch in den Kno- Marktstraße 43 An der Staufenmauer 9 Südliche Stadtmauerstraße 40 Steinfelder Straße 12 chen steckt, dass ich das verteidige, selbst wenn 88212 Ravensburg 60311 Frankfurt am Main 91054 Erlangen 53947 Nettersheim ich bestimmte Inhalte abstoßend finde. Aber solange sie sich im verfassungsmäßigen Rah- Buchhandlung Scheuermann Buchladen am Freiheitsplatz Heinrich Heine Buchhandlung Der andere Buchladen men bewegen, genießen sie Schutz. Hier muss Sonnenwall 45 Am Freiheitsplatz 6 Viehofer Platz 8 Dionysiusstraße 7 eine Gesellschaft auch so mutig sein, sich da- 47051 Duisburg 63450 Hanau 45127 Essen 47798 Krefeld mit auseinanderzusetzen. Ich fasse das mal so zusammen: Es darf in Deutschland nie wieder Buchhandlung Rübezahl Büchergilde Wiesbaden Buchsalon Ehrenfeld Erlesenes & Büchergilde passieren, dass eine laute Minderheit auf eine Hüttenplatz 14 Bismarckring 27 Wahlenstraße 1 Neubrunnenstraße 17 schweigende Mehrheit trifft. Und wenn diese 35683 Dillenburg 65183 Wiesbaden 50823 Köln 55116 Mainz Mehrheit bequem ist oder gelähmt, dann be- günstigt sie die falsche Richtung. Das heißt, wir müssen uns alle gegen demokratiefeindli- Undotiert mit Gütesiegel che Angriffe wehren und auf jeden einzelnen Buchhandlung v. Mackensen kommt es dabei an. Auch das ist eine nachhal- Laurentiusstraße 12 tige Lehre aus zwei Diktaturen in Deutschland. 42103 Wuppertal JOURNAL 14 JOURNAL 15
ERSTVERÖFFENTLICHUNG ERSTVERÖFFENTLICHUNG er dachte, meinen Plan durchschaut zu haben, würde seine Wachsamkeit © Alexander Ebhart, unsplash.com nachlassen und ich konnte zuschlagen. Es war unmöglich, eine ganze Pa- ckung Zigaretten zu stehlen. Die standen hinter Albert in einem Regal, das An ich nicht erreichen konnte. Aber Albert verkaufte auch einzelne Zigaretten aus einem dieser altmodischen Spender. Und dieser Spender stand direkt neben der Kasse. Also legte ich die Hefte auf die Kasse und gab mir Mühe, Albert dabei nicht in die Augen zu sehen, weil ich dachte, das sei genau die Art von Verhalten, die ihn misstrauisch werden ließ. einem Albert grunzte, schob den Comic zur Seite und hob das Pornoheft empor, um es besser begutachten zu können. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich anraunzen würde, vielleicht sogar auslachen, aber er fing an, darin herumzublättern. Währenddessen warf er mir immer wieder Blicke zu, N atürlich hatten wir davon gehört. Manuels Vater hatte eine Zeit die ich nicht deuten konnte, und unten in der Höhle begann Manuel erst anderen lang als Wachmann in dem Forschungszentrum gearbeitet, seine Schuhe und dann seine Socken auszuziehen. das flussaufwärts lag, und Manuel war immer gern bereit, uns Schließlich drehte er das Heft um und hielt mir eine aufgeschlagene Seite zu erzählen, dass Unbefugte dort keinen Zutritt hätten. Manchmal sprach vor mein Gesicht. Wieder wurde mir etwas schwindlig. Die Frau hätte von er auch montagmorgens im Flüsterton von Tieren, die entkommen waren ihrem Alter her meine Mutter sein können. Ihr Gesicht war verschmiert und jetzt im Wald unterwegs seien. Die Geschichten gehörten dazu. Wir von zerlaufener Schminke, die Augen nur halb geöffnet. Albert ließ mich waren noch jung in diesem Sommer, in diesen großen Ferien, aber wir das Bild sehr lange betrachten. Ort glaubten schon lange nicht mehr daran. Und ich hatte ohnehin ganz an- „So etwas gefällt dir also?“, fragte er. „So etwas macht dich an?“ dere Pläne. Ich starrte auf den schmutzigen Boden, mein Gesicht brannte. Alles, was ich in den großen Ferien tun wollte, war, meine erste Zigaret- „Dann eben nicht“, sagte ich so beiläufig wie möglich, und Manuel tauch- te zu rauchen und Pamela meine Hand auf den braun gebrannten Ober- te seinen Fuß in das Wasser und der kleine Carlos sagte, Manuel würde schenkel zu legen. Wenn ich die Rasen der Familien mähte oder hoch in sich sicherlich nicht trauen, in den Bereich zu gehen, wo das Wasser tiefer die Berge ging, um nachzuprüfen, ob ich bis zum Pazifik blicken konnte, wurde und man den Grund nicht mehr vollständig sehen konnte. dachte ich an meinen Plan und an nichts anderes. Und deshalb war ich „Nein, nein, nein.“ Albert wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger und nicht mit den anderen in der Höhle unten am Fluss, an jenem Tag, dem ei- schnalzte mit der Zunge. „Das interessiert mich. Wolltest du das deinen nen Tag, der vielleicht wirklich wichtig war. Freunden zeigen? Findest du das lustig? Stehst du auf ältere Frauen? Das Die Höhle unten am Fluss war über die Jahre unser Hauptquartier gewor- Als ich meinem Vater davon erzählte, meinte er nur, diese Stadt habe ja grünen Wald hinunter zum Fluss sein, ihre Taschen voll mit Süßigkeiten ist alles in Ordnung. Du kannst mir das sagen.“ den, das außer uns niemand betreten durfte. Sie war nicht sonderlich groß wohl größere Sorgen, und nahm noch einen Schluck von seinem Seko. und Softdrinks, die Köpfe voller fein ersonnener Lügengeschichten, die „Ist doch egal“, murmelte ich. „Sie müssen es mir ja nicht verkaufen.“ und das Flusswasser verwandelte den Eingangsbereich in einen Sumpf, Später dachte ich dann einmal, dass Ricardo es auch ein bisschen ver- Brust voller Erwartung. „Aber du hast gedacht, ich würde es dir verkaufen, oder? Dachtest du, ich dafür ging sie einige Meter in den Felsen hinein, wo man auf einer klei- dient hatte, weil er andauernd davon redete, dass er Maria einmal an ei- Nebensächlichkeiten wie eine Schachtel Kaugummi oder eine Dose Limo schau mir nicht an, was ich verkaufe? Glaubst du, ich verkaufe so was an nen Plattform sitzen und mit leicht zitternder Stimme darüber sprechen nem verregneten Tag nach der Schule unter den Rock gefasst hatte. Wahr- nade kamen nicht in Betracht – ich suchte schon zu lange, und außerdem Kinder? Hältst du mich für krank?“ konnte, mit welchem Mädchen man es bald einmal treiben wollte. scheinlich wollte ich deshalb unbedingt in diesen großen Ferien meinen dachte ich mir, dass kleine, unbedeutende Einkäufe eher Alberts Verdacht „Nein“, sagte ich leise, während Manuel sich nun auch seine Hose aus- Üblicherweise saßen wir dort zu viert: Ricardo, Manuel, der kleine Carlos Plan durchführen und nicht länger warten. erregen könnten. Als ich das Zeitschriftenregal erreichte, sah ich die Lö- zog, damit sie nicht nass wurde, wenn er in den tieferen Teil waten würde. und ich. Diese drei waren meine Freunde, seit wir in einer der großen Pau- Mein Problem war, dass mir Albert aus dem kleinen Supermarkt keine sung. Ich nahm mir den neuesten Batman-Comic und eine besonders Natürlich traute er sich. Er hatte keine Angst. Niemand hatte Angst. sen das Spiel erfanden, bei dem immer einer zwischen zwei Schulbänken Zigaretten verkaufen wollte, und ich war mir sicher, dass die Zigarette harte pornografische Zeitung, in der die Frauen ihre Beine weit spreizten Er starrte mich noch lange an, nicht nur wütend, nicht nur aufgebracht, entlanggehen muss, auf denen die anderen sitzen und den Auserwähl- vor Pamelas Oberschenkel kommen musste. Vor einigen Tagen hatte ich und wirklich alles zeigten. Ich warf einen kurzen Blick hinein und mir wur- auch verächtlich, wie jemand, der etwas Unappetitliches sieht. Dann ten treten dürfen, während er sich nach vorne kämpft. Ich muss damals of- ihn schon gefragt. Er lachte mich aus und sagte mir, ich solle in ein paar de etwas schwindelig. Und während ich dastand und mich noch fragte, wandte er sich endlich von mir ab, um das Pornoheft hinter sich ins Regal fenbar besonders fest zugetreten und keine Gnade gezeigt haben, denn Jahren wiederkommen und dass ich mir meine Lunge schon noch früh ob mein Plan wirklich erfolgversprechend war, mussten die anderen be- zu legen. Mit zitternden Fingern griff ich nach vorne, ließ den Zigaretten- nach der Schule warteten sie auf mich vor dem Sportplatz. Die Sonne hat- genug kaputtmachen könne. reits in der Höhle angekommen sein. Der Weg war nicht allzu weit, und spender aufschnappen und griff mir eine. te ihren Weg durch die Wolken gefunden und schien uns so auf die Ge- Also drückte ich mich in dem kleinen Laden herum und überlegte, auch wenn ich nicht wusste, wann genau sie losgelaufen waren, konnte Albert drehte sich wieder um und in diesem Moment war ich mir sicher, sichter, dass wir alle sehr ernst aussahen. Damals hatte ich Angst, sie wür- was ich kaufen sollte, um dann an der Kasse ein paar Zigaretten unbe- ich mir sicher sein, dass sie jetzt bereits den Eingang passiert hatten und dass er die ganze Zeit nur gespielt hatte und eigentlich wusste, was mein den mich vielleicht aus irgendeinem Grund verprügeln, aber sie standen merkt in meiner Tasche verschwinden zu lassen. Ich hatte nicht viel Zeit. auf der kleinen Anhöhe über dem Wasser ihre Schätze auspackten, grin- Plan gewesen war. Ich hielt die Zigarette so fest in meiner verkrampf- nur da, und Ricardo, der damals der Anführer war, sagte, ich könne mit ih- Pamela arbeitete um diese Zeit in einem der Promenadencafés, wischte send und schmutzige Witze reißend. Irgendwo in der Höhle fiel ein Trop- ten Hand, dass sie in der Mitte umknickte, aber ich traute mich nicht, die nen zusammen nach Hause laufen. die Böden und kümmerte sich um das Geschirr, aber ihre Pause rückte fen und dann noch einer. Ein heller, rhythmischer Klang erfüllte die Stille, Hand zu lockern. Denn so lange er sie noch nicht gesehen hatte, gab es Mittlerweile ist Ricardo nicht mehr der Anführer. Sein großer Bruder saß näher, und dann würde sie sich vor das Café setzen, um ihr Buch zu lesen. die keiner der drei lange aushalten konnte, weshalb einer so schnell wie noch einen kleinen Rest an Hoffnung. einmal ein paar Tage im Gefängnis, weil er einem Postboten das Bein Dann wollte ich mich neben sie setzen und die Dinge ihren Lauf nehmen möglich ein Furzgeräusch mit dem Mund in der Armbeuge nachahmte. Albert schüttelte jedoch nur den Kopf und verlangte das Geld für den Co- oder den Fuß abgefahren hatte, und Ricardo erzählte wochenlang nichts lassen. Doch zuerst musste ich die Zigarette rauchen. Vielleicht könnte ich Als das Lachen in der Höhle langsam abebbte, trug ich beide Hefte zu mic, den ich beinahe schon vergessen hatte, und Manuel watete durch anderes. Aber wir fanden dann heraus, dass sein Bruder seinen Vater heu- auch rauchend auf sie zukommen und den Zigarettenstummel schließ- Albert und legte sie vor ihm auf den Tresen, das Pornoheft unter den Co- das Wasser, das ihm mittlerweile bis zur Hüfte ging, und lachte darüber, lend aus der Untersuchungshaft angerufen hatte, weil er solche Angst lich ohne große Geste vor ihr auf dem Pflaster austreten. Diese Gedan- mic, sodass es aussah, als würde ich seine Aufmerksamkeit von einem dass seine Juwelen bei der Kälte schrumpeln würden. hatte. Wir mussten danach kein Gespräch mehr darüber führen, ob er ken gingen mir durch den Kopf, und während ich an den Regalen ent- Heft auf das andere lenken. Albert sollte denken, dass ich hergekommen Draußen auf der Straße brauchte ich eine Weile, um das Zittern meiner noch Anführer sein konnte. lang schlich, mussten Ricardo und die anderen auf dem Weg durch den war, um Pornos zu kaufen, und nicht, um Zigaretten zu stehlen. Und wenn Arme und Beine wieder unter Kontrolle zu bringen. Wolken hatten sich 16 JOURNAL Journal 17
ERSTVERÖFFENTLICHUNG ERSTVERÖFFENTLICHUNG vor die Sonne geschoben, das Licht war blasser geworden, was die ande- die Zigarette lässig auf den Boden fallen zu lassen. Da stand ich vor ihr In diesem Moment dachten Manuel und ich das Gleiche: Nicht jetzt, bitte das Wasser des Flusses sei mittlerweile nuklear verseucht wegen der ren in der Höhle nicht interessierte, denn etwas hatte ihre Aufmerksam- und sie blickte zu mir auf, und die Haut ihrer Oberschenkel glänzte, wäh- nicht jetzt, auf keinen Fall jetzt. Ich fand allerdings im nächsten Moment amerikanischen Schiffe, die Atommüll durch den Kanal transportierten. keit auf sich gezogen. Plötzlich erstarrte Carlos und sagte: „Da hat sich et- rend Manuel gegen die Panik ankämpfte, die sich in seinem Unterleib meine Hand auf Pamelas braun gebranntem Oberschenkel liegen, der Kein noch so dicker Schiffsbauch könne die Strahlung abhalten, da könne was bewegt. Da hat sich etwas im Wasser bewegt. Ganz sicher hat sich da ausbreitete, und jetzt so schnell wie möglich das Wasser verlassen woll- sich wie ein Oberschenkel anfühlte und sonst nichts. Die Haut war glatt, man nichts machen, das Wasser sei ganz sicher verseucht, sagten sie und etwas im Wasser bewegt.“ Aber Manuel lachte und sagte: „Was soll sich da te, aber im tieferen Teil nur langsam vorwärtskam. Mit aller Kraft setzte er das war schön, und Ricardo nahm einen spitzen Stein, der unweit des fluchten auf die großen Konzerne. Nun war die Landschaft voll mit miss- schon bewegt haben? Ein Fisch, oder was?“ Allerdings lag unter dem La- einen Schritt nach dem anderen. Noch vier, maximal fünf Schritte, dann Wassers gelegen hatte, und machte einen Satz nach vorne, das Gesicht gestalteten Kreaturen, die unsere Kinder angriffen. Das war schlimmer als chen etwas Neues, und deshalb lachte er gleich noch einmal hinterher, wäre er im seichten Wasser. Noch drei Schritte, maximal vier. Noch zwei vielleicht von plötzlicher Angriffslust verzerrt oder womöglich versteinert, niedrige Löhne, schlimmer als Arbeitslosigkeit und Militärstützpunkte. und wie gern wäre ich jetzt nach Hause gegangen oder vielleicht auch zu Schritte, maximal drei. Noch ein Schritt. Und dann. Und dann. ernst, weil er wusste, dass es notwendig war, jetzt zu tun, was er dann tat. Wenn die eigenen Kinder nicht mehr unten am Fluss spielen konnten. den anderen runter an den Fluss, weil ich ja nichts darüber wusste, was Fahrig deutete ich auf einen der Stühle und zog ihn, ohne auf ihre Ant- Pamela nahm meine Hand und schob sie fort von sich, nicht grob, nicht Und natürlich gab es auch Spekulationen über unbekannte Arten, verges- dort unten geschah, doch ich zwang mich, an den letzten Tag der Ferien zu wort zu warten, neben ihren. Ich musste neben ihr sitzen, dachte ich mir. hektisch, sondern ganz ruhig. Dann stand sie auf, band sich das Haar zu sene oder nie entdeckte Wesen aus den Tiefen des Regenwalds. Vielleicht denken und die traurige Bilanz, die ich dann zu ziehen hätte: dass ich ein Sie sah mich fragend an, doch alle Sätze, die ich mir vorher zurechtgelegt einem Pferdeschwanz und sagte: „Du bist eigentlich ganz nett. Aber wenn war die Kreatur die letzte ihrer Art gewesen und ihr Tod eine Tragödie. Viel- Kind geblieben war. hatte, waren hinter einer Wolke des Schwindels verschwunden. du das noch einmal machst, werde ich dir wehtun.“ leicht war sie eigentlich friedlich gewesen und habe sich nur bedroht ge- Ich ging zu den Promenaden, nicht zu langsam, aber auch nicht zu Jemand anderes sprach für mich. Und ich blieb sitzen. Ich weiß nicht, wie lang ich noch dort saß, mit dem fühlt. Streit brach aus zwischen denen, die von der Gefährlichkeit der Kre- schnell. Ich musste meinen Körper und meinen Atem beruhigen, ehe ich „Was liest du da?“ schalen Geschmack der Zigarette im Mund, unfähig aufzustehen, weil ich atur überzeugt waren, und jenen, die sie als Opfer sehen wollten. Pamela entgegentrat. Ich spürte den Schweiß im Nacken. Die Zigarette Sie nahm ihr Buch in die Hand und blätterte etwas darin herum, als wäre auch überhaupt nicht wusste, wohin ich überhaupt noch gehen konnte. Ich hörte mir jede Meinung an. Auch mein Vater hatte eine. Er gab sich als hielt ich immer noch in meiner Hand verschlossen, wie einen Schatz, den das eine akzeptable erste Frage: „Es ist ein Buch über den Krieg. Ein Deut- Vielleicht müsste ich die Stadt verlassen, vielleicht sogar das Land, über Stimme der Vernunft und sagte, für ihn sehe die Kreatur aus wie ein Faul- mir jemand wegnehmen würde, wenn ich ihn offen zeigte. Ich öffnete die scher hat es vor sehr langer Zeit geschrieben. Es ist sehr seltsam. Alle ma- den Ozean in die Vereinigten Staaten oder ein anderes Land jenseits des tier, dem die Haare ausgefallen seien. Als ich erwiderte, dass Faultiere nor- Finger und hielt meine Beute zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Zi- chen sich bereit, um aus den Schützengräben zu stürmen, und der Erzäh- Pazifiks. Jedenfalls saß ich lange genug, um die schreiende Menge zu se- malerweise keine Menschen angriffen, zuckte er nur mit den Schultern garette war geknickt, aber nicht gerissen. Ich würde sie noch rauchen kön- ler sagt immer wieder: ‚Jetzt zieht der Leutnant seinen Mantel aus.‘ Es ist hen, die sich durch die Gassen der Stadt drängte, mit Ricardo, Manuel und und sagte: „Wer weiß, was diese Idioten da unten gemacht haben.“ nen, ich stellte mir trotzdem die Frage, wann ich sie anzünden müsste, wirklich seltsam.“ dem kleinen Carlos irgendwo in ihrer Mitte, und der Geschichte auf ihren Ricardo traf ich erst ein paar Tage später wieder. Ich hatte mich weitestge- sodass Pamela noch sah, dass ich rauchte, jedoch nicht, wie ich sie anzün- Sie hielt kurz inne, als warte sie auf einen Kommentar, aber das Schwin- Lippen, dass Ricardo in einer Höhle unten am Fluss eine Kreatur mit ei- hend aus der Stadt ferngehalten, war nicht noch einmal zu den Promena- dete, weil mir das misslingen konnte. delgefühl ließ nur langsam nach, also nickte der Junge nur, der ihr nem Stein erschlagen hatte. Das waren ihre Worte: eine Kreatur. den gegangen, und in Alberts kleinen Supermarkt würde ich nie wieder in Ich entschied mich, in sicherer Entfernung zu ihrem Café die Zigarette an- gegenübersaß. Später erzählten viele, sein T-Shirt sei blutbeschmiert gewesen, blutbe- meinem Leben einen Fuß setzen. Ricardo kam zu mir nach Hause, und nach- zuzünden. Das Anzünden gelang mir erstaunlich gut, gleich beim ersten „Alle lachen und sie stürmen“, sagte sie. „Aber einer bleibt liegen, weil er schmiert auch seine Hände und sein Gesicht. Das stimmte natürlich nicht. dem er sehr lange geschwiegen hatte, erzählte er mir mit zahlreichen Un- Versuch glühte die Zigarette, doch dann nahm ich den ersten Zug, und von einer Kugel getroffen wurde. Er klammert sich an das Bein des Leut- Ich sah ihn an diesem Tag in den großen Ferien, in denen ich endlich kein terbrechungen, was in der Höhle am Fluss tatsächlich geschehen war. Als er Ricardo sagte jetzt auch: „Doch. Da ist etwas. Da ist etwas Großes da vor- nants und sagt immer wieder: ‚Nicht allein lassen.‘ Als ich das gelesen Junge mehr sein wollte. An diesem Tag, der vielleicht wirklich wichtig war. seine Geschichte beendet hatte, saßen wir eine Weile schweigend im Son- ne im Wasser.“ Und Carlos, der seine Füße ebenfalls ins Wasser gehalten habe, dachte ich, ich müsste weinen, weil es so traurig ist, aber ich habe Da war kein Blut, oder wenn da Blut war, dann war es so wenig, dass es nenlicht, das uns so auf die Gesichter schien, dass wir sehr ernst aussahen. hatte, krabbelte hektisch von der Felskante fort, wobei er sich an einem nicht geweint.“ kaum auffiel. Schließlich sagte Ricardo: „Weißt du, woran ich immer denken muss? Als spitzen Stein die Handfläche aufschnitt. Und Manuel erstarrte und hob „Ich weine nie bei Büchern. Auch nicht bei Filmen“, sagte jemand und Später fiel es allen schwer, zu beschreiben, wie die Kreatur tatsächlich aus- ich es mit dem Stein traf, gab es so ein Geräusch von sich. Es schrie nicht langsam die Arme. Er traute sich nicht, sich umzudrehen und auf den bereute es sofort. Ihm wollte einfach nichts Geistreiches einfallen, also gesehen hatte. Haarlos war sie gewesen, darauf konnten sich alle einigen. wirklich, es keuchte eher. Und das klang irgendwie so wie die Jungs, die Punkt zu blicken, den die anderen anstarrten. Er wusste nicht, ob er bes- redete er weiter. „Aber ich kann mir vorstellen, dass andere es tun.“ Auf allen vieren war sie gegangen, sie hatte Krallen und einen seltsam wir in den Pausen damals getreten haben. Eigentlich kann das nicht sein, ser stillstehen oder so schnell wie möglich das Wasser verlassen sollte. Sie schwieg und wartete wieder darauf, dass der Junge noch etwas platten Kopf, wie eingedrückt. Vielleicht war das der Grund für all die Spe- aber es klang ganz genauso. Ich versuche, an andere Sachen zu denken, Er wusste überhaupt nichts. sagen würde, doch dieser schwieg, suchte vielleicht nach einem passen- kulationen über den Ursprung des Wesens, die in den folgenden Tagen, aber ich denke immer nur daran.“ Ein überwältigendes Schwindelgefühl breitete sich sofort in meinem Kör- den nächsten Satz, nach einer geistreichen Antwort, nur war da nichts. Wochen und Monaten geäußert wurden. Die einen waren sich vollkom- Während er das sagte, warf er mir immer wieder kurze Blicke zu. Auch per aus, so stark, dass ich Angst hatte, mich hier auf den Promenaden zu „Ich habe dich vor ein paar Tagen auch mit einem Buch gesehen“, sagte men sicher, dass es sich um ein fehlgeschlagenes Experiment handeln wenn Ricardo nicht kleiner war als ich, kam es mir so vor, als würde er mich übergeben. Der Plan hatte einen großen Fehler. Die Wolken flackerten vor sie endlich. „Wovon handelte es?“ musste, das aus dem Forschungszentrum entkommen war. Sie stellten von unten ansehen. Ich kann nicht erklären, warum das so war, aber et- der Sonne, sie schwankten, als wären sie an Schnüren aufgehängt, und „Es geht auch um den Krieg“, sagte der Junge, „aber in einer anderen sich jeden Montag mit Schildern an die Straße, die hinauf zu dem Gebäu- was an diesen Blicken sagte mir, dass wir jetzt an einem anderen Ort an- die Promenade streckte sich vor mir wie eine endlose Autobahn. Ich blieb Welt. Sie ist wie das Mittelalter. Es ist sehr brutal. Das finde ich gut.“ de führte, auf denen Parolen gegen die Versündigung des Menschen an gekommen waren. Ich musste an die Bilder aus dem Pornoheft denken, stehen und starrte wie ein Kurzsichtiger geradeaus, und Manuel hat- „Warum?“ Gottes Natur standen. Vier aufeinanderfolgende Montage standen sie die mir Albert gezeigt hatte, dabei wollte ich das überhaupt nicht. Ich ver te sich noch immer nicht bewegt, nur sein Gesicht veränderte sich. Sein Er sprach weiter. Seine Stimme war rau, und jedes Wort klang, als käme dort, dann verloren sie das Interesse an Gottes Natur. Andere behaupteten, suchte, an andere Sachen zu denken, aber ich dachte nur daran. Mund wurde breiter, die Augen öffneten sich weiter und weiter, und er es von ganz tief unten: „Weil es wie das Leben ist, verstehst du? Entweder begann zu stammeln: „Scheiße. Scheiße. Scheiße. Was ist da? Wie groß man nimmt sich, was man will, oder andere tun es. So war es immer, und ist es?“ Aber Carlos schüttelte nur immer wieder den Kopf und sagte: „Ich ich glaube, so wird es immer sein. Ich glaube nicht an den Frieden.“ weiß es nicht. Keine Ahnung. Nicht so groß wie ein Mensch, aber auch Ich hätte ihm gerne sagen wollen, dass er nicht weitersprechen soll, doch nicht klein, und es ist jetzt irgendwo im Wasser.“ Ich starrte immer noch er sprach einfach weiter, während ein anderer Junge zum ersten Mal auf- AUTOR auf die Tischgruppe, die unscharf vor mir lag. Da saß sie an einem der klei- schrie, weil er meinte, etwas im Wasser hätte ihn an der Wade berührt. Philipp Böhm wurde 1988 in Ludwigshafen geboren und studierte in Jena und nen Tische und hatte ihr Buch gerade abgelegt. Sie sah mich. Sie beobach- Und als es ihn dann wirklich, tatsächlich, wahrhaftig am Knöchel packte, Bremen. Er veröffentlichte Kurzprosa in Zeitschriften und Büchern (zuletzt in der tete mich. Es gab kein Zurück mehr. Ich riss meinen Mund auf, gierig nach als sich etwas um den Knöchel legte, das sich wie eine Kralle anfühlte, je- Anthologie Vom Warten, herausgegeben von Stefan Geyer). 2014 erhielt er das frischer Luft, nach etwas, das die Übelkeit aus meinem Körper vertreiben denfalls hart und scharf, da kam kein zweiter Schrei. Nur sein Gesicht kün- Bremer Autorenstipendium. 2016 war er Finalist des 24. open mike. Er ist Teil der würde. Die Zigarette konnte ich jetzt nicht wegwerfen. Sie musste gese- dete von dem Schrei, der da hätte kommen sollen, nicht kommen wollte. Redaktion des Literatur- und Kulturmagazins metamorphosen und arbeitet für © Sonja Szillinsky hen haben, dass ich erst einen Zug genommen hatte. Also nahm ich has- Manuel war erstarrt, während der Junge, der für mich sprach, seinen Stuhl das Literaturhaus Lettrétage in Berlin. Sein Debütroman Schellenmann erscheint tig drei Züge hintereinander und meinte danach, das Bewusstsein zu ver- noch einmal näher an Pamelas Stuhl rückte. 2019 im Verbrecher Verlag. lieren. Ich schaffte es dennoch bis zu ihrem Tisch, und es gelang mir sogar, Und sie fragte: „Und was würdest du dir nehmen?“ 18 JOURNAL Journal 19
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