Maturaarbeit Hannah Berthold - Welcome to School
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Maturaarbeit 2018 /19 von Hannah Berthold Literargymnasium Rämibühl, Zürich Betreut von Christoph Schneider Layout mit Affinity Publisher Fotos von Hannah Berthold
Inhalt Editorial ..................................................................................................................4 Wo Schüler Schule Schätzen ................................................................................5 Ein Integrationsprojekt, das Jugendliche vor dem Nichtstun bewahrt Vier Heimaten ........................................................................................................19 Die Integrationsgeschichte einer jungen Muslima Wo von Integration die Rede ist, sollte nicht Assimilation gemeint sein......25 Versuch einer Richtigstellung Fördern und Fordern............................................................................................33 Uster zeigt, wie es gehen könnte Ankommen ..............................................................................................................39 Wie der Schweizer Dokumentarfilm «Neuland» bewegt «So was Kriegst du aus dem Herzen nicht mehr raus.» ...................................41 Meine Zeit in einer Flüchtlingsschule Integration im Wandel .........................................................................................47 Eine historische Übersicht Glossar ..................................................................................................................51 Quellenverzeichnis ....................................................................................................53 Abbildungsverzeichnis ..............................................................................................60 Dank ...............................................................................................................................62
https://www.duden.de/suchen/dudenonline/Zukunftsmusik Zukunftsmusik, die Wortart: Substantiv, feminin Häufigkeit: Rechtschreibung Worttrennung: Zu|kunfts|mu|sik Bedeutungsübersicht etwas, dessen Realisierung noch in ferner Zukunft liegt, was noch als utopisch angesehen werden muss Beispiel dieses Projekt ist einstweilen Zukunftsmusik Aussprache Betonung: Zukunftsmusik Lautschrift: [ˈtsuːkʊnftsmuziːk] Herkunft ursprünglich polemisch gegen Richard Wagners Musik ge- richteter Begriff
EDITORIAL Das Thema der Migration ist in den letzten Jahren immer präsenter geworden. Dabei werden vor allem Fragen in Bezug auf die Herkunftsländer und die Menge der Einwanderer diskutiert. Wie viele Migranten verträgt ein kleines Land wie die Schweiz? Die einfache Frage, wie es nach dem Asylentscheid weiter geht, wird oft aussen vor gelassen, obwohl sie eigentlich von oberster Priorität sein sollte. Wie kann man entscheiden, wie vielen Personen Zuflucht gewährt werden soll, wenn nicht bekannt ist, was mit ihnen in der Schweiz passiert? Wie verbringen sie die Lücke zwischen Asylantrag und Asylent- scheid? Wo finden sie ein neues Zuhause? Wo erhalten sie die fehlende Bildung und wie erlernen sie eine der Landessprachen? Wie sollen sie ohne Qualifikationen den Einstieg in den Arbeitsmarkt finden? Wie den Anschluss an die Gesellschaft schaffen? Kurz gesagt: Wie ermöglicht man ihnen ein Leben in der Schweiz? Debatten um diese Frage sind immer auch ein Spiegel der eigenen Vorstellungen von Gesellschaft. Wie weit soll Integration gehen? Mit welchen Mitteln und von wem soll sie finanziert werden? Wie stellen wir uns das Zusammenleben vor? Sind wir bereit, das Fremde zu akzeptieren? Welche Rollen spielen Kompromisse? Der Prozess der Integration bringt auch den Prozess einer Gesellschaftsveränderung mit sich. Dieses Magazin ist eine Zusammenführung verschiedener Perspekti- ven auf das Thema Integration. Im Fokus stehen dabei jugendliche Asylsuchende. Eine junge Muslima, die Leiterin eines Integrations- projekts für junge Asylsuchende und der Leiter einer Asyl- und Flüchtlingskoordinationsstelle erzählen und stellen ihre Sicht auf das Thema dar. Die Texte sollen Auskunft geben und Fragen aufwerfen. Sie geben Einblick in eine neue Welt, die für viele vielleicht fremd ist, obwohl sie es eigentlich nicht sein sollte. Über mehrere Monate war ich und werde es auch weiter bleiben, ein Teil dieser Integrationswelt und habe selbst jugendliche Flüchtlinge bei Welcome to School, einem schulischen Integrationsprojekt für jugendliche Asylsuchende, unterrichtet. Ich habe dabei enorme Dankbarkeit von Seiten der Schülerinnen und Schüler erfahren. Dankbarkeit, dass sie die versäumte Bildung nachholen dürfen, dass sich jemand für sie einsetzt, an sie glaubt und sich Zeit für sie nimmt. Dankbarkeit für die Chance, sich ein Leben aufzubauen. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie wichtig Integration ist. Sie betrifft uns alle und man kann viel mit wenig erreichen. Sie hat mir aber auch bestätigt, dass die vollkommene Verwirklichung von Integration noch Zukunftsmusik ist. 4
Wo Schüler Schule SChätzen Ein Integrationsprojekt, das Jugendliche vor dem Nichtstun bewahrt Vor mehr als zwei Jahren haben Katrin Jaggi und Jan Capol eine Schule gegründet, die jugendli- chen Asylsuchenden im Asylver- fahren eine Aufgabe und die Chance gibt, versäumte Bildung nachzuholen und sich so auf eine Anschlusslösung vorzubereiten. Schulleitern Nina Kleiner im Ge- spräch. 5
«Das grösste Elend unserer Schüler ist kei- Deutsch, Mathematik, Geschichte, Staats- ne Aufgabe zu haben. Sie fühlen sich rich- kunde, Mensch und Umwelt und Englisch, tig nutzlos», erklärt Nina. Sie wickelt sich, sowie in Musik und Sport unterrichtet.1 während sie redet, immer wieder ihr Haar- «Worauf müssen wir die Schüler vorberei- gummi um den Finger und kreiert neue Fi- ten, dass sie dann selbständig die weiteren guren damit. Ihre braunen Haare winden Schritte machen können?» Mit dieser Frage sich in einer Flechtfrisur um den Kopf. Sie beschäftigen sich Nina und die Lehrperso- trägt Jeans, einen grauen Pullover und ei- nen jeden Tag. Die Lehrer machen Querver- nen gelben Mantel, den sie neben sich auf gleiche mit dem Sekundarabschluss, um die Bank des Cafés «Die kleine Freiheit» den Lehrplan zu erstellen und Schwerpunk- gelegt hat. In regelmässigen Abständen rat- te im Stoff zu setzten. So sehen sie, was bei tert ein Tram vorbei. einer Lehrstelle verlangt wird, und können «Asylsuchende, die auf ihren Asylentscheid die Schülerinnen und Schüler optimal dar- warten und den N-Status tragen, dürfen we- auf vorbereiten. Nach Welcome to School der arbeiten, noch haben sie ein Recht auf machen viele eine Integrationsvorlehre, be- Integrationsmassnahmen. Daraus resultiert vor sie eine Berufslehre starten. Im Som- ein endloses Warten und Nichtstun», erklärt mer 2018 hat das Projekt der Integra- sie. Um diese Lücke zwischen Asylantrag tionsvorlehren des Kanton Zürichs zur Er- und Asylentscheid zu füllen, haben Katrin leichterung des Einstiegs in die Arbeitswelt Jaggi und Jan Capol im April 2016, auf- begonnen. Es soll für vier Jahre laufen und grund des starken Anstiegs an Flüchtlingen 800 bis 1000 Personen pro Jahr beschäfti- und Migranten im Jahr 2015, beschlossen, gen können. Anerkannte Flüchtlinge und eine Schule zu gründen, die den Jugendli- vorläufig Aufgenommene können im Pro- chen eine Aufgabe gibt. Auch wenn Inte- gramm der Integrationsvorlehre während grationsbemühungen beim Asylentscheid einem Jahr die Grundlagen in einem von nicht berücksichtigt werden, sondern nur neun möglichen Berufsfeldern erlernen. Sie zählt, ob man gemäss der Flüchtlingsdefini- arbeiten drei Tagen pro Woche und besu- tion als Flüchtling gilt, ist die Schule für die chen an eineinhalb Tagen Unterricht.2 Asylsuchenden von ungeheurer Bedeutung. Auch wenn die Schüler die Schule enorm Sie gibt ihnen nicht nur die Möglichkeit, schätzen, ist es nicht immer einfach für sie. Deutsch zu lernen, sondern bringt ihnen «Deutsch zu lernen, obwohl man nicht auch bei, sich in einem strukturierten Alltag weiss, ob man bleiben darf oder nicht, er- zu bewegen. So sind sie, im Fall einer Asyl- fordert eine Wahnsinnsmotivation. Die bewilligung, auf ein selbständiges Leben können nicht alle aufbringen», gibt Nina vorbereitet. Die Gründer des Projekts sind Kleiner zu bedenken. «Es gab auch schon der Meinung, dass man von einem Jugend- Schüler, die den Unterricht und damit die lichen, der drei Jahre lang keine Tagesstruk- Mitschüler so stark behindert haben, dass tur hatte, kein Deutsch gelernt hat und die ihre Ausbildung abgebrochen werden Kultur der Schweiz nicht kennt, bei einem musste. Jeder geht anders mit der langen plötzlichen positiven Entscheid nicht er- Wartezeit um. Manchmal kann schon eine warten kann, dass er organisiert, pünktlich kleine Unstimmigkeit ein Auslöser für den und gebildet ist. Deshalb haben Jaggi und Motivationsverlust sein.» Capol den Fokus auf Nachholbildung und Aber meistens, wenn es einem Schüler nicht auf eine Anschlusslösung gelegt. schlecht geht, liegt es an seiner belastenden Die Jugendlichen werden in den Fächern Wohnsituation. Jugendlichen Asylsuchen- 6
den im Asylverfahren wird vom Staatsse- Welcome to School drei Klassen mit unter- kretariat für Migration (SEM) durch ein schiedlichen Niveaus unterbringen: Die elektronisch generiertes Zufallsprinzip eine grüne ist die schwächste Klasse, dann Unterkunft zugewiesen. Oft landen sie in kommt die gelbe und die stärkste ist die Kollektivunterkünften wie Empfangszen- blaue Klasse. Zusätzlich gibt es noch zwei tren, Flüchtlingsheimen, Wohncontainern Klassen, welche nur am Morgen unterrich- oder in WGs mit anderen, meist erwachse- tet werden. Die Schule muss sich also auf nen Asylbewerbern. Jugendlichen, die mit die riesige Bandbreite von Bildungsniveaus ihrer Familie geflüchtet sind, wird manch- ausrichten. mal eine Wohnung zugewiesen. Minderjäh- Oft haben die Jugendlichen noch gar keine rige kommen, wenn sie Glück haben, in oder nur sehr wenig Bildung erfahren. Am eine Pflegefamilie.3 Für einen Jugendlichen Anfang des Semesters durchlaufen die an- kann es sehr schwierig sein, mit fremden gemeldeten Schüler einen Einstufungstest Erwachsenen zu wohnen, die oft einer an- in Mathematik und Deutsch, um eingeteilt deren Kultur angehören oder nicht die glei- werden zu können. Aber auch innerhalb der che Sprache sprechen und eine grundver- Klassen gibt es immer noch grosse Unter- schiedene Tagesstruktur haben. schiede. Deshalb werden die Schüler immer von mehreren Personen unterrichtet, einem Die weissen Bänke im Klassenzimmer sind Hauptverantwortlichen, der ein Lehrdiplom zu einem riesigen Tisch zusammengescho- und Lehrerfahrung besitzen muss, und ei- ben. Ivan Lenzo fordert die Schüler auf mit- nem oder zwei unterstützenden Laienkräf- anzupacken, um Bankreihen zu bilden. Die ten. So können die Lehrer viel besser auf Jugendlichen fangen sofort an, die Tische die einzelnen Schüler eingehen und ihnen zurückzuschieben. «Das ist noch vom Mu- individuell helfen. sikunterricht», erklärt er. Ivan war von An- fang an beim Projekt Welcome to School Die Schüler und Schülerinnen begrüssen dabei. Er unterrichtet als Hauptverantwort- ihren Lehrer mit einem Händedruck. Einem liche Lehrperson Mathematik in der soge- Mann die Hand zu geben kostet eine musli- nannten blauen Klasse, einer von fünf Klas- mische Frau viel Überwindung. Im Islam sen à durchschnittlich fünfzehn Schülern. ist es nicht üblich, dass eine geschlechtsrei- Von Beruf ist er ebenfalls Mathelehrer und fe Frau einem Mann, mit dem sie nicht ver- unterrichtet am Gymnasium Zürich Nord in Oerlikon. Welcome to School ist momentan in den Räumlichkeiten der Liebfrauen Kir- «Man organisiert che, etwas oberhalb vom Central, einquar- ins Blaue hinaus.» tiert. In wenigen Wochen aber wird die Schule in die alte «Zürcher Schule für Ge- staltung» in der Nähe des Limmatplatzes wandt oder verheiratet ist, die Hand gibt. Es umziehen und hat so die Chance sich zu er- gilt als intime Annährung. Auch ein paar weitern. Die Grösse der Schule richtet sich der männlichen Jugendlichen haben ein nach dem verfügbaren Platz und der Anzahl Problem mit der Begrüssung. Es ist auch Freiwilligenhelfer. Momentan engagieren für sie nicht üblich, eine fremde Frau ein- sich ungefähr neunzig Lehrpersonen, der fach so zu berühren. «Es ist schwierig, dar- Grossteil davon ist weiblich. An Schülern über zu urteilen oder zu sagen ‘Nein, du mangelte es bis jetzt nicht. Zurzeit kann musst jetzt’, weil wir nicht wissen, was 7
noch alles damit verbunden ist», meint Afghanistan. «Die Zusammensetzung der Nina Kleiner auf die Frage, ob die Geste Schüler spiegelt eigentlich immer die aktu- des Händedrucks bei Welcome to School elle politische Situation wieder», erklärt Pflicht sei. «Aber wir sagen den Schülerin- Nina. Von den insgesamt siebzig Schülern nen und Schülern immer wieder, wie wich- bei Welcome to School sind nur etwa sechs tig solche Dinge für ihre Integration sind.» mit ihrer Familie geflüchtet. Fast alle männ- Die Klassen bestehen meist zu einer gros- lichen Migranten sind alleine, während die sen Mehrheit aus jungen Männern. Das hat Frauen öfter in Begleitung ihrer Familie unter anderem den Grund, dass die Flucht sind. Das ist allerdings auch nicht immer in ein anderes Land sehr gefährlich sein einfacher. In vielen Ländern und Religio- kann. Gleichzeitig ist sie aber auch sehr nen haben Frauen keinen Anspruch auf eine teuer und das Ende oft ungewiss. Muss sich umfassende Bildung. Im Islam zum Bei- eine Familie entscheiden, wem sie die spiel ist es die Aufgabe der Frau, für das Flucht ermöglicht, liegt es in der Regel Wohl der Kinder zu sorgen und den Haus- nahe, den erwachsene Sohn oder den Vater halt zu führen. Deshalb besuchen Frauen im auszuwählen. Im Jahr 2017 wurden fast besten Fall nur für einige Jahre eine örtliche zwei Drittel aller Asylanträge in der Schule. Jetzt in einem Land zu leben, in Schweiz von Männern gestellt. Davon war dem Bildung für jeden obligatorisch ist, ein Viertel zwischen 18 und 25 Jahren alt.4 stellt eine grosse Umstellung dar. Viele Die meisten Schüler bei Welcome to School Frauen sehen das als einmalige Chance an kommen momentan aus Eritrea, Syrien und und wollen diese auch nutzen. Dabei stos- 8
sen sie in ihrem familiären Umfeld aber «Worauf müssen wir nicht immer auf Unterstützung, sondern die Schüler werden oft stark verurteilt. vorbereiten, dass sie dann selbständig die «Nehmt jetzt bitte alle das Arbeitsblatt vom weiteren Schritte Dienstag hervor. Für diejenigen, die nicht machen können?» da waren, habe ich hier noch Kopien. Die Aufgabe eins solltet ihr schon gelöst haben, das war Hausaufgabe», beginnt Ivan Lenzo Es ist wichtig, dass diese sehr genau geführt den Unterricht. Heute geht es darum, das wird. Die Schüler müssen lernen, pünktlich Thema Gleichungen, welches vor den Feri- zu kommen, dass sie nicht einfach ohne en schon angeschnitten wurde, zu wieder- Entschuldigung fehlen dürfen und was holen und zu vertiefen. Ivan möchte sehen, überhaupt als Entschuldigung gilt. Katrin was die einzelnen Schüler schon können. Jaggi, Gründerin der Schule, erzählt von ei- Nur wenige haben die Hausaufgaben ge- nem Mädchen, das als Grund für ihr Fehlen löst, entweder weil sie nicht dazu in der einen Termin im Nagelstudio angegeben Lage waren oder weil sie es vergessen ha- hat. ben. Manche hatten auch einfach keine «Man muss sich immer wieder vor Augen Lust. «Wir lösen jetzt gemeinsam die Auf- führen, dass das oft Schüler sind, die noch gabe drei. Wenn jemand findet, dass das zu nie eine Schule besuchen konnten», betont einfach für ihn ist, kann er sich dort drüben Nina. Sie ist seit 2017 dabei, hat zuerst als hinsetzen und alleine weiterarbeiten. Dieje- Sportlehrerin ausgeholfen und ist mittler- nigen, die die Hausaufgaben nicht gemacht weile Schulleiterin. Während dem Psycho- haben, machen diese bitte noch.» Die Schü- logiestudium in Teilzeit arbeitet die Mitte- ler murmeln, manche stehen zielstrebig auf, Zwanzigjährige drei Tage pro Woche bei andere zögern noch. Für sie ist es schwie- Welcome to School. Sie ist verantwortlich rig, ihr eigenes Niveau einzuschätzen. Ivan für die Lehrpersonen, die Schüler und die beginnt, die Aufgabe an die Tafel zu schrei- Sozialberatung. Haben die Jugendlichen ben. Es ist eine einfache Gleichung, man Probleme, ist Nina ihre Ansprechperson würde sie vielleicht in der Vorbereitung ins oder Nina geht auf sie zu, wenn sie das Ge- Gymnasium antreffen. Viermal x ist gleich fühl hat, jemand sei in einer belastenden Si- sechsunddreissig. «Wer kann mir sagen, tuation. Trotzdem redet sie mit keinem wie viel x ist?», fragt der Lehrer in die Schüler über seine Vergangenheit, ausser Klasse. Es ist kurz still, die Jugendlichen ein Trauma ist der Auslöser für seine Pro- denken angestrengt nach. bleme. «Wir sind nicht da, um zu fragen, «Neun!» ruft ein Schüler stolz. «Ja, neun, warum bist du hier, woher kommst du, was neun ist richtig, das denke ich auch!» stim- hast du erlebt. Das spielt keine Rolle für die men ihm die anderen zu. Ivan nickt und jetzige Situation. Sie sind jetzt hier und wir schreibt das Ergebnis an die Tafel. Alle müssen ihnen helfen, sich weiterzuentwi- schreiben eifrig mit. Ein Schüler meldet ckeln», so Ninas Meinung. Sie hofft, dass sich, er sei nicht ganz mitgekommen. «Du andere Leute auch anfangen können, so zu musst sechsunddreissig durch vier teilen», denken. hilft ihm eine Klassenkameradin. Da sie in einer Schlüsselposition tätig ist, Während die Klasse an den Aufgaben wei- wird sie entlohnt, leistet aber zusätzlich terarbeitet, füllt Ivan die Absenzenliste aus. noch 10% Freiwilligenarbeit. Finanziert 9
wird das Projekt durch Privatspenden, Stif- spannter als sonst. Das Thema sind Textauf- tungen und Gemeinden, denen es wichtig gaben mit Gleichungen und Dreisätzen. ist, das Thema Integration zu unterstützen. Das Klassenzimmer ist zu klein und es sind Der Ganztagesunterricht, neunundzwanzig zu viele Schüler, als dass man immer einen Lektionen pro Woche, kostet 5000 Franken freien Platz zwischen ihnen lassen könnte. pro Semester. Seit der Änderung des Sozi- Aufgeregt folgen die Schüler den Anwei- alhilfegesetztes im Jahr 2017, bei dem der sungen des Lehrers, wo sie sich hinsetzen Kantonsrat beschlossen hat, die Sozialhilfe sollen. für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge «Jetzt bitte alle Materialien vom Tisch, die drastisch zu kürzen, müssen die Gemeinden braucht ihr nicht. Ausser Taschenrechner. die Kosten für die ihnen zugewiesenen Ich verteile jetzt die Prüfungsblätter umge- Flüchtlinge selbst übernehmen. Viele Ge- dreht. Ich dürft sie erst anschauen, wenn meinden können oder wollen nicht für die alle sie haben.» Integrationsmassnahmen aufkommen.5 «Wir dürfen unsere Notizen nicht brau- «Für vorläufig aufgenommene Personen ist chen?», rufen die Schülerinnen und Schüler damit der Wohnort absolut entscheidend für empört. «Natürlich nicht. Das wisst ihr ihre Zukunft, und es entsteht eine Willkür, doch, es ist nicht eure erste Prüfung», lacht die nicht sein dürfte», meint Nina Kleiner. Ivan. «Ihr dürft anfangen.» In der Schweiz leben 45'000 Flüchtlinge, Die Schüler drehen die Blätter um und be- die den F-Status erhalten haben, davon blei- ginnen sofort zu schreiben. Die ersten Auf- ben 90% dauerhaft in der Schweiz. Sie dür- gaben lösen fast alle ohne Probleme, dann fen arbeiten, müssen aber in dem ihnen wird es schwieriger. Bei den Textaufgaben zugewiesenen Kanton bleiben. Regelmäs- sind sie nicht nur mit mathematischen Pro- «Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass das oft Schüler sind, die noch nie eine Schule besuchen konnten.» sig wird überprüft, ob ihre Aufnahme noch blemen konfrontiert, sondern müssen auch gerechtfertigt ist. Eine Langzeitstudie des noch die sprachliche Barriere überwinden. Staatssekretariats für Migration zeigt, wie Mehrere Schüler fragen, was das Wort stark negativ der Stempel des F-Status den «subtrahieren» bedeutet, aber Ivan gibt kei- Erfolg bei der Jobsuche beeinflusst: Der ne Auskunft. «Das gehört auch zum Stoff Status wirkt stärker als Alter, Herkunft oder dazu», meint er. Nach dem Test sind man- Geschlecht.6 Um für alle Flüchtlinge, unab- che Schüler stolz auf sich, andere depri- hängig von ihrem Wohnort, gleiche Startbe- miert. Sie sind enttäuscht, dass es trotz ihrer dingungen zu schaffen, nimmt Welcome to Bemühungen nicht gut gelaufen ist oder School seit der Abstimmung nicht mehr nur dass sie vermeidbare Fehler gemacht ha- Jugendliche mit N-Status, sondern auch ben. Ein Schüler ist besonders niederge- solche mit F-Status auf. schlagen. Er habe Prüfungsangst, erklärt er. Ausserdem habe er kurz vor der Prüfung ei- Drei Wochen später schreiben die Schüler nen Anruf von seinem Anwalt erhalten, der einen Mathetest. Die Stimmung ist ange- ihm mitteilte, dass er in den nächsten Tagen 10
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den Brief mit dem Asylentscheid erhalten sollte es in der Schweiz anders sein? Oft werde. Deshalb habe er sich nicht wirklich denken die Schüler auch in Klassen und se- konzentrieren können. Die belastende Situ- hen sich dabei als eine minderwertige an. ation der Schüler und Schülerinnen führt Zusammen mit dem Gefühl, unnütz zu sein, immer wieder zu Konzentrationsschwierig- entsteht eine Negativspirale. Gerade hier ist keiten. Manchmal erscheinen sie auch gar Integration extrem wichtig. «Wer schon gut nicht, weil sie einfach die Kraft nicht ha- integriert ist, dem geht es psychisch auch ben, aufzustehen. «Ich habe erfahren, dass viel besser. Wenn sie keinen Anschluss ha- in meinem Dorf in Afghanistan Krieg ben, kann es sehr schnell ein Klassenden- herrscht. Ich habe noch nichts von meiner ken und ein Sich-Ausgeschlossen-fühlen Familie gehört. Ich weiss nicht, ob es ihr geben», fasst Nina ihre Erfahrungen von ei- gut geht», erklärt ein Schüler seine be- nem Jahren Betreuungsarbeit zusammen. drückte Stimmung. Situationen wie diese Welcome to School reicht für die Integration sind bei Welcome to School täglich ein The- in die Gesellschaft nicht aus, weil die Ju- ma. Ein junges Mädchen wird schwanger, gendlichen zu 80% von Leuten umgeben ein Jugendlicher will nach einem negativen sind, die sich in der gleichen Situation be- Entscheid abtauchen, ein anderer ist mit finden wie sie. In der Schule lernen sie, mit dem Rekurs seines negativen Asylent- dem Zusammengehen unterschiedlicher scheids beschäftigt, ein dritter ist plötzlich Kulturen umzugehen, was ein Grundbau- spurlos verschwunden. Die Lehrpersonen stein für die Toleranz gegenüber der versuchen, solche Geschichten nicht an sich schweizerischen Kultur ist. «Für eine ge- heranzulassen. lungene Integration wäre es aber wichtig, Wieder fährt ein Tram vorbei. Am Tisch ne- den Alltag der Schweizer kennenzulernen. benan schreit ein Kind, es hat sein Getränk Die Schüler brauchen und schätzen den verschüttet. Nina trinkt einen Schluck Eis- Kontakt mit Einheimischen extrem. Sie tee und zieht ihren Pullover aus. Es wird wissen allerdings nicht so genau, wie sie immer wärmer. mit Schweizern in Kontakt treten können.» «Es sind sehr kleine Sachen, die einen glü- Welcome to School organisiert immer wie- cklich machen. Man darf nicht zu grosse der Projekte mit Gymnasien, um den Schü- Erwartungen haben. Es freut mich unglaub- lern Begegnungsmöglichkeiten zu ver- lich, wenn ich sehe, wie sechs Schüler, alle schaffen. Ausserdem hat die Schule ein Pa- von verschiedenen Nationen, zusammen tensystem aufgebaut. Einige verfolgen Mittag essen gehen oder mit dem Töggeli- Hobbys, um Beziehungen zu Schweizern kasten spielen.» Nina lächelt. «Leider ist so aufzunehmen. Zwei junge Frauen aus der eine Offenheit nicht immer vorhanden. blauen Klasse spielen zum Beispiel Fuss- Manche Schüler denken in Ländern und ball. Beim ersten Training wurde ihnen ge- machen teilweise sogar rassistische Bemer- sagt, dass sie in kurzen Hosen und ohne kungen.» Die verschiedenen Kulturen in- Kopftuch spielen müssen. Wenn ihr das hier nerhalb der Klassen schaffen ein enormes so macht, machen wir das auch, war die Spannungsfeld. Die Jugendlichen fühlen Antwort der Mädchen. «Das nenne ich Inte- sich manchmal plötzlich bedroht voneinan- gration pur», meint Nina Kleiner. «So et- der und sehen ihre Mitschüler als Konkur- was ist nicht einfach für junge muslimische renten an. Schiiten und Sunniten, Afghanen Frauen.» Frauen finden generell einfacher und Iraner. Sie haben von klein auf gelernt, den Anschluss. Woran das genau liegt, kann dass der andere nur zweitklassig ist. Wieso Nina nicht sagen. Vielleicht, weil sich 13
Schweizer Frauen allgemein mehr mit dem tons Zürich spielen eine grosse Rolle für die Thema Flüchtlinge beschäftigen. Das sieht Entwicklung der Schule. Im Jahr 2019 soll man auch am Anteil der weiblichen Frei- das beschleunigte Asylverfahren umgesetzt willigen, der deutlich höher ist als derjenige werden. Die Asylsuchenden werden sofort der männlichen. Schlussendlich hängt es einem Bundesasylzentrum zugewiesen. aber immer vom Typ Mensch ab, wie leicht Dort sollen dann innert 21 Tagen Vorabklä- jemand Freundschaften schliesst und auf rungen zum Asylgesuch erfolgen. Nach den Menschen zugeht. Vorbereitungen und der anschliessenden Den meisten Schülern ist der Kontakt mit Anhörung wird innerhalb von acht Tagen Welcome to School nach dem Verlassen der ein Asylentscheid gefällt werden, so ist es Schule sehr wichtig. Vor allem wenn sie es zumindest vorgesehen. Dann erfolgt die geschafft haben, sich etwas aufzubauen. Zuweisung in einen Kanton. Bei einem ne- Eine ehemalige Schülerin zum Beispiel, die gativen Entscheid tritt die Wegweisung di- momentan ein Praktikum als Fachfrau Ge- rekt vom Bundesasylzentrum aus ein. Die sundheit absolviert, besucht die Schule re- maximale Aufenthaltsdauer in einem Asyl- gelmässig und hält motivierende Anspra- zentrum beträgt 140 Tage. Dieses beschleu- chen vor den Klassen. Einmal im Jahr wird nigte Verfahren werden ca. 50% der Asyl- ein Kinoabend für die Schüler, die Ehema- suchenden erfahren. Sind nach der Anhö- ligen und die Freiwilligen organisiert. Auch rung weitere Abklärungen erforderlich, fin- am Sommerschlussfest kommen viele vor- det ein erweitertes Verfahren statt. Die Mig- bei und erzählen stolz von ihren Erfolgen. ranten und Migrantinnen werden einem Auf die Frage, wie sich Welcome to School Kanton zugewiesen, der für sie und ihre noch entwickeln wird, meint Nina lachend: Unterbringung verantwortlich ist. Das er- «Man organisiert ins Blaue hinaus.» Das weiterte Verfahren dauert rund ein Jahr. Hat Umfeld, in dem sie arbeitet, ist sehr instabil ein Asylsuchender bereits in einem anderen und unvorhersehbar. «Man weiss nie, wie Dublin-Staat einen Antrag gestellt, durch- es weitergeht. Es kann sein, dass nächsten läuft er innerhalb von 140 Tagen das soge- Frühling wieder unglaublich viele kom- nannte Dublin-Verfahren. Eine Kantonszu- men; dann ist es wichtig, dass die Schule in weisung erfolgt im Gegensatz zu früheren dieser Konstellation besteht. Vielleicht wer- Fällen nicht.7 den es aber auch weniger, sodass sich die Nina hofft, dass dies die Aufhebung des «Deutsch zu lernen, obwohl man nicht weiss, ob man bleiben darf oder nicht, erfordert eine Wahnsinnsmotivation. Die können nicht alle aufbringen.» Schule weiterentwickeln und eine andere gravierendsten Fehlers des bisherigen Sys- Aufgabe finden muss.» Auch ob sich wei- tems mit sich bringt: Ihrer Meinung nach terhin so viele Freiwillige finden, ist schwer stellt die lange Wartezeit das grösste Inte- zu sagen. Schon im letzten Sommer war es grationshindernis dar. «Es geht zu lang, bis schwieriger, Helfer zu bekommen, weil die die Migranten sich integrieren dürfen. Ich Flüchtlingsthematik an Bedeutung verloren finde, es ist wirklich ein Dürfen. Man ver- hatte. Auch die weiteren Schritte des Kan- weigert ihnen die Integration, indem man 14
sie einfach warten lässt.» Ein weiteres gros- ses Problem der Schweiz ist, dass die war- tenden Asylsuchenden nicht beschäftigt sind. Die Jugendlichen kommen oft aus ei- nem Arbeitsalltag und werden dann ge- zwungen, nicht zu arbeiten. Immer mehr Kantone und Gemeinden, wie zum Beispiel Uster oder der Kanton Aargau, gehen gegen das Nichtstun vor, indem sie vom ersten Tag an Beschäftigungsprogramme und Deutschkurse bereitstellen. So kann die In- tegration sofort beginnen. Für die Integrati- on ist diese klare Tagesstruktur von Anfang an essenziell. Ein Hindernis zur Integration, das man schnell vergisst, ist das Schweizerdeutsch. Es ist sehr frustrierend für die Schüler, dass sie trotz ihrer Bemühungen, Deutsch zu ler- nen, im Alltag nur sehr wenig verstehen. Diese Enttäuschung hat auch die Migrantin Dania Murad erlebt, die 2014 mit ihren El- tern aus Aleppo in die Schweiz geflüchtet ist. Mittlerweile spricht Dania so gut Hoch- deutsch, dass sie ein Jurastudium an der Universität Bern begonnen hat. Auch der Dialekt ist kein Problem mehr für sie. In Er- innerung an ihre erschwerte Anfangszeit hat Dania in den letzten zwei Jahren zusam- men mit «voCHabular» ein Selbstlernmit- tel kreiert, in dem jeder Übungssatz drei- sprachig gestaltet ist: Hochdeutsch, Zürich- deutsch und Arabisch, Englisch oder Per- sisch. Das Projekt soll als erstes Lehrmittel für Schweizerdeutsch eine Lücke füllen. Das Ziel dabei ist nicht unbedingt, dass die Lernenden Schweizerdeutsch sprechen, sondern vielmehr, dass sie es verstehen.8 Welcome to School will das Lehrmittel für die Schüler zugänglich machen, um ihrem wachsenden Bedürfnis, Schweizerdeutsch zu verstehen, gerecht zu werden. Manche wollen sogar noch mehr: Schweizerdeutsch sprechen. «Was bedeutet dieses Wort?» fragt ein Schüler beim Lösen einer Textaufgabe. 15
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«Achterbahn? Wenn man Achterbahn fährt, Alter wie die Schüler ist, macht mit. Die sitzt man in einem Wagen und fährt unge- Schüler freuen sich über den Kontakt mit wöhnliche Strecken, wie zum Beispiel ganz der Schweizerin, sie nehmen sie herzlich in steil hoch und dann ganz steil wieder run- die Gruppe auf und zeigen ihr, wie man den ter.» Ball auf dem Fuss jonglieren kann. Dann «Ach so», lacht der Schüler, «du meinst wird getöggelet. Der kleine Ball fliegt ra- eine Art Chilbi.» send schnell hin und her, bei jeder Bewe- gung der Plastikspieler quietscht der uralte Heute ist es soweit, Welcome to School Tisch unzufrieden. Die Schüler fluchen zieht um. Katrin Jaggi, Nina Kleiner und lautstark auf Afghanisch oder sogar verein- Lova Niederreuther, die gerade ein einwö- zelt auf Schweizerdeutsch und freuen sich, chiges Sozialpraktikum bei Welcome to wenn ein Tor geschossen wird. Andere hö- School macht, haben die ganze Woche da- ren Musik, während sie spielen. Sie wech- mit verbracht, den Umzug vorzubereiten. seln laufend Positionen, damit jeder mal Die Schülerinnen und Schüler warten vor drankommt, lassen Lova aber immer den der Schule etwas verloren auf Anweisun- Vortritt. Dann kommt der Minivan und so- gen, sie müssen auch mitanpacken. Zuerst fort packen die Schüler wieder mit an, um einmal gilt es, alle Materialien wie Schul- die Sachen einzuladen. Ein paar wollen noch mitkommen und die neue Schule se- hen, andere wollen nach Hause. Sie verab- «Die Zusammen- schieden sich mit einem Handschlag. setzung der Schüler Die Räumlichkeiten der ehemaligen «Zür- spiegelt eigentlich cher Schule für Gestaltung» werden Welco- immer die aktuelle me to School bis voraussichtlich 2020 vom politische Situation Gipserverband für Miete zur Verfügung ge- wieder.» stellt. Momentan dürfen sie alle Räume nutzen, ab nächsten Sommer müssen sie sich auf das dritte Stockwerk beschränken, bücher, Taschenrechner und Computer ein- weil der Gipserverband die anderen Etagen zupacken. Dann müssen die grösseren Sa- selbst nutzten wird. Die neue Schule bietet chen wie Tische, Regale und der Töggeli- trotz der hohen Miete eine enorme Berei- kasten mit dem Auto zur Schule transpor- cherung: viel mehr und viel grössere Klas- tiert werden. senzimmer, ein geräumiges Lehrerzimmer «Kennt sich irgendjemand mit Mechanik mit USM-Haller-Möbeln, Kaffeemaschine aus?», fragt Lova die Schüler. «Ich brauche und gemütlichen Sofas und ein grosszügi- jemanden, der mir hilft, den Beamer abzu- ger, gut eingerichteter Pausenraum für die montieren.» Ein paar melden sich, sie sind Jugendlichen. froh, eine Aufgabe zugeteilt zu bekommen. Die Lehrpersonen begleiten die voll bela- Um halb fünf ist der Unterricht fertig, die denen Jugendlichen zu den neuen Räum- Jugendlichen packen ihre Sachen zusam- lichkeiten, man merkt ihnen die Aufregung men. Drei Schüler kümmern sich um die an. Sechs junge Männer bleiben noch bei Ordnung im Zimmer, sie wischen die Ti- der Liebfrauenkirche, um beim Einladen sche ab, fegen den Boden und putzen die der grösseren Dinge zu helfen. Während sie Tafel. Währenddessen besprechen die aufs Auto warten, spielen sie zusammen Lehrpersonen den Unterricht. Was ist gut Fussball. Auch Lova, die etwa im gleichen gelaufen und was hat noch Schwierigkeiten 17
bereitet, wer hatte Probleme und für wen «Auf Wiedersehen, ein schönes Wochenen- waren die Aufgaben zu einfach? Die Schü- de und danke, dass sie sich Zeit genommen ler und Schülerinnen legen ihren Taschen- haben, mir die Aufgabe noch einmal zu er- rechner in die Kiste auf dem Lehrerpult, die klären», verabschieden sich die Schüler. später eingeschlossen wird, und verab- schieden sich mit einem kurzen Hände- druck von ihren Lehrern. Für Spenden oder weiteres Interesse «Ciao und ein schönes Wochenende», https://www.welcometoschool.ch/schule/ wünscht Ivan seinen Schützlingen. IBAN: CH98 0900 0000 6198 4506 6
Vier Heimaten Die Integrationsgeschichte einer jungen Muslima Fateme ist mit ihrer Familie aus dem Iran in die Schweiz geflüchtet. Das war vor sieben Jahren. Heute spricht sie fast akzentfrei Schweizerdeutsch und macht bald ihren Abschluss an der Kantonsschule Baden. Die junge Muslima erzählt. 19
«Ja, ich würde schon sagen, dass ich mich terten Sinn auch für Bevölkerungsgruppen integriert fühle. Einiges könnte ich noch in benachbarten Ländern wie Afghanistan mehr machen, zum Beispiel wandern ge- oder China verwendet.3 hen, wie die richtigen Schweizer.» Die Fateme rückt ihr Kopftuch zurecht. Zum zwanzigjährige Muslima Fateme ist ein Vorschein kommen goldene Ohrringe. fröhlicher Farbfleck inmitten von Grautö- Ihre Familie hat Glück und erhält schon nen. Das beige glänzende Kopftuch trägt nach einem zweimonatigen Aufenthalt in sie locker gebunden, sodass der Ansatz einem Schweizer Asylheim den F-Status. ihres kastanienbraunen Haares zum Vor- Sie gilt somit als vorläufig aufgenommen. schein kommt. Es wirkt wie ein zufällig Ihnen wird eine Wohnung im Kanton Aar- passendes Accessoire zu ihrem senfgelben gau zugewiesen. Die Begründung für ihre Mantel. Die Beine lässig übereinanderge- vorläufige Aufnahme ist Fateme allerdings schlagen, erzählt die selbstbewusste Mittel- nicht bekannt. «Für mich ist so ein F-Status schülerin in perfektem Schweizerdeutsch eigentlich gleichbedeutend mit abgelehnt. ihre Geschichte. Dabei spricht sie erst seit Aber sie konnten uns halt nicht zurückschi- sieben Jahren Deutsch. Denn Fateme ge- cken, weil in Afghanistan Krieg herrscht. hört zur drittgrössten Gruppe von Asylsu- Es gibt viele, die das sicher anders wahr- chenden der Schweiz, sie kommt aus nehmen, aber für mich ist das so. Denn Afghanistan. Geboren und aufgewachsen Freiheiten hast du eigentlich nicht viele mit ist sie aber im Iran, bis ihr Vater be- dem F-Status. Es ist zum Beispiel sehr schliesst, er wolle kein so perspektivloses schwierig, einen Job zu finden, weil es für Leben für seine Kinder, und sie nach Euro- den Arbeitgeber sehr mühsam ist. Er muss pa bringt. Obwohl die Afghanen dieselbe eine Bewilligung holen und viele Formu- Sprache wie die Iraner sprechen und es lare ausfüllen.» In der Schweiz leben aktu- über eine Million Afghanen im Iran gibt, ell 41’000 vorläufig Aufgenommene, da- gelten sie als Personen zweiter Klasse und runter rund 6’500 Afghanen.4 Der Begriff haben kein Recht auf Bildung und Arbeit.1 suggeriert eine baldige Rückkehr ins Hei- Dass Fatemes Familie der schiitischen matland. Tatsächlich bleibt eine Mehrheit «In der Schule habe ich keine Vorurteile gesehen, sondern nur Interesse. Ich bekomme auch viele Komplimente für die Art, wie ich mein Kopftuch kombiniere und mit Farben spiele.» Glaubensrichtung angehört, der im Iran ge- der Betroffenen aber langfristig. Der irre- genüber dem sunnitischen Glauben mit 90 führende Begriff und die Papierarbeit, die bis 95%2 deutlich überwiegt, erleichterte das Einstellen eines Flüchtlings mit F-Sta- ihr Leben im Iran erheblich. Fateme gehört tus mit sich bringt, lassen potenzielle Ar- zur Volksgruppe der Tadschiken. Von ihr beitgeber zögern. Sie gehen davon auf, dass hört man vor allem im Zusammenhang mit sich der Aufwand nicht lohnt, weil die der persischsprachigen Bevölkerung Zen- Flüchtlinge nur vorläufig bleiben. Als eine tral-asiens, der Begriff wird aber im erwei- Folge liegt die Erwerbsquote von vorläufig 20
Aufgenommenen auch zehn Jahre nach ih- kurse, geleitet von Freiwilligen, besucht rer Einreise in die Schweiz bei durch- und dort einheimische Kontakte geknüpft. schnittlich zwanzig Prozent. Im Vergleich Seit der Geburt ihres Sohnes hat sie aber mit anerkannten Flüchtlingen, deren Quote keine Energie und Zeit mehr, um die Bezie- im selben Zeitraum auf sechzig Prozent an- hungen zu pflegen. steigt, ist dies sehr wenig.5 Deshalb reichte Nach nur einem Jahr in der Schweiz kann die staatspolitische Kommission (SPK) im Fateme genug Deutsch, um die Sekundar- April 2017 eine Motion für die Einführung schule zu besuchen. Sie hat zuerst einen eines neuen Status ein: den Status für Deutschkurs im Asylheim besucht, dann ei- Schutzbedürftige. Dabei sollte eine Unter- ne regionale Integrationsklasse. Dort wurde «Für mich ist so ein F-Status eigentlich gleichbedeutend mit abgelehnt. Aber sie konnten uns halt nicht zurückschicken, weil in Afghanistan Krieg herrscht.» scheidung zwischen «Vorübergehend schutz- sie in Deutsch, Mathematik, Geschichte bedürftig» und «Geschützt» gemacht wer- und Geografie unterrichtet. «Oft werden die den. Der Status «Geschützt» sollte ein un- Klassen im Asylheim nicht nach Niveau, befristetes Aufenthaltsrecht bieten, was die sondern nach Herkunft eingeteilt. Als An- Arbeitssuche erleichtern und die Sozialhil- fänger ist es so fast unmöglich, den An- fekosten senken sollte, während der Status schluss zu finden», erklärt Fateme. «Im «Vorübergehend geschützt» einen ähnli- Kanton Aargau ist man oft einfach sich chen Charakter wie die vorläufige Aufnah- selbst überlassen. Das ist sehr schlimm. me haben sollte. Während der Nationalrat Wenn man den N-Status hat, darf man nur die Motion im Juni 2017 annahm, lehnte einen dreimonatigen Sprachkurs machen der Ständerat den Antrag ab.7 und sonst nichts. Und dann wird plötzlich «So schnell den F-Status zu erhalten hat von dir erwartet, dass du integriert bist. Es Vor- und Nachteile. Wir mussten zwar nicht braucht einfach mehr Sprachkurse! Und wie andere Familien sechs Monate im Asyl- zwar nicht von Freiwilligen, sondern vom heim bleiben, dafür hatten meine Eltern Bund!» Nachdem Fateme ein Jahr in der aber auch weniger lange die Möglichkeit, Sekundarstufe B verbracht hat, erkennt ein einen Deutschkurs zu besuchen, weil sie so- Lehrer ihr Potenzial und veranlasst ihren fort anfangen mussten zu arbeiten.» Bis Übertritt in die Sekundarstufe A. Durch heute können sich Fatemes Eltern zwar auf harte Arbeit und mit Hilfe der Unterstüt- Deutsch verständigen, aber nicht richtig un- zung ihres Lehrers schafft sie es in die Kan- terhalten. Um sich vollständig zu integrie- tonsschule Baden. Dort stösst Fateme auf ren, fehlen ihnen die Zeit und die finanziel- etwas, was sie bisher nicht gewohnt war: len Mittel. Ihr Vater arbeitet als Schneider Interesse an ihrer Religion und ihrem Kopf- in einem kleinen Anzugladen in Zürich, oft tuch. «In der Schule habe ich keine Vorur- von frühmorgens bis spätabends, und ihre teile gesehen, sondern nur Interesse. Ich Mutter kümmert sich zuhause um Fatemes bekomme auch viele Komplimente für die zweijährigen Bruder. Bevor sie zum vierten Art, wie ich mein Kopftuch kombiniere und Mal Mutter wurde, hat sie mehrere Deutsch- mit Farben spiele.» 21
Fateme hat die traditionelle Art, ein Kopf- hen könnten. Gerade wenn es in der Schule tuch zu tragen, neu interpretiert: Es ist nicht um das Thema Evolution und Weltentste- mehr nur ein Ausdruck ihrer Religion, son- hung geht, fühlt sich Fateme nicht wohl ge- dern auch ein modisches Accessoire. Sie nug, um frei ihre Überzeugung, dass Allah spielt mit Farben und Texturen. Immer die Welt und die Menschen erschaffen hat, mehr junge muslimische Frauen schliessen in die Diskussion einzubringen. sich diesem Trend an. Vor allem in Gross- Vor einem Jahr noch hätte Fateme ihrem britannien und Frankreich wird die soge- Lehrer niemals die Hand zur Begrüssung nannte Hijabista-Szene immer bekannter. gegeben, denn Körperkontakt mit Männern Mittlerweile laufen sogar einige Hijabista- ist im Islam verboten. «Das war der grösste Models auf dem Pariser Laufsteg. Die Ent- Kompromiss für mich, fremden Männern wicklung, das Kopftuch zum statement pie- die Hand zu reichen. Aber es nicht zu tun ce zu machen, ist in der muslimischen hat meinen Beziehungen zu Schweizern Glaubensgesellschaft, wie das Thema west- geschadet. Sie haben sich schmutzig ge- liche Kleidung ganz allgemein, stark um- fühlt, weil ich sie nicht anfassen wollte.» stritten.7 Ausserhalb der Schule erlebt Fa- Jetzt umarmt sie auch ihre männlichen teme immer wieder Situationen, in denen Freunde zum Abschied. Vor den Augen ih- Vorurteile dominieren. Sie schildert, wie res Vaters einen Mann zu berühren, das sie zusammen mit ihrer Schwester, die würde sie hingegen nicht. In dieser Hin- ebenfalls ein Kopftuch trägt, im Wald ein sicht sind ihre Eltern sehr streng. Wie die altes Ehepaar nach dem Weg fragen will meisten muslimischen Mädchen darf Fate- und dieses ihr die Auskunft verweigert. me keinen Freund haben, sondern sie wird «Der Mann meinte zu seiner Frau: ‘Nein, verheiratet werden. Jungfräulichkeit ist im diesen Kopftuch-Frauen helfen wir nicht’. Islam ein Zeichen von Reinheit und gilt als Das hat mich schon sehr schockiert. Aber Garant für eine glückliche Ehe. 80% aller als Ausländerin erlebt man so oder so mal Ablehnung. Es ist wichtig, sich auf das Po- sitive zu konzentrieren. Das Positive gleicht «Der Mann meinte zu das Negative aus, manchmal überwiegt es seiner Frau: ‘Nein, die- sogar.» sen Kopftuch-Frauen Fateme fasst sich ans Herz und beugt sich helfen wir nicht’. Das nach vorne. Strahlend erzählt sie von der hat mich schon sehr Begegnung mit einer älteren Frau, die sie schockiert.» an einer Bushaltestelle angesprochen hat, um ihr ein Kompliment zu ihrem Kopftuch zu machen. «Solche Erlebnisse brauche ich Muslimas heiraten innerhalb der islami- unbedingt. Ich denke, solche Momente schen Konfession.8 Allerdings haben im- braucht jeder.» Als Muslima in einer mehr- mer mehr junge Muslimas heimlich, hinter heitlich nicht religiösen Gesellschaft zu le- dem Rücken der Eltern, einen Freund. «Das ben ist nicht immer einfach. Oft kann Fate- würde ich nicht machen, auch wenn ich me ihre Meinung zu einem Thema nicht of- nicht mit dem Verheiratet-Werden einver- fen äussern. Nicht, weil ihre Freunde ihren standen bin. Wenn es soweit ist, dann rede Glauben und die damit verbundenen An- ich mit meinen Eltern darüber.» sichten nicht respektieren, sondern weil sie Obwohl Fateme in der Schweiz glücklich ihre Ansichten einfach nicht nachvollzie- ist, hat sie immer wieder Heimweh. «Es tut 22
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«Es tut weh, weh, dass ich den Ort nicht kenne, an dem dass ich den ich geboren bin.» Die Familie fehlt ihr. Wehmütig lächelnd erzählt sie von ihrem Ort nicht Besuch im Iran, als die ganze Familie für ein Essen zusammengekommen ist. Für ihre kenne, an Integration in der Schweiz interessieren sich ihre Verwandten allerdings wenig. Sie wis- dem ich sen weder, was Integration ist, noch was Fa- teme alles geleistet hat. Sie sind mit an- geboren deren, wichtigeren Dingen beschäftigt. Inte- gration ist da, wo sie leben, schlichtweg kein bin.» Thema. Für Fateme ist es wichtig, ihren zu- künftigen Kindern sowohl die afghanische, iranische und türkische Kultur als auch die schweizerische Kultur nahezubringen. Sie möchte, dass sie etwas von allen vier Le- bensweisen erfassen. «Ich habe mich damit abgefunden, dass ich von jedem Land und jeder Kultur, wo ich einmal gelebt habe, et- was mitgenommen habe. Ich bin Afghanin, Iranerin, Türkin und Schweizerin.» 24
Wo von Integration die Rede ist, sollte nicht Assimilation gemeint sein Versuch einer Richtigstellung Wie weit muss Integration gehen? Was braucht es, damit eine Gesellschaft funktioniert? Was muss die Mehrheitsgesellschaft dafür tun? Was spielen Parallelgesellschaften für eine Rolle für die Integration? Je weiter man in das Thema der Integration eintaucht, desto mehr Fragen tauchen auf, desto schwieriger wird es, sie zu beantworten und desto differenzierter wird die eigene Position. WIE WEIT MUSS INTEGRATION GEHEN? Viele Menschen haben die Vorstellung, biert werden kann. Wenn wir aber so von dass die Gesellschaft trotz all dem Neuen Integration sprechen, meinen wir da nicht und Fremden, das durch die Migration da- doch eher Assimilation? In vielen politi- zukommt, so bleiben kann, wie sie bisher schen Debatten geht es genau um diese Fra- war. So verstanden suggeriert der Begriff ge. Zwar sprechen alle von Integration, Integration, dass durch eine gewisse An- man bestimmt aber zu wenig, was dieser passung das Fremde vollkommen absor- Begriff genau bedeutet. Wie weit soll die 25
kulturelle Anpassung gehen? Hinter der zähneknirschend seine Steuern bezahlen – viel diskutierten Frage, ob ein muslimi- Hauptsache, man bezahlt sie. scher Schüler oder eine muslimische Schü- Konventionen sind demgegenüber weniger lerin einer andersgeschlechtlichen Lehrper- verbindlich, ein gutes Beispiel sind Be- son die Hand geben muss, steht genau die- nimmregeln im Zusammenhang mit dem ses Problem. Ebenso hinter der Frage, ob Essen. Sie sind selten schriftlich fixiert, ihr eine muslimische Schülerin den Schwimm- Geltungsbereich ist viel weniger klar be- unterricht besuchen muss. stimmt als jener von Rechtsnormen; auch sind die Sanktionen, wenn man gegen sie Rechtsnormen, Konventionen und mo- verstösst, meist nicht hart. Auch die Anpas- ralische Regeln sung an die Umgebung fällt relativ leicht, Im Folgenden soll anhand von eigenen ganz gemäss dem Sprichwort «When you Überlegungen eine Unterscheidung von are in Rome do as the Romans do.» .» Auch Rechtsnormen, Konventionen und morali- hier spielt die innere Einstellung keine Rol- schen Normen, die der deutsche Philoso- le. phen Günther Patzig vorgeschlagen hat, für Moralische Normen sind eine dritte Kate- ein Verständnis der Integrationsdebatte gorie: Auch sie haben keine Gesetzeskraft, fruchtbar gemacht werden. sind aber stärker als Konventionen, gerade Unser Alltag wird, wie Patzig erläutert, von weil es bei ihnen um die innere Einstellung verschiedenen Arten von Normen be- der handelnden Person geht. So wird eine stimmt: Rechtsnormen, Konventionen und überzeugte Vegetarierin im Kreis von moralischen Normen. Dabei empfinden wir Fleischessern (anders als im umgekehrten nicht alle als gleichermassen verpflichtend. Fall) sich nicht einfach anpassen wollen: Die Integrationsdebatte lässt sich als ein Das «do as the Romans do» stösst klar an Zusammenspiel dieser drei Normen be- die Grenzen der inneren Überzeugung. schreiben. Man kann dann fragen, welche Das alles ist einfach, solange diese Rechts- Art von Normen angenommen werden regeln nicht gegen die anderen Normen müssen, damit ein Zusammenleben funkti- verstossen, und die Befolgung der eigenen oniert. moralischen Überzeugungen nicht mit den Fangen wir bei der Basis aller Normen an, Gesetzen in Konflikt gerät. ohne die ein Staat nicht funktionieren wür- Man kann sich nun fragen, ob Rechtsnor- de: den Rechtsnormen. Rechtsregeln sind men genügen, um eine Gesellschaft zusam- das, was uns alle verbindet und eine ge- menzuhalten. Um dies zu klären, muss man meinsame Basis für das Zusammenleben sich damit beschäftigen, was es bedeuten schafft. Sie zeichnen sich laut Patzig da- würde, wenn nicht alle den gleichen mora- durch aus, dass sie schriftlich fixiert sind, lischen Regeln und Konventionen folgen einen bestimmten Geltungsbereich (zum würden, die Rechtsnormen aber von allen Beispiel innerhalb nationalstaatlicher Gren- akzeptiert würden. Zu einem gewissen Teil zen) haben und von einem bestimmten, ge- ist dies natürlich schon der Fall. Aber unse- nau zu bezeichnendem Moment an in Kraft re Rechtsnormen basieren – zumindest in treten. Wir müssen ihnen folgen, ob wir demokratisch legitimierten Staaten – auf wollen oder nicht – zumindest, wenn wir den Menschenrechten. Unsere moralischen nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten Regeln werden von unseren Gesetzen ge- wollen. Dabei spielt die innere Einstellung leitet. Somit teilen wir im Grundsatz die keine Rolle: Man kann auch murrend und gleichen moralischen Normen. Würde je- 26
mand unsere Moralvorstellungen nicht an- zum Beispiel der Handschlag bei bestimm- erkennen, würde er auch unsere Rechtsnor- ten Arten von Begrüssungen oder Pünkt- men verleugnen. Es ist somit wichtig, dass lichkeitsvorstellungen. Ihnen folgt eine jemand die moralischen Grundsätze ver- grosse Mehrheit innerhalb einer bestimm- steht und übernimmt. Anders würde die ten Kultur. Jemand könnte also argumentie- Gesellschaft auseinanderfallen. Gleichzei- ren, dass sie somit wichtig für den Zusam- tig gibt es natürlich auch ethische Fragen, menhalt einer Gesellschaft sind. Wer so in denen sich nicht alle einig sind, wie zum denkt, wird behaupten, dass die Befolgung Beispiel, ob man Fleisch essen oder Pelz der Rechtsnormen alleine nicht ausreicht tragen darf. Solange die persönliche Über- und nur die Konventionen im Privaten frei zeugung hier nicht einer Rechtsnorm wi- sind. Die Anpassung an die öffentlichen derspricht oder dazu führt, gegen ein konventionellen Normen wäre in dieser Sicht Gesetz zu verstossen, funktioniert dieses über die Beachtung des rechtlichen Rah- pluralistische Denken ohne Probleme. mens hinaus zentral. Muss man diesen Schluss wirklich ziehen? Viele Menschen haben die Vorstellung, dass die Ge- sellschaft trotz all dem Neuen und Fremden, das durch die Migration dazukommt, so bleiben kann, wie sie bisher war. Wie aber sieht es bei den Konventionen Oft enthalten diese öffentlichen, stillen aus? Es gibt unzählige Konventionen und «Gesetze» (die eben keine Rechtsnormen Traditionen, denen nicht alle nachgehen. sind) einen wichtigen Grundgedanken, Dies sind die Konventionen, die keinen welcher mit den moralischen Regeln oder Einfluss auf das Zusammenleben haben sogar den Rechtsnormen verbunden ist: So und hinter denen meist kein moralischer erweist man sich mit der Geste des Hände- Grundsatz steht. Oft sind diese von Haus- drucks gegenseitig Respekt. Ein respekt- halt zu Haushalt verschieden: Beim einen voller Umgang mit seinen Mitmenschen ist ist es Tradition, zu Silvester Käse-Fondue eine wichtige moralische Regel unserer zu essen, beim anderen isst man Fondue Gesellschaft und in manchen Situationen, nur in der Skihütte. Der eine hat Zeit, seine wie zum Beispiel am Arbeitsplatz beim Wäsche zu bügeln, der andere nicht. So Umgang mit Arbeitskollegen, sogar gesetz- oder so hat es keinen Einfluss auf die Ge- lich vorgeschrieben. Den privaten Konven- sellschaft. Man könnte diese Art von Kon- tionen muss also keine grosse Bedeutung ventionen oder Traditionen private Kon- zukommen, wenn man Integration nicht als ventionen nennen. Würde man Integration Assimilation definieren will, während das mit Assimilation gleichsetzen, müsste man Konzept der öffentlichen Konventionen für von Ausländern verlangen, sich auch in manche wichtig für die Integration in eine diesem Bereich anzupassen und ihre eigene Gesellschaft scheint und man es somit ge- Kultur, und damit ihre Traditionen, kom- nauer betrachten sollte. Es stellt sich die plett aufzugeben. Auf der anderen Seite ste- Frage, wie weit die öffentlichen Konventi- hen die öffentlichen Konventionen, wie onen befolgt werden müssen. Genügt es, 27
den Gedanken hinter der Konvention zu be- men: «Integration ohne Assimilation be- folgen oder muss es die konkrete Konventi- deutet eine partielle Säkularisierung der ei- on sein? Dies kann man sich zum Beispiel genen Identität. Aller Identitäten. Partielle auch für die Benimmregeln beim Essen fra- Säkularisierung – das wäre die Formel ei- gen: Wenn in einem asiatischen Restaurant ner pluralisierten Demokratie». Laut Cha- jemandem, der nicht mit Stäbchen essen rin braucht es eine Anpassung der kann, Gabel und Löffel (aber nicht ein Mehrheitsgesellschaft, damit Integration Messer) gereicht wird, geht das in diese ohne Assimilation funktionieren kann: Im Richtung. Fall des verweigerten Handschlags kann die Mehrheitsgesellschaft lernen anzuer- Im Westen Österreichs gab es kürzlich ei- kennen, dass sich Respekt auch auf andere nen viel diskutierten Konflikt, der sich ge- Art ausdrücken kann. Wendet man dies nau mit dieser Frage auseinandergesetzt wiederum auf das Beispiel der Benimmre- hat. Ein muslimischer Schüler weigerte geln beim Essen an, müsste die Mehrheits- sich, seiner Lehrerin die Hand zur Begrüs- gesellschaft einsehen, dass man Höflichkeit sung zu geben. Die Eltern des Kindes ha- beim Essen auf unterschiedlichen Wegen ben auf ihre Religion hingewiesen, die eine zeigen kann. solche Berührung verbietet, die Schule hat Wäre man bereit, über Integration in die- den Handschlag eingefordert. In einem Ra- sem Sinne zu reden, also über Integration, diogespräch hat Hanno Loewy, Leiter des die auch von der aufnehmenden Gesell- Jüdischen Museums in Hohenems folgen- schaft Lernbereitschaft und Kompromisse den Vorschlag gemacht: Man soll dem verlangt, was hiesse Integration dann? Inte- Schüler erklären, dass der Handschlag ein gration hiesse, über eine veränderte Gesell- Zeichen des Respekts sei. Verweigert er schaft reden, über eine Gesellschaft, in der diese Form der Respektbezeugung, soll er Unterschiede nebeneinander bestehen, wo sich eine andere überlegen. In dieser Idee werden die kulturell-konventionelle Form Verweigert er diese (der Handschlag) und der moralische Ge- Form der Respekt- danke dahinter (die Bezeugung von Re- bezeugung, soll er spekt) getrennt: Ein Teil der öffentlichen sich eine andere Konvention, nämlich der Handschlag sel- überlegen. ber, wird zum Privaten, während der Inhalt öffentlich bleibt. Plötzlich wird auf diese Art die kulturelle das Fremde nicht verwischt, sondern mit- Anpassung der Ausländer zu einer Anpas- einbezogen wird. Eine Gesellschaft, die sung der Mehrheitsgesellschaft: Was ur- sich sowohl den Gemeinsamkeiten als auch sprünglich etwas Öffentliches, für alle der Toleranz gegenüber Fremdem ver- Gültiges war, wird durch das Fremde einer pflichtet. Es ist vielleicht noch Zukunfts- anderen Kultur zu etwas Individuellem. musik, aber es wäre in anderen Worten eine Was bleibt, ist das Zusammenkommen im Gesellschaft, in der öffentliche Konventio- Gemeinsamen – in diesem Fall das Respek- nen zu etwas Privatem, Individuellem wer- terweisen. Isolde Charin fasst diesen Pro- den können, solange sie im moralischen zess in ihrem Artikel über die Integra- Grundsatz, der dahintersteht, übereinstim- tionsdebatte in der NZZ wie folgt zusam- men. 28
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