Maturaarbeit Hannah Berthold - Welcome to School

Die Seite wird erstellt Sarah Fritz
 
WEITER LESEN
Maturaarbeit Hannah Berthold - Welcome to School
Zukunftsmusik

   Maturaarbeit
Hannah Berthold
                  Wie junge Asylsuchende in der Schweiz Fuss fassen
Maturaarbeit Hannah Berthold - Welcome to School
Maturaarbeit 2018 /19 von Hannah Berthold
Literargymnasium Rämibühl, Zürich
Betreut von Christoph Schneider
Layout mit Affinity Publisher
Fotos von Hannah Berthold
Inhalt

Editorial ..................................................................................................................4

Wo Schüler Schule Schätzen ................................................................................5
Ein Integrationsprojekt, das Jugendliche vor dem Nichtstun bewahrt

Vier Heimaten ........................................................................................................19
Die Integrationsgeschichte einer jungen Muslima

Wo von Integration die Rede ist, sollte nicht Assimilation gemeint sein......25
Versuch einer Richtigstellung

Fördern und Fordern............................................................................................33
Uster zeigt, wie es gehen könnte

Ankommen ..............................................................................................................39
Wie der Schweizer Dokumentarfilm «Neuland» bewegt

«So was Kriegst du aus dem Herzen nicht mehr raus.» ...................................41
Meine Zeit in einer Flüchtlingsschule

Integration im Wandel .........................................................................................47
Eine historische Übersicht

Glossar ..................................................................................................................51

Quellenverzeichnis ....................................................................................................53

Abbildungsverzeichnis ..............................................................................................60

Dank ...............................................................................................................................62
https://www.duden.de/suchen/dudenonline/Zukunftsmusik

   Zukunftsmusik, die
   Wortart: Substantiv, feminin
   Häufigkeit:

   Rechtschreibung
   Worttrennung: Zu|kunfts|mu|sik

   Bedeutungsübersicht
   etwas, dessen Realisierung noch in ferner Zukunft liegt, was
   noch als utopisch angesehen werden muss
   Beispiel
   dieses Projekt ist einstweilen Zukunftsmusik

   Aussprache
   Betonung: Zukunftsmusik
   Lautschrift: [ˈtsuːkʊnftsmuziːk]

   Herkunft
   ursprünglich polemisch gegen Richard Wagners Musik ge-
   richteter Begriff
EDITORIAL
Das Thema der Migration ist in den letzten Jahren immer präsenter
geworden. Dabei werden vor allem Fragen in Bezug auf die
Herkunftsländer und die Menge der Einwanderer diskutiert. Wie viele
Migranten verträgt ein kleines Land wie die Schweiz? Die einfache
Frage, wie es nach dem Asylentscheid weiter geht, wird oft aussen vor
gelassen, obwohl sie eigentlich von oberster Priorität sein sollte. Wie
kann man entscheiden, wie vielen Personen Zuflucht gewährt werden
soll, wenn nicht bekannt ist, was mit ihnen in der Schweiz passiert?
Wie verbringen sie die Lücke zwischen Asylantrag und Asylent-
scheid? Wo finden sie ein neues Zuhause? Wo erhalten sie die
fehlende Bildung und wie erlernen sie eine der Landessprachen? Wie
sollen sie ohne Qualifikationen den Einstieg in den Arbeitsmarkt
finden? Wie den Anschluss an die Gesellschaft schaffen? Kurz gesagt:
Wie ermöglicht man ihnen ein Leben in der Schweiz? Debatten um
diese Frage sind immer auch ein Spiegel der eigenen Vorstellungen
von Gesellschaft. Wie weit soll Integration gehen? Mit welchen
Mitteln und von wem soll sie finanziert werden? Wie stellen wir uns
das Zusammenleben vor? Sind wir bereit, das Fremde zu akzeptieren?
Welche Rollen spielen Kompromisse? Der Prozess der Integration
bringt auch den Prozess einer Gesellschaftsveränderung mit sich.

Dieses Magazin ist eine Zusammenführung verschiedener Perspekti-
ven auf das Thema Integration. Im Fokus stehen dabei jugendliche
Asylsuchende. Eine junge Muslima, die Leiterin eines Integrations-
projekts für junge Asylsuchende und der Leiter einer Asyl- und
Flüchtlingskoordinationsstelle erzählen und stellen ihre Sicht auf das
Thema dar. Die Texte sollen Auskunft geben und Fragen aufwerfen.
Sie geben Einblick in eine neue Welt, die für viele vielleicht fremd ist,
obwohl sie es eigentlich nicht sein sollte.
Über mehrere Monate war ich und werde es auch weiter bleiben, ein
Teil dieser Integrationswelt und habe selbst jugendliche Flüchtlinge
bei Welcome to School, einem schulischen Integrationsprojekt für
jugendliche Asylsuchende, unterrichtet. Ich habe dabei enorme
Dankbarkeit von Seiten der Schülerinnen und Schüler erfahren.
Dankbarkeit, dass sie die versäumte Bildung nachholen dürfen, dass
sich jemand für sie einsetzt, an sie glaubt und sich Zeit für sie nimmt.
Dankbarkeit für die Chance, sich ein Leben aufzubauen. Diese
Erfahrung hat mir gezeigt, wie wichtig Integration ist. Sie betrifft uns
alle und man kann viel mit wenig erreichen. Sie hat mir aber auch
bestätigt, dass die vollkommene Verwirklichung von Integration noch
Zukunftsmusik ist.

                                                                            4
Wo
    Schüler
    Schule
    SChätzen
    Ein
    Integrationsprojekt,
    das Jugendliche
    vor dem Nichtstun
    bewahrt

    Vor mehr als zwei Jahren haben
    Katrin Jaggi und Jan Capol eine
    Schule gegründet, die jugendli-
    chen Asylsuchenden im Asylver-
    fahren eine Aufgabe und die
    Chance gibt, versäumte Bildung
    nachzuholen und sich so auf eine
    Anschlusslösung vorzubereiten.
    Schulleitern Nina Kleiner im Ge-
    spräch.

5
«Das grösste Elend unserer Schüler ist kei-        Deutsch, Mathematik, Geschichte, Staats-
ne Aufgabe zu haben. Sie fühlen sich rich-         kunde, Mensch und Umwelt und Englisch,
tig nutzlos», erklärt Nina. Sie wickelt sich,      sowie in Musik und Sport unterrichtet.1
während sie redet, immer wieder ihr Haar-          «Worauf müssen wir die Schüler vorberei-
gummi um den Finger und kreiert neue Fi-           ten, dass sie dann selbständig die weiteren
guren damit. Ihre braunen Haare winden             Schritte machen können?» Mit dieser Frage
sich in einer Flechtfrisur um den Kopf. Sie        beschäftigen sich Nina und die Lehrperso-
trägt Jeans, einen grauen Pullover und ei-         nen jeden Tag. Die Lehrer machen Querver-
nen gelben Mantel, den sie neben sich auf          gleiche mit dem Sekundarabschluss, um
die Bank des Cafés «Die kleine Freiheit»           den Lehrplan zu erstellen und Schwerpunk-
gelegt hat. In regelmässigen Abständen rat-        te im Stoff zu setzten. So sehen sie, was bei
tert ein Tram vorbei.                              einer Lehrstelle verlangt wird, und können
«Asylsuchende, die auf ihren Asylentscheid         die Schülerinnen und Schüler optimal dar-
warten und den N-Status tragen, dürfen we-         auf vorbereiten. Nach Welcome to School
der arbeiten, noch haben sie ein Recht auf         machen viele eine Integrationsvorlehre, be-
Integrationsmassnahmen. Daraus resultiert          vor sie eine Berufslehre starten. Im Som-
ein endloses Warten und Nichtstun», erklärt        mer 2018 hat das Projekt der Integra-
sie. Um diese Lücke zwischen Asylantrag            tionsvorlehren des Kanton Zürichs zur Er-
und Asylentscheid zu füllen, haben Katrin          leichterung des Einstiegs in die Arbeitswelt
Jaggi und Jan Capol im April 2016, auf-            begonnen. Es soll für vier Jahre laufen und
grund des starken Anstiegs an Flüchtlingen         800 bis 1000 Personen pro Jahr beschäfti-
und Migranten im Jahr 2015, beschlossen,           gen können. Anerkannte Flüchtlinge und
eine Schule zu gründen, die den Jugendli-          vorläufig Aufgenommene können im Pro-
chen eine Aufgabe gibt. Auch wenn Inte-            gramm der Integrationsvorlehre während
grationsbemühungen beim Asylentscheid              einem Jahr die Grundlagen in einem von
nicht berücksichtigt werden, sondern nur           neun möglichen Berufsfeldern erlernen. Sie
zählt, ob man gemäss der Flüchtlingsdefini-        arbeiten drei Tagen pro Woche und besu-
tion als Flüchtling gilt, ist die Schule für die   chen an eineinhalb Tagen Unterricht.2
Asylsuchenden von ungeheurer Bedeutung.            Auch wenn die Schüler die Schule enorm
Sie gibt ihnen nicht nur die Möglichkeit,          schätzen, ist es nicht immer einfach für sie.
Deutsch zu lernen, sondern bringt ihnen            «Deutsch zu lernen, obwohl man nicht
auch bei, sich in einem strukturierten Alltag      weiss, ob man bleiben darf oder nicht, er-
zu bewegen. So sind sie, im Fall einer Asyl-       fordert eine Wahnsinnsmotivation. Die
bewilligung, auf ein selbständiges Leben           können nicht alle aufbringen», gibt Nina
vorbereitet. Die Gründer des Projekts sind         Kleiner zu bedenken. «Es gab auch schon
der Meinung, dass man von einem Jugend-            Schüler, die den Unterricht und damit die
lichen, der drei Jahre lang keine Tagesstruk-      Mitschüler so stark behindert haben, dass
tur hatte, kein Deutsch gelernt hat und die        ihre Ausbildung abgebrochen werden
Kultur der Schweiz nicht kennt, bei einem          musste. Jeder geht anders mit der langen
plötzlichen positiven Entscheid nicht er-          Wartezeit um. Manchmal kann schon eine
warten kann, dass er organisiert, pünktlich        kleine Unstimmigkeit ein Auslöser für den
und gebildet ist. Deshalb haben Jaggi und          Motivationsverlust sein.»
Capol den Fokus auf Nachholbildung und             Aber meistens, wenn es einem Schüler
nicht auf eine Anschlusslösung gelegt.             schlecht geht, liegt es an seiner belastenden
Die Jugendlichen werden in den Fächern             Wohnsituation. Jugendlichen Asylsuchen-

                                                                                                   6
den im Asylverfahren wird vom Staatsse-        Welcome to School drei Klassen mit unter-
    kretariat für Migration (SEM) durch ein        schiedlichen Niveaus unterbringen: Die
    elektronisch generiertes Zufallsprinzip eine   grüne ist die schwächste Klasse, dann
    Unterkunft zugewiesen. Oft landen sie in       kommt die gelbe und die stärkste ist die
    Kollektivunterkünften wie Empfangszen-         blaue Klasse. Zusätzlich gibt es noch zwei
    tren, Flüchtlingsheimen, Wohncontainern        Klassen, welche nur am Morgen unterrich-
    oder in WGs mit anderen, meist erwachse-       tet werden. Die Schule muss sich also auf
    nen Asylbewerbern. Jugendlichen, die mit       die riesige Bandbreite von Bildungsniveaus
    ihrer Familie geflüchtet sind, wird manch-     ausrichten.
    mal eine Wohnung zugewiesen. Minderjäh-        Oft haben die Jugendlichen noch gar keine
    rige kommen, wenn sie Glück haben, in          oder nur sehr wenig Bildung erfahren. Am
    eine Pflegefamilie.3 Für einen Jugendlichen    Anfang des Semesters durchlaufen die an-
    kann es sehr schwierig sein, mit fremden       gemeldeten Schüler einen Einstufungstest
    Erwachsenen zu wohnen, die oft einer an-       in Mathematik und Deutsch, um eingeteilt
    deren Kultur angehören oder nicht die glei-    werden zu können. Aber auch innerhalb der
    che Sprache sprechen und eine grundver-        Klassen gibt es immer noch grosse Unter-
    schiedene Tagesstruktur haben.                 schiede. Deshalb werden die Schüler immer
                                                   von mehreren Personen unterrichtet, einem
    Die weissen Bänke im Klassenzimmer sind        Hauptverantwortlichen, der ein Lehrdiplom
    zu einem riesigen Tisch zusammengescho-        und Lehrerfahrung besitzen muss, und ei-
    ben. Ivan Lenzo fordert die Schüler auf mit-   nem oder zwei unterstützenden Laienkräf-
    anzupacken, um Bankreihen zu bilden. Die       ten. So können die Lehrer viel besser auf
    Jugendlichen fangen sofort an, die Tische      die einzelnen Schüler eingehen und ihnen
    zurückzuschieben. «Das ist noch vom Mu-        individuell helfen.
    sikunterricht», erklärt er. Ivan war von An-
    fang an beim Projekt Welcome to School         Die Schüler und Schülerinnen begrüssen
    dabei. Er unterrichtet als Hauptverantwort-    ihren Lehrer mit einem Händedruck. Einem
    liche Lehrperson Mathematik in der soge-       Mann die Hand zu geben kostet eine musli-
    nannten blauen Klasse, einer von fünf Klas-    mische Frau viel Überwindung. Im Islam
    sen à durchschnittlich fünfzehn Schülern.      ist es nicht üblich, dass eine geschlechtsrei-
    Von Beruf ist er ebenfalls Mathelehrer und     fe Frau einem Mann, mit dem sie nicht ver-
    unterrichtet am Gymnasium Zürich Nord in
    Oerlikon. Welcome to School ist momentan
    in den Räumlichkeiten der Liebfrauen Kir-               «Man organisiert
    che, etwas oberhalb vom Central, einquar-               ins Blaue hinaus.»
    tiert. In wenigen Wochen aber wird die
    Schule in die alte «Zürcher Schule für Ge-
    staltung» in der Nähe des Limmatplatzes        wandt oder verheiratet ist, die Hand gibt. Es
    umziehen und hat so die Chance sich zu er-     gilt als intime Annährung. Auch ein paar
    weitern. Die Grösse der Schule richtet sich    der männlichen Jugendlichen haben ein
    nach dem verfügbaren Platz und der Anzahl      Problem mit der Begrüssung. Es ist auch
    Freiwilligenhelfer. Momentan engagieren        für sie nicht üblich, eine fremde Frau ein-
    sich ungefähr neunzig Lehrpersonen, der        fach so zu berühren. «Es ist schwierig, dar-
    Grossteil davon ist weiblich. An Schülern      über zu urteilen oder zu sagen ‘Nein, du
    mangelte es bis jetzt nicht. Zurzeit kann      musst jetzt’, weil wir nicht wissen, was

7
noch alles damit verbunden ist», meint         Afghanistan. «Die Zusammensetzung der
Nina Kleiner auf die Frage, ob die Geste       Schüler spiegelt eigentlich immer die aktu-
des Händedrucks bei Welcome to School          elle politische Situation wieder», erklärt
Pflicht sei. «Aber wir sagen den Schülerin-    Nina. Von den insgesamt siebzig Schülern
nen und Schülern immer wieder, wie wich-       bei Welcome to School sind nur etwa sechs
tig solche Dinge für ihre Integration sind.»   mit ihrer Familie geflüchtet. Fast alle männ-
Die Klassen bestehen meist zu einer gros-      lichen Migranten sind alleine, während die
sen Mehrheit aus jungen Männern. Das hat       Frauen öfter in Begleitung ihrer Familie
unter anderem den Grund, dass die Flucht       sind. Das ist allerdings auch nicht immer
in ein anderes Land sehr gefährlich sein       einfacher. In vielen Ländern und Religio-
kann. Gleichzeitig ist sie aber auch sehr      nen haben Frauen keinen Anspruch auf eine
teuer und das Ende oft ungewiss. Muss sich     umfassende Bildung. Im Islam zum Bei-
eine Familie entscheiden, wem sie die          spiel ist es die Aufgabe der Frau, für das
Flucht ermöglicht, liegt es in der Regel       Wohl der Kinder zu sorgen und den Haus-
nahe, den erwachsene Sohn oder den Vater       halt zu führen. Deshalb besuchen Frauen im
auszuwählen. Im Jahr 2017 wurden fast          besten Fall nur für einige Jahre eine örtliche
zwei Drittel aller Asylanträge in der          Schule. Jetzt in einem Land zu leben, in
Schweiz von Männern gestellt. Davon war        dem Bildung für jeden obligatorisch ist,
ein Viertel zwischen 18 und 25 Jahren alt.4    stellt eine grosse Umstellung dar. Viele
Die meisten Schüler bei Welcome to School      Frauen sehen das als einmalige Chance an
kommen momentan aus Eritrea, Syrien und        und wollen diese auch nutzen. Dabei stos-

                                                                                                8
sen sie in ihrem familiären Umfeld aber                «Worauf müssen wir
    nicht immer auf Unterstützung, sondern                 die Schüler
    werden oft stark verurteilt.                           vorbereiten, dass sie
                                                           dann selbständig die
    «Nehmt jetzt bitte alle das Arbeitsblatt vom           weiteren Schritte
    Dienstag hervor. Für diejenigen, die nicht             machen können?»
    da waren, habe ich hier noch Kopien. Die
    Aufgabe eins solltet ihr schon gelöst haben,
    das war Hausaufgabe», beginnt Ivan Lenzo         Es ist wichtig, dass diese sehr genau geführt
    den Unterricht. Heute geht es darum, das         wird. Die Schüler müssen lernen, pünktlich
    Thema Gleichungen, welches vor den Feri-         zu kommen, dass sie nicht einfach ohne
    en schon angeschnitten wurde, zu wieder-         Entschuldigung fehlen dürfen und was
    holen und zu vertiefen. Ivan möchte sehen,       überhaupt als Entschuldigung gilt. Katrin
    was die einzelnen Schüler schon können.          Jaggi, Gründerin der Schule, erzählt von ei-
    Nur wenige haben die Hausaufgaben ge-            nem Mädchen, das als Grund für ihr Fehlen
    löst, entweder weil sie nicht dazu in der        einen Termin im Nagelstudio angegeben
    Lage waren oder weil sie es vergessen ha-        hat.
    ben. Manche hatten auch einfach keine            «Man muss sich immer wieder vor Augen
    Lust. «Wir lösen jetzt gemeinsam die Auf-        führen, dass das oft Schüler sind, die noch
    gabe drei. Wenn jemand findet, dass das zu       nie eine Schule besuchen konnten», betont
    einfach für ihn ist, kann er sich dort drüben    Nina. Sie ist seit 2017 dabei, hat zuerst als
    hinsetzen und alleine weiterarbeiten. Dieje-     Sportlehrerin ausgeholfen und ist mittler-
    nigen, die die Hausaufgaben nicht gemacht        weile Schulleiterin. Während dem Psycho-
    haben, machen diese bitte noch.» Die Schü-       logiestudium in Teilzeit arbeitet die Mitte-
    ler murmeln, manche stehen zielstrebig auf,      Zwanzigjährige drei Tage pro Woche bei
    andere zögern noch. Für sie ist es schwie-       Welcome to School. Sie ist verantwortlich
    rig, ihr eigenes Niveau einzuschätzen. Ivan      für die Lehrpersonen, die Schüler und die
    beginnt, die Aufgabe an die Tafel zu schrei-     Sozialberatung. Haben die Jugendlichen
    ben. Es ist eine einfache Gleichung, man         Probleme, ist Nina ihre Ansprechperson
    würde sie vielleicht in der Vorbereitung ins     oder Nina geht auf sie zu, wenn sie das Ge-
    Gymnasium antreffen. Viermal x ist gleich        fühl hat, jemand sei in einer belastenden Si-
    sechsunddreissig. «Wer kann mir sagen,           tuation. Trotzdem redet sie mit keinem
    wie viel x ist?», fragt der Lehrer in die        Schüler über seine Vergangenheit, ausser
    Klasse. Es ist kurz still, die Jugendlichen      ein Trauma ist der Auslöser für seine Pro-
    denken angestrengt nach.                         bleme. «Wir sind nicht da, um zu fragen,
    «Neun!» ruft ein Schüler stolz. «Ja, neun,       warum bist du hier, woher kommst du, was
    neun ist richtig, das denke ich auch!» stim-     hast du erlebt. Das spielt keine Rolle für die
    men ihm die anderen zu. Ivan nickt und           jetzige Situation. Sie sind jetzt hier und wir
    schreibt das Ergebnis an die Tafel. Alle         müssen ihnen helfen, sich weiterzuentwi-
    schreiben eifrig mit. Ein Schüler meldet         ckeln», so Ninas Meinung. Sie hofft, dass
    sich, er sei nicht ganz mitgekommen. «Du         andere Leute auch anfangen können, so zu
    musst sechsunddreissig durch vier teilen»,       denken.
    hilft ihm eine Klassenkameradin.                 Da sie in einer Schlüsselposition tätig ist,
    Während die Klasse an den Aufgaben wei-          wird sie entlohnt, leistet aber zusätzlich
    terarbeitet, füllt Ivan die Absenzenliste aus.   noch 10% Freiwilligenarbeit. Finanziert

9
wird das Projekt durch Privatspenden, Stif-     spannter als sonst. Das Thema sind Textauf-
tungen und Gemeinden, denen es wichtig          gaben mit Gleichungen und Dreisätzen.
ist, das Thema Integration zu unterstützen.     Das Klassenzimmer ist zu klein und es sind
Der Ganztagesunterricht, neunundzwanzig         zu viele Schüler, als dass man immer einen
Lektionen pro Woche, kostet 5000 Franken        freien Platz zwischen ihnen lassen könnte.
pro Semester. Seit der Änderung des Sozi-       Aufgeregt folgen die Schüler den Anwei-
alhilfegesetztes im Jahr 2017, bei dem der      sungen des Lehrers, wo sie sich hinsetzen
Kantonsrat beschlossen hat, die Sozialhilfe     sollen.
für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge          «Jetzt bitte alle Materialien vom Tisch, die
drastisch zu kürzen, müssen die Gemeinden       braucht ihr nicht. Ausser Taschenrechner.
die Kosten für die ihnen zugewiesenen           Ich verteile jetzt die Prüfungsblätter umge-
Flüchtlinge selbst übernehmen. Viele Ge-        dreht. Ich dürft sie erst anschauen, wenn
meinden können oder wollen nicht für die        alle sie haben.»
Integrationsmassnahmen aufkommen.5              «Wir dürfen unsere Notizen nicht brau-
«Für vorläufig aufgenommene Personen ist        chen?», rufen die Schülerinnen und Schüler
damit der Wohnort absolut entscheidend für      empört. «Natürlich nicht. Das wisst ihr
ihre Zukunft, und es entsteht eine Willkür,     doch, es ist nicht eure erste Prüfung», lacht
die nicht sein dürfte», meint Nina Kleiner.     Ivan. «Ihr dürft anfangen.»
In der Schweiz leben 45'000 Flüchtlinge,        Die Schüler drehen die Blätter um und be-
die den F-Status erhalten haben, davon blei-    ginnen sofort zu schreiben. Die ersten Auf-
ben 90% dauerhaft in der Schweiz. Sie dür-      gaben lösen fast alle ohne Probleme, dann
fen arbeiten, müssen aber in dem ihnen          wird es schwieriger. Bei den Textaufgaben
zugewiesenen Kanton bleiben. Regelmäs-          sind sie nicht nur mit mathematischen Pro-

           «Man muss sich immer wieder vor Augen führen,
           dass das oft Schüler sind, die noch nie eine Schule
           besuchen konnten.»

sig wird überprüft, ob ihre Aufnahme noch       blemen konfrontiert, sondern müssen auch
gerechtfertigt ist. Eine Langzeitstudie des     noch die sprachliche Barriere überwinden.
Staatssekretariats für Migration zeigt, wie     Mehrere Schüler fragen, was das Wort
stark negativ der Stempel des F-Status den      «subtrahieren» bedeutet, aber Ivan gibt kei-
Erfolg bei der Jobsuche beeinflusst: Der        ne Auskunft. «Das gehört auch zum Stoff
Status wirkt stärker als Alter, Herkunft oder   dazu», meint er. Nach dem Test sind man-
Geschlecht.6 Um für alle Flüchtlinge, unab-     che Schüler stolz auf sich, andere depri-
hängig von ihrem Wohnort, gleiche Startbe-      miert. Sie sind enttäuscht, dass es trotz ihrer
dingungen zu schaffen, nimmt Welcome to         Bemühungen nicht gut gelaufen ist oder
School seit der Abstimmung nicht mehr nur       dass sie vermeidbare Fehler gemacht ha-
Jugendliche mit N-Status, sondern auch          ben. Ein Schüler ist besonders niederge-
solche mit F-Status auf.                        schlagen. Er habe Prüfungsangst, erklärt er.
                                                Ausserdem habe er kurz vor der Prüfung ei-
Drei Wochen später schreiben die Schüler        nen Anruf von seinem Anwalt erhalten, der
einen Mathetest. Die Stimmung ist ange-         ihm mitteilte, dass er in den nächsten Tagen

                                                                                                  10
11
12
den Brief mit dem Asylentscheid erhalten         sollte es in der Schweiz anders sein? Oft
     werde. Deshalb habe er sich nicht wirklich       denken die Schüler auch in Klassen und se-
     konzentrieren können. Die belastende Situ-       hen sich dabei als eine minderwertige an.
     ation der Schüler und Schülerinnen führt         Zusammen mit dem Gefühl, unnütz zu sein,
     immer wieder zu Konzentrationsschwierig-         entsteht eine Negativspirale. Gerade hier ist
     keiten. Manchmal erscheinen sie auch gar         Integration extrem wichtig. «Wer schon gut
     nicht, weil sie einfach die Kraft nicht ha-      integriert ist, dem geht es psychisch auch
     ben, aufzustehen. «Ich habe erfahren, dass       viel besser. Wenn sie keinen Anschluss ha-
     in meinem Dorf in Afghanistan Krieg              ben, kann es sehr schnell ein Klassenden-
     herrscht. Ich habe noch nichts von meiner        ken und ein Sich-Ausgeschlossen-fühlen
     Familie gehört. Ich weiss nicht, ob es ihr       geben», fasst Nina ihre Erfahrungen von ei-
     gut geht», erklärt ein Schüler seine be-         nem Jahren Betreuungsarbeit zusammen.
     drückte Stimmung. Situationen wie diese          Welcome to School reicht für die Integration
     sind bei Welcome to School täglich ein The-      in die Gesellschaft nicht aus, weil die Ju-
     ma. Ein junges Mädchen wird schwanger,           gendlichen zu 80% von Leuten umgeben
     ein Jugendlicher will nach einem negativen       sind, die sich in der gleichen Situation be-
     Entscheid abtauchen, ein anderer ist mit         finden wie sie. In der Schule lernen sie, mit
     dem Rekurs seines negativen Asylent-             dem Zusammengehen unterschiedlicher
     scheids beschäftigt, ein dritter ist plötzlich   Kulturen umzugehen, was ein Grundbau-
     spurlos verschwunden. Die Lehrpersonen           stein für die Toleranz gegenüber der
     versuchen, solche Geschichten nicht an sich      schweizerischen Kultur ist. «Für eine ge-
     heranzulassen.                                   lungene Integration wäre es aber wichtig,
     Wieder fährt ein Tram vorbei. Am Tisch ne-       den Alltag der Schweizer kennenzulernen.
     benan schreit ein Kind, es hat sein Getränk      Die Schüler brauchen und schätzen den
     verschüttet. Nina trinkt einen Schluck Eis-      Kontakt mit Einheimischen extrem. Sie
     tee und zieht ihren Pullover aus. Es wird        wissen allerdings nicht so genau, wie sie
     immer wärmer.                                    mit Schweizern in Kontakt treten können.»
     «Es sind sehr kleine Sachen, die einen glü-      Welcome to School organisiert immer wie-
     cklich machen. Man darf nicht zu grosse          der Projekte mit Gymnasien, um den Schü-
     Erwartungen haben. Es freut mich unglaub-        lern Begegnungsmöglichkeiten zu ver-
     lich, wenn ich sehe, wie sechs Schüler, alle     schaffen. Ausserdem hat die Schule ein Pa-
     von verschiedenen Nationen, zusammen             tensystem aufgebaut. Einige verfolgen
     Mittag essen gehen oder mit dem Töggeli-         Hobbys, um Beziehungen zu Schweizern
     kasten spielen.» Nina lächelt. «Leider ist so    aufzunehmen. Zwei junge Frauen aus der
     eine Offenheit nicht immer vorhanden.            blauen Klasse spielen zum Beispiel Fuss-
     Manche Schüler denken in Ländern und             ball. Beim ersten Training wurde ihnen ge-
     machen teilweise sogar rassistische Bemer-       sagt, dass sie in kurzen Hosen und ohne
     kungen.» Die verschiedenen Kulturen in-          Kopftuch spielen müssen. Wenn ihr das hier
     nerhalb der Klassen schaffen ein enormes         so macht, machen wir das auch, war die
     Spannungsfeld. Die Jugendlichen fühlen           Antwort der Mädchen. «Das nenne ich Inte-
     sich manchmal plötzlich bedroht voneinan-        gration pur», meint Nina Kleiner. «So et-
     der und sehen ihre Mitschüler als Konkur-        was ist nicht einfach für junge muslimische
     renten an. Schiiten und Sunniten, Afghanen       Frauen.» Frauen finden generell einfacher
     und Iraner. Sie haben von klein auf gelernt,     den Anschluss. Woran das genau liegt, kann
     dass der andere nur zweitklassig ist. Wieso      Nina nicht sagen. Vielleicht, weil sich

13
Schweizer Frauen allgemein mehr mit dem          tons Zürich spielen eine grosse Rolle für die
Thema Flüchtlinge beschäftigen. Das sieht        Entwicklung der Schule. Im Jahr 2019 soll
man auch am Anteil der weiblichen Frei-          das beschleunigte Asylverfahren umgesetzt
willigen, der deutlich höher ist als derjenige   werden. Die Asylsuchenden werden sofort
der männlichen. Schlussendlich hängt es          einem Bundesasylzentrum zugewiesen.
aber immer vom Typ Mensch ab, wie leicht         Dort sollen dann innert 21 Tagen Vorabklä-
jemand Freundschaften schliesst und auf          rungen zum Asylgesuch erfolgen. Nach den
Menschen zugeht.                                 Vorbereitungen und der anschliessenden
Den meisten Schülern ist der Kontakt mit         Anhörung wird innerhalb von acht Tagen
Welcome to School nach dem Verlassen der         ein Asylentscheid gefällt werden, so ist es
Schule sehr wichtig. Vor allem wenn sie es       zumindest vorgesehen. Dann erfolgt die
geschafft haben, sich etwas aufzubauen.          Zuweisung in einen Kanton. Bei einem ne-
Eine ehemalige Schülerin zum Beispiel, die       gativen Entscheid tritt die Wegweisung di-
momentan ein Praktikum als Fachfrau Ge-          rekt vom Bundesasylzentrum aus ein. Die
sundheit absolviert, besucht die Schule re-      maximale Aufenthaltsdauer in einem Asyl-
gelmässig und hält motivierende Anspra-          zentrum beträgt 140 Tage. Dieses beschleu-
chen vor den Klassen. Einmal im Jahr wird        nigte Verfahren werden ca. 50% der Asyl-
ein Kinoabend für die Schüler, die Ehema-        suchenden erfahren. Sind nach der Anhö-
ligen und die Freiwilligen organisiert. Auch     rung weitere Abklärungen erforderlich, fin-
am Sommerschlussfest kommen viele vor-           det ein erweitertes Verfahren statt. Die Mig-
bei und erzählen stolz von ihren Erfolgen.       ranten und Migrantinnen werden einem
Auf die Frage, wie sich Welcome to School        Kanton zugewiesen, der für sie und ihre
noch entwickeln wird, meint Nina lachend:        Unterbringung verantwortlich ist. Das er-
«Man organisiert ins Blaue hinaus.» Das          weiterte Verfahren dauert rund ein Jahr. Hat
Umfeld, in dem sie arbeitet, ist sehr instabil   ein Asylsuchender bereits in einem anderen
und unvorhersehbar. «Man weiss nie, wie          Dublin-Staat einen Antrag gestellt, durch-
es weitergeht. Es kann sein, dass nächsten       läuft er innerhalb von 140 Tagen das soge-
Frühling wieder unglaublich viele kom-           nannte Dublin-Verfahren. Eine Kantonszu-
men; dann ist es wichtig, dass die Schule in     weisung erfolgt im Gegensatz zu früheren
dieser Konstellation besteht. Vielleicht wer-    Fällen nicht.7
den es aber auch weniger, sodass sich die        Nina hofft, dass dies die Aufhebung des

 «Deutsch zu lernen, obwohl man nicht weiss, ob man bleiben
 darf oder nicht, erfordert eine Wahnsinnsmotivation. Die
 können nicht alle aufbringen.»

Schule weiterentwickeln und eine andere          gravierendsten Fehlers des bisherigen Sys-
Aufgabe finden muss.» Auch ob sich wei-          tems mit sich bringt: Ihrer Meinung nach
terhin so viele Freiwillige finden, ist schwer   stellt die lange Wartezeit das grösste Inte-
zu sagen. Schon im letzten Sommer war es         grationshindernis dar. «Es geht zu lang, bis
schwieriger, Helfer zu bekommen, weil die        die Migranten sich integrieren dürfen. Ich
Flüchtlingsthematik an Bedeutung verloren        finde, es ist wirklich ein Dürfen. Man ver-
hatte. Auch die weiteren Schritte des Kan-       weigert ihnen die Integration, indem man

                                                                                                 14
sie einfach warten lässt.» Ein weiteres gros-
     ses Problem der Schweiz ist, dass die war-
     tenden Asylsuchenden nicht beschäftigt
     sind. Die Jugendlichen kommen oft aus ei-
     nem Arbeitsalltag und werden dann ge-
     zwungen, nicht zu arbeiten. Immer mehr
     Kantone und Gemeinden, wie zum Beispiel
     Uster oder der Kanton Aargau, gehen gegen
     das Nichtstun vor, indem sie vom ersten
     Tag an Beschäftigungsprogramme und
     Deutschkurse bereitstellen. So kann die In-
     tegration sofort beginnen. Für die Integrati-
     on ist diese klare Tagesstruktur von Anfang
     an essenziell.
     Ein Hindernis zur Integration, das man
     schnell vergisst, ist das Schweizerdeutsch.
     Es ist sehr frustrierend für die Schüler, dass
     sie trotz ihrer Bemühungen, Deutsch zu ler-
     nen, im Alltag nur sehr wenig verstehen.
     Diese Enttäuschung hat auch die Migrantin
     Dania Murad erlebt, die 2014 mit ihren El-
     tern aus Aleppo in die Schweiz geflüchtet
     ist. Mittlerweile spricht Dania so gut Hoch-
     deutsch, dass sie ein Jurastudium an der
     Universität Bern begonnen hat. Auch der
     Dialekt ist kein Problem mehr für sie. In Er-
     innerung an ihre erschwerte Anfangszeit
     hat Dania in den letzten zwei Jahren zusam-
     men mit «voCHabular» ein Selbstlernmit-
     tel kreiert, in dem jeder Übungssatz drei-
     sprachig gestaltet ist: Hochdeutsch, Zürich-
     deutsch und Arabisch, Englisch oder Per-
     sisch. Das Projekt soll als erstes Lehrmittel
     für Schweizerdeutsch eine Lücke füllen.
     Das Ziel dabei ist nicht unbedingt, dass die
     Lernenden Schweizerdeutsch sprechen,
     sondern vielmehr, dass sie es verstehen.8
     Welcome to School will das Lehrmittel für
     die Schüler zugänglich machen, um ihrem
     wachsenden Bedürfnis, Schweizerdeutsch
     zu verstehen, gerecht zu werden. Manche
     wollen sogar noch mehr: Schweizerdeutsch
     sprechen.
     «Was bedeutet dieses Wort?» fragt ein
     Schüler beim Lösen einer Textaufgabe.

15
16
«Achterbahn? Wenn man Achterbahn fährt,       Alter wie die Schüler ist, macht mit. Die
     sitzt man in einem Wagen und fährt unge-      Schüler freuen sich über den Kontakt mit
     wöhnliche Strecken, wie zum Beispiel ganz     der Schweizerin, sie nehmen sie herzlich in
     steil hoch und dann ganz steil wieder run-    die Gruppe auf und zeigen ihr, wie man den
     ter.»                                         Ball auf dem Fuss jonglieren kann. Dann
     «Ach so», lacht der Schüler, «du meinst       wird getöggelet. Der kleine Ball fliegt ra-
     eine Art Chilbi.»                             send schnell hin und her, bei jeder Bewe-
                                                   gung der Plastikspieler quietscht der uralte
     Heute ist es soweit, Welcome to School        Tisch unzufrieden. Die Schüler fluchen
     zieht um. Katrin Jaggi, Nina Kleiner und      lautstark auf Afghanisch oder sogar verein-
     Lova Niederreuther, die gerade ein einwö-     zelt auf Schweizerdeutsch und freuen sich,
     chiges Sozialpraktikum bei Welcome to         wenn ein Tor geschossen wird. Andere hö-
     School macht, haben die ganze Woche da-       ren Musik, während sie spielen. Sie wech-
     mit verbracht, den Umzug vorzubereiten.       seln laufend Positionen, damit jeder mal
     Die Schülerinnen und Schüler warten vor       drankommt, lassen Lova aber immer den
     der Schule etwas verloren auf Anweisun-       Vortritt. Dann kommt der Minivan und so-
     gen, sie müssen auch mitanpacken. Zuerst      fort packen die Schüler wieder mit an, um
     einmal gilt es, alle Materialien wie Schul-   die Sachen einzuladen. Ein paar wollen
                                                   noch mitkommen und die neue Schule se-
                                                   hen, andere wollen nach Hause. Sie verab-
          «Die Zusammen-                           schieden sich mit einem Handschlag.
          setzung der Schüler                      Die Räumlichkeiten der ehemaligen «Zür-
          spiegelt eigentlich                      cher Schule für Gestaltung» werden Welco-
          immer die aktuelle                       me to School bis voraussichtlich 2020 vom
          politische Situation                     Gipserverband für Miete zur Verfügung ge-
          wieder.»                                 stellt. Momentan dürfen sie alle Räume
                                                   nutzen, ab nächsten Sommer müssen sie
                                                   sich auf das dritte Stockwerk beschränken,
     bücher, Taschenrechner und Computer ein-      weil der Gipserverband die anderen Etagen
     zupacken. Dann müssen die grösseren Sa-       selbst nutzten wird. Die neue Schule bietet
     chen wie Tische, Regale und der Töggeli-      trotz der hohen Miete eine enorme Berei-
     kasten mit dem Auto zur Schule transpor-      cherung: viel mehr und viel grössere Klas-
     tiert werden.                                 senzimmer, ein geräumiges Lehrerzimmer
     «Kennt sich irgendjemand mit Mechanik         mit USM-Haller-Möbeln, Kaffeemaschine
     aus?», fragt Lova die Schüler. «Ich brauche   und gemütlichen Sofas und ein grosszügi-
     jemanden, der mir hilft, den Beamer abzu-     ger, gut eingerichteter Pausenraum für die
     montieren.» Ein paar melden sich, sie sind    Jugendlichen.
     froh, eine Aufgabe zugeteilt zu bekommen.
     Die Lehrpersonen begleiten die voll bela-     Um halb fünf ist der Unterricht fertig, die
     denen Jugendlichen zu den neuen Räum-         Jugendlichen packen ihre Sachen zusam-
     lichkeiten, man merkt ihnen die Aufregung     men. Drei Schüler kümmern sich um die
     an. Sechs junge Männer bleiben noch bei       Ordnung im Zimmer, sie wischen die Ti-
     der Liebfrauenkirche, um beim Einladen        sche ab, fegen den Boden und putzen die
     der grösseren Dinge zu helfen. Während sie    Tafel. Währenddessen besprechen die
     aufs Auto warten, spielen sie zusammen        Lehrpersonen den Unterricht. Was ist gut
     Fussball. Auch Lova, die etwa im gleichen     gelaufen und was hat noch Schwierigkeiten

17
bereitet, wer hatte Probleme und für wen       «Auf Wiedersehen, ein schönes Wochenen-
waren die Aufgaben zu einfach? Die Schü-       de und danke, dass sie sich Zeit genommen
ler und Schülerinnen legen ihren Taschen-      haben, mir die Aufgabe noch einmal zu er-
rechner in die Kiste auf dem Lehrerpult, die   klären», verabschieden sich die Schüler.
später eingeschlossen wird, und verab-
schieden sich mit einem kurzen Hände-
druck von ihren Lehrern.                       Für Spenden oder weiteres Interesse
«Ciao und ein schönes Wochenende»,             https://www.welcometoschool.ch/schule/
wünscht Ivan seinen Schützlingen.              IBAN: CH98 0900 0000 6198 4506 6
Vier Heimaten
        Die Integrationsgeschichte einer jungen Muslima

     Fateme ist mit ihrer Familie aus dem Iran in die Schweiz geflüchtet. Das war vor
     sieben Jahren. Heute spricht sie fast akzentfrei Schweizerdeutsch und macht bald
     ihren Abschluss an der Kantonsschule Baden. Die junge Muslima erzählt.

19
«Ja, ich würde schon sagen, dass ich mich      terten Sinn auch für Bevölkerungsgruppen
integriert fühle. Einiges könnte ich noch      in benachbarten Ländern wie Afghanistan
mehr machen, zum Beispiel wandern ge-          oder China verwendet.3
hen, wie die richtigen Schweizer.» Die         Fateme rückt ihr Kopftuch zurecht. Zum
zwanzigjährige Muslima Fateme ist ein          Vorschein kommen goldene Ohrringe.
fröhlicher Farbfleck inmitten von Grautö-      Ihre Familie hat Glück und erhält schon
nen. Das beige glänzende Kopftuch trägt        nach einem zweimonatigen Aufenthalt in
sie locker gebunden, sodass der Ansatz         einem Schweizer Asylheim den F-Status.
ihres kastanienbraunen Haares zum Vor-         Sie gilt somit als vorläufig aufgenommen.
schein kommt. Es wirkt wie ein zufällig        Ihnen wird eine Wohnung im Kanton Aar-
passendes Accessoire zu ihrem senfgelben       gau zugewiesen. Die Begründung für ihre
Mantel. Die Beine lässig übereinanderge-       vorläufige Aufnahme ist Fateme allerdings
schlagen, erzählt die selbstbewusste Mittel-   nicht bekannt. «Für mich ist so ein F-Status
schülerin in perfektem Schweizerdeutsch        eigentlich gleichbedeutend mit abgelehnt.
ihre Geschichte. Dabei spricht sie erst seit   Aber sie konnten uns halt nicht zurückschi-
sieben Jahren Deutsch. Denn Fateme ge-         cken, weil in Afghanistan Krieg herrscht.
hört zur drittgrössten Gruppe von Asylsu-      Es gibt viele, die das sicher anders wahr-
chenden der Schweiz, sie kommt aus             nehmen, aber für mich ist das so. Denn
Afghanistan. Geboren und aufgewachsen          Freiheiten hast du eigentlich nicht viele mit
ist sie aber im Iran, bis ihr Vater be-        dem F-Status. Es ist zum Beispiel sehr
schliesst, er wolle kein so perspektivloses    schwierig, einen Job zu finden, weil es für
Leben für seine Kinder, und sie nach Euro-     den Arbeitgeber sehr mühsam ist. Er muss
pa bringt. Obwohl die Afghanen dieselbe        eine Bewilligung holen und viele Formu-
Sprache wie die Iraner sprechen und es         lare ausfüllen.» In der Schweiz leben aktu-
über eine Million Afghanen im Iran gibt,       ell 41’000 vorläufig Aufgenommene, da-
gelten sie als Personen zweiter Klasse und     runter rund 6’500 Afghanen.4 Der Begriff
haben kein Recht auf Bildung und Arbeit.1      suggeriert eine baldige Rückkehr ins Hei-
Dass Fatemes Familie der schiitischen          matland. Tatsächlich bleibt eine Mehrheit

            «In der Schule habe ich keine Vorurteile gesehen,
           sondern nur Interesse. Ich bekomme auch viele
           Komplimente für die Art, wie ich mein Kopftuch
           kombiniere und mit Farben spiele.»

Glaubensrichtung angehört, der im Iran ge-     der Betroffenen aber langfristig. Der irre-
genüber dem sunnitischen Glauben mit 90        führende Begriff und die Papierarbeit, die
bis 95%2 deutlich überwiegt, erleichterte      das Einstellen eines Flüchtlings mit F-Sta-
ihr Leben im Iran erheblich. Fateme gehört     tus mit sich bringt, lassen potenzielle Ar-
zur Volksgruppe der Tadschiken. Von ihr        beitgeber zögern. Sie gehen davon auf, dass
hört man vor allem im Zusammenhang mit         sich der Aufwand nicht lohnt, weil die
der persischsprachigen Bevölkerung Zen-        Flüchtlinge nur vorläufig bleiben. Als eine
tral-asiens, der Begriff wird aber im erwei-   Folge liegt die Erwerbsquote von vorläufig

                                                                                               20
Aufgenommenen auch zehn Jahre nach ih-          kurse, geleitet von Freiwilligen, besucht
     rer Einreise in die Schweiz bei durch-          und dort einheimische Kontakte geknüpft.
     schnittlich zwanzig Prozent. Im Vergleich       Seit der Geburt ihres Sohnes hat sie aber
     mit anerkannten Flüchtlingen, deren Quote       keine Energie und Zeit mehr, um die Bezie-
     im selben Zeitraum auf sechzig Prozent an-      hungen zu pflegen.
     steigt, ist dies sehr wenig.5 Deshalb reichte   Nach nur einem Jahr in der Schweiz kann
     die staatspolitische Kommission (SPK) im        Fateme genug Deutsch, um die Sekundar-
     April 2017 eine Motion für die Einführung       schule zu besuchen. Sie hat zuerst einen
     eines neuen Status ein: den Status für          Deutschkurs im Asylheim besucht, dann ei-
     Schutzbedürftige. Dabei sollte eine Unter-      ne regionale Integrationsklasse. Dort wurde

         «Für mich ist so ein F-Status eigentlich gleichbedeutend mit
         abgelehnt. Aber sie konnten uns halt nicht zurückschicken,
         weil in Afghanistan Krieg herrscht.»

     scheidung zwischen «Vorübergehend schutz-       sie in Deutsch, Mathematik, Geschichte
     bedürftig» und «Geschützt» gemacht wer-         und Geografie unterrichtet. «Oft werden die
     den. Der Status «Geschützt» sollte ein un-      Klassen im Asylheim nicht nach Niveau,
     befristetes Aufenthaltsrecht bieten, was die    sondern nach Herkunft eingeteilt. Als An-
     Arbeitssuche erleichtern und die Sozialhil-     fänger ist es so fast unmöglich, den An-
     fekosten senken sollte, während der Status      schluss zu finden», erklärt Fateme. «Im
     «Vorübergehend geschützt» einen ähnli-          Kanton Aargau ist man oft einfach sich
     chen Charakter wie die vorläufige Aufnah-       selbst überlassen. Das ist sehr schlimm.
     me haben sollte. Während der Nationalrat        Wenn man den N-Status hat, darf man nur
     die Motion im Juni 2017 annahm, lehnte          einen dreimonatigen Sprachkurs machen
     der Ständerat den Antrag ab.7                   und sonst nichts. Und dann wird plötzlich
     «So schnell den F-Status zu erhalten hat        von dir erwartet, dass du integriert bist. Es
     Vor- und Nachteile. Wir mussten zwar nicht      braucht einfach mehr Sprachkurse! Und
     wie andere Familien sechs Monate im Asyl-       zwar nicht von Freiwilligen, sondern vom
     heim bleiben, dafür hatten meine Eltern         Bund!» Nachdem Fateme ein Jahr in der
     aber auch weniger lange die Möglichkeit,        Sekundarstufe B verbracht hat, erkennt ein
     einen Deutschkurs zu besuchen, weil sie so-     Lehrer ihr Potenzial und veranlasst ihren
     fort anfangen mussten zu arbeiten.» Bis         Übertritt in die Sekundarstufe A. Durch
     heute können sich Fatemes Eltern zwar auf       harte Arbeit und mit Hilfe der Unterstüt-
     Deutsch verständigen, aber nicht richtig un-    zung ihres Lehrers schafft sie es in die Kan-
     terhalten. Um sich vollständig zu integrie-     tonsschule Baden. Dort stösst Fateme auf
     ren, fehlen ihnen die Zeit und die finanziel-   etwas, was sie bisher nicht gewohnt war:
     len Mittel. Ihr Vater arbeitet als Schneider    Interesse an ihrer Religion und ihrem Kopf-
     in einem kleinen Anzugladen in Zürich, oft      tuch. «In der Schule habe ich keine Vorur-
     von frühmorgens bis spätabends, und ihre        teile gesehen, sondern nur Interesse. Ich
     Mutter kümmert sich zuhause um Fatemes          bekomme auch viele Komplimente für die
     zweijährigen Bruder. Bevor sie zum vierten       Art, wie ich mein Kopftuch kombiniere und
     Mal Mutter wurde, hat sie mehrere Deutsch-      mit Farben spiele.»

21
Fateme hat die traditionelle Art, ein Kopf-       hen könnten. Gerade wenn es in der Schule
tuch zu tragen, neu interpretiert: Es ist nicht   um das Thema Evolution und Weltentste-
mehr nur ein Ausdruck ihrer Religion, son-        hung geht, fühlt sich Fateme nicht wohl ge-
dern auch ein modisches Accessoire. Sie           nug, um frei ihre Überzeugung, dass Allah
spielt mit Farben und Texturen. Immer             die Welt und die Menschen erschaffen hat,
mehr junge muslimische Frauen schliessen          in die Diskussion einzubringen.
sich diesem Trend an. Vor allem in Gross-         Vor einem Jahr noch hätte Fateme ihrem
britannien und Frankreich wird die soge-          Lehrer niemals die Hand zur Begrüssung
nannte Hijabista-Szene immer bekannter.            gegeben, denn Körperkontakt mit Männern
Mittlerweile laufen sogar einige Hijabista-        ist im Islam verboten. «Das war der grösste
Models auf dem Pariser Laufsteg. Die Ent-         Kompromiss für mich, fremden Männern
wicklung, das Kopftuch zum statement pie-         die Hand zu reichen. Aber es nicht zu tun
ce zu machen, ist in der muslimischen             hat meinen Beziehungen zu Schweizern
Glaubensgesellschaft, wie das Thema west-         geschadet. Sie haben sich schmutzig ge-
liche Kleidung ganz allgemein, stark um-          fühlt, weil ich sie nicht anfassen wollte.»
stritten.7 Ausserhalb der Schule erlebt Fa-       Jetzt umarmt sie auch ihre männlichen
teme immer wieder Situationen, in denen           Freunde zum Abschied. Vor den Augen ih-
Vorurteile dominieren. Sie schildert, wie         res Vaters einen Mann zu berühren, das
sie zusammen mit ihrer Schwester, die             würde sie hingegen nicht. In dieser Hin-
ebenfalls ein Kopftuch trägt, im Wald ein         sicht sind ihre Eltern sehr streng. Wie die
altes Ehepaar nach dem Weg fragen will            meisten muslimischen Mädchen darf Fate-
und dieses ihr die Auskunft verweigert.           me keinen Freund haben, sondern sie wird
«Der Mann meinte zu seiner Frau: ‘Nein,           verheiratet werden. Jungfräulichkeit ist im
diesen Kopftuch-Frauen helfen wir nicht’.         Islam ein Zeichen von Reinheit und gilt als
Das hat mich schon sehr schockiert. Aber          Garant für eine glückliche Ehe. 80% aller
als Ausländerin erlebt man so oder so mal
Ablehnung. Es ist wichtig, sich auf das Po-
sitive zu konzentrieren. Das Positive gleicht         «Der Mann meinte zu
das Negative aus, manchmal überwiegt es              seiner Frau: ‘Nein, die-
sogar.»                                              sen Kopftuch-Frauen
Fateme fasst sich ans Herz und beugt sich            helfen wir nicht’. Das
nach vorne. Strahlend erzählt sie von der            hat mich schon sehr
Begegnung mit einer älteren Frau, die sie            schockiert.»
an einer Bushaltestelle angesprochen hat,
um ihr ein Kompliment zu ihrem Kopftuch
zu machen. «Solche Erlebnisse brauche ich         Muslimas heiraten innerhalb der islami-
unbedingt. Ich denke, solche Momente              schen Konfession.8 Allerdings haben im-
braucht jeder.» Als Muslima in einer mehr-        mer mehr junge Muslimas heimlich, hinter
heitlich nicht religiösen Gesellschaft zu le-     dem Rücken der Eltern, einen Freund. «Das
ben ist nicht immer einfach. Oft kann Fate-       würde ich nicht machen, auch wenn ich
me ihre Meinung zu einem Thema nicht of-          nicht mit dem Verheiratet-Werden einver-
fen äussern. Nicht, weil ihre Freunde ihren       standen bin. Wenn es soweit ist, dann rede
Glauben und die damit verbundenen An-             ich mit meinen Eltern darüber.»
sichten nicht respektieren, sondern weil sie      Obwohl Fateme in der Schweiz glücklich
ihre Ansichten einfach nicht nachvollzie-         ist, hat sie immer wieder Heimweh. «Es tut

                                                                                                22
23
«Es tut weh,   weh, dass ich den Ort nicht kenne, an dem
dass ich den   ich geboren bin.» Die Familie fehlt ihr.
               Wehmütig lächelnd erzählt sie von ihrem
Ort nicht      Besuch im Iran, als die ganze Familie für
               ein Essen zusammengekommen ist. Für ihre
kenne, an      Integration in der Schweiz interessieren sich
               ihre Verwandten allerdings wenig. Sie wis-
dem ich        sen weder, was Integration ist, noch was Fa-
               teme alles geleistet hat. Sie sind mit an-
geboren        deren, wichtigeren Dingen beschäftigt. Inte-
               gration ist da, wo sie leben, schlichtweg kein
bin.»          Thema. Für Fateme ist es wichtig, ihren zu-
               künftigen Kindern sowohl die afghanische,
               iranische und türkische Kultur als auch die
               schweizerische Kultur nahezubringen. Sie
               möchte, dass sie etwas von allen vier Le-
               bensweisen erfassen. «Ich habe mich damit
               abgefunden, dass ich von jedem Land und
               jeder Kultur, wo ich einmal gelebt habe, et-
               was mitgenommen habe. Ich bin Afghanin,
               Iranerin, Türkin und Schweizerin.»

                                                                24
Wo von Integration
     die Rede ist, sollte
     nicht Assimilation
     gemeint sein
     Versuch einer Richtigstellung
     Wie weit muss Integration gehen? Was braucht es, damit eine Gesellschaft funktioniert?
     Was muss die Mehrheitsgesellschaft dafür tun? Was spielen Parallelgesellschaften für
     eine Rolle für die Integration? Je weiter man in das Thema der Integration eintaucht,
     desto mehr Fragen tauchen auf, desto schwieriger wird es, sie zu beantworten und desto
     differenzierter wird die eigene Position.

                       WIE WEIT MUSS INTEGRATION GEHEN?
     Viele Menschen haben die Vorstellung,         biert werden kann. Wenn wir aber so von
     dass die Gesellschaft trotz all dem Neuen     Integration sprechen, meinen wir da nicht
     und Fremden, das durch die Migration da-      doch eher Assimilation? In vielen politi-
     zukommt, so bleiben kann, wie sie bisher      schen Debatten geht es genau um diese Fra-
     war. So verstanden suggeriert der Begriff     ge. Zwar sprechen alle von Integration,
     Integration, dass durch eine gewisse An-      man bestimmt aber zu wenig, was dieser
     passung das Fremde vollkommen absor-          Begriff genau bedeutet. Wie weit soll die

25
kulturelle Anpassung gehen? Hinter der          zähneknirschend seine Steuern bezahlen –
viel diskutierten Frage, ob ein muslimi-        Hauptsache, man bezahlt sie.
scher Schüler oder eine muslimische Schü-       Konventionen sind demgegenüber weniger
lerin einer andersgeschlechtlichen Lehrper-     verbindlich, ein gutes Beispiel sind Be-
son die Hand geben muss, steht genau die-       nimmregeln im Zusammenhang mit dem
ses Problem. Ebenso hinter der Frage, ob        Essen. Sie sind selten schriftlich fixiert, ihr
eine muslimische Schülerin den Schwimm-         Geltungsbereich ist viel weniger klar be-
unterricht besuchen muss.                       stimmt als jener von Rechtsnormen; auch
                                                sind die Sanktionen, wenn man gegen sie
Rechtsnormen, Konventionen und mo-              verstösst, meist nicht hart. Auch die Anpas-
ralische Regeln                                 sung an die Umgebung fällt relativ leicht,
Im Folgenden soll anhand von eigenen            ganz gemäss dem Sprichwort «When you
Überlegungen eine Unterscheidung von            are in Rome do as the Romans do.» .» Auch
Rechtsnormen, Konventionen und morali-          hier spielt die innere Einstellung keine Rol-
schen Normen, die der deutsche Philoso-         le.
phen Günther Patzig vorgeschlagen hat, für      Moralische Normen sind eine dritte Kate-
ein Verständnis der Integrationsdebatte         gorie: Auch sie haben keine Gesetzeskraft,
fruchtbar gemacht werden.                       sind aber stärker als Konventionen, gerade
Unser Alltag wird, wie Patzig erläutert, von    weil es bei ihnen um die innere Einstellung
verschiedenen Arten von Normen be-              der handelnden Person geht. So wird eine
stimmt: Rechtsnormen, Konventionen und          überzeugte Vegetarierin im Kreis von
moralischen Normen. Dabei empfinden wir         Fleischessern (anders als im umgekehrten
nicht alle als gleichermassen verpflichtend.    Fall) sich nicht einfach anpassen wollen:
Die Integrationsdebatte lässt sich als ein      Das «do as the Romans do» stösst klar an
Zusammenspiel dieser drei Normen be-            die Grenzen der inneren Überzeugung.
schreiben. Man kann dann fragen, welche         Das alles ist einfach, solange diese Rechts-
Art von Normen angenommen werden                regeln nicht gegen die anderen Normen
müssen, damit ein Zusammenleben funkti-         verstossen, und die Befolgung der eigenen
oniert.                                         moralischen Überzeugungen nicht mit den
Fangen wir bei der Basis aller Normen an,       Gesetzen in Konflikt gerät.
ohne die ein Staat nicht funktionieren wür-     Man kann sich nun fragen, ob Rechtsnor-
de: den Rechtsnormen. Rechtsregeln sind         men genügen, um eine Gesellschaft zusam-
das, was uns alle verbindet und eine ge-        menzuhalten. Um dies zu klären, muss man
meinsame Basis für das Zusammenleben            sich damit beschäftigen, was es bedeuten
schafft. Sie zeichnen sich laut Patzig da-      würde, wenn nicht alle den gleichen mora-
durch aus, dass sie schriftlich fixiert sind,   lischen Regeln und Konventionen folgen
einen bestimmten Geltungsbereich (zum           würden, die Rechtsnormen aber von allen
Beispiel innerhalb nationalstaatlicher Gren-    akzeptiert würden. Zu einem gewissen Teil
zen) haben und von einem bestimmten, ge-        ist dies natürlich schon der Fall. Aber unse-
nau zu bezeichnendem Moment an in Kraft         re Rechtsnormen basieren – zumindest in
treten. Wir müssen ihnen folgen, ob wir         demokratisch legitimierten Staaten – auf
wollen oder nicht – zumindest, wenn wir         den Menschenrechten. Unsere moralischen
nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten        Regeln werden von unseren Gesetzen ge-
wollen. Dabei spielt die innere Einstellung     leitet. Somit teilen wir im Grundsatz die
keine Rolle: Man kann auch murrend und          gleichen moralischen Normen. Würde je-

                                                                                                  26
mand unsere Moralvorstellungen nicht an-        zum Beispiel der Handschlag bei bestimm-
     erkennen, würde er auch unsere Rechtsnor-       ten Arten von Begrüssungen oder Pünkt-
     men verleugnen. Es ist somit wichtig, dass      lichkeitsvorstellungen. Ihnen folgt eine
     jemand die moralischen Grundsätze ver-          grosse Mehrheit innerhalb einer bestimm-
     steht und übernimmt. Anders würde die           ten Kultur. Jemand könnte also argumentie-
     Gesellschaft auseinanderfallen. Gleichzei-      ren, dass sie somit wichtig für den Zusam-
     tig gibt es natürlich auch ethische Fragen,     menhalt einer Gesellschaft sind. Wer so
     in denen sich nicht alle einig sind, wie zum    denkt, wird behaupten, dass die Befolgung
     Beispiel, ob man Fleisch essen oder Pelz        der Rechtsnormen alleine nicht ausreicht
     tragen darf. Solange die persönliche Über-      und nur die Konventionen im Privaten frei
     zeugung hier nicht einer Rechtsnorm wi-         sind. Die Anpassung an die öffentlichen
     derspricht oder dazu führt, gegen ein           konventionellen Normen wäre in dieser Sicht
     Gesetz zu verstossen, funktioniert dieses       über die Beachtung des rechtlichen Rah-
     pluralistische Denken ohne Probleme.            mens hinaus zentral. Muss man diesen
                                                     Schluss wirklich ziehen?

            Viele Menschen haben die Vorstellung, dass die Ge-
            sellschaft trotz all dem Neuen und Fremden, das
            durch die Migration dazukommt, so bleiben kann,
            wie sie bisher war.

     Wie aber sieht es bei den Konventionen          Oft enthalten diese öffentlichen, stillen
     aus? Es gibt unzählige Konventionen und         «Gesetze» (die eben keine Rechtsnormen
     Traditionen, denen nicht alle nachgehen.        sind) einen wichtigen Grundgedanken,
     Dies sind die Konventionen, die keinen          welcher mit den moralischen Regeln oder
     Einfluss auf das Zusammenleben haben            sogar den Rechtsnormen verbunden ist: So
     und hinter denen meist kein moralischer         erweist man sich mit der Geste des Hände-
     Grundsatz steht. Oft sind diese von Haus-       drucks gegenseitig Respekt. Ein respekt-
     halt zu Haushalt verschieden: Beim einen        voller Umgang mit seinen Mitmenschen ist
     ist es Tradition, zu Silvester Käse-Fondue      eine wichtige moralische Regel unserer
     zu essen, beim anderen isst man Fondue          Gesellschaft und in manchen Situationen,
     nur in der Skihütte. Der eine hat Zeit, seine   wie zum Beispiel am Arbeitsplatz beim
     Wäsche zu bügeln, der andere nicht. So          Umgang mit Arbeitskollegen, sogar gesetz-
     oder so hat es keinen Einfluss auf die Ge-      lich vorgeschrieben. Den privaten Konven-
     sellschaft. Man könnte diese Art von Kon-       tionen muss also keine grosse Bedeutung
     ventionen oder Traditionen private Kon-         zukommen, wenn man Integration nicht als
     ventionen nennen. Würde man Integration         Assimilation definieren will, während das
     mit Assimilation gleichsetzen, müsste man       Konzept der öffentlichen Konventionen für
     von Ausländern verlangen, sich auch in          manche wichtig für die Integration in eine
     diesem Bereich anzupassen und ihre eigene       Gesellschaft scheint und man es somit ge-
     Kultur, und damit ihre Traditionen, kom-        nauer betrachten sollte. Es stellt sich die
     plett aufzugeben. Auf der anderen Seite ste-    Frage, wie weit die öffentlichen Konventi-
     hen die öffentlichen Konventionen, wie          onen befolgt werden müssen. Genügt es,

27
den Gedanken hinter der Konvention zu be-      men: «Integration ohne Assimilation be-
     folgen oder muss es die konkrete Konventi-     deutet eine partielle Säkularisierung der ei-
     on sein? Dies kann man sich zum Beispiel       genen Identität. Aller Identitäten. Partielle
     auch für die Benimmregeln beim Essen fra-      Säkularisierung – das wäre die Formel ei-
     gen: Wenn in einem asiatischen Restaurant      ner pluralisierten Demokratie». Laut Cha-
     jemandem, der nicht mit Stäbchen essen         rin braucht es eine Anpassung der
     kann, Gabel und Löffel (aber nicht ein         Mehrheitsgesellschaft, damit Integration
     Messer) gereicht wird, geht das in diese       ohne Assimilation funktionieren kann: Im
     Richtung.                                      Fall des verweigerten Handschlags kann
                                                    die Mehrheitsgesellschaft lernen anzuer-
     Im Westen Österreichs gab es kürzlich ei-      kennen, dass sich Respekt auch auf andere
     nen viel diskutierten Konflikt, der sich ge-   Art ausdrücken kann. Wendet man dies
     nau mit dieser Frage auseinandergesetzt        wiederum auf das Beispiel der Benimmre-
     hat. Ein muslimischer Schüler weigerte         geln beim Essen an, müsste die Mehrheits-
     sich, seiner Lehrerin die Hand zur Begrüs-     gesellschaft einsehen, dass man Höflichkeit
     sung zu geben. Die Eltern des Kindes ha-       beim Essen auf unterschiedlichen Wegen
     ben auf ihre Religion hingewiesen, die eine    zeigen kann.
     solche Berührung verbietet, die Schule hat     Wäre man bereit, über Integration in die-
     den Handschlag eingefordert. In einem Ra-      sem Sinne zu reden, also über Integration,
     diogespräch hat Hanno Loewy, Leiter des        die auch von der aufnehmenden Gesell-
     Jüdischen Museums in Hohenems folgen-          schaft Lernbereitschaft und Kompromisse
     den Vorschlag gemacht: Man soll dem            verlangt, was hiesse Integration dann? Inte-
     Schüler erklären, dass der Handschlag ein      gration hiesse, über eine veränderte Gesell-
     Zeichen des Respekts sei. Verweigert er        schaft reden, über eine Gesellschaft, in der
     diese Form der Respektbezeugung, soll er       Unterschiede nebeneinander bestehen, wo
     sich eine andere überlegen. In dieser Idee
     werden die kulturell-konventionelle Form               Verweigert er diese
     (der Handschlag) und der moralische Ge-                Form der Respekt-
     danke dahinter (die Bezeugung von Re-                  bezeugung, soll er
     spekt) getrennt: Ein Teil der öffentlichen             sich eine andere
     Konvention, nämlich der Handschlag sel-                überlegen.
     ber, wird zum Privaten, während der Inhalt
     öffentlich bleibt.
     Plötzlich wird auf diese Art die kulturelle    das Fremde nicht verwischt, sondern mit-
     Anpassung der Ausländer zu einer Anpas-        einbezogen wird. Eine Gesellschaft, die
     sung der Mehrheitsgesellschaft: Was ur-        sich sowohl den Gemeinsamkeiten als auch
     sprünglich etwas Öffentliches, für alle        der Toleranz gegenüber Fremdem ver-
     Gültiges war, wird durch das Fremde einer      pflichtet. Es ist vielleicht noch Zukunfts-
     anderen Kultur zu etwas Individuellem.         musik, aber es wäre in anderen Worten eine
     Was bleibt, ist das Zusammenkommen im          Gesellschaft, in der öffentliche Konventio-
     Gemeinsamen – in diesem Fall das Respek-       nen zu etwas Privatem, Individuellem wer-
     terweisen. Isolde Charin fasst diesen Pro-     den können, solange sie im moralischen
     zess in ihrem Artikel über die Integra-        Grundsatz, der dahintersteht, übereinstim-
     tionsdebatte in der NZZ wie folgt zusam-       men.

28
Sie können auch lesen