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    Büchergilde
     B U C H G E M E I N S C H A F T S E I T 19 2 4

CHRISTOPHER ISHERWOODS         BUCHHANDLUNGSPREIS 2018:   KEIN HEIMATROMAN:
GLAMOURÖSES BERLIN DER         MONIKA GRÜTTERS ZUR        PETRA PIUKS SATIRISCHER
ZWANZIGERJAHRE                 FÖRDERUNG DER BUCHKULTUR   ROMAN TONI UND MONI
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Liebe Leserin,
                     lieber Leser,
                     erst vor Kurzem hatte ich wieder einmal das        Eine aktuelle Übersicht unserer Partnerbuch-
                     Vergnügen, in einer unserer mehr als 90 Part-      handlungen haben wir Ihnen auf den Seiten
                     nerbuchhandlungen zu Gast zu sein. In der          144 und 145 zusammengestellt.
                     Zürcher Altstadt wurde – nach fünf Jahren ohne     Ein guter Anlass von vielen, wieder einmal in
                     Büchergilde-Stützpunkt vor Ort – „Never Stop       Ihrer Büchergilde-Buchhandlung vorbeizu-
Alexander Elspas     Reading“ mit einer wunderbaren Buchsoiree          schauen, ist sicherlich unser neues Programm
     Verleger und    eröffnet.                                          mit Autorinnen und Autoren wie Lucy Fricke,
   Geschäftsführer   Geht es Ihnen in einer Buchhandlung auch           Francesca Melandri oder Robert Seethaler, das
                     so? Für mich gibt es kaum einen anderen Ort,       wir Ihnen in diesem Magazin vorstellen. Ein
                     an dem man so unmittelbar so viel Inspirati-       Buch daraus möchte ich Ihnen besonders ans
                     on erfahren kann. Besonders, wenn das An-          Herz legen: Den erstmals 1939 erschienen Ro-
                     gebot mit Liebe ausgewählt und präsentiert         man Leb wohl, Berlin von Christopher Isher-
                     wird, wenn das Buch als Herzensangelegen-          wood. Man muss diesen Roman gelesen ha-
                     heit spürbar ist. Das macht Lust aufs Stöbern      ben, wenn man verstehen will, wie es im Berlin
                     und Entdecken. So finde ich oft Bücher, nach       der Zwanzigerjahre wirklich zuging! Mit foto-
                     denen ich gar nicht gesucht habe, die vielmehr     grafischer Präzision erfasst der britisch-ameri-
                     mich gefunden haben und ich verliebe mich          kanische Autor die letzten Tage der Weimarer
                     augenblicklich in Gestaltung, Typografie und       Republik und zeichnet unvergessliche Porträts
                     Ausstattung.                                       der Menschen, die seinen Weg kreuzen. Chris-
                     In den Büchergilde-Buchhandlungen finden Sie       tine Nippoldts atmosphärische Illustrationen
                     eine große Auswahl unserer Bücher und schö-        fangen die freizügige, glamouröse und deka-
                     ner Dinge zum Anfassen und Anlesen. Unsere         dente Stimmung dieser Zeit grandios ein.
                     Partnerbuchhandlungen sind inhabergeführ-          Wir laden Sie ein, dieses und viele weitere
                     te und unabhängige Läden mit Persönlichkeit,       großartige Bücher in Ihrer Buchhandlung, un-
                     Orte kultureller Begegnung, des Dialogs und        ter buechergilde.de und natürlich in diesem
                     Austauschs. Die Buchhändlerinnen und Buch­         Magazin zu entdecken. Erfreuen Sie sich und
                     händler vertreten unser Anliegen vor Ort und be-   Ihre Lieben mit einer guten Lektüre – denn ein
                     raten Sie gerne individuell zu allen Fragen rund   sorgsam ausgesuchtes, inhaltlich ansprechen-
                     um Bücher und Ihre Mitgliedschaft.                 des und hochwertig ausgestattetes Buch ist im-
                     Es freut mich außerordentlich, dass auch           mer ein wunderbares Geschenk.
                     14 Bücher­gilde-Partner unter den mehr als         Ich wünsche Ihnen frohe Festtage und ein
                     100 engagierten Buchhandlungen vertreten           gutes neues Jahr.
                     sind, die beim Deutschen Buchhandlungspreis
                     durch Staatsministerin Monika Grütters ausge-
                     zeichnet wurden. Wir haben uns mit der Kultur-     Herzlich,
                     politikerin über die Intention des Preises und
                     die Bedeutung des Buchhandels unterhalten.         Ihr Alexander Elspas
                     Das Gespräch finden Sie auf Seite 12–14.
                     Damit zukünftig noch mehr Mitglieder die
                     Möglichkeit haben, ihre Büchergilde auch vor       PS: Sie haben Fragen, Anregungen, Kritik?
                     Ort zu finden, arbeiten wir daran, unser Netz an   Schreiben Sie mir an elspas@buechergilde.de.
                     Partnerbuchhandlungen stetig zu erweitern.         Ich freue mich darauf.
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STICHPROBE                                                   STICHPROBE

                Unsere Neuerscheinungen                                        Unsere Neuerscheinungen

    Seite 8    Seite 8                 Seite 27   Seite 30   Seite 56    Seite 58                   Seite 60    Seite 62

    Seite 32   Seite 34                Seite 36   Seite 38   Seite 64    Seite 77                   Seite 99    Seite 100

    Seite 40   Seite 42                Seite 44   Seite 46   Seite 101   Seite 102                  Seite 103   Seite 107

    Seite 48   Seite 50                Seite 52   Seite 54   Seite 108   Seite 108                  Seite 111   Seite 125

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Autorin Petra Piuk im Gespräch (S. 27) © Jürgen Sander

JOURNAL                                                       NEUERSCHEINUNGEN
Stichprobe unserer Neuerscheinungen                       4   PETRA PIUK                           27   CHRISTINA DALCHER                    40   JONATHAN B. LOSOS                      54
                                                              Toni und Moni oder:                       Vox                                       Glücksfall Mensch
Zum Schmunzeln und zum Stirne                             8   Anleitung zum Heimatroman                 Mundtot                                   Das Leben von vorne gedacht                 Dokument seiner Zeit – Der Spießer-Spiegel von George Grosz (S. 8)
Runzeln                                                       Das eine ist die Wut ... –                Von Nina Lorenzen                         Von Martin Kistner
Hendrikje Hüneke über Leb wohl, Berlin                        Interview mit Petra Piuk
von Christopher Isherwood und                                 Von Jürgen Sander                         DAVID SZALAY                         42   MADELEINE ALBRIGHT                     56
Der Spießer-Spiegel von George Grosz                                                                    Was ein Mann ist                          Faschismus
                                                              FRANCESCA MELANDRI                   30   Außen hart und innen ganz weich           Verstehen, wie Faschismus entsteht
Berlin der Zwanzigerjahre                                11   Alle, außer mir                           Von Lukas Morgenstern                     Von Silvio Mohr-Schaaff                     BUCHPROGRAMM                                                  SERVICE
                                                              Die Gegenwart der Vergangenheit
Damit wird unsere Demokratie                             12   Von Sophie Weigand                        HENNING MANKELL                      44   GEORG M. OSWALD                        58   Internationale Literatur                             67       Impressum                          142
verteidigt                                                                                              Der Sprengmeister                         Unsere Grundrechte                          Deutschsprachige Literatur                           72       Vorschau auf das 2. Quartal 2019   143
Staatsministerin Prof. Monika Grütters                        CHRISTIAN TORKLER                    32   Henning Mankell als Debütant              „Die Würde des Menschen                     Weltlese                                             76       Buchhandlungen                     144
zur Förderung der Buchkultur                                  Der Platz an der Sonne                    Von Julia Schmitz                         ist unantastbar“                            Lyrik                                                77       Register/AGB                       146
                                                              Gespiegelte Verzweiflung                                                            Von Vera Lejsek                             Klassiker                                            78       Bestellung                         148
Unsere neuen Buchhandlungen                              15   Von Uwe Kalkowski                         IAN MCGUIRE                          46                                               Krimi                                                82
                                                                                                        Nordwasser                                WOLFGANG ENGLER / JANA HENSEL          60   Illustriertes Buch                                   84
An einem anderen Ort                                     16   ROBERT SEETHALER                     34   Nackter Überlebenskampf im                Wer wir sind                                Die Tollen Hefte                                     89
Eine Kurzgeschichte von Philipp Böhm                          Das Feld                                  arktischen Eis                            Gesprächskultur zwischen Buchdeckeln        Graphic Novel                                        90
                                                              Heimat der Toten                          Von Jochen Kienbaum                       Von Lukas Morgenstern                       Sachbuch                                             92
Anstiftung zum Nachdenken –                              20   Von Frank O. Rudkoffsky                                                                                                         Kochbuch                                             98
der Westend Verlag                                                                                      DONNA LEON                           48   GUILLAUME PAOLI                        62   Englischsprachige Literatur                         100
Christiana Walde im Gespräch mit                              LUCY FRICKE                          36   Heimliche Versuchung                      Die lange Nacht der Metamorphose            Gecko Kinderseite                                   104
Verleger Markus J. Karsten                                    Töchter                                   Brunetti zwischen Moral und Gesetz        Die mutierte Gesellschaft                   Kinderbuch                                          106
                                                              Vorwärtsbewegung mit Rückspiegel          Von Renate Bojanowski                     Von Julia Schmitz
Innovativ, clever und im Geist der Zeit                  22   Von Marlen Heislitz                                                                                                             DIE SCHÖNEN DINGE                                   112
Ausgefuxt und zugeklappt:                                                                               MATTHIAS BELTZ                       50   CARLO BERNASCONI / MYRIAM LANG /       64
Natalie Acksteiner über Spielspaß mit                         OLIVIER GUEZ                         38   Parmesan und Partisan                     LARISSA BERTONASCO (ILL.)                   HÖREN UND SEHEN
dem PAPPKA®-Haus                                              Das Verschwinden des Josef Mengele        Liberté, Egalité, Varieté                 La grande cucina vegetariana
                                                              Am Stammtisch der Gauleiter               Von Isabella Caldart                      Es lebe das Gemüse!                         Film                                                118
Die Leseförderung der Büchergilde:                       24   Von Stephan Kosa                                                                    Von Oliver Fründt                           Hörbuch                                             124
Die Welt des Lesens e. V.                                                                               HANS MAGNUS ENZENSBERGER             52                                               Kinderhörbuch                                       126
„LeseHunde“ als ideale Lesepartner                                                                      Überlebenskünstler                        Das illustrative Interview mit         66   Musik                                               128
                                                                                                        Psychiatrien, Armut, Diktaturen           Christine Nippoldt
Veranstaltungen                                          25                                             Von Isabella Caldart                                                                  ARTCLUB                                             136
Büchergilde-Reisen                                       26

                                                                                                                                                                                                                                  Spielspaß für Kinder –
                                                                                                                                                                                                                              Das PAPPKA®-Haus (S. 22)

5
Büchergilde - Büchergilde
ILLUSTRIERTES BUCH

Christopher Isherwood /
Christine Nippoldt (Ill.)
Leb wohl, Berlin                                                                                                                           Zum Schmunzeln und
Die 1920er-Jahre in Berlin: Ein Tanzen am Abgrund! In
der Rolle eines passiven Beobachters liefert Isherwood
Porträts schillernder, dekadenter, (über)lebenshung-
                                                                                                                                           zum Stirne Runzeln
riger, aber auch abgehängter und zunehmend kraftlo-
ser Charaktere, die die Widersprüchlichkeiten der deut-                                                                                    Mit zwei Neuerscheinungen widmet sich die Büchergilde dem Berlin
schen Metropole in dieser Zeit greifbar werden lassen.                                                                                     der 1920er-Jahre aus dem Blick zweier präziser Beobachter. Der Maler
Am Horizont droht der Nationalsozialismus, dessen Vor-
                                                                                                                                           George Grosz und der Schriftsteller Christopher Isherwood sind
läufer sich bereits in die Leben von Isherwoods Figuren
hineindrängen. Diese aber verschließen die Augen vor                                                                                       Chronisten einer Zeit, wie sie widersprüchlicher nicht sein könnte.
der Katastrophe und feiern sich um den Verstand.

                                                                                                                                                                                                                                                          nn – mw
Christine Nippoldt illustriert die einzigartigen Moment-                                                                                   Von Hendrikje Hüneke

                                                                                                                                                                                                                                                   3. Lauf – Fotosatz Ama
aufnahmen in fulminantem Stil und mit viel Gespür für
die Dekade.

                                                                                                                                           D
                                                                                                                                                       as Berlin der 1920er Jahre übt heute      arrogante Offiziere, Prostituierte, brave Ehefrau-                         der mit Geld und Einfluss das Schicksal des Lan-
                                                                                                                                                       mehr denn je eine hohe Anziehungs-        en, Arbeitslose, hungernde Kinder. Er sah das                              des bestimmte.
                                                                                                                                                       kraft aus. Der Start der Serie Babylon    absurde Nebeneinander von Arm und Reich, von                               Der Engländer Christopher Isherwood, der von
                                                                                                                                           Berlin ist nur eines von vielen Anzeichen dieser      Hunger und Völlerei, von Arbeitsqual, Arbeitslo-                           1929 bis 1933 in Berlin lebte, beobachtete mit
                                                                                                                                           anhaltenden Faszination. Charleston, Shag und         sigkeit und Vergnügungssucht.                                              vergleichbarer Präzision. „I am a camera with its
                                                                                                                                           Lindy Hop sind mit dem Electroswing der Jahr-         Grosz war Protagonist eines umfassenden Pa-                                shutter open, quite passive, recording, not thin-
                                                                                                                                           tausendwende und 1920er-Jahre-Remixes wie-            radigmenwechsels in der Kunst. Er war Mitbe-                               king“, sagte Isherwood von sich selbst. Für den
                                                                                                                                           der en vogue geworden. Grafikdesigner stür-           gründer der Dada-Bewegung und Vertreter ei-                                homosexuellen Schriftsteller waren die Jahre in
                                                                                                                                           zen sich auf Schrifttypen und Ornamente aus           ner Kunst, die sich nicht mit einer vermeintlich                           Berlin eine wichtige Phase. Er lebte die Freihei-
                                                                                                                                           Jugendstil und Art déco. Mit Rhythmen, die ins        glorreichen Vergangenheit, sondern mit der                                 ten, die diese Stadt ihm bot. Er verdiente sein
© Picture Alliance                © Privat                                                                                                 Blut gehen, wird in den Partylocations von Ber-       Gegenwart auseinandersetzen wollte. „Jeden-                                Brot mit Englischunterricht und er notierte, was
                                                                                                                                           lin versucht, die Intensität der wilden Zwanzi-       falls glaube ich“, schrieb er, „daß heute noch ein                         um ihn herum geschah. Leb wohl, Berlin, das
AUTOR                                                                                                                                      ger heraufzubeschwören, eine Intensität, die          ziemlicher Haufen Mist wegzukarren ist – und                               erstmals 1939 unter dem englischen Titel Goo-
Christopher Isherwood, 1904 in England geboren, brach sein Stu-                                                                            sich aber vor allem aus der politischen und wirt-     ich beteilige mich gern an dieser Arbeit.“ Mit sei-                        dbye to Berlin erschienen war, ist eines der Bü-
dium in Cambridge und London ab und ging 1929 nach Berlin. Von
                                                                                                                                           schaftlichen Unsicherheit der Zeit speiste. Eine      nen Bildern offenbarte der Künstler die eklatan-                           cher, die aus diesen Erfahrungen schöpften. Zu-
1942 bis zu seinem Tod im Jahr 1986 lebte er im kalifornischen San-
ta Monica. Mit Werken wie Leb wohl, Berlin, A Single Man, Mr Norris                                                                        Generation junger Menschen, die während des           ten Mängel dieser hochgelobten Zivilisation, die                           sammen mit Mr. Norris Changes Trains war es
steigt um und Praterveilchen zählt Isherwood zu den berühmtesten                                                                           Krieges erwachsen werden musste, hatte sich in        auf dem Rücken eines Teils der Bevölkerung ver-                            die Grundlage für den Film Cabaret, der unser
Schriftstellern seiner Generation.                                                                                                         das Vergnügen der Tanzlokale gestürzt – mit un-       wirklicht worden war.                                                      Bild vom Berlin der 1920er- und beginnenden
ILLUSTRATORIN
                                                                                                                                           ermesslicher Sehnsucht nach Liebe und Glück.          Eine Sammlung seiner Zeichnungen ist 1925                                  1930er-Jahre stark geprägt hat.
Christine Nippoldt, 1979 in Regensburg geboren, schrieb,                                                                                   Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs               als Spießer-Spiegel im Carl Reißner Verlag in                              Der Roman Leb wohl, Berlin ist eine Folge lose
illustrierte und veröffentlichte mit 18 ihr erstes Buch. Sie studierte an                                                                  1918 und der Machtübernahme der National-             Dresden publiziert und dann auch bei der Bü-                               zusammenhängender Geschichten, in denen Is-
der Bauhaus-Universität in Weimar. 2006 war sie Gründungsmitglied
                                                                                                                                           sozialisten 1933, beeinträchtigt durch Inflati-       chergilde veröffentlicht worden. Das Buch er-                              herwood schillernde Charaktere porträtiert. Am
der Ateliers Hafenstraße 64 in Münster. Dort veröffentlicht sie unter
ihrem Künstlernamen „Lilli L’Arronge“. Ihre Bücher wurden in 20                                                                            on 1923 und Wirtschaftskrise 1929, waren die          scheint nun in einer veränderten Neuauflage,                               berühmtesten unter ihnen ist sicher die schö-
Sprachen übersetzt und sie durfte sich 2017 zu den Finalisten des                                                                          1920er-Jahre eine „Goldene“ Zeit. Geprägt wa-         ergänzt durch Textpassagen aus der Autobiogra-                             ne, herrlich naive Sally Bowles, eine Sängerin,
Kirkus-Awards in den USA zählen.
                                                                                                                                           ren sie vielleicht durch viel Hoffnung und einen      fie des Künstlers. Die zeichnerischen Betrachtun-                          die von der großen Karriere und der reichen Hei-
Robert Nippoldt wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet,
unter anderem mit dem Preis der Stiftung Buchkunst für das schönste                                                                        kulturellen Wandel, aber auch durch politische        gen und die schriftlichen Erinnerungen zeugen                              rat träumt und sich leicht übers Ohr hauen lässt.
Buch Deutschlands.                                                                                                                         Kämpfe und wirtschaftliche Ungerechtigkeit.           in gleichem Maße von seiner Beobachtungsga-                                Sie probt die Bühnenallüren mehr als den Ge-
                                                                                                                                           Der Maler und Grafiker George Grosz war einer         be. Das Buch ist vor allem einem Typus gewid-                              sang für die Karriere, flunkert sich durchs Leben,
Aus dem Englischen von Kathrin Passig und Gerhard Henschel,
                                                                                                                                           der Beobachter dieser Ära. Entgegen der gän-          met: dem selbstgefälligen Herrn mit Hut, Knei-                             verlobt sich in einer wilden Nacht mit einem
mit 30 Illustrationen und einer Nachbemerkung der Illustratorin,                                                                           gigen Praxis in den Kunstakademien, in denen          fer, Zigarre und Spazierstock. Dieser behäbige                             Scharlatan und muss letztlich immer von einem
vierfarbig bedrucktes, seidig glänzendes Leinen, Fadenheftung,                                                                             antike Skulpturen oder menschliche Modelle in         Herr saß am Nachbartisch beim Kartenspiel; er                              Freund gerettet werden. Ein anderer ist der char-
Lesebändchen, 320 Seiten, Buchgestaltung von Robert Nippoldt
                                                                                                                                           immer denselben Posen akribisch gezeichnet            zeigte sich beim Sonntagsspaziergang mit Frau                              mante, eitle Otto Nowak, der mit seiner Familie
€ 28,— (€ 20,– Ausgabe Hoffmann und Campe) | SFR 33,50
NR 169185                                                                                                                                  wurden, ging George Grosz auf die Straße, be-         und Kind; er saß an der Bar und kniff einer Dir-                           in einer ärmlichen Dachwohnung lebt, arbeits-
                                                                                                                                           obachtete und zeichnete, was ihm vor die Feder        ne genüsslich in den Po. Es ist ein Typus, der für                         los und voll Selbstmitleid die Tage verbringt und
Limitierte Vorzugsausgabe mit einem Holzschnitt von Christine Nip-
                                                                                                                                           kam. Grosz skizzierte, so sagte er selbst, „das Lä-   George Grosz der Inbegriff des konservativ-reak-                           die Nächte mit Mädchen durchfeiert.
poldt, signiert und nummeriert, im Schuber, Auflage: 120 Exemplare
€ 128,— | SFR 153,–                                                                                                                        cherliche und Groteske“ der Welt um ihn herum:        tionären Bürgertums der Weimarer Republik ge-                              Der Ich-Erzähler Isherwood beschreibt das
NR 169193                                                                   Glamour der Zwanzigerjahre: seidig glänzender Leinenumschlag   Die schnellen Skizzen zeigen Kriegskrüppel,           wesen zu sein scheint, der Spießer schlechthin,                            Zusammenleben in einer großen Berliner

8           JOURNAL                                                                                                                                                                                                                                                                                      JOURNAL            9
Büchergilde - Büchergilde
ILLUSTRIERTES BUCH

George Grosz                                                                                                      Altbauwohnung, in der jedes Zimmer einzeln                 Die Illustrationen von Christine Nippoldt fan-        voneinander abgesetzten Illustrationen unter-
Der Spießer-Spiegel                                                                                               untervermietet ist und die eigentliche Miete-              gen die Stimmung des Textes ein. Sie schaf-           stützt, sodass für den Leser die Kontraste auch
                                                                                                                  rin auf dem Wohnzimmersofa hinter einem Pa-                fen eine Atmosphäre, aus der man als Leser die        atmosphärisch vermittelt werden. Es ist fast, als
Lodenmantel oder Rauschebart auftragend, mit Filz-                                                                ravent schläft. Als er sich das Zimmer nicht mehr          Musik der Zeit heraushören kann. Man wird von         wäre man dort, auf der glamourösen Party mit
hut stolzierend oder fettglänzend im Klubsessel sit-                                                              leisten kann, kommt er in der Dachwohnung der              Sallys Charme mitgerissen, man empfindet die          Champagner, auf der Sally Bowles mit Federboa
zend – anklagend und erfrischend boshaft karikiert                                                                Familie seines treuen Freundes Otto unter, in              Ausweglosigkeit der dunklen Hinterhöfe, man           und Zigarettenspitze nach einem reichen Mann
George Grosz die Spießer seiner Zeit. Grosz gilt als                                                              der die Eltern sich die zwei ohnehin illegal be-           spürt die bedrückende Trivialität einer Szenerie,     Ausschau hält, in der zugigen Dachwohnung, in
der aufsässigste und explosivste unter den Grafikern                                                              wohnten Zimmer nun nicht nur mit ihren drei                in der die Menschen in einem Café die Nachmit-        der Mutter Nowak wegen ihres Hustens nächte-
und Malern der 1920er-Jahre. Der Spießer-Spiegel                                                                  Kindern, sondern zusätzlich mit dem Gast teilen            tagssonne genießen, während über ihnen die            lang wachliegt, und auf dem Gartenfest der Fa-
erschien zum ersten Mal im Jahr 1925. Speziell für                                                                müssen. Gleichzeitig geht Isherwood als Lehrer             Flaggen der Nationalsozialisten wehen. Es ist         milie Landauer unter einem leuchtend hellen,
die Büchergilde-Ausgabe des Spießer-Spiegels wur-                                                                 in reichen Häusern ein und aus, so wie im Haus             deutlich, dass die Entwürfe auf umfassende Bil-       Hoffnung verbreitenden Mond.
den Textauszüge aus Grosz Autobiografie ausgewählt                                                                der jüdischen Familie Landauer, die eine Kauf-             drecherchen zurückgehen. Die holzschnittarti-         Der Spießer-Spiegel mit Zeichnungen von Ge-
und begleiten seine Zeichnungen. Erinnerungen und                                                                 hauskette führt und den Ernst der Lage nicht be-           ge Gestaltung knüpft an eine künstlerische Tech-      orge Grosz und der Roman Leb wohl, Berlin von
Zeichnungen treten in Dialog, ergänzen oder wider-                                                                greifen will. „Und was glauben Sie, wie es mit             nik an, die vor dem Zweiten Weltkrieg noch ein        Christopher Isherwood sind zwei Bücher zum
sprechen sich und bieten einen ergänzenden Blick auf                                                              Deutschland weitergeht?“, fragte der Lehrer den            gängiges Darstellungsmittel war. Mit dem Flair        Schmunzeln und zum Stirne Runzeln, zum La-
den einmaligen Künstler.                                                                                          Neffen der Landauers. „Gibt es einen Naziputsch            der Zeit war Christine Nippoldt bereits vertraut,     chen und zum Nachdenken. Mit eindrucksvollen
                                                                                                                  oder eine kommunistische Revolution?“ Für die-             unter anderem, weil sie mit ihrem Mann Robert         Zeitdokumenten ist es der Büchergilde gelun-
                                                                                                                  se Frage wird er ausgelacht und bekommt zur                Nippoldt an dessen Buchprojekten über das Hol-        gen, ein facettenreiches Bild der Phase zwischen
                                                                                                                  Antwort: „Ich sehe, Sie sind so enthusiastisch wie         lywood und das Berlin der 1920er-Jahre gear-          den Weltkriegen zu zeigen, deren vergnügliche
                                                                                                                  eh und je! Leider erscheint mir diese Frage nicht          beitet hat. Auch in den Illustrationen zu Isher-      und freiheitliche Seite heute für so viele eine Ins-
                                                                                                                  so wichtig wie Ihnen ...“ Kapitel für Kapitel zeigt        woods Roman zeigen sich die Widersprüche der          pirationsquelle ist.
                                                                                                                  sich der Prozess der Machtübernahme der Nazis              Zeit. Fast jedes Kapitel widmet sich einem ande-
                                                                                                                  mehr und mehr, bis das Buch in erschütternden              ren Teil des Berliner Lebens. Der Charakter der
                                                                                                                  Kurzbeobachtungen aus dem Jahr 1933 endet.                 verschiedenen Kapitel wird durch die farblich

                                                                                                                                                                             Berlin der 20er-Jahre
                                                                                                                                               NEU                                                     NEU                                                         Marion Rampal,
                                                                                                                                               Babylon Berlin –                                        Curt Moreck                                                 Quatuor Manfred
                                                                                                                                               Collection (St. 1 & 2)                                  Ein Führer durch das                                        Bye-Bye Berlin
                                                                                                                                               Deutschland 2017                                        lasterhafte Berlin
                                                                                                                                                                                                       Das deutsche Babylon 1931                                Es ist die Welt der
                                                                                                                                          Berlin, Ende der Zwanzi-                                                                                              Zwanziger­jahre im
                                                                                                                                          gerjahre: Gereon Rath,                                     Dieser Bestseller aus                                      Berlin des Blauen
                                                                                                                                          Kommissar aus Köln,                                        dem Jahr 1931 führt            Engel, zu deren Neuentdeckung Marion
                                                                                                                                          soll den Fall eines von                                    den Leser mitten hi-           Rampal und das Quatuor Manfred ein-
                                                                                                                   der Berliner Mafia geführten Pornorings lö-                nein in die pulsierende Metropole Berlin              laden. Marion Rampal singt in französi-
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                                                                                                                   sen. Was auf den ersten Blick eine simple Er-              auf dem Höhepunkt der „Goldenen Zwan-                 scher, deutscher und englischer Sprache.
                                                                                                                   pressung zu sein scheint, entpuppt sich bald               ziger“. Folgen Sie dem Autor bei seinen Aus-          Neben Instrumentalstücken von Hanns Eis-
AUTOR
                                                                                                                   als Skandal, der Gereons Leben und das seiner              flügen zu den Hotspots des damaligen Nacht-           ler und Paul Hindemith sind die Nummern
George Grosz (1893–1959) wurde in Berlin geboren und an
der Dresdner Akademie und der Kunstgewerbeschule Berlin                                                            engsten Vertrauten für immer verändern wird.               lebens – in sagenumwobene Varietés und                Youkali, Die Moritat von Mackie Messer, Die
ausgebildet. Er war als Mitbegründer der Berliner Dadagruppe                                                       Zusammen mit der Stenotypistin Charlotte Rit-              Tanzpaläste, in Vergnügungsparks und Kaf-             Ballade vom ertrunkenen Mädchen, oder
(1918) entscheidend an der Dadabewegung beteiligt. 1932                                                            ter und seinem Partner Bruno Wolter sieht sich             feehäuser, in angesagte Bars und Schwulenk-           Barbara-Song von Kurt Weill besonders be-
erhielt Grosz einen Lehrauftrag in New York, und ab 1933 lebte er,
in Deutschland als „entartet“ verfemt und ausgebürgert (1938), in
                                                                                                                   Rath mit einem Dschungel aus Korruption, Dro-              neipen, aber auch an die Orte der Prostitution        rührend. Und dann die großartig rauchig ge-
den USA. 1959 kehrte er nach Berlin zurück, wo er wenige Wochen                                                    gen- und Waffenhandel konfrontiert, der ihn in             und des Verbrechens. Erweitere Neuausgabe             hauchten Lieder The Lavender Song von Arno
später starb.                                                                                                      einen existenziellen Konflikt zwischen Loyalität           des Klassikers – mit Glossar, Register und vie-       Billing bzw. die Hits Falling in love again, Black
                                                                                                                   und Wahrheitsfindung stürzt.                               len historischen Fotos.                               Market oder The Ruins of Berlin von Friedrich
Mit 60 Zeichnungen, zahlreichen autobiografischen Texten von                                                                                                                                                                        Holländer. Ein echtes Hörerlebnis!
George Grosz und einem Vorwort von Walter Mehring, mit drei          Charaktere einer Epoche in präzisem Strich    FSK 12                                                     Fester Einband mit Schutzumschlag,
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136 Seiten                                                                                                         von Borries; Darsteller: Volker Bruch, Matthias Brandt,    € 22,— (Ausgabe bebra) | SFR 26,50 | NR 197138        € 17,— | SFR 20,50 | CD 299881
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                                                                                                                   Sprache: Deutsch; 4 DVDs, 16 Episoden, 730 Min.
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10        JOURNAL                                                                                                                                                                                                                                                     JOURNAL           11
Büchergilde - Büchergilde
JOURNAL                                                                                                                                                                     JOURNAL

                                                                                                                                                                        Ja, es ist immer wieder schön, wenn ich das Sie-    kann das natürlich im Norden in Stralsund oder     Es gibt ja doch immer wieder Versuche, z.B.
                                                                                                                                                                        gel bei meinen Spaziergängen in Berlin und          im Süden in Bayreuth sein. Gerade beim Deut-       die reduzierte Mehrwertsteuer zu kippen.
                                                                                                                                                                        überall in Deutschland bemerke.                     schen Buchhandlungspreis wie auch beim Ki-         Ist das auf EU-Ebene auch ein Thema?
                                                                                                                                                                        Berlin ist ja immer die Vorzeigestadt … Am          noprogrammpreis versuchen wir, dieses bun-         Bestrebungen auf EU-Ebene gezielt die Mehr-
                                                                                                                                                                        Prenzlauer Berg machen ständig neue Buch-           desweite Netz zu stabilisieren. Wir reden ja von   wertsteuer auf Bücher zu kippen, sind mir nicht
                                                                                                                                                                        handlungen auf, und alle funktionieren sie          sechseinhalbtausend Buchhandlungen und             bekannt. Im Gegenteil, wir haben sogar E-Books
                                                                                                                                                                        irgendwie.                                          wenn da 118 berücksichtigt werden, ist das im-     in den Katalog der reduzierten Mehrwertsteuer
                                                                                                                                                                        Das ist nicht nur in Berlin so. Die Buchhandlung    mer noch eine relativ kleine Zahl.                 neu aufgenommen. Das war ein jahrelanges zä-
                                                                                                                                                                        von Herrn Bittner in Köln, die den Spitzenpreis     Ist der Preis nicht auch Wirtschaftsförde-         hes Ringen. Die 28 Mitgliedsländer haben na-
                                                                                                                                                                        gewonnen hat und die von Frau Laaff – die, weil     rung? Gibt es da Probleme von Seiten ande-         türlich jeweils hohe Normal- und ermäßigte
                                                                                                                                                                        sie im letzten Jahr den Spitzenpreis gewonnen       rer Wirtschaftszweige?                             niedrigere Steuersätze auf bestimmte Waren;
                                                                                                                                                                        hat, eine Laudatio hielt – liegen in Köln sehr      Nein. Da gibt es keinen Neid. Die Größenord-       dahinter steht immer auch eine gesellschafts-
                                                                                                                                                                        nah beieinander. Im Gespräch erzählten sie          nungen sind dafür wohl auch zu bescheiden.         politische Entscheidung. Damit man gleiche
                                                                                                                                                                        mir sehr heiter, dass sie sich gegenseitig aus-     Man muss immer unterscheiden zwischen Sub-         Bedingungen innerhalb der EU hat, gibt es ei-
                                                                                                                                                                        helfen, wenn ein Kunde im Laden steht und ein       ventionen, also Wirtschaftsförderung, und der      nen Katalog, welche Waren niedriger besteu-
                                                                                                                                                                        bestimmtes Buch will. Wenn es nicht im Regal        Kulturförderung, wie beispielsweise bei den        ert werden dürfen. Ob das jeweilige Land da-
                                                                                                                                                                        steht, fragen sie bei der anderen Buchhandlung      Programmkinos oder jetzt bei den Buchhand-         von Gebrauch macht, ist wieder seine eigene
                                                                                                                                                                        an. Statt sich also als Wettbewerber zu empfin-     lungen. Das Prinzip hinter den Preisen zur Kul-    Entscheidung. Aber ehe man eine neue Waren-
                                                                                                                                                                        den, empfehlen sie sich lieber gegenseitig. Es      turförderung ist dasselbe: Wir müssen die          gruppe aufnimmt, also etwa elektronische Pub-
                                                                                                                                                                        sind spezielle und beeindruckende Menschen,         kleinen unabhängigen inhabergeführten Kul-         likationen, muss man lange dafür werben. Das
                                                                                                                                                                        die solche Buchhandlungen betreiben.                tureinrichtungen stabilisieren, damit sie sich     ist uns hier aber jetzt gelungen.

                                                                                                                                                                            „Auch hier gilt: Sichtbarkeit herstellen, Wertschätzung erteilen, Ermutigung aus­

                                                                                                                                                      © Jürgen Sander
                                                                                                                                                                           sprechen, für den Erhalt der vielen sorgen. Das ist die bundespolitische Kulturlogik.“

Damit wird unsere Demokratie                                                                                                                                            Das ist ja auch bei den Verlagen so …               gegenüber den großen Ketten und Monopolis-         Das Zweite, was damit zusammenhängt, ist

verteidigt
                                                                                                                                                                        Ja, das ist ein Charakterzug, das ist das Selbst-   ten behaupten können. Bei den Buchhandlun-         die Buchpreisbindung. Sie haben ja gestern
                                                                                                                                                                        verständnis dieser „Geistesbranche“.                gen kommt ja noch die starke Konkurrenz durch      gesagt, dass die Buchpreisbindung vertei-
                                                                                                                                                                        Wie kommt eigentlich die Zahl der ausge-            den Online-Handel dazu. Eine echte Kritik, dass    digt wird.
                                                                                                                                                                        zeichneten Buchhandlungen zustande. Ist             es eine systemrelevante Maßnahme ist, gibt es      Ja, und zwar vehement. Als die Monopolkom-
Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien über den Deutschen Buchhandlungspreis,                                                                          das vor allem eine Budgetfrage?                     hier deshalb nicht – zumal jeder, der als Kriti-   mission ohne Auftrag im Frühjahr eine Empfeh-
                                                                                                                                                                        Letztes Jahr waren es 117, dieses Jahr              ker in Frage käme, weiß, wie bescheiden Buch-      lung vorlegte, man könne doch wieder einmal
den geplanten Deutschen Verlagspreis, die Perspektiven angesichts einer schwindenden Leserschaft                                                                        118 Buchhandlungen. Die maximale Anzahl ist         händler und Buchhändlerinnen leben und dass        über die Buchpreisbindung nachdenken, weil
und die Herausforderungen durch rechte Akteure.                                                                                                                         in den Preisbedingungen festgelegt. So können       das keine wirtschaftlichen Strukturen durchein-    das ein wettbewerbsverzerrendes Element sei
Wir haben die Staatsministerin am Tag nach der Verleihung des Deutschen Buchhandlungspreises 2018                                                                       zum Beispiel in der Kategorie 7 000 Euro bis zu     ander bringt. Eine Sache muss ich noch ergän-      und weil ihre Abschaffung gar keine negativen
zum Frühstück getroffen.                                                                                                                                                100 Buchhandlungen ausgezeichnet werden.            zen: Auch die großen Buch-Ketten haben sich        Auswirkungen auf den Buchmarkt habe, war ich
                                                                                                                                                                        Wir brauchen einen Spitzenpreis, weil der die       nicht beschwert, aber was wir nach dem ersten      fassungslos und habe das auch öffentlich be-
                                                                                                                                                                        Berichterstattung stimuliert und es auch um         Durchgang hörten, war, dass inhabergeführte        kundet, weil das geradezu absurd falsch ist. Die
Die Fragen stellten Silvio Mohr-Schaaff und Jürgen Sander                                                                                                               eine öffentliche Wahrnehmung und Beachtung          Buchhandlungen, die über eine Million Umsatz       öffentliche Reaktion auf die Empfehlung der
                                                                                                                                                                        geht. Ein weiterer Aspekt sind auch die Unter-      machen, sich zurückgesetzt fühlten, obwohl         Monopolkommission war ja zum Glück auch
                                                                                                                                                                        schiede innerhalb eines Spektrums wirklich gu-      und eben gerade weil sie so erfolgreich waren.     eindeutig. Die Buchpreisbindung ist eines der
Der Deutsche Buchhandlungspreis wurde           Wertschätzung und Ermutigung und es hat den       Jahr zwischen den Bewerbungen liegen muss,                            ter und tapferer Buchhandlungen. Zum Feld der       Das konnten wir nachvollziehen, denn auch die-     wichtigsten Instrumente zum Erhalt der Viel-
bereits zum vierten Mal verliehen. Wie stellt   schönen Nebeneffekt, dass man zu einer Art Fa-    damit auch andere eine Chance haben. Die Lo-                          ausgezeichneten Preisträger: Wir könnten na-        se großen Buchhandlungen leisten ja einen          zahl kleinerer Verlage, damit auch der Vielfalt
sich das aus Ihrer Sicht dar? Das ist ja ein    milientreffen kommt. Das spüre ich bei diesen     gik ist ja, dass wer einmal gut ist, dies auch im                     türlich auch 50 Preise mit jeweils 15 000 Euro      wichtigen Beitrag für den Erhalt der vielfälti-    des Buchmarktes.
ziemlicher Erfolg?                              Veranstaltungen immer.                            folgenden Jahr bleibt. Damit wir die Spitzen-                         vergeben. Aber um die Vielfalt in der deutschen     gen und historisch gewachsenen Buchkultur in       Kürzlich hat der Börsenverein Zahlen veröf-
Das war nicht nur ein „ziemlicher“, sondern     Es ist auch ein Familientreffen, auch weil vie-   preise in der Fläche verteilen können, haben wir                      Buchhandlungslandschaft zu erhalten, be-            Deutschland. Deshalb haben wir entschieden,        fentlicht. Danach gibt es 6,4 Millionen we-
ein großer Erfolg. Ich habe den Eindruck, als   le der Teilnehmer Wiederholungstäter sind.        diese kleine Karenzzeit eingebaut.                                    darf es eines flächendeckenden Ansatzes. Es ist     sie mit einem Gütesiegel zu würdigen, denn         niger Leser. Was kann man da tun? Viele
hätte die Branche darauf gewartet. Es geht ja   Wir haben schon bei der Konzeption des Preises    Jetzt nach vier Jahren hat das Siegel ja auch                         ein zentrales Ziel der Bundeskulturpolitik, das     die finanzielle Unterstützung benötigen sie we-    Buchhandlungen, das haben wir gestern ge-
nicht nur um Geld, sondern auch um eine bun-    darauf geachtet, dass bei den Spitzenpreisen in   einen Wiedererkennungswert.                                           ganze Netz geistiger Einrichtungen zu erhal-        niger als die kleinen. Da haben wir nach einem     sehen, engagieren sich ja sehr stark in Lese-
desweite Aufmerksamkeit, gleichzeitig um        den letzten beiden Kategorien mindestens ein                                                                            ten, also nicht punktuell zu agieren. Und dann      Jahr nachjustiert.                                 förderung etc.

12    JOURNAL                                                                                                                                                                                                                                                                                                JOURNAL        13
Büchergilde - Büchergilde
JOURNAL

Das ist eine ganz wichtige Frage. Die Zahlen,       und lebendigsten Verlagsmärkte der Welt. Hier         wird auch, etwas pathetisch ausgedrückt, unsere      Unser Buchhandelsnetz
                                                                                                                                                               wird größer
die der Börsenverein erhoben und veröffent-         werden auch Bücher verlegt, die rein wirtschaft-      Demokratie verteidigt.
licht hat, muss man aber bitte sehr differenziert   lich schwer zu rechtfertigen sind, aber wesent-       Wenn man sieht, welche rechten Akteure                                                                       Wir freuen uns, dass wir neue und engagierte Buchhandlungen gewinnen
lesen. Es ist zwar die Anzahl der Buchkäufer zu-    lich zur kulturellen Vielfalt im Buchmarkt beitra-    sich mittlerweile auf der Buchmesse breit                                                                    konnten, die das Programm der Büchergilde in Zukunft präsentieren werden.
rückgegangen, nicht aber die Zahl der Buchkäu-      gen. Deshalb wollen wir diese kleinen Verlage,        machen, was kann da die Politik machen?
fe. Diejenigen, die immer schon gelesen haben,      die das ja in der Regel leisten, unterstützen.        Das ist natürlich in erster Linie Sache der Mes-        Ab dem 21. Januar werden wir in Freising und Passau vertreten sein                            Ab 14. Januar zum dritten Mal in Berlin
kaufen nach wie vor und gelegentlich sogar ein      Und deshalb will ich einen Verlagspreis auslo-        segesellschaften. Da kann und wird sich die Po-
Buch mehr. Insbesondere Menschen zwischen           ben, der sich ein bisschen an dem Buchhand-           litik nicht einmischen. Aber wir beobachten na-
20 und 49 Jahren kaufen und lesen allerdings        lungspreis orientiert, also in der ganzen Breite      türlich als Bürger mit einer gewissen Sorge, was
heute deutlich weniger Bücher als noch vor ei-      wirken soll.                                          heute buchstäblich hoffähig gemacht werden
nigen Jahren. Man muss sich also fragen, wie        Wir haben uns auch hier das Marktsegment an-          soll. Und wenn man einen Stand mieten kann,
man diese Generation dazu bringt, sich wie-         gesehen. Wie viele Verlage gibt es denn über-         dann kann man das schlecht verbieten. Wir
der mit dem Buch zu beschäftigen. Das scheint       haupt? 2017 waren es in ganz Deutschland rund         müssen uns alle wappnen, was den Umgang
die eigentliche gesellschaftspolitische Aufga-      dreitausend Verlage, darunter sind rund 2 000         mit derartigen Trends angeht. Unser aller Aufga-
be zu sein. In einer zunehmend digitalisierten      kleine und mittelständische Verlage mit einem         be ist, sie inhaltlich zu stellen und überzeugen-
Welt, die vom Tempo bestimmt ist, wird die kon-     Umsatz von weniger als 3 Millionen Euro, die          de eigene Angebote zu machen.
templative Tätigkeit des Lesens zunehmend als       wir mit dem neuen Verlagspreis des Bundes ad-         Auf der Buchmesse war der Aufgang zu un-
anachronistisch wahrgenommen. Und deshalb           ressieren wollen. Das ist eine erkleckliche Zahl.     serer Halle 4.1 einige Stunden komplett              © Bücher Pustet Freising                     © Bücher Pustet Passau                            © Simone Hawlisch
                                                                                                                                                                                                                                                                                             Wir sind dann nach der
müssen wir uns alle, auch im Interesse der Ge-      Auch hier gilt: Sichtbarkeit herstellen, Wertschät-                                                                                                                                                                                      Buchhandlung am Witten-
                                                                                                          gesperrt.                                            Bücher Pustet Freising                       Bücher Pustet Passau                              Buchhandlung ocelot
                                                                                                                                                                                                                                                                                             bergplatz und dem Buch­
sellschaft, darum bemühen, solche Kulturtech-       zung erteilen, Ermutigung aussprechen, für den        Das ist ein Kollateralschaden, der ist zu groß.      Obere Hauptstraße 45                         Nibelungenplatz 1                                 Brunnenstraße 181              laden im ver.di-Haus auch
niken wieder attraktiver zu machen und da-          Erhalt der vielen sorgen. Das ist die bundespo-       Und die Rechten haben immer gewonnen.                85354 Freising                               94032 Passau                                      10119 Berlin                   in Berlin-Mitte vertreten.
für werben, dass Bücher und das Lesen wieder        litische Kulturlogik. Die Kommunen und Län-           Da wurde ein Herr Höcke eingeladen. Sagt
mehr ins Bewusstsein rücken. Gerade auch bei        der sind bei der Förderung auf ihr jeweiliges         man: „Sie können hier nicht auftreten“ …
jungen Eltern, die ihren Kindern wieder täglich     Gebiet begrenzt. Es ist Aufgabe des Bundes, die        … dann hat er die gleiche Aufmerksamkeit, wie

                                                                                                                                                                                                                           14 unserer Partnerbuch­-
etwas vorlesen sollten.                             gesamte Republik ins Visier zu nehmen und im          wenn die Veranstaltung doch stattfindet.
Gestern waren ja auch viele Verlagskolle-           Schulterschluss mit den Ländern eine bundes-          Wenn man abgesagt hätte, wäre der Vorwurf
gen da und die Frage war: „Wo bleibt die            weit wirkende Förderung der kulturellen Viel-         laut geworden, das sei Zensur …
Verlagsförderung?“
Richtig ist, dass die kleinen, inhabergeführten
                                                    falt sicherzustellen. Und das Wichtigste dabei ist,
                                                    dass die wir auch in der Politik ein Bewusstsein
                                                                                                          Es ist ein fatales Zeichen, wenn allein die Andro-
                                                                                                          hung rechtsextremistischen Drucks dazu führt,
                                                                                                                                                                                                                     handlungen wurden mit dem
Buchhandlungen ohne die kleinen, inhaberge-         dafür entwickeln, wie wichtig unsere Branchen         dass Kulturveranstaltungen abgesagt werden.
                                                                                                                                                                  Besonders herausragende Buchhandlungen
                                                                                                                                                                                                                 Buchhandlungspreis 2018 ausgezeichnet –
führten Verlage nicht überleben könnten und
umgekehrt. Deutschland hat einen der größten
                                                    sind: die kleinen Filmemacher, die kleinen Buch-
                                                    handlungen, die kleinen Buchverlage – damit
                                                                                                          Es gehört zur Kunstfreiheit, Dinge zu ermög-
                                                                                                          lichen, auch wenn man sie persönlich ablehnt
                                                                                                                                                               Buchhandlung Dombrowsky
                                                                                                                                                               St. Kassians Platz 6
                                                                                                                                                                                                                      Herzlichen Glückwunsch
                                                                                                          soweit sie verfassungsrechtlich in Ordnung           93047 Regensburg
                                                                                                          sind. Selbst rechtsgerichtete Trends sind, wie
                                                                                                                                                                  Herausragende Buchhandlungen
                                                                                                          auch linksgerichtete, bis zu einem gewissen
                                                                                                          Grad von der Kunstfreiheit erfasst. Und das ist      Anna Rahm mit Büchern             Büchergilde Buchhandlung              Literarische Buchhandlung                  Buchhandlung Backhaus
                                                                                                          ein so hohes Gut, auch weil uns die bittere Er-      unterwegs                         und Galerie                           Ilse Wierny                                am Literaturhaus
                                                                                                          fahrung von zwei Diktaturen noch in den Kno-         Marktstraße 43                    An der Staufenmauer 9                 Südliche Stadtmauerstraße 40               Steinfelder Straße 12
                                                                                                          chen steckt, dass ich das verteidige, selbst wenn    88212 Ravensburg                  60311 Frankfurt am Main               91054 Erlangen                             53947 Nettersheim
                                                                                                          ich bestimmte Inhalte abstoßend finde. Aber
                                                                                                          solange sie sich im verfassungsmäßigen Rah-          Buchhandlung Scheuermann          Buchladen am Freiheitsplatz           Heinrich Heine Buchhandlung                Der andere Buchladen
                                                                                                          men bewegen, genießen sie Schutz. Hier muss          Sonnenwall 45                     Am Freiheitsplatz 6                   Viehofer Platz 8                           Dionysiusstraße 7
                                                                                                          eine Gesellschaft auch so mutig sein, sich da-       47051 Duisburg                    63450 Hanau                           45127 Essen                                47798 Krefeld
                                                                                                          mit auseinanderzusetzen. Ich fasse das mal so
                                                                                                          zusammen: Es darf in Deutschland nie wieder          Buchhandlung Rübezahl             Büchergilde Wiesbaden                 Buchsalon Ehrenfeld                        Erlesenes & Büchergilde
                                                                                                          passieren, dass eine laute Minderheit auf eine       Hüttenplatz 14                    Bismarckring 27                       Wahlenstraße 1                             Neubrunnenstraße 17
                                                                                                          schweigende Mehrheit trifft. Und wenn diese          35683 Dillenburg                  65183 Wiesbaden                       50823 Köln                                 55116 Mainz
                                                                                                          Mehrheit bequem ist oder gelähmt, dann be-
                                                                                                          günstigt sie die falsche Richtung. Das heißt,
                                                                                                          wir müssen uns alle gegen demokratiefeindli-            Undotiert mit Gütesiegel
                                                                                                          che Angriffe wehren und auf jeden einzelnen          Buchhandlung v. Mackensen
                                                                                                          kommt es dabei an. Auch das ist eine nachhal-        Laurentiusstraße 12
                                                                                                          tige Lehre aus zwei Diktaturen in Deutschland.       42103 Wuppertal
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  JOURNAL
14     JOURNAL                                                                                                                                                                                                                                                                                                     15
Büchergilde - Büchergilde
ERSTVERÖFFENTLICHUNG                                                                                                                                         ERSTVERÖFFENTLICHUNG

                                                                                                                                                                                                                                                                     er dachte, meinen Plan durchschaut zu haben, würde seine Wachsamkeit

                                                                                                                                                                                                                                  © Alexander Ebhart, unsplash.com
                                                                                                                                                                                                                                                                     nachlassen und ich konnte zuschlagen. Es war unmöglich, eine ganze Pa-
                                                                                                                                                                                                                                                                     ckung Zigaretten zu stehlen. Die standen hinter Albert in einem Regal, das

                                                                                An
                                                                                                                                                                                                                                                                     ich nicht erreichen konnte. Aber Albert verkaufte auch einzelne Zigaretten
                                                                                                                                                                                                                                                                     aus einem dieser altmodischen Spender. Und dieser Spender stand direkt
                                                                                                                                                                                                                                                                     neben der Kasse. Also legte ich die Hefte auf die Kasse und gab mir Mühe,
                                                                                                                                                                                                                                                                     Albert dabei nicht in die Augen zu sehen, weil ich dachte, das sei genau
                                                                                                                                                                                                                                                                     die Art von Verhalten, die ihn misstrauisch werden ließ.

                                                                                 einem
                                                                                                                                                                                                                                                                     Albert grunzte, schob den Comic zur Seite und hob das Pornoheft empor,
                                                                                                                                                                                                                                                                     um es besser begutachten zu können. Ich hatte damit gerechnet, dass er
                                                                                                                                                                                                                                                                     mich anraunzen würde, vielleicht sogar auslachen, aber er fing an, da­rin
                                                                                                                                                                                                                                                                     herumzublättern. Währenddessen warf er mir immer wieder Blicke zu,

N
            atürlich hatten wir davon gehört. Manuels Vater hatte eine Zeit                                                                                                                                                                                          die ich nicht deuten konnte, und unten in der Höhle begann Manuel erst

                                                                               anderen
            lang als Wachmann in dem Forschungszentrum gearbeitet,                                                                                                                                                                                                   seine Schuhe und dann seine Socken auszuziehen.
            das flussaufwärts lag, und Manuel war immer gern bereit, uns                                                                                                                                                                                             Schließlich drehte er das Heft um und hielt mir eine aufgeschlagene Seite
zu erzählen, dass Unbefugte dort keinen Zutritt hätten. Manchmal sprach                                                                                                                                                                                              vor mein Gesicht. Wieder wurde mir etwas schwindlig. Die Frau hätte von
er auch montagmorgens im Flüsterton von Tieren, die entkommen waren                                                                                                                                                                                                  ihrem Alter her meine Mutter sein können. Ihr Gesicht war verschmiert
und jetzt im Wald unterwegs seien. Die Geschichten gehörten dazu. Wir                                                                                                                                                                                                von zerlaufener Schminke, die Augen nur halb geöffnet. Albert ließ mich
waren noch jung in diesem Sommer, in diesen großen Ferien, aber wir                                                                                                                                                                                                  das Bild sehr lange betrachten.

                                                                                Ort
glaubten schon lange nicht mehr daran. Und ich hatte ohnehin ganz an-                                                                                                                                                                                                „So etwas gefällt dir also?“, fragte er. „So etwas macht dich an?“
dere Pläne.                                                                                                                                                                                                                                                          Ich starrte auf den schmutzigen Boden, mein Gesicht brannte.
Alles, was ich in den großen Ferien tun wollte, war, meine erste Zigaret-                                                                                                                                                                                            „Dann eben nicht“, sagte ich so beiläufig wie möglich, und Manuel tauch-
te zu rauchen und Pamela meine Hand auf den braun gebrannten Ober-                                                                                                                                                                                                   te seinen Fuß in das Wasser und der kleine Carlos sagte, Manuel würde
schenkel zu legen. Wenn ich die Rasen der Familien mähte oder hoch in                                                                                                                                                                                                sich sicherlich nicht trauen, in den Bereich zu gehen, wo das Wasser tiefer
die Berge ging, um nachzuprüfen, ob ich bis zum Pazifik blicken konnte,                                                                                                                                                                                              wurde und man den Grund nicht mehr vollständig sehen konnte.
dachte ich an meinen Plan und an nichts anderes. Und deshalb war ich                                                                                                                                                                                                 „Nein, nein, nein.“ Albert wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger und
nicht mit den anderen in der Höhle unten am Fluss, an jenem Tag, dem ei-                                                                                                                                                                                             schnalzte mit der Zunge. „Das interessiert mich. Wolltest du das deinen
nen Tag, der vielleicht wirklich wichtig war.                                                                                                                                                                                                                        Freunden zeigen? Findest du das lustig? Stehst du auf ältere Frauen? Das
Die Höhle unten am Fluss war über die Jahre unser Hauptquartier gewor-         Als ich meinem Vater davon erzählte, meinte er nur, diese Stadt habe ja       grünen Wald hinunter zum Fluss sein, ihre Taschen voll mit Süßigkeiten                                  ist alles in Ordnung. Du kannst mir das sagen.“
den, das außer uns niemand betreten durfte. Sie war nicht sonderlich groß      wohl größere Sorgen, und nahm noch einen Schluck von seinem Seko.             und Softdrinks, die Köpfe voller fein ersonnener Lügengeschichten, die                                  „Ist doch egal“, murmelte ich. „Sie müssen es mir ja nicht verkaufen.“
und das Flusswasser verwandelte den Eingangsbereich in einen Sumpf,            Später dachte ich dann einmal, dass Ricardo es auch ein bisschen ver-         Brust voller Erwartung.                                                                                 „Aber du hast gedacht, ich würde es dir verkaufen, oder? Dachtest du, ich
dafür ging sie einige Meter in den Felsen hinein, wo man auf einer klei-       dient hatte, weil er andauernd davon redete, dass er Maria einmal an ei-      Nebensächlichkeiten wie eine Schachtel Kaugummi oder eine Dose Limo­                                    schau mir nicht an, was ich verkaufe? Glaubst du, ich verkaufe so was an
nen Plattform sitzen und mit leicht zitternder Stimme darüber sprechen         nem verregneten Tag nach der Schule unter den Rock gefasst hatte. Wahr-       nade kamen nicht in Betracht – ich suchte schon zu lange, und außerdem                                  Kinder? Hältst du mich für krank?“
konnte, mit welchem Mädchen man es bald einmal treiben wollte.                 scheinlich wollte ich deshalb unbedingt in diesen großen Ferien meinen        dachte ich mir, dass kleine, unbedeutende Einkäufe eher Alberts Verdacht                                „Nein“, sagte ich leise, während Manuel sich nun auch seine Hose aus-
Üblicherweise saßen wir dort zu viert: Ricardo, Manuel, der kleine Carlos      Plan durchführen und nicht länger warten.                                     erregen könnten. Als ich das Zeitschriftenregal erreichte, sah ich die Lö-                              zog, damit sie nicht nass wurde, wenn er in den tieferen Teil waten würde.
und ich. Diese drei waren meine Freunde, seit wir in einer der großen Pau-     Mein Problem war, dass mir Albert aus dem kleinen Supermarkt keine            sung. Ich nahm mir den neuesten Batman-Comic und eine besonders                                         Natürlich traute er sich. Er hatte keine Angst. Niemand hatte Angst.
sen das Spiel erfanden, bei dem immer einer zwischen zwei Schulbänken          Zigaretten verkaufen wollte, und ich war mir sicher, dass die Zigarette       harte pornografische Zeitung, in der die Frauen ihre Beine weit spreizten                               Er starrte mich noch lange an, nicht nur wütend, nicht nur aufgebracht,
entlanggehen muss, auf denen die anderen sitzen und den Auserwähl-             vor Pamelas Oberschenkel kommen musste. Vor einigen Tagen hatte ich           und wirklich alles zeigten. Ich warf einen kurzen Blick hinein und mir wur-                             auch verächtlich, wie jemand, der etwas Unappetitliches sieht. Dann
ten treten dürfen, während er sich nach vorne kämpft. Ich muss damals of-      ihn schon gefragt. Er lachte mich aus und sagte mir, ich solle in ein paar    de etwas schwindelig. Und während ich dastand und mich noch fragte,                                     wandte er sich endlich von mir ab, um das Pornoheft hinter sich ins Regal
fenbar besonders fest zugetreten und keine Gnade gezeigt haben, denn           Jahren wiederkommen und dass ich mir meine Lunge schon noch früh              ob mein Plan wirklich erfolgversprechend war, mussten die anderen be-                                   zu legen. Mit zitternden Fingern griff ich nach vorne, ließ den Zigaretten-
nach der Schule warteten sie auf mich vor dem Sportplatz. Die Sonne hat-       genug kaputtmachen könne.                                                     reits in der Höhle angekommen sein. Der Weg war nicht allzu weit, und                                   spender aufschnappen und griff mir eine.
te ihren Weg durch die Wolken gefunden und schien uns so auf die Ge-           Also drückte ich mich in dem kleinen Laden herum und überlegte,               auch wenn ich nicht wusste, wann genau sie losgelaufen waren, konnte                                    Albert drehte sich wieder um und in diesem Moment war ich mir sicher,
sichter, dass wir alle sehr ernst aussahen. Damals hatte ich Angst, sie wür-   was ich kaufen sollte, um dann an der Kasse ein paar Zigaretten unbe-         ich mir sicher sein, dass sie jetzt bereits den Eingang passiert hatten und                             dass er die ganze Zeit nur gespielt hatte und eigentlich wusste, was mein
den mich vielleicht aus irgendeinem Grund verprügeln, aber sie standen         merkt in meiner Tasche verschwinden zu lassen. Ich hatte nicht viel Zeit.     auf der kleinen Anhöhe über dem Wasser ihre Schätze auspackten, grin-                                   Plan gewesen war. Ich hielt die Zigarette so fest in meiner verkrampf-
nur da, und Ricardo, der damals der Anführer war, sagte, ich könne mit ih-     Pamela arbeitete um diese Zeit in einem der Promenadencafés, wischte          send und schmutzige Witze reißend. Irgendwo in der Höhle fiel ein Trop-                                 ten Hand, dass sie in der Mitte umknickte, aber ich traute mich nicht, die
nen zusammen nach Hause laufen.                                                die Böden und kümmerte sich um das Geschirr, aber ihre Pause rückte           fen und dann noch einer. Ein heller, rhythmischer Klang erfüllte die Stille,                            Hand zu lockern. Denn so lange er sie noch nicht gesehen hatte, gab es
Mittlerweile ist Ricardo nicht mehr der Anführer. Sein großer Bruder saß       näher, und dann würde sie sich vor das Café setzen, um ihr Buch zu lesen.     die keiner der drei lange aushalten konnte, weshalb einer so schnell wie                                noch einen kleinen Rest an Hoffnung.
einmal ein paar Tage im Gefängnis, weil er einem Postboten das Bein            Dann wollte ich mich neben sie setzen und die Dinge ihren Lauf nehmen         möglich ein Furzgeräusch mit dem Mund in der Armbeuge nachahmte.                                        Albert schüttelte jedoch nur den Kopf und verlangte das Geld für den Co-
oder den Fuß abgefahren hatte, und Ricardo erzählte wochenlang nichts          lassen. Doch zuerst musste ich die Zigarette rauchen. Vielleicht könnte ich   Als das Lachen in der Höhle langsam abebbte, trug ich beide Hefte zu                                    mic, den ich beinahe schon vergessen hatte, und Manuel watete durch
anderes. Aber wir fanden dann heraus, dass sein Bruder seinen Vater heu-       auch rauchend auf sie zukommen und den Zigarettenstummel schließ-             Albert und legte sie vor ihm auf den Tresen, das Pornoheft unter den Co-                                das Wasser, das ihm mittlerweile bis zur Hüfte ging, und lachte darüber,
lend aus der Untersuchungshaft angerufen hatte, weil er solche Angst           lich ohne große Geste vor ihr auf dem Pflaster austreten. Diese Gedan-        mic, sodass es aussah, als würde ich seine Aufmerksamkeit von einem                                     dass seine Juwelen bei der Kälte schrumpeln würden.
hatte. Wir mussten danach kein Gespräch mehr darüber führen, ob er             ken gingen mir durch den Kopf, und während ich an den Regalen ent-            Heft auf das andere lenken. Albert sollte denken, dass ich hergekommen                                  Draußen auf der Straße brauchte ich eine Weile, um das Zittern meiner
noch Anführer sein konnte.                                                     lang schlich, mussten Ricardo und die anderen auf dem Weg durch den           war, um Pornos zu kaufen, und nicht, um Zigaretten zu stehlen. Und wenn                                 Arme und Beine wieder unter Kontrolle zu bringen. Wolken hatten sich

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ERSTVERÖFFENTLICHUNG                                                                                                                                           ERSTVERÖFFENTLICHUNG

vor die Sonne geschoben, das Licht war blasser geworden, was die ande-          die Zigarette lässig auf den Boden fallen zu lassen. Da stand ich vor ihr      In diesem Moment dachten Manuel und ich das Gleiche: Nicht jetzt, bitte         das Wasser des Flusses sei mittlerweile nuklear verseucht wegen der
ren in der Höhle nicht interessierte, denn etwas hatte ihre Aufmerksam-         und sie blickte zu mir auf, und die Haut ihrer Oberschenkel glänzte, wäh-      nicht jetzt, auf keinen Fall jetzt. Ich fand allerdings im nächsten Moment      amerikanischen Schiffe, die Atommüll durch den Kanal transportierten.
keit auf sich gezogen. Plötzlich erstarrte Carlos und sagte: „Da hat sich et-   rend Manuel gegen die Panik ankämpfte, die sich in seinem Unterleib            meine Hand auf Pamelas braun gebranntem Oberschenkel liegen, der                Kein noch so dicker Schiffsbauch könne die Strahlung abhalten, da könne
was bewegt. Da hat sich etwas im Wasser bewegt. Ganz sicher hat sich da         aus­breitete, und jetzt so schnell wie möglich das Wasser verlassen woll-      sich wie ein Oberschenkel anfühlte und sonst nichts. Die Haut war glatt,        man nichts machen, das Wasser sei ganz sicher verseucht, sagten sie und
etwas im Wasser bewegt.“ Aber Manuel lachte und sagte: „Was soll sich da        te, aber im tieferen Teil nur langsam vorwärtskam. Mit aller Kraft setzte er   das war schön, und Ricardo nahm einen spitzen Stein, der unweit des             fluchten auf die großen Konzerne. Nun war die Landschaft voll mit miss-
schon bewegt haben? Ein Fisch, oder was?“ Allerdings lag unter dem La-          einen Schritt nach dem anderen. Noch vier, maximal fünf Schritte, dann         Wassers gelegen hatte, und machte einen Satz nach vorne, das Gesicht            gestalteten Kreaturen, die unsere Kinder angriffen. Das war schlimmer als
chen etwas Neues, und deshalb lachte er gleich noch einmal hinterher,           wäre er im seichten Wasser. Noch drei Schritte, maximal vier. Noch zwei        vielleicht von plötzlicher Angriffslust verzerrt oder womöglich versteinert,    niedrige Löhne, schlimmer als Arbeitslosigkeit und Militärstützpunkte.
und wie gern wäre ich jetzt nach Hause gegangen oder vielleicht auch zu         Schritte, maximal drei. Noch ein Schritt. Und dann. Und dann.                  ernst, weil er wusste, dass es notwendig war, jetzt zu tun, was er dann tat.    Wenn die eigenen Kinder nicht mehr unten am Fluss spielen konnten.
den anderen runter an den Fluss, weil ich ja nichts darüber wusste, was         Fahrig deutete ich auf einen der Stühle und zog ihn, ohne auf ihre Ant-        Pamela nahm meine Hand und schob sie fort von sich, nicht grob, nicht           Und natürlich gab es auch Spekulationen über unbekannte Arten, verges-
dort unten geschah, doch ich zwang mich, an den letzten Tag der Ferien zu       wort zu warten, neben ihren. Ich musste neben ihr sitzen, dachte ich mir.      hektisch, sondern ganz ruhig. Dann stand sie auf, band sich das Haar zu         sene oder nie entdeckte Wesen aus den Tiefen des Regenwalds. Vielleicht
denken und die traurige Bilanz, die ich dann zu ziehen hätte: dass ich ein      Sie sah mich fragend an, doch alle Sätze, die ich mir vorher zurechtgelegt     einem Pferdeschwanz und sagte: „Du bist eigentlich ganz nett. Aber wenn         war die Kreatur die letzte ihrer Art gewesen und ihr Tod eine Tragödie. Viel-
Kind geblieben war.                                                             hatte, waren hinter einer Wolke des Schwindels verschwunden.                   du das noch einmal machst, werde ich dir wehtun.“                               leicht war sie eigentlich friedlich gewesen und habe sich nur bedroht ge-
Ich ging zu den Promenaden, nicht zu langsam, aber auch nicht zu                Jemand anderes sprach für mich.                                                Und ich blieb sitzen. Ich weiß nicht, wie lang ich noch dort saß, mit dem       fühlt. Streit brach aus zwischen denen, die von der Gefährlichkeit der Kre-
schnell. Ich musste meinen Körper und meinen Atem beruhigen, ehe ich            „Was liest du da?“                                                             schalen Geschmack der Zigarette im Mund, unfähig aufzustehen, weil ich          atur überzeugt waren, und jenen, die sie als Opfer sehen wollten.
Pamela entgegentrat. Ich spürte den Schweiß im Nacken. Die Zigarette            Sie nahm ihr Buch in die Hand und blätterte etwas darin herum, als wäre        auch überhaupt nicht wusste, wohin ich überhaupt noch gehen konnte.             Ich hörte mir jede Meinung an. Auch mein Vater hatte eine. Er gab sich als
hielt ich immer noch in meiner Hand verschlossen, wie einen Schatz, den         das eine akzeptable erste Frage: „Es ist ein Buch über den Krieg. Ein Deut-    Vielleicht müsste ich die Stadt verlassen, vielleicht sogar das Land, über      Stimme der Vernunft und sagte, für ihn sehe die Kreatur aus wie ein Faul-
mir jemand wegnehmen würde, wenn ich ihn offen zeigte. Ich öffnete die          scher hat es vor sehr langer Zeit geschrieben. Es ist sehr seltsam. Alle ma-   den Ozean in die Vereinigten Staaten oder ein anderes Land jenseits des         tier, dem die Haare ausgefallen seien. Als ich erwiderte, dass Faultiere nor-
Finger und hielt meine Beute zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Zi-           chen sich bereit, um aus den Schützengräben zu stürmen, und der Erzäh-         Pazifiks. Jedenfalls saß ich lange genug, um die schreiende Menge zu se-        malerweise keine Menschen angriffen, zuckte er nur mit den Schultern
garette war geknickt, aber nicht gerissen. Ich würde sie noch rauchen kön-      ler sagt immer wieder: ‚Jetzt zieht der Leutnant seinen Mantel aus.‘ Es ist    hen, die sich durch die Gassen der Stadt drängte, mit Ricardo, Manuel und       und sagte: „Wer weiß, was diese Idioten da unten gemacht haben.“
nen, ich stellte mir trotzdem die Frage, wann ich sie anzünden müsste,          wirklich seltsam.“                                                             dem kleinen Carlos irgendwo in ihrer Mitte, und der Geschichte auf ihren        Ricardo traf ich erst ein paar Tage später wieder. Ich hatte mich weitestge-
sodass Pamela noch sah, dass ich rauchte, jedoch nicht, wie ich sie anzün-      Sie hielt kurz inne, als warte sie auf einen Kommentar, aber das Schwin-       Lippen, dass Ricardo in einer Höhle unten am Fluss eine Kreatur mit ei-         hend aus der Stadt ferngehalten, war nicht noch einmal zu den Promena-
dete, weil mir das misslingen konnte.                                           delgefühl ließ nur langsam nach, also nickte der Junge nur, der ihr            nem Stein erschlagen hatte. Das waren ihre Worte: eine Kreatur.                 den gegangen, und in Alberts kleinen Supermarkt würde ich nie wieder in
Ich entschied mich, in sicherer Entfernung zu ihrem Café die Zigarette an-      gegenübersaß.                                                                  Später erzählten viele, sein T-Shirt sei blutbeschmiert gewesen, blutbe-        meinem Leben einen Fuß setzen. Ricardo kam zu mir nach Hause, und nach-
zuzünden. Das Anzünden gelang mir erstaunlich gut, gleich beim ersten           „Alle lachen und sie stürmen“, sagte sie. „Aber einer bleibt liegen, weil er   schmiert auch seine Hände und sein Gesicht. Das stimmte natürlich nicht.        dem er sehr lange geschwiegen hatte, erzählte er mir mit zahlreichen Un-
Versuch glühte die Zigarette, doch dann nahm ich den ersten Zug, und            von einer Kugel getroffen wurde. Er klammert sich an das Bein des Leut-        Ich sah ihn an diesem Tag in den großen Ferien, in denen ich endlich kein       terbrechungen, was in der Höhle am Fluss tatsächlich geschehen war. Als er
Ricardo sagte jetzt auch: „Doch. Da ist etwas. Da ist etwas Großes da vor-      nants und sagt immer wieder: ‚Nicht allein lassen.‘ Als ich das gelesen        Junge mehr sein wollte. An diesem Tag, der vielleicht wirklich wichtig war.     seine Geschichte beendet hatte, saßen wir eine Weile schweigend im Son-
ne im Wasser.“ Und Carlos, der seine Füße ebenfalls ins Wasser gehalten         habe, dachte ich, ich müsste weinen, weil es so traurig ist, aber ich habe     Da war kein Blut, oder wenn da Blut war, dann war es so wenig, dass es          nenlicht, das uns so auf die Gesichter schien, dass wir sehr ernst aussahen.
hatte, krabbelte hektisch von der Felskante fort, wobei er sich an einem        nicht geweint.“                                                                kaum auffiel.                                                                   Schließlich sagte Ricardo: „Weißt du, woran ich immer denken muss? Als
spitzen Stein die Handfläche aufschnitt. Und Manuel erstarrte und hob           „Ich weine nie bei Büchern. Auch nicht bei Filmen“, sagte jemand und           Später fiel es allen schwer, zu beschreiben, wie die Kreatur tatsächlich aus-   ich es mit dem Stein traf, gab es so ein Geräusch von sich. Es schrie nicht
langsam die Arme. Er traute sich nicht, sich umzudrehen und auf den             bereute es sofort. Ihm wollte einfach nichts Geistreiches einfallen, also      gesehen hatte. Haarlos war sie gewesen, darauf konnten sich alle einigen.       wirklich, es keuchte eher. Und das klang irgendwie so wie die Jungs, die
Punkt zu blicken, den die anderen anstarrten. Er wusste nicht, ob er bes-       redete er weiter. „Aber ich kann mir vorstellen, dass andere es tun.“          Auf allen vieren war sie gegangen, sie hatte Krallen und einen seltsam          wir in den Pausen damals getreten haben. Eigentlich kann das nicht sein,
ser stillstehen oder so schnell wie möglich das Wasser verlassen sollte.        Sie schwieg und wartete wieder darauf, dass der Junge noch etwas               platten Kopf, wie eingedrückt. Vielleicht war das der Grund für all die Spe-    aber es klang ganz genauso. Ich versuche, an andere Sachen zu denken,
Er wusste überhaupt nichts.                                                     sagen würde, doch dieser schwieg, suchte vielleicht nach einem passen-         kulationen über den Ursprung des Wesens, die in den folgenden Tagen,            aber ich denke immer nur daran.“
Ein überwältigendes Schwindelgefühl breitete sich sofort in meinem Kör-         den nächsten Satz, nach einer geistreichen Antwort, nur war da nichts.         Wochen und Monaten geäußert wurden. Die einen waren sich vollkom-               Während er das sagte, warf er mir immer wieder kurze Blicke zu. Auch
per aus, so stark, dass ich Angst hatte, mich hier auf den Promenaden zu        „Ich habe dich vor ein paar Tagen auch mit einem Buch gesehen“, sagte          men sicher, dass es sich um ein fehlgeschlagenes Experiment handeln             wenn Ricardo nicht kleiner war als ich, kam es mir so vor, als würde er mich
übergeben. Der Plan hatte einen großen Fehler. Die Wolken flackerten vor        sie endlich. „Wovon handelte es?“                                              musste, das aus dem Forschungszentrum entkommen war. Sie stellten               von unten ansehen. Ich kann nicht erklären, warum das so war, aber et-
der Sonne, sie schwankten, als wären sie an Schnüren aufgehängt, und            „Es geht auch um den Krieg“, sagte der Junge, „aber in einer anderen           sich jeden Montag mit Schildern an die Straße, die hinauf zu dem Gebäu-         was an diesen Blicken sagte mir, dass wir jetzt an einem anderen Ort an-
die Promenade streckte sich vor mir wie eine endlose Autobahn. Ich blieb        Welt. Sie ist wie das Mittelalter. Es ist sehr brutal. Das finde ich gut.“     de führte, auf denen Parolen gegen die Versündigung des Menschen an             gekommen waren. Ich musste an die Bilder aus dem Pornoheft denken,
stehen und starrte wie ein Kurzsichtiger geradeaus, und Manuel hat-             „Warum?“                                                                       Gottes Natur standen. Vier aufeinanderfolgende Montage standen sie              die mir Albert gezeigt hatte, dabei wollte ich das überhaupt nicht. Ich ver­
te sich noch immer nicht bewegt, nur sein Gesicht veränderte sich. Sein         Er sprach weiter. Seine Stimme war rau, und jedes Wort klang, als käme         dort, dann verloren sie das Interesse an Gottes Natur. Andere behaupteten,      suchte, an andere Sachen zu denken, aber ich dachte nur daran.
Mund wurde breiter, die Augen öffneten sich weiter und weiter, und er           es von ganz tief unten: „Weil es wie das Leben ist, verstehst du? Entweder
begann zu stammeln: „Scheiße. Scheiße. Scheiße. Was ist da? Wie groß            man nimmt sich, was man will, oder andere tun es. So war es immer, und
ist es?“ Aber Carlos schüttelte nur immer wieder den Kopf und sagte: „Ich       ich glaube, so wird es immer sein. Ich glaube nicht an den Frieden.“
weiß es nicht. Keine Ahnung. Nicht so groß wie ein Mensch, aber auch            Ich hätte ihm gerne sagen wollen, dass er nicht weitersprechen soll, doch
nicht klein, und es ist jetzt irgendwo im Wasser.“ Ich starrte immer noch       er sprach einfach weiter, während ein anderer Junge zum ersten Mal auf-                                                                        AUTOR
auf die Tischgruppe, die unscharf vor mir lag. Da saß sie an einem der klei-    schrie, weil er meinte, etwas im Wasser hätte ihn an der Wade berührt.                                                                         Philipp Böhm wurde 1988 in Ludwigshafen geboren und studierte in Jena und
nen Tische und hatte ihr Buch gerade abgelegt. Sie sah mich. Sie beobach-       Und als es ihn dann wirklich, tatsächlich, wahrhaftig am Knöchel packte,                                                                       Bremen. Er veröffentlichte Kurzprosa in Zeitschriften und Büchern (zuletzt in der
tete mich. Es gab kein Zurück mehr. Ich riss meinen Mund auf, gierig nach       als sich etwas um den Knöchel legte, das sich wie eine Kralle anfühlte, je-                                                                    Anthologie Vom Warten, herausgegeben von Stefan Geyer). 2014 erhielt er das
frischer Luft, nach etwas, das die Übelkeit aus meinem Körper vertreiben        denfalls hart und scharf, da kam kein zweiter Schrei. Nur sein Gesicht kün-                                                                    Bremer Autorenstipendium. 2016 war er Finalist des 24. open mike. Er ist Teil der
würde. Die Zigarette konnte ich jetzt nicht wegwerfen. Sie musste gese-         dete von dem Schrei, der da hätte kommen sollen, nicht kommen wollte.                                                                          Redaktion des Literatur- und Kulturmagazins metamorphosen und arbeitet für
                                                                                                                                                                      © Sonja Szillinsky

hen haben, dass ich erst einen Zug genommen hatte. Also nahm ich has-           Manuel war erstarrt, während der Junge, der für mich sprach, seinen Stuhl                                                                      das Literaturhaus Lettrétage in Berlin. Sein Debütroman Schellenmann erscheint
tig drei Züge hintereinander und meinte danach, das Bewusstsein zu ver-         noch einmal näher an Pamelas Stuhl rückte.                                                                                                     2019 im Verbrecher Verlag.
lieren. Ich schaffte es dennoch bis zu ihrem Tisch, und es gelang mir sogar,    Und sie fragte: „Und was würdest du dir nehmen?“

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