GLOBALER GAS LOCK-IN BRÜCKE INS NIRGENDWO - Rosa Luxemburg Brussels
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GLOBALER GAS LOCK-IN BRÜCKE INS NIRGENDWO ALFONS PÉREZ Co-Autoren der Studie: Anna Pérez, David Panadori, Nicola Scherer, Alfred Burballa, Josep Nualart und Raül Sánchez Wir möchten uns bei Alba del Campo, Luis González, Pedro Pietro, Antonio Turiel, Sara Sánchez, Elena Gerebizza, Samuel Martín-Sosa, Frida Kieninger, Marijke Vermander und Marlis Gensler für ihre Kommentare und Verbesserungsvorschläge zu diesem Text bedanken. Brüssel, im April 2018
INHALT EINLEITUNG: WORUM GEHT ES IN DIESER STUDIE? 4 I GRUNDBEGRIFFE ZUM THEMA ERDGAS 7 Was ist Gas? 8 Welche Arten von Erdgas gibt es? 9 Wie werden Gasmengen angegeben? 10 Wie kommt Gas zum Verbraucher? 11 II GAS DAMALS: LANGSAMES REGIONALES WACHSTUM 14 III GAS HEUTE: RASANTES GLOBALES WACHSTUM 19 Geopolitik: neue Gasbeziehungen 21 Import- und Exportprojekte 25 Große Öl- und Gaskonzerne 30 IV GAS IN EUROPA 33 Daten zu Gas in Europa 34 Verbrauch 34 Gasförderung 36 Gas-Importe 37 Abhängigkeit von Erdgas 39 Energieversorgungssicherheit und die Energieunion 43 Infrastruktur: Pipelines und LNG-Terminals 46 Freihandelsabkommen 55
V FINANZIALISIERUNG IM GASSEKTOR 56 Gas als ‘Treibstoff‘ für Finanztransaktionen 57 Finanzialisierung von Infrastruktur 59 VI ABHÄNGIGKEIT UND UNSICHERHEIT DER EXPORTLÄNDER 63 Abhängig von der Öl- und Gas-Förderung 64 Indizes zur Situation in Exportländern 66 Auswirkungen auf die Bevölkerung 70 VII FOSSILES GAS: KLIMAFREUNDLICH ODER KLIMASCHÄDLICH? 73 VIII KONKLUSION UND ABSCHLIESSENDE BETRACHTUNG 79 LITERATUR 84 ~3~
EINLEITUNG: WORUM GEHT ES IN DIESER STUDIE? Erdgas wird im globalen Energiesektor immer wichtiger. Ohne Kohle und Öl hinter sich zu lassen, wird Erdgas als Brücken- oder Übergangstreibstoff hin zu einer emissionsarmen Wirtschaft beworben. Damit soll der Weg für seine weltweite Erschließung geebnet werden. In dieser Studie wird der weltweite und vor allem europäische „Run auf Gas“ kritisch untersucht. Ziel der Studie ist es, dieses komplexe Thema in verständlicher Form für die aktuelle Debatte aufzubereiten, insbesondere hinsichtlich der geopolitischen, wirt- schaftlichen und finanziellen Interessen und Fragen. Diese Publikation beginnt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Eigenschaften von Gas, die seine historische Entwicklung bestimmt haben (Kapitel 1). Erdgas ist ein Neben- produkt der Rohölgewinnung und galt lange Zeit wegen seiner Gasförmigkeit als schwer transportier- und speicherbar (Kapitel 2). Heute, mit dem unerwarteten Aufkommen von unkonventionellem Erdgas, scheint sein Aufstieg unaufhaltsam; Exploration, Extraktion und Infrastrukturprojekte vervielfältigen sich. Die geostrategische Bedeutung von Regi- onen mit Erdgasreserven und das Interesse an der Schaffung eines globalen Gasmarkts steigt (Kapitel 3). ~4~ Die Erdgasförderung innerhalb der Europäischen Union geht zurück. Damit wird Europa stärker abhängig von energiereichen Drittländern, die folglich mit einem größeren Druck auf ihre fossilen Brennstoffe konfrontiert sind. Die EU verfolgt mit der „Energieunion“ eine neue Energiepolitik, auch in Bezug auf Gas. Die externe Dimension dieser Strategie zielt auf eine Diversifizierung der Gasimporte außerhalb des russischen Einflussbe- reichs ab; die interne Dimension setzt auf neue Pipelineverbindungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Die EU-Kommission rechtfertigt diese Strategie mit dem Russland- Ukraine Konflikt. Neue Gaspipelines und Import-Terminals für Flüssiggas werden gebaut, obwohl die bereits vorhandene Gasinfrastruktur in der EU gar nicht voll genutzt wird. Diese europäischen Infrastrukturprojekte sind zumeist den „Vorhaben von gemein- samem Interesse“ zugeordnet, was sie zu EU-Förderung und staatlichen Garantien berechtigt (Kapitel 4).
Das Thema Finanzen ist ein wichtiger Aspekt dieser Studie. Hier ist einiges in Bewe- gung angesichts der millionenschweren Investitionen in neue Gasinfrastrukturen. Zum einen soll ein globaler Gasmarkt entwickelt werden, der die bisherige Preisbindung an Rohölpreise ersetzt. Zum anderen öffnet die Finanzialisierung die Tür für neue Akteure in diesem Feld (z. B. Investmentfonds), denen es in erster Linie nicht um die Energieversor- gung der Bevölkerung geht (Kapitel 5). Die Studie behandelt auch die andere Seite der Gasgeschäfte: die Auswirkungen auf die Exportländer und deren Bevölkerungen. Um diese zu beschreiben, werden die Daten verschiedener Indizes und lokale Konfliktfälle herangezogen (Kapitel 6). Abschließend werden die Emissionen von Erdgas betrachtet und dafür die Gas-Leckagen in der Erdgas-Lieferkette, von der Förderung bis zum Verbrauch, untersucht. Die Zahlen werfen schwere Zweifel auf an der Idee „Klimaretter Erdgas“ und zeigen, dass die politi- sche Entscheidung, Erdgas vermehrt zu produzieren und verbrauchen, den Kampf gegen den Klimawandel und das Übereinkommen von Paris behindern (Kapitel 7). ERDGAS ODER FOSSILES GAS Das Wort „natürlich“ im Wort „natural gas“ (engl. für Erdgas) kann zu einer gewollten Zweideutigkeit führen. Das Wort „natural“ weist darauf hin, dass Erdgas aus der Natur gewonnen wird – anders als die aus Kohle oder Öl gewon- nenen Gase. Die Gasindustrie setzt das Wort „natürlich“ nun neu ein, um Erdgas als ein umweltfreundliches und „grünes“ Produkt darzustellen, gleichwohl Erdgas ~5~ ein fossiler Brennstoff ist. Um die sozialen und klimatischen Auswirkungen von Erdgas zu betonen und das Greenwashing der Industrie sichtbar zu machen, nennen wir es lieber „fossiles Gas“.
Um die Welt des Erdgases besser verstehen zu können, ist es notwendig einige Grund- begriffe zu kennen, die in der Literatur zu Erdgas verwendet werden. WAS IST GAS? Erdgas ist eine Mischung leichter gasförmiger Brennstoffe, die in Gasfeldern oder zusammen mit anderen fossilen Brennstoffen gefördert werden. Sein Hauptbestand- teil ist Methangas (87-97 %); es enthält aber auch kleine Mengen von Ethan, Propan, Butan, Stickstoff und Kohlendioxid.1 Hier ist es wichtig zu wissen, dass Erdgas zwar ein Gemisch ist, das vorwiegend aus Methan besteht, das bei der Verbrennung geringere Emissionen erzeugt, dass bei seiner Produktion und beim Transport jedoch Leckagen auftreten, deren Treibhauspotenzial (GWP-Wert) über 20 Jahre gesehen 86 mal höher ist als das von CO2.2 TREIBHAUSPOTENZIAL VON METHAN IM VERGLEICH ZU CO2 BERICHT IN 20 JAHREN IN 100 JAHREN 3 IPCC 1995 56 21 4 IPCC 2007 72 25 5 IPCC 2013 86 34 Table 1 / Zusammenstellung der Autoren auf Basis von IPCC-Berichten ~8~ An den fortlaufendenden Berichten des IPCC wird deutlich, dass der GWP-Wert (GWP=Treibhauspotential) von Methan höher angesetzt werden muss; viele Institutionen verwenden jedoch weiterhin einen niedrigen GWP-Wert von 21 oder 25.6 1 Gas Union (ohne Datum) https://www.uniongas.com/about-us/about-natural-gas/Chemical-Composition-of-Natural-Gas aufgerufen am 16.11.2016 2 IPCC (2007) Seite 84 http://www.ipcc.ch/pdf/assessment-report/ar4/wg1/ar4-wg1-chapter2.pdf 3 IPCC (1995) pag.36 www.ipcc.ch/ipccreports/sar/wg_I/ipcc_sar_wg_I_full_report.pdf 4 IPCC (2007) pag. 55 www.ipcc.ch/pdf/assessment-report/ar4/wg1/ar4-wg1-chapter2.pdf 5 IPCC (2007) pag. 84 www.ipcc.ch/pdf/assessment-report/ar4/wg1/ar4-wg1-chapter2.pdf 6 Martín-Sosa, Samuel (2016) https://www.elespanol.com/ciencia/ecologia/20161101/167603239_12.html
PFUND CO2-EMISSIONEN BEI EINEM ENERGIEVERBRAUCH VON EINER MILLION BTU % IM VERHÄLTNIS ZU GAS Kohle (Anthrazit) 228,6 195 % Kohle (Fettkohle) 205,7 176 % Kohle (Braunkohle) 215,4 184 % Kohle (Glanzbraunkohle) 214,3 183 % Diesel und Heizöl 161,3 138 % Benzin 157,2 134 % Propan 139,0 119 % Gas 117,0 100 % Table 2 / Quelle: U.S. Energy Information Administration7 Erdgas ist unsichtbar und, entgegen dem Anschein, geruchlos. Die Gas-Leckagen (Entweichungen) kann man erkennen, indem man zum Gas einen Stoff hinzufügt. Gas ist nicht giftig, kann jedoch Sauerstoff verdrängen und dadurch zum Erstickungstod führen. WELCHE ARTEN VON ERDGAS GIBT ES? Man kann Erdgas hinsichtlich seiner chemischen Zusammensetzung unterscheiden. Die ~9~ am häufigsten genutzte Unterscheidung bezieht sich aber darauf, in welchem Umfeld es gefördert wird. Erdgas wird hauptsächlich in Gebieten mit Rohölförderung gewonnen, daher ist seine Geschichte eng mit der Erdölförderung verbunden und dieser unterge- ordnet. Neben dem konventionellen Gas gibt es so genannte unkonventionelle Gase wie Schiefergas, Tight Gas oder Kohle-Flözmethan. Schiefergas, manchmal auch Fracking-Gas genannt, kommt in Schiefergestein vor. Tight Gas kommt in Gesteinen mit sehr geringer Durchlässigkeit vor, das wie Schiefergas zur Förderung hydraulisch aufgebrochen wird. Kohle-Flözmethan ist, wie der Name schon sagt, in Kohlevorkommen eingeschlossenes Methan und wird in der Regel durch eine horizontale Bohrung erschlossen, mit oder ohne Fracking. 7 U.S. Energy Administration (2016) https://www.eia.gov/tools/faqs/faq.php?id=73&t=11
SCHEMA ZUR GEOLOGIE DER GASVORKOMMEN Landoberfläche Konventionelles Erdgas Kohle-Flözmethan Konventionelles Erdölgas Sandstein Barriere Öl Tight Gas in Sandstei Gasreiches Schiefergestein Quelle: U.S. Energy Information Administration8 WIE WERDEN GASMENGEN ANGEGEBEN? Mengenangaben von Erdgas scheinen zunächst verwirrend. Manchmal wird das Volumen angeben, die enthaltene Energie oder ihr Äquivalent und in manchen Fällen ~ 10 ~ das Gewicht. Im Allgemeinen werden Reserven in Billionen Kubikmetern 9 (tcm) oder Billionen Kubikfuß (tcf) gemessen, Transport-, Export- und Importkapazitäten in Milli- arden Kubikmetern (bcm) oder Milliarden Kubikfuß (bcf) und die enthaltene Energie in Kilojoule (kJ), British Thermal Units (BTU), Kilowattstunden (kWh) oder Tonnen Rohöl- äquivalent (TOE). Es ist zu beachten, dass der Energiegehalt pro Gaseinheit – die wirklich wichtige Kenn- größe – nicht konstant ist und je nach Zusammensetzung des Erdgases bei Förderung und je nach Filterverfahren stark schwankt. Wenn Volumeneinheiten durch Zeiteinheiten ergänzt werden, geben sie die Menge an Gas an, die produziert, transportiert oder verbraucht werden kann, z. B. bcm/Jahr oder GWh/Tag. 8 U.S. Energy Information Administration (2011) https://www.eia.gov/todayinenergy/detail.php?id=110 9 Die englischen Zahlen „Trillion“ und „Billionen“ bezeichnen die Einheiten 1012 bzw. 10 9, weil sie in der so genannten „kurzen Skala“ ausgedrückt werden, die in den USA, dem englischsprachigen Teil von Kanada und dem Vereinigten Königreich verwendet wird.
UMRECHNUNG DER HÄUFIGSTEN MASSEINHEITEN FÜR GAS VOLUMEN VOLUMEN VOLUMEN VOLUMEN ENERGÍA ENERGÍA ENERGÍA ENERGÍA ENERGÍA ENERGÍA ENERGÍA von:/in: tcm tcf bcm bcf BTU MBTU kWh GWh kJ GJ TOE tcm 1 35,3 1,000 3,53E+04 3,79E+16 3,79E+10 1,11E+13 1,11E+07 4,00E+16 4,00E+10 9,55E+08 tcf 0,02833 1 28,33 0,001 1,07E+15 1,07E+09 3,15E+05 0,3145 1,13E+15 1,13E+09 2,70E+08 bcm 0,001 0,0353 1 35,3 3,79E+13 3,79E+07 1,11E+10 1,11E+04 4,00E+13 4,00E+07 9,55E+05 bcf 2,83E-05 0,001 0,02833 1 1,07E+12 1,07E+06 3,15E+08 314,5 1,13E+12 1,13E+06 2,70E+05 BTU 2,80E-17 9,32E-16 2,80E-14 9,32E-13 1 1,00E-06 2,93E-04 2,93E-10 1,06 1,06E-06 2,52E-08 MBTU 2,80E-11 9,32E-10 2,80E-08 9,32E-07 1,00E+06 1 293 2,93E-04 1,06E+06 1,055 0,025202 kWh 9,00E-14 3,18E-12 9,00E-11 3,18E-09 3410 0,00341 1 1,00E-06 3600 0,0036 8,60E-05 GWh 9,00E-08 3,18E-06 9,00E-05 0,00318 3,41E+09 3410 1,00E+06 1 3,60E+09 3600 85,980 kJ 2,50E-17 8,83E-16 2,50E-14 8,83E-13 0,947 9,47E-07 2,78E-04 2,78E-10 1 1,00E-06 2,39E-08 GJ 2,50E-11 8,83E-10 2,50E-08 8,83E-07 9,47E+05 0,947 277,8 2,78E-04 1,00E+06 1 0,02388 TOE 1,05E-09 3,70E-08 1,05E-06 3,70E-05 3,97E+07 39,68 1,16E+04 0,01163 4,19E+07 41,868 1 Tabla 3 / Quelle: Energy Information Administration10 WIE KOMMT GAS ZUM VERBRAUCHER? Der Weg von der Förderung zum Verbrauch (Erdgas-Lieferkette) ist relativ einfach, wenn man sich auf die wichtigsten Elemente beschränkt. Von den Bohrlöchern wird das Erdgas in die Verarbeitungsanlage transportiert, wo bestimmte Bestandteile wie Stickstoff und Kohlendioxid, die den Transport und die Verbrennung verkomplizieren würden, vom Gas abgeschieden werden.11 Nach diesem Prozess wird das Gas in eine Kompressorstation ~ 11 ~ geleitet, wo seine Dichte erhöht wird, damit es durch eine Gaspipeline zum Verbrau- cher transportiert werden kann. Über große Entfernungen 12 oder wenn kein Pipelines vorhanden sind, wird das Erdgas zu einer Verflüssigungsanlage (Exportterminal) trans- portiert, und dort in einem teuren Verfahren verflüssigt. Dabei wird seine Temperatur auf -162 °C gesenkt und sein Volumen um das 600-Fache reduziert. Gas in flüssiger Form wird Flüssiggas oder LNG genannt (engl. liquefied natural gas). Als Flüssiggas können große Gasmengen in LNG-Tankern auf dem Seeweg transportiert werden. Anschließend wird das Flüssiggas in einer Wiederverdampfungsanlage (Importterminal) wieder in seine Gasform überführt. Von dort wird es durch Gaspipelines zu Verdichteranlagen und dann zu den Verbrauchern transportiert, oder wird für den späteren Verbrauch gespeichert (Fernández Durán & González Reyes, 2014). 10 Agencia Internacional de la Energía (2016) http://wds.iea.org/wds/pdf/Gas_documentation.pdf 11 U.S. Energy Information Administration (2006) https://www.eia.gov/naturalgas/archive/feature_articles/2006/ngprocess/ ngprocess.pdf 12 Nach Schätzungen mancher Autoren 4000 km über Land und 2000 km unter Wasser (Fernández Durán & González Reyes, 2014)
ERDGAS-LIEFERKETTE PRODUKTION VERTEILUNG ENERGIENUTZUNG Konventionelle und unkonventionelle Förderung
BIOPHYSIKALISCHE GRENZEN Erdgas ist ein nicht erneuerbarer fossiler Brennstoff. Seine intensive und extensive Nutzung bringt uns immer schneller an den Punkt seiner maximalen Extraktion, dem Gasfördermaximum (Peak Gas). Schätzungen zufolge könnte dieser Punkt schon im Jahr 2030 erreicht sein. Ab diesem Punkt ist eine Abnahme der Förder- mengen unumkehrbar. Es sind vor allem geologische Gründe, die zu diesem Gasfördermaximum führen. Andere Gründe für die Abwärtskurve können die schwankenden und tendenziell steigenden Preise für Gas sein, aber auch Konflikte um die Kontrolle der Ressource und damit verbundenen negativen Auswirkungen auf gefährdete Bevölkerungsgruppen. ÜBERBLICK ÜBER MAXIMALE GASFÖRDERUNG (TCF/JAHR) 250 200 Billionen Kubik fuß pro J a hr (TCF/J a hr) 150 100 50 ~ 13 ~ 0 1990 2010 2030 2050 2070 2090 Lahèrrere 2006 Mohr&Evans 2011 Hohes Szenario WEO2010 Produktion derzeitige Strategie ASPO2009 Mohr&Evans 2011 Beste Schätzung Historische Daten Mohr&Evans 2011 Niedriges Szenario Grafik 1 / Quelle: The transition towards renewable energies: Physical limits and temporal conditions (Mediavilla et al., 2012)
II GAS DAMALS: LANGSAMES REGIO- ~ 14 ~ NALES WACHSTUM
Die erste bekannte unterirdische Bohrung nach Erdgas erfolgte durch William Hart im Jahr 1821 in Fredonia im Bundesstaat New York. Der weniger als 8 Meter tiefe Schacht war mit einer Rohrleitung aus hohlen Baumstämmen verbunden, die mit Lumpen und Teer abgedichtet waren. Weil der Transport durch Pipelines nicht einfach war, wurde Erdgas bis zum zweiten Weltkrieg nur eingeschränkt genutzt. Durch verbesserte Metallverar- beitungsverfahren während des Krieges wurden Pipeline-Netze wirtschaftlich attraktiv.13 Die großen Öl- und Gasunternehmen entstanden Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Standard Oil wurde im Jahr 1870 von John D. Rockefeller gegründet. Als die Gesellschaft aufgrund des US-amerikanischen Kartellrechts gezwungen wurde, sich in vier Unternehmen zu entflechten, entstanden Exxon Mobil und Chevron. Shell wurde 1907 gegründet und kurz darauf British Petroleum (BP). Im Jahr 1920 bot die Deutsche Bank Frankreich 25 % der Turkish Petroleum Company als Reparation für die Schäden von Deutschland während des Ersten Weltkriegs in der französischen Republik. Dies war die Grundlage für das Unternehmen Total. Mit der Entdeckung des niederländischen Groningen-Gasfeldes im Jahr 1959 nahm die Erdgasförderung in Europa Fahrt auf. Schon drei Jahre später exportierten die Niederlande Gas nach Frankreich, Belgien und Deutschland. Damals suchte der niederländische Wirt- schaftsminister Jan Willem de Pous eine Formel für die Festlegung des Exportpreises, der dem sowohl dem Exportland als auch dem Lizenz-Unternehmen Gewinne garan- tierte. Die Lösung war ein „Referenzwert“, durch den der Erdgaspreis an einen anderen Brennstoff gekoppelt wurde, der Erdgas ersetzen konnte. Damals war dies Rohöl.14 ~ 15 ~ Mit der Zeit wurde diese Formel als „Ölpreisbindung“ bekannt. Durch diese Indexierung machten Exxon, Shell und die niederländische Regierung höhere Gewinne, als wenn die Gaspreise an die Förderkosten im Groningen-Gasfeld gebunden gewesen wären. Das De Pous-Verfahren bildete auch die Basis von Gaslieferverträgen. Diese Verträge haben eine Laufzeit von 20-25 Jahren und enthalten garantierte Abnahmemengen, d. h. der Käufer ist verpflichtet, Mindestgasmengen zu bezahlen, auch wenn er diese womög- lich gar nicht importiert. Ziel dieser Vertragsform ist es, „stabile Beziehungen“ zwischen Exportländern und Importländern zu schaffen. Einerseits können die Exportländer die für den Export notwendige extrem teure Infrastruktur entwickeln, bei vermindertem Risiko, dass sie später nicht mehr genutzt wird. Andererseits können die Importländer durch garantierte Liefermengen die nötige Energieversorgungssicherheit gewährleisten. In den 1960er Jahren entdeckte das Vereinigte Königreich die ersten Gasfelder in der Nordsee, für den heimischen Verbrauch.15 13 New York State (ohne Datum) https://www.dec.ny.gov/docs/materials_minerals_pdf/nyserda2.pdf 14 The Global Gas Historical Network (ohne Datum) http://archive.is/GDgWK aufgerufen am 16.11.2016 15 Das Adjektiv „heimisch“ bezieht sich auf das Hoheitsgebiet eines Staates.
Auch Norwegen ging diesen Weg. Weil der heimische Markt beschränkt war, baute Norwegen Gaspipelines für den Export ins Vereinigte Königreich und nach Europa (Stern, 2004). NETZWERK VON GASPIPELINES NORWEGEN-EUROPA, 2016 NORWEGEN ~ 16 ~ SCHWEDEN DÄNEMARK GROß BRETANNIEN DEUTSCHLAND NIEDERLANDE Bestehende Gaspipeline Projektierte Gaspipeline Sonstige Pipelines BELGIEN FRANKREICH Karte 1 / Quelle: Norwegian Petroleum16 16 Norwegian Petroleum (2016) https://www.norskpetroleum.no/en/production-and-exports/exports-of-oil-and-gas/
Auch Algerien errichtete in den 1960ern seine erste Exportanlage und begann, das Vereinigte Königreich und Frankreich zu beliefern.17 1983 wurde die Trans-Mediterrane Gasleitung an die italienischen Netzwerke angeschlossen und lieferte folglich Erdgas von Algerien über Tunesien nach Sizilien. Im Jahr 1996 erreichte die zweite algerische Pipe- line Spanien und Portugal, dieses Mal über Marokko. 2010 nahm schließlich MEDGAZ den Betrieb auf, eine Gaspipeline, die Algerien direkt mit Spanien verbindet (Stern, 2004). NETZWERK VON GASPIPELINES ALGERIEN-EU, 2016 ~ 17 ~ Karte 2 / Quelle: ENTSOG/GIE18 Erdgasexporte von Russland nach Europa begannen mit der Mega-Pipeline Brotherhood (auch Urengoj-Pomari-Uschgorod-Pipeline genannt), die 1983 in Betrieb genommen wurde, und der späteren Jamal-Europa-Pipeline im Jahr 1997. 17 Algerische Botschaft in London (ohne Datum) http://www.algerianembassy.org.uk/index.php/algeria-uk-relations.html aufgerufen am 16.11.2016 18 ENTSOG/GIE (2016) https://www.entsog.eu/public/uploads/files/maps/systemdevelopment/ENTSOG-GIE_SYSDEV_ MAP2015-2016.pdf
NETZWERK VON GASPIPELINES RUSSLAND-EU, 2007 Zum Shtokman-Feld Gaspipeline Geplante Gaspipeline Zu den Jamal-Gasfeldern Mitgliedstaaten der EU Russland 500 Km Karte 3 / Quelle: Samuel Balley, 2009 ~ 18 ~ Obwohl Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien und Belgien bereits Flüssiggas- Importterminals an ihren Küsten haben, verzeichnet der LNG-Sektor aufgrund der hohen Kosten nur ein langsames Wachstum. Im Gegensatz dazu zementierte das Netzwerk russischer Erdgaspipelines die Gasbeziehungen der mittel- und osteuropäischen Staaten zu den sibirischen Gasfeldern und verstärkte deren Abhängigkeit von russischem Gas. IMPORT AUS DER UDSSR, RUSSISCHE FÖDERATION (BCM) 160,00 DEUTSCHLAND ITALIEN TÜRKEI FRANKREICH UNGARN SONSTIGES 140,00 120,00 100,00 80,00 60,00 40,00 20,00 0,00 1973 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2003 Grafik 2 / Zusammenstellung der Autoren basierend auf Daten aus Stern, 2004
III GAS HEUTE: RASANTES GLOBALES WACHSTUM ~ 19 ~
Gegenwärtig wächst der Gassektor beschleunigt und weltweit. Dafür gibt es Indi- zien. In fast allen Weltregionen werden neue Gasreserven entdeckt, wird mehr Erdgas gefördert und verbraucht, mehr Verflüssigungsanlagen und Mega-Pipelines installiert, und die Flotten von LNG-Tankern vermehren sich. Hunderte Milliarden Euro werden in die Entwicklung dieses Sektors investiert. Weil Erdgas heute im offiziellen Diskurs als der Übergangstreibstoff hin zu einer emissionsarmen Wirtschaft und als Partner der erneuerbarer Energien gilt, sind die Türen für seine umfassende Nutzung weit geöffnet. Multinationale Öl- und Gaskonzerne profitieren von dem rasanten Wachstum im Gassektor. Indem sie ihren Anteil am Gasgeschäft konsolidieren, stärken sie ihre Hege- monie in der Energiewirtschaft. NACHGEWIESENE ERDGASRESERVEN (TCM) 90,0 80,0 70,0 60,0 50,0 40,0 30,0 20,0 10,0 0 Nord- Mittel- Europa (Nicht-EUSt.) EU West- Afrika Asien- amerika und Südamerika & Eurasien Asien Pazifik ~ 20 ~ 1995 2005 2015 Grafik 3 / Quelle: Datenbank von BP GASFÖRDERUNG (BCM) 1200,0 1000,0 800,0 600,0 400,0 200,0 0 Nord- Mittel- Europa (Nicht-EUSt.) EU West- Afrika Asien- amerika und Südamerika & Eurasien Asien Pazifik 1995 2005 2015 Grafik 4 / Quelle: Datenbank von BP
GASVERBRAUCH (BCM) 1200,0 1000,0 800,0 600,0 400,0 200,0 0 Nord- Mittel- Europa (Nicht-EUSt.) EU West- Afrika Asien- amerika und Südamerika & Eurasien Asien Pazifik 1995 2005 2015 Grafik 5 / Quelle: Datenbank von BP Wie diese Grafiken zeigen, nehmen Gasreserven und Gasförderung in der EU stark ab. Westasien19 hingegen beherbergt beträchtliche Reserven, und Nordamerika, mit den USA an der Spitze, hat seine Fördermengen im letzten Jahrzehnt drastisch erhöht. Global gesehen sind Importregionen die EU und die asiatisch-pazifische Region; Exportregionen sind Westasien und Afrika. Alle anderen Regionen halten ein Gleichgewicht zwischen Förderung und Verbrauch. Ein differenzierter Blick auf einzelne Länder dieser Regionen zeigt jedoch ein ganz anderes Bild. ~ 21 ~ GEOPOLITIK: NEUE GASBEZIEHUNGEN Viele Ereignisse in den letzten 10 Jahren weisen auf eine neue Geopolitik hin bezüglich der Energieressourcen und insbesondere von Erdgas. Die Finanzkrise 2007-08, der so genannte Arabische Frühling in Ägypten, Libyen, Tunesien, Jemen und Syrien (2010-13), die Katastrophe von Fukushima (2011), der Erdgaskonflikt zwischen Ukraine und Russland (mit Höhepunkten in 2006 und 2009), der Bürgerkrieg in der ehemaligen Sowjetrepublik (2014-), die Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran (seit 2016), der plötzliche Abfall des Rohölpreises (Mitte 2014) und der Boom unkonventioneller Brennstoffe in den USA 20 (2007-) ergeben ein globales Szenario, das sich ohne Zweifel von dem des vorherge- henden Jahrzehnts unterscheidet. 19 Im allgemeinen Sprachgebrauch der „Nahe Osten“. Dieser Name wird jedoch als eurozentrisch kritisiert. 20 Mit dem Boom unkonventioneller Brennstoffe ist das starke Wachstum bei der Förderung von Schiefergas und Tight Gas und in der Fracking-Technologie in den USA seit 2007 gemeint. https://www.eia.gov/energyexplained/index. cfm?page=natural_gas_where
TOP 10 BEI GASRESERVEN, GASFÖRDERUNG UND GASVERBRAUCH RESERVEN JÄHRL. WACHS- FÖRDERUNG JÄHRL. WACHS- VERBRAUCH JÄHRL. WACHS- 2015 TCM TUM (2006–15) 2015 BCM TUM (2006–15) 2015 BCM TUM (2006–15) Iran 34,02 2,2 % USA 767,3 4,0 % USA 778,0 2,3 % Russische Föd. 32,27 0,3 % Russische Föd. 573,3 -0,3 % EU 402,1 -2,0 % Katar 24,53 -0,4 % Iran 192,5 6,1 % Russische Föd. 391,5 0,0 % Turkmenistan 17,48 32,5 % Katar 181,4 12,4 % China 197,3 15,3 % USA 10,44 6,3 % Kanada 163,5 -1,4 % Iran 191,2 6,5 % Saudi-Arabien 8,33 2,0 % China 138,0 9,4 % Japan 113,4 3,9 % Arab. Emirate 6,09 0,0 % EU 120,1 -6,0 % Saudi-Arabien 106,4 4,2 % Venezuela 5,62 2,7 % Norwegen 117,2 2,9 % Kanada 102,5 0,5 % Nigeria 5,11 -0,1 % Saudi-Arabien 106,4 3,9 % Mexiko 83,2 3,3 % Algerien 4,50 0,0 % Algerien 83,0 -0,7 % Deutschland 74,6 -1,3 % Tabelle 4 / Zusammenstellung der Autoren basierend auf Daten von BP Anmerkung: Die TOP 10 bei Gasreserven, Gasförderung und Gasverbrauch zeigen die potenziellen Reserven im Iran, die steigende Förderung in den USA und die Zunahme bei Förderung und Verbrauch in China. Dies alles steht im Gegensatz zu den sinkenden Fördermengen in der Europäischen Union. Auch wenn in der Arktis in naher Zukunft keine Erkundungen und keine massive Förderung ~ 22 ~ von Gas geplant sind, ist Erdgas hier Grund für Konflikte. Schätzungen zufolge befinden sich 13 % der Öl- und 30 % der weltweiten Gasreserven in der Arktis (Aoun, Lojanica, & Mathieu, 2015). Die Polarstaaten (Russland, USA, Kanada, Norwegen und Dänemark) befinden sich ständig in Auseinandersetzung über die Grenzziehung in dieser Region. 21 Nordafrika ist eine relevante Erdgasregion. Die Reserven in Algerien (4,5 tcm), Ägypten (1,8 tcm) und Libyen (1,5 tcm)22 sind für die Europäische Union von großer Bedeutung.23 Die Gasförderung und der Gasexport laufen in diesen drei nordafrikanischen Ländern jedoch nicht reibungslos ab. In Amena (Algerien) griff Al-Qaida im Februar 2013 eine Erdgasanlage an, es gab 40 Tote.24 Weil die algerischen Gasfelder versiegen, nicht in neue Explorationsprojekte investiert wird und der heimische Verbrauch steigt, sinken die Exportkapazitäten in Algerien (Hamouchene & Pérez, 2016). In Libyen wurden die Gasexporte während des Bürgerkriegs 2011 vorübergehend unterbrochen; die einzige libysche Verflüssigungsanlage wurde im Bürgerkrieg beschädigt und ist bis heute nicht 21 Greenpeace hat 2012 eine Kampagne ins Leben gerufen, mit der eine Ausbeutung von Kohlenwasserstoffen und der nicht nachhaltige industrielle Fischfang in der Arktis verhindert werden sollen. Greenpeace (ohne Datum) https://www. savethearctic.org/ aufgerufen am 16.11.2016. 22 Datenbank von BP. Schätzungen bis Ende 2014. 23 4 Gaspipelines verbinden Nordafrika mit der EU: 3 von Förderstätten in Algerien und eine aus Libyen. Der Bau einer neuen Gasleitung von Algerien nach Italien ist geplant. 24 Geiselnahme von In Amenas https://de.wikipedia.org/wiki/Geiselnahme_von_In_Am%C3%A9nas
funktionsfähig.25 In Ägypten hat sich der heimische Verbrauch zwischen 2000 und 2012 verdreifacht; um diesen Bedarf zu decken, wurde mehr Gas gefördert und weniger exportiert.26 In Westasien ist Iran ein wichtiger Akteur. Die kürzlich erfolgte Aufhebung des Embargos und die Atomvereinbarung mit Iran27 eröffnet dem Erdgasriesen eine neue Zukunft. Schät- zungen zufolge verfügt der Iran über Reserven von 34,02 tcm und exportiert mindestens 9 bcm/Jahr in die Türkei, nach Armenien und Aserbaidschan.28 Die Gasförderung dient zwar auch dem heimischen Verbrauch; die National Iranian Gas Company will jedoch ihre Exportquoten auf 128 bcm/Jahr erhöhen und damit zu den Weltmarktführern in diesem Sektor aufschließen. Mit diesem Ziel vor Augen plant der Iran eine Verflüssigungsanlage, mit der Gas über die Türkei und die arabische Halbinsel nach Europa exportiert werden kann,29 sowie Gaspipelines wie der Iran-Pakistan-Leitung und der persischen Gaspipeline. Turkmenistan, im Norden von Iran, könnte mit der Entdeckung neuer Reserven zu einem wichtigen Exporteur aufsteigen, weshalb die Europäische Union und China darum wett- eifern, Verbindungen zu dieser zentralasiatischen Republik aufzubauen. KONZENTRATION DER GASRESERVEN 2015 (TCM) 1 Aserbaidschan 1,15 2 Russische Föderation 32,27 3 Turkmenistan 17,48 ~ 23 ~ 4 Iran 34,02 2 5 Irak 3,69 6 Katar 24,53 7 Saudi-Arabien 8,33 8 Vereinigte Arabische Emirate 6,09 1 3 9 Algerien 4,50 5 4 10 Ägypten 1,85 9 11 10 11 Libyen 1,50 7 6 8 Karte 4 / Zusammenstellung der Autoren basierend auf Daten von BP Anmerkung: Mehr als 70 % der globalen Reserven befinden sich in dieser Region. 25 U.S. Energy Information Agency (2015) https://www.eia.gov/beta/international/analysis.cfm?iso=LBY 26 U.S. Energy Information Agency (2015) https://www.eia.gov/beta/international/analysis.cfm?iso=EGY 27 US-Außenministerium (2015) https://www.state.gov/e/eb/tfs/spi/iran/jcpoa/ 28 U.S. Energy Information Agency (2015) https://www.eia.gov/beta/international/analysis.cfm?iso=IRN 29 S&P Global. Platts (2016) https://www.platts.com/latest-news/natural-gas/london/feature-iran-eyes-major-gas-export- boost-but-26448318
In der Beziehung zwischen EU und Russland spielt Erdgas eine wichtige Rolle. Die gegenwärtige EU-Energiepolitik (insbesondere die Diversifizierung der Energieimporte) wird mit dem Krieg in der Ukraine und der hohen Abhängigkeit von russischem Gas gerechtfertigt. Die EU importiert ungefähr 30 % aller Gasimporte aus der Russischen Föderation, wovon 50 % durch die Ukraine fließen. Sowohl die EU als auch Russland betonen, wie wichtig es ist, die Gasbeziehungen zu diversifizieren. Die EU installiert deshalb neue Pipelines, z. B. den Südlichen Gaskor- ridor 30, der Gas aus Aserbaidschan (und Turkmenistan) nach Italien leiten soll. Sie baut die Beziehungen zu Nordafrika aus und führt Energieverhandlungen mit Algerien, USA und Kanada. Sie möchte sich für LNG aus Katar, Nigeria, Ägypten, Libyen, Australien, Alge- rien, USA und neuen Exportländern wie Angola, Mosambik, Tansania, Israel, Libanon, Iran und Irak öffnen.31 Umgekehrt richtet die Russische Föderation ihre Gasgeschäfte stärker nach Asien aus. Im Jahr 2014 unterzeichnete Gazprom, der staatliche russische Gaskonzern, einen 30-Jahres-Vertrag mit der China National Petroleum Corporation (CNPC) über die Liefe- rung von 38 bcm pro Jahr und zur Installation der Megapipeline „Kraft Sibiriens“.32 Insgesamt sollen 55 Mrd. US-Dollar investiert werden. Allerdings hat der Fall des Rohöl- preises einigen Quellen zufolge die Pläne des Kremls gebremst. 33 Seit dem Boom unkonventioneller Brennstoffe sind neue Akteure auf der Bildfläche erschienen. Innerhalb weniger Jahr ist in den USA Förderung von Schiefergas steil ange- ~ 24 ~ stiegen, von nahe Null auf 40 % der Förderung aller fossilen Brennstoffe im Jahr 2013. Dadurch fielen in den USA die Preise für Erdgas34 und Importe sind auf den Stand von 1986 zurückgegangen. 35 Wie zahlreiche Organisationen berichten, ist diese Entwicklung jedoch von schweren Gesundheits- und Umweltschäden begleitet. 36 Um den Preisverfall zu mindern, möchte die USA die Spitze der Weltexporte übernehmen, und setzt ihre technische Kapazitäten dafür voll ein. Sie könnte nach Asien exportieren, wo die Preise attraktiv sind, oder nach Europa, was zwar weniger lukrativ ist, aber strate- gisch interessant, um die russische Gashegemonie in Europa zu beenden. 30 Der Südliche Gaskorridor wurde früher Transkaspische Gaspipeline genannt. 31 Europäische Kommission (2016) https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/1_EN_ ACT_part1_v10-1.pdf 32 Gazprom (ohne Datum) http://www.gazprom.com/about/production/projects/pipelines/built/ykv/ aufgerufen am 16.11.2016 33 Reuters (2016) https://www.reuters.com/article/us-russia-china-gas-exclusive/exclusive-russia-likely-to-scale-down- china-gas-supply-plans-idUSKCN0UT1LG 34 Der Preis lag 2008 bei 8,86 $/Mbtu und 2015 bei 2,62 $/Mbtu, ein Rückgang um 70 % auf das Preisniveau der 90er Jahre. U.S. Energy Information Agency (2016) https://www.eia.gov/naturalgas/importsexports/annual/ 35 U.S. Energy Information Agency (2016) www.eia.gov/naturalgas/importsexports/annual/ 36 Greenpeace (2014) https://www.greenpeace.org/usa/global-warming/issues/natural-gas/case-studies/
Gegenwärtig sind die Gasfördergesellschaften in den USA hoch verschuldet, aufgrund der abnehmenden Förderung und wegen Millionenverluste im Zusammenhang mit dem Fall des Ölpreises.37 Australien beschloss neue Reserven von konventionellen Brennstoffen und Kohle- Flözmethan zu erschließen und Exportanlagen zu bauen – nach der Fukushima-Katastrophe in Japan. Heute steht Japan an der Spitze der LNG-importierenden Länder und allgemein besteht in Asien eine hohe Nachfrage nach Erdgas (Südkorea, China, Indien usw.). Über 90 % der australischen Reserven von konventionellem Gas befinden sich in maritimen Gebieten im Nordwesten des Landes, Gebieten von großem ökologischen Wert und einer hohen Biodiversität. Anders als die USA verfügt Australien über wenige Exportanlagen. Weil die Projekte in entlegenen Regionen angesiedelt sind, wo es keine spezialisierten Arbeitskräfte gibt, sind die Kosten für Exportanlagen astronomisch hoch; der Gasexportkomplex Gorgon LNG im Nordwesten Australiens hat 54 Milliarden Dollar gekostet (Lee, 2013). Auch Kanada verfügt über große Gasreserven, ist aber mit ähnlichen Problemen konfron- tiert wie Australien: die Projekte liegen in entlegenen Regionen ohne Infrastruktur und auf Territorien von Indigenen. In Mosambik planen die amerikanische Gesellschaft Anadarko und der italienische Konzern Eni ab 2021 den Export von LNG; der früher geplante Beginn verzögert sich voraussichtlich aufgrund der niedrigen Gaspreise (Maugeri, 2014). IMPORT- UND EXPORTPROJEKTE Das rasante Wachstum im globalen Gassektor hat weltweit zahllose Gasprojekte ange- ~ 25 ~ kurbelt. Globale Exportkapazitäten (Pipelines und LNG) werden sich um 50 % erhöhen (286 MTA bereits in Betrieb und 139 MTA im Bau) und auf wenige Ländern konzentrieren – vor allem auf USA und Australien. Rechnet man dazu die Anlagen, die derzeit geplant und entworfen werden, könnte sich die globale Exportkapazität sogar mehr als verdop- peln, jedoch sind Projekte, die noch nicht die Bauphase erreicht haben, mit Vorsicht zu behandeln, denn sie konkurrieren miteinander um Anteile an den Märkten und nicht alle erhalten die notwendigen Lizenzen und Investitionen. Der Fall des Ölpreises wirkt sich auch auf die Investoren aus, die planten, als die Preise noch hoch waren. Interessanterweise wächst die Anzahl von Wiederverdampfungsanlagen (zum Import von Flüssiggas) nur moderat (1499 MTA in Betrieb und 144 MTA im Bau), weshalb auf globaler Ebene ein starkes Ungleichgewicht zwischen der Export- und der Importkapa- zität für LNG besteht. Es wird allerdings geschätzt, dass die Flotte der LNG-Tanker in ein paar Jahren um 25 % wachsen wird.38 37 Bloomberg (2015) https://www.bloomberg.com/news/articles/2015-09-17/an-oklahoma-of-oil-at-risk-as-debt-shackles-u- s-shale-drillers 38 Nach Angaben des IGU World Gas LNG Report, Ausgabe 2016, sind derzeit 614 LNG-Tanker in Betrieb und 150 im Bau.
KAPAZITÄT DER VERFLÜSSIGUNGSANLAGEN 2015 (METRISCHE TONNEN PRO JAHR/MTPA) 80,00 In Betrieb Im Bau 70,00 60,00 50,00 40,00 30,00 20,00 10,00 0,00 Indonesien Australien Malaysia Nigeria Algerien Trinidad u.Tobago Ägypten Oman Russland Brunei Jemen Arabi. Emirate Angola Peru Norwegen Äquatorialguinea Papua-Neuguinea Libyen USA Kamerun Katar Grafik 6 / Zusammenstellung der Autoren basierend auf Daten aus International Gas Union, 2016 KAPAZITÄT DER WIEDERVERDAMPFUNGSANLAGEN 2015 (METRISCHE TONNEN PRO JAHR/MTPA) 200,00 150,00 In Betrieb Im Bau ~ 26 ~ 100,00 50,00 0,00 Japan USA Korea Spanien China Verein. Königreich Indien Frankreich Mexiko Taiwan Brasilien Italien Türkei Ägypten Niederlande Indonesien Argentinien Kanada Belgien Singapur Kuwait Portugal Thailand Chile Jordanien Malaysia Pakistan Griechenland Israel Litauen Arabische Emirate Domini. Republik Puerto Rico Philippinen Polen Grafik 7 / Zusammenstellung der Autoren basierend auf Daten aus International Gas Union, 2016 Von allen Erdgasexporten umfasste LNG nur 9,8 % im Jahr 2015 (International Gas Union, 2016), Tendenz steigend aufgrund des großen Interesses an Erdgas. Interessant ist, wie LNG die Gasbeziehungen zwischen den Weltregionen neu gestaltet: LNG ist flexibler als Gaspipe- lines und dadurch konkurrieren auch Länder um eine Position auf dem globalen Gasmarkt. Wachsende LNG-Exportkapazitäten hindert nicht auch die Planung neuer Gaspipelines weiter zu verfolgen. Megapipelines verbinden Länder; politisch gehen sie meist über reine Energie- fragen hinaus. In vielen Fällen ist es schwierig, Informationen über Technik und Baufortschritt zu finden. Die folgende Tabelle enthält eine Liste der wichtigsten internationalen Gaspipelines.
GEPLANTE INTERNATIONALE MEGA-GASPIPELINES LÄNGE UND GASPIPELINE/LÄNDER KAPAZITÄT STATUS UNTERNEHMEN Northwest Pipeline (Pemex Gas und Petroquimica Basica (PGPB), eine Tochtergesellschaft von Pemex, + Ienoca 39 Los Ramones 860 km (Sempra Mexico) > Phase I ; Chihuahua-Pipeline, Toch- In Betrieb seit 2016 USA-Mexiko 22 bcm tergesellschaft von PGPB > Phase I; MGI Supply > Phase I; SunGard > Phase I; GDF Suez + Pemex > Phase II 40 ; TAG Pipeline, Teil von Pemex > Phase II Power of Siberia 3944 km Im Bau. Betriebs- Gazprom 41 China-Russland 38 bcm bereit Ende 2019 China National Petroleum Corporation (CNPC) TAPI Turkmenistan-Afgha- 1420 km Im Bau. Betriebs- Turkmengaz; GAIL India; nistan-Pakistan-Indien 33 bcm bereit Ende 2019 42 ISGS > Pakistan; Afghan Gas Enterprise (AGE) National Iranian Gas Company > Iran Im Bau. 2775 km Khatam al-Anbia (Subunternehmen) >Iran Iran-Pakistan Unklar wann 40 bcm 43 Sui Northern Gas Pipeline Limited + Sui Southern Gas betriebsbereit Company Limited (Konsortium) > Pakistan National Iranian Gas Export Company (NIGEC) Som Petrol (Türkei) – Option 1: Iranisches Unternehmen + Persische Gaspipeline 3300 km 44 ausländisches Unternehmen (Konsortium); – Option 2: In Planung (ITE) Iran-Türkei-Europa 37 bcm 2 iranische Unternehmen + 2 ausländische Unternehmen; Iranisch-türkische Grenze: gemeinsames Unternehmen; Türkisch-griechische Grenze: gemeinsames Unternehmen Nigerian National Petroleum Corporation Transsahara-Gaspipe- 4128 km 45 Sonatrach > Algerien; Mögliche Teilnehmer, wenn sie In Planung line Nigeria-Algerien 30 bcm neben finanziellen Mitteln auch technische Unterstützung leisten. Gazprom, GAIL India, Total, Eni, Royal Dutch Shell Nord Stream 2 1200x2 km Gazprom > Anteilseigner (100 %); OMW > Träger; Shell > In Planung 46 Russland-Deutschland 27,5x2 bcm Träger; Wintershall (BASF-Gruppe) > Träger; ENGIE > Träger BP (Großbritannien), SOCAR (Aserbaidschan), Südlicher Gaskorridor 47 3500 km Betriebsbereit Lukoil (Russland), Snam (Italien), BOTAS und TPAO (Türkei), Aserbaidschan und 10-32 bcm 2021 Fluxys (Belgien), Enagás (Spanien), Total (Frankreich), Naftiran Turkmenistan-Italien Intertrade (Iran), Petronas (Malaysia) und Axpo (Schweiz) ~ 27 ~ Galsi 288 km Betriebsbereit 48 Sonatrach (Algerien), Edison (Italien), Enel (Italien), Algerien-Italien 7,6 bcm 2019 Sfirs (Italien), Hera Trading (Italien) TurkStream 900 km Betriebsbereit 49 Gazprom – Gemein. Unternehmen; im Überlandabschnitt der Russland-Türkei 31,5 bcm 2019 Gaspipeline Eigentum einer türkischen Gesellschaft South Stream South Stream Transport AG (Joint Venture) > 16.9.2011 Russland-Bulgarien- 2380 km 2014 Gazprom (50 %); Eni (20 %); Électricité de France (15 %); Serbien-Ungarn-Slowakei- 63 bcm eingestellt 50 Wintershall (BASF-Gruppe) (15 %) Slowenien-Österreich Tabelle 5 / Zusammenstellung der Autoren 39 Business News Americas (ohne Datum) http://www.bnamericas.com/project-profile/en/ducto-de-transporte-de-gas- natural-los-ramones-fase-i-los-ramones-fase-i aufgerufen am 01.12.16 40 Business News Americas (ohne Datum) http://www.bnamericas.com/project-profile/en/ducto-de-transporte-de-gas- natural-los-ramones-fase-ii-norte-los-ramones-fase-ii-norte aufgerufen am 01.12.16 41 Gazprom (ohne Datum) http://www.gazprom.com/about/production/projects/pipelines/built/ykv/ aufgerufen am 05.14.18. 42 Asian Development Bank (ohne Datum) https://www.adb.org/projects/44463-013/main#project-overview (aufgerufen 01.12.16.) 43 Modern Diplomacy (2018) https://moderndiplomacy.eu/2018/03/05/ip-gas-pipeline-fading-opportunity-pakistan/ 44 ITE gas pipeline project (ohne Datum) http://en.turangtransit.com.tr/ 45 OECD (2014) http://www.oecd.org/swac/maps/02-Transsaharan%20gas%20pipeline.pdf 46 Nord Stream 2 (2016) https://www.nord-stream2.com/ 47 EU Kommission (2018) https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/documents/pci_annex2_7_1_1_en_2017.pdf 48 Hydrocarbons Technology (ohne Datum) https://www.hydrocarbons-technology.com/projects/algeria-sardinia-italy- gas-pipeline-galsi/ consulté le 05/04/2018. 49 TurkStream (2018) http://www.turkstream.info/press/news/2018/177/ 50 South Stream http://www.south-stream-transport.com/
Erdgasförderung, Verflüssigungs- und Wiederverdampfungsanlagen, LNG-Tanker und Pipelines sind mit Risiken verbunden: 1) die Millionen-Investitionen in Infrastruktur basieren auf absichtlich optimistischen Projektionen zum künftigen Verbrauch, 2) die Mehrzahl dieser Investitionen stützen sich auf Finanzmittel und/oder Garantien aus öffentlicher Hand, die das Risiko auf die Allgemeinheit abwälzen, 3) wenn alle geplanten Gaskapazitäten in Betrieb gingen, führte dies zum Sturz der Gaspreise zur trüge zur Klima- katastrophe bei, 4) die Lebensdauer der Infrastrukturen ist auf 40-50 Jahre berechnet; das Gasfördermaximum (Peak Gas) wird jedoch vorher eintreten, sodass viele dieser Infrastrukturen nicht mehr gebraucht werden. ‘OPTIMISTISCHE‘ PROGNOSE DES EU-GASVERBRAUCHS 600 Million tonnes of oil equivalent 500 Gross inland consumption 400 ~ 28 ~ 300 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 2022 2024 2026 2028 2030 2003 Forecast 2005 Forecast 2007 Forecast 2009 Forecast 2011 Forecast 2013 Forecast Actual consumption Grafik 8 / Quelle: Europäischer Rechnungshof, 2015 Anmerkung zur Originalgrafik: Alle Projektionen betreffen den Verbrauch in der EU-27 in 5-Jahres- Intervallen (2005, 2010, 2015 usw.).
DER JÜNGSTE FALL DES ROHÖLPREISES Die starke Verbindung zwischen Erdgas- und Ölförderung und die Bindung des Gaspreises an den Ölpreis führen dazu, dass sinkende Ölpreise sich auf den Gassektor auswirken. Im Allgemeinen führen Zeiten mit hohen Ölpreisen anfänglich zu einem Anstieg der Fördermengen und bremsen dann das weltweite Wirtschaftswachstum. Zeiten mit niedrigen Preisen führen zur vermehrten Exploration und Förderung. Die Mehrzahl der großen Gasinfrastukturprojekte wurde in einem Zeitraum (2010- 14) mit stabilen Öl- und Gaspreisen geplant. Bei den heutigen Preisen sehen Investoren die künftigen Gewinne der Öl- und Gasindustrie in weniger rosigem Licht. Dies kann zu Verzögerungen beim Bau teurer Verflüssigungs- und Wieder- verdampfungsanlagen und Mega-Gaspipelines führen. Anlagen, die sich bereits in der Bauphase befinden, haben Probleme, aus den Investitionen Gewinne zu erwirtschaften. Daher müssen die staatlichen Garantien für diese Projekte analy- siert werden, weil sie zu rechtswidrigen Schulden51 führen können, die letzten Endes der Steuerzahler begleichen muss. KORRELATION ZWISCHEN ÖL- UND GASPREISEN 140 14 ~ 29 ~ 120 12 Ölpreis 100 10 Gaspreis 8 80 60 6 Gas ($/Mmbtu) 40 4 Öl ($/Barrel) 20 2 0 0 6.1.1990 6.1.1995 6.1.2000 6.1.2005 6.1.2010 6.1.2015 Grafik 9 / Quelle: IMF Cross Country Macroeconomics Statistics 51 Plataforma Auditoria Ciudadana de la Deuda (undatiert) https://www.dropbox.com/s/1pla1din3znkbkz/Definicion%20 Schulden%20Ilegitim.pdf aufgerufen am 18/11/16
GROSSE ÖL- UND GASKONZERNE Die großen Öl- und Gasunternehmen gehören zu den größten Konzernen überhaupt. Obwohl die gesunkenen Ölpreise ihre Erträge stark beeinträchtigt haben, bestimmen sie aufgrund ihres Geschäftsvolumens und ihres Einflusses die Zukunft der Energie maßgeb- lich mit. Im Allgemeinen produzieren sie Öl und Gas; einige spezialisieren sich auf Erdgas. GLOBALE ÖL- UND GASKONZERNE NACH ERTRAG IM JAHR 2015 ERTRAG 2015 ERTRAGSZUWACHS RANGLISTE* KONZERN LAND (MILLIONEN $) 2015 (%) 3 China National China 299 000 -30,2 4 Sinopec Group China 294 000 -34,1 Niederlande u. 5 Royal Dutch Shell 272 000 -36,9 Großbritannien 6 Exxon Mobil USA 246 000 -35,6 10 BP Verein. Königreich 223 000 -37,0 24 Total Frankreich 143 000 -32,4 31 Chevron USA 131 000 -35,7 Tabelle 6 / Zusammenstellung der Autoren auf Grundlage von Fortune.com * Rangordnung der Unternehmen in allen Sektoren. ~ 30 ~ EUROPÄISCHE ÖL- UND GASKONZERNE NACH ERTRAG IM JAHR 2014 RANGLISTE* KONZERN LAND ERTRAG 2014 (MILLIONEN $) 1 Royal Dutch Shell Niederlande u. Großbritannien 484 489 2 BP Vereinigtes König-reich 386 463 3 Total Frankreich 231 580 6 Gazprom Russland 157 830 8 Eni Italien 153 676 16 Statoil Norwegen 119 561 21 Lukoil Russland 111 433 37 Repsol Spanien 81 122 49 Rosneft Russland 65 093 78 OMV Österreich 47 349 Tabelle 7 / Zusammenstellung der Autoren auf Grundlage von Fortune.com *Die Rangliste ist nicht fortlaufend, weil hier nur die Energieriesen herausgenommen wurden aus der Rangliste der Konzerne aller Sektoren.
Die geographische Reichweite der großen Öl- und Gasunternehmen ist global. Royal Dutch Shell ist in über 70 Ländern aktiv.52 Auch British Petroleum ist in mehr als 70 Ländern tätig und hat seine Explorationsfläche im Jahr 2015 um 8000 km2 erweitert.53 Total ist in 130 Ländern vertreten und beschäftigt mehr als 100 000 Mitarbeiter. 54 Gazprom kontrolliert 17 % der weltweiten Gasreserven und beliefert über 30 Länder.55 Diese Unternehmen haben viel Macht akkumuliert, die sie über verschiedenste Mecha- nismen zur direkten und indirekten Einflussnahme einsetzen. Außerdem haben die Unternehmen in diesem Sektor Lobbyorganisationen und Interessengruppen gebildet, die zur Förderung ihrer eigenen Interessen Einfluss auf institutionelle Entscheidungspro- zesse nehmen. Die größte europäische Lobbyorganisation der Gasindustrie ist GasNaturally. Sie vertritt sieben wichtige Organisationen, zu deren Mitgliedern z. B. Shell, Eni, E.on, Statoil, BP, Exxon, Chevron, Gazprom Germania, Fluxys, Enagas und über hundert weitere Unter- nehmen gehören. ~ 31 ~ GasNaturally formuliert ihre Vision wie folgt: „In unserer Vision trägt Gas dazu bei, eine saubere Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen. Es ersetzt kohlenstoffintensive Energieträger und arbeitet an der Seite der Erneuerbaren am Aufbau dieser sauberen Energiezukunft.“56 Zwei der größten europäischen Organisationen für erneuerbare Energien, der Europäische Verband für Windenergie (EWEA) und die European Photovoltaic Industry Association (EPIA) haben diese Vision übernommen, weil Total, Iberdrola, E.on und Enel eine domi- nante Stellung in ihrem Vorstand inne haben und sich diese Organisationen regelmäßig mit GasNaturally treffen.57 52 Shell (2016) https://www.shell.com/about-us/who-we-are.html 53 BP (2016) https://www.bp.com/en/global/corporate/what-we-do/bp-at-a-glance.html 54 Total (2016) https://www.total.com/en/energy-expertise/exploration-production/oil-gas 55 Gazprom (2016) http://www.gazprom.com/about/production/reserves/ 56 Gas Naturally (ohne Datum) https://gasnaturally.eu/about-gasnaturally/our-vision aufgerufen am 16.11.2016 57 The Guardian (2015) https://www.theguardian.com/environment/2015/jan/22/fossil-fuel-firms-accused-renewable-lobby- takeover-push-gas
Aber auch der Drehtür-Effekt (revolving doors) ist eine Möglichkeit, unternehmerische Interessen in den Vordergrund zu rücken. Beispiele hierfür sind Marcus Lippold, ein ehemaliger Mitarbeiter von ExxonMobil, der später als Berater der Generaldirektion Energie der EU für die Kooperation mit der OPEC zuständig war, oder das Mitglied des Europäischen Parlaments Chris Davies, der seine politische Tätigkeit nach 15 Jahren beendete und jetzt in seiner „Umweltberatungsfirma“ mit Fleishman-Hillard zusammen- arbeitet, dem großen Lobbyisten, der alle großen Öl- und Gasunternehmen vertritt. Auch der Spanier Joaquín Almunia ist Teil dieses Phänomens. Der frühere EU-Kommissar für Wettbewerb wurde Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses für den von Enel finanzierten Bericht „Building the Energy Union to stimulate growth in Europe“ [Schaf- fung der Energieunion für mehr Wachstum in Europa]. Dasselbe gilt für Nathalie Tocci, die ihre Arbeit als Beraterin der Kommission mit einem Aufsichtsratsposten bei Edison verbindet, einer Konzerngesellschaft des Energieriesen EDF.58 Und natürlich Arias Cañete, Kommissar für Klimaschutz und Energie, der für seine Verbin- dungen zu Ölunternehmen wie Petrolífera Dúcar SL und Petrologis Canarias SL. bekannt ist.59 Lobbyarbeit und der Drehtür-Effekt sind legal, wenn auch nicht besonders legitim. Hinzu kommen aber zahlreiche Korruptionsfälle in diesem Sektor und Vergehen wie Beste- chung, Veruntreuung 60 und zahlreiche weitere kriminelle Praktiken (Pérez, 2014). ~ 32 ~ DIE MACHT DER KONZERNE BRECHEN 61 Mehrere zivilgesellschaftliche Gruppen und Organisationen haben eine weltweite Kampagne ins Leben gerufen, die den Machtmissbrauch der Konzerne anprangert, die durch ihren Einfluss und einen sie schützenden asymmetrischen Rechtsrahmen ungestraft handeln können. Die Kampagne fordert ein Internationales Völke- rabkommen, das einen politischen Rahmen für die Arbeit lokaler, nationaler und internationaler Bewegungen und für Gemeinschaften schafft und sie beim Wider- stand und bei der Umsetzung von Alternativen zur Macht multinationaler Konzerne und zum herrschenden Wirtschaftsmodell unterstützt. Außerdem nimmt die Kampagne an entsprechenden Gesetzgebungsverfahren auf Ebene der Vereinten Nationen teil, die betroffenen Gruppen einen Zugang zum Recht gewährleistet und die Tätigkeit multinationaler Konzerne reguliert, sodass die Verletzung von Menschenrechten verhindert und deren Straflosigkeit beendet wird. 58 Corporate Europe Observatory (2015) https://corporateeurope.org/revolving-doors/2015/11/brussels-big-energy-and- revolving-doors-hothouse-climate-change 59 Corporate Europe Observatory (2014) https://corporateeurope.org/power-lobbies/2014/09/many-business-dealings- commissioner-designate-miguel-arias-canete 60 Transparency International (2016) https://www.transparency.org/topic/detail/oil_and_gas 61 Kampagne Stop Corporate Impunity https://www.stopcorporateimpunity.org/
IV GAS IN EUROPA ~ 33 ~
DATEN ZU GAS IN EUROPA Die europäische Gaspolitik beruht in weiten Teilen auf Daten oder Indikatoren, die sich je nach Intention sehr unterschiedlich auslegen lassen. Die Interpretation von Daten beein- flusst letzten Endes die Projektion von Infrastrukturmaßnahmen, die Vergabe öffentlicher Mittel, die Beziehungen zu Exportländern und viele weitere Aspekte. In diesem Abschnitt möchten wir diese unterschiedliche und manchmal sogar widersprüchliche Auslegung von Daten näher erläutern. Schließlich sind die Schlussfol- gerungen, die unterschiedliche Akteure aus ihrer Analyse der Daten ziehen, von enormer Bedeutung. Die in diesem Abschnitt enthaltenen quantitativen Informationen sind auch nützlich für das Verständnis der nachfolgenden Abschnitte. VERBRAUCH Verbrauch im Jahr 2014: 327.5 bcm GASVERBRAUCH IN DER EU-28 (BCM) 450,0 400,0 350,0 300,0 250,0 200,0 150,0 100,0 ~ 34 ~ 50,0 0,0 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 SPANIEN NIEDERLANDE FRANKREICH ITALIEN VER. KÖNIGREICH DEUTSCHLAND ÜBRIGE EU-28 Grafik 10 / Zusammenstellung der Autoren basierend auf Eurostat-Daten Der Gasverbrauch in der EU-28 stieg (+3 % pro Jahr) im Zeitraum 1990-2005 stark an, stagnierte dann für einige Jahre und ging danach (23 % zwischen 2010 und 2014) auf das Level von 1995 zurück, was vorwiegend auf die Folgen der Finanzkrise zurückzuführen ist. Seitdem steigt der Verbrauch von Erdgas jedoch wieder.62 Dabei ist zu beachten, dass der „Verbrauch der EU-28“ von sechs Ländern dominiert wird, in denen drei Viertel des Gesamtverbrauchs stattfinden: Deutschland (18 %), Großbritannien (17 %), Italien (15 %), Frankreich (10 %), Niederlande (8 %) und Spanien (7 %). Wie wir später noch sehen werden, ist diese Top 6-Gruppe auch die Gruppe der wichtigsten Importländer. 62 Wichtig: Die Grafiken in diesem Kapitel zeigen nicht den Anstieg des EU-Gasverbrauchs in den letzten Jahren, da die Recherche für dieses Booklet bereits im Jahr 2016 durchgeführt wurde. Wir bitten dies zu entschuldigen. Siehe: Eurostat (2018) http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=nrg_103a&lang=en
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