BERTINI-PREIS 2020 LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN!
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EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, zum 22. Mal wurde am 27. Januar 2020 der im Netz“ einen BERTINI-Tag gestaltet. Im BERTINI-Preis verliehen. 97 junge Menschen Juni 2019 standen sechs Workshops zum erhielten auf der Bühne des Ernst Deutsch Oberthema „Safer Surfing“ zur Wahl (S. 29 Theaters vor über 700 Zuschauern eine Ur- bis 31). kunde für ihr außergewöhnliches Engage- ment (S. 6 bis 9). Eine besondere Ehre wurde am 11. April 2019 dem Pädagogen Klaus Möller zuteil, der Bei drei der vier ausgezeichneten Schüler- über viele Jahre junge Menschen auf ihrer Su- gruppen stand eine Theaterinszenierung im che nach Spuren nationalsozialistischer Ver- Mittelpunkt, flankiert mit Aktivitäten, die brechen im Hamburger Süden mit Rat und Tat den persönlichen Einsatz der Schülerinnen begleitet hat. Dem 83-jährigen ehemaligen und Schüler dokumentieren. Ihre Themen wa- stellvertretenden Schulleiter des Heisenberg- ren 70 Jahre Menschenrechte, die Ermordung Gymnasiums wurde in feierlichem Rahmen von 56 behinderten Kindern im Kinderkran- im Hamburger Rathaus das Bundesverdienst- kenhaus Rothenburgsort sowie die Ausein- kreuz am Bande überreicht (S. 32). andersetzung mit Tabuthemen wie Zwangs- heirat und Ehrenmord. Im Fokus des vierten Zum elften Mal seit 2009 wurden alle Bewer- DER Projekts steht ein Wikipedia-Beitrag, der über bungen um den BERTINI-Preis im Rahmen das Schicksal 500 jüdischer Frauen im Außen- der bewährten Kooperation mit dem bundes- lager Neugraben des KZ Neuengamme infor- weit ausgeschriebenen Wettbewerb „Demo- miert (S. 10 bis 21). kratisch Handeln“ weitergeleitet. Vier Projek- te wurden mit einer Einladung zur „Lernstatt BERTINI-PREIS Dass die Auszeichnung nicht den krönen- Demokratie“ ausgezeichnet (S. 34). den Abschluss eines Projekts bedeuten muss, sondern Ansporn oder Auslöser für weiteres Der BERTINI-Preis findet seine Fortsetzung Engagement sein kann, haben in den zu- mit der Ausschreibung für das Jahr 2020. rückliegenden Jahren etliche BERTINI-Preis- Unverändert steht er unter dem Motto, das trägerinnen und -Preisträger gezeigt. Einen Ralph Giordano prägte: „Lasst Euch nicht Hinschauen, wenn andere wegsehen. Einblick in das breite Spektrum des Sich- einschüchtern!“ In diesem Jahr steht die Teil- Einmischens junger Menschen in dieser Stadt nahme unter besonderen Rahmenbedingun- Sich einmischen, wenn andere schweigen. finden Sie auf den Seiten 22 bis 26. Unter der gen: Die „Corona-Pandemie“ lässt es seit Erinnern, wenn andere vergessen. Rubrik „Nachgefragt“ berichten zwei Preis- Mitte März nur sehr eingeschränkt zu, dass Eingreifen, wenn andere sich wegdrehen. träger aus dem Jahr 2018, was für sie auf die Schülerinnen und Schüler sich an einem Wett- Preisverleihung folgte (S. 27 und 28). bewerb beteiligen. Unbequem sein, wenn andere sich anpassen. Den Rahmen dafür ermöglichen die Förderer Digitale Formate erhalten einen neuen Stel- IMPRESSUM Herausgeber BERTINI-Preis e.V. des BERTINI-Preises. Mit dem Studierenden- lenwert. Wir sind zuversichtlich, dass in ei- Redaktion Andreas Kuschnereit, Ulrich Vieluf werk Hamburg, der Stiftung der Wohnungs- ner Zeit, in der Verschwörungstheorien, Fake Texte Sabine Deh, Ann-Britt Petersen, Hans-Juergen Fink, Andreas Kuschnereit, Ulrich Vieluf genossenschaft von 1904 und Uwe Franke News und Entsolidarisierung allgegenwärtig Gestaltung Carsten Thun hat sich ihr Kreis im zurückliegenden Jahr sind, die Suche nach Spuren vergangenen Un- Fotos Jörg Modrow, Carsten Thun, ZDF / Renate Schäfer, Titelfoto: Jörg Modrow abermals erweitert. Was die Förderer bewegt, rechts und das Eintreten gegen Ausgrenzung Druck RESET St. Pauli ist ab Seite 35 nachzulesen. und Gewalt, für ein gleichberechtigtes Mitein Anschrift Behörde für Schule und Berufsbildung, Hamburger Straße 31, 22083 Hamburg ander nicht an Bedeutung verlieren. Im Ge- andreas.kuschnereit@bsb.hamburg.de Bereits zum fünften Mal haben Schülerin- genteil. © Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion nen und Schüler des Profils Medien am Kurt- www.bertini-preis.de Körber-Gymnasium unter dem Motto „Mut Ihr Redaktionsteam 3 Erscheinungsdatum: Hamburg, Juni 2020
DIE PREISTRÄGER INHALT 2019 03 EDITORIAL „WIR WÄREN ALLE NICHT HIER“ EIN THEATERPROJEKT VON 21 SCHÜLERINNEN UND Seite 10 06 VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES 2019 SCHÜLERN DER PROFILKLASSE 9c AN DER IDA EHRE SCHULE 97 Schülerinnen und Schüler wurden für ihr außergewöhnliches Engagement geehrt. AUSGERZEICHNET: GEDENKEN AN 500 JÜDISCHE 10 „WIR WÄREN ALLE NICHT HIER“ ZWANGSARBEITERINNEN 13 GEDENKEN AN 500 JÜDISCHE ZWANGSARBEITERINNEN IM KZ-AUSSENLAGER NEUGRABEN IM KZ-AUSSENLAGER NEUGRABEN Seite 13 EIN PROJEKT VON 19 SCHÜLERINNEN UND SCHÜLERN 16 ERINNERN AN DIE MORDE IM KINDERKRANKENHAUS ROTHENBURGSORT DES GYMNASIUMS SÜDERELBE, DER STADTTEILSCHULEN 19 HALIMAHS ERWACHEN – LIEBER TOT ALS EHRENLOS! NEUGRABEN-FISCHBEK UND SÜDERELBE SOWIE DES FRIEDRICH-EBERT-GYMNASIUMS 22 BERTINI-PREISTRÄGER MISCHEN SICH EIN Insgesamt 127 Gruppen und Einzelpersonen wurden bisher mit dem ERINNERN AN DIE MORDE BERTINI-Preis ausgezeichnet – 21 Beispiele für Engagement und Zivilcourage, IM KINDERKRANKENHAUS die Spuren hinterlassen haben. Seite 16 ROTHENBURGSORT 27 BERTINI-PREIS 2018: NACHGEFRAGT EIN THEATERPROJEKT VON 27 SCHÜLERINNEN UND SCHÜLERN DER STADTTEILSCHULE BERGEDORF 29 „MUT IM NETZ“ – RISKANTE CHALLENGES, FAKE NEWS UND CYBERMOBBING 32 BUNDESVERDIENSTKREUZ FÜR KLAUS MÖLLER 34 DER BERTINI-PREIS UND DEMOKRATISCH HANDELN HALIMAHS ERWACHEN – LIEBER TOT ALS EHRENLOS! 35 DIE FÖRDERER Seite 19 EIN THEATERPROJEKT VON 30 SCHÜLERINNEN UND 40 DEN BERTINI-PREIS FÖRDERN SCHÜLERN DES HELMUT-SCHMIDT-GYMNASIUMS 42 RALPH GIORDANO – GELEBTE ZIVILCOURAGE 43 DIE RALPH-GIORDANO-BIBLIOTHEK IN DER KZ-GEDENKSTÄTTE NEUENGAMME 44 AUF DEN SPUREN DER BERTINIS 45 DIE BERTINIS: HÖRBUCH 46 AUSBLICK 4 5
AUFTAKT: ISABELLA VÉRTES-SCHÜTTER BEGRÜSST DIE GÄSTE IM ERNST DEUTSCH THEATER ZUR 22. VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES. BÜHNENREIF: BERTINI-PREISVERLEIHUNG 2019 ALLE PREISTRÄGER AUF DER BÜHNE IM ERNST DEUTSCH THEATER BEI DER 22. VERLEIHUNG DES BERTINI-PREISES Ein Theaterprojekt über Menschenrechte Ausgrenzung von Menschen eintreten und Er- burg, Peter Tschentscher, auf die Bedeutung Projekte in unsere Hände gelegt“, so Kerstin und Inklusion, eine Informations- und Auf- innerungsarbeit leisten“, so Isabella Vértes- einer engagierten Jugend ein. Angesichts des Fehrs. In einer Zeit, in der der Rechtsextre- klärungskampagne zum Gedenken an 500 Schütter. Sie erinnerte an den Namensgeber Krieges, des unvorstellbaren Leids und der mismus im Land wieder lauter werde, „der jüdische Zwangsarbeiterinnen, ein Musik des Preises, den 2014 verstorbenen Schrift- Verbrechen der Nationalsozialisten sei die Antisemitismus längst seine hässliche Fratze“ theaterstück über die Ermordung behinderter steller Ralph Giordano, dessen Mutter Jüdin gebotene Haltung: „Nie wieder soll von deut- zeige und es auch Islamfeindlichkeit gebe, sei Kinder im ehemaligen Kinderkrankenhaus war. Sein autobiografischer Roman „Die Ber- schem Boden so etwas ausgehen!“ Das Motto es so wichtig, dass die junge Generation hell- Rothenburgsort und eine Theater-Trilogie zu tinis“ schildert das Schicksal seiner Familie des BERTINI-Preises: „Hinschauen, aufmerk- wach ist. „Ihr, die jungen Menschen hier im Tabuthemen wie Zwangsheirat, Ehrenmord während der NS-Zeit, die dem Vernichtungs- sam sein, sich einmischen und eingreifen, sich Saal, bleibt mutig, mitreißend. Wir brauchen und Homosexualität – diese vier beeindru- lager Auschwitz nur knapp entkommen ist. nicht einschüchtern lassen, mutig und unbe- Euch. Erinnerung braucht eine Zukunft. Des- ckenden Projekte wurden mit dem BERTINI- „Mein Kompass ist Auschwitz“, hatte Ralph quem sein“, sei ein dringender Wunsch an die halb: Bitte macht weiter!“, ermunterte die Preis 2019 ausgezeichnet. Im Rahmen der Giordano immer wieder gesagt und damit junge Generation und er werde tatsächlich Bischöfin das junge Publikum. 22. Preisverleihung am 27. Januar 2020 im seine Lebensaufgabe begründet: „Mit wach- auch angenommen, sagte der Erste Bürger- Ernst Deutsch Theater standen 97 Schülerin- samen Augen auf aktuelle politische Entwick- meister und gratulierte den Preisträgerinnen Moderator Christian Buhk vom NDR führte nen und Schüler für ihre Spurensuche, ihre lungen zu schauen und sich einzumischen: und Preisträgern zu ihrem Engagement und bereits zum dritten Mal durch die Veranstal- Erinnerungsarbeit und ihr Eintreten für ein gegen Unrecht und Gewalt, für Frieden und ihren beeindruckenden Projekten. tung und bat im Anschluss an die Festrede gleichberechtigtes Miteinander im Mittel- Völkerverständigung“, so die Intendantin. die Preisträgerinnen und Preisträger nach punkt. Angesichts eines Wiedererstarkens des Anti- Bischöfin Kerstin Fehrs erinnerte in ihrer ein- einander auf die Bühne. Vorgestellt wurden semitismus fehle seine Stimme, betonte sie. dringlichen Festrede anlässlich des 75. Jah- die Projekte der vier Gruppen in kurzen Ein- Isabella Vértes-Schütter, Intendantin des Doch sie sei sich sicher, dass sich Ralph Gi- restages der Befreiung des Vernichtungslagers spielfilmen, die von den NDR-Mitarbeitern Ernst Deutsch Theaters und Vorsitzende des ordano über das Engagement der an diesem Auschwitz an die sechs Millionen Menschen, Christian Becker und Florian Skupin ge- BERTINI-Preis e. V., begrüßte die mehr als Tag ausgezeichneten 97 jungen Hamburge- die den unfassbaren Gräueltaten der Nazis dreht worden waren. Auf die Bühne beglei- 700 Zuschauerinnen und Zuschauer. Der rinnen und Hamburger gefreut hätte. Aus 22 zum Opfer gefallen sind. „Sich an einem sol- tet wurden die BERTINI-Preisträgerinnen BERTINI-Preis, der jedes Jahr am 27. Januar Bewerbungen hatte die Jury des BERTINI- chen Gedenktag berühren zu lassen bis an die und -Preisträger von ihren Paten aus dem verliehen wird, dem Gedenktag an die Op- Preises für diese herausragenden vier Projek- Herzhaut, ist eine Herausforderung“, sagte BERTINI-Preis e. V., die die Leistungen der fer des Nationalsozialismus, richtet sich „an te votiert. Kerstin Fehrs und sie bedankte sich bei den Jugendlichen jeweils in einer Laudatio wür- junge Menschen, die sich für ein solidarisches In seinem Grußwort ging auch der Erste Bür- BERTINI-Preisträgerinnen und -Preisträgern, digten und die Urkunden sowie einen Scheck 6 Miteinander in Hamburg einsetzen, die gegen germeister der Freien und Hansestadt Ham- denen dies gelungen sei. „Ihr habt bewegende über jeweils 2.500 Euro überreichten. 7
01 WIR WÄREN ALLE NICHT HIER 02 GEDENKEN AN 500 JÜDISCHE ZWANGSARBEITERINNEN 03 DAS KINDERKRANKENHAUS ROTHENBURGSORT 04 HALIMAHS ERWACHEN – LIEBER TOT ALS EHRENLOS! Ein Theaterprojekt von 21 Schülerinnen und Schülern IM KZ-AUSSENLAGER NEUGRABEN Ein Projekt von Ein Projekt von 27 Schülerinnen und Schülern der Ein Theaterprojekt von 30 Schülerinnen und Schülern der Ida Ehre Schule 19 Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Süderelbe, der Stadtteilschule Bergedorf des Helmut-Schmidt-Gymnasiums Pate: Hansjürgen Menzel-Prachner Stadtteilschulen Neugraben-Fischbek und Süderelbe sowie Patin: Barbara Hartje Patin: Katja Conradi des Friedrich-Ebert-Gymnasiums Pate: Hanno Billerbeck Hansjürgen Menzel-Prachner vom Ida-Ehre- die jungen Darstellerinnen und Darsteller mit Kulturverein sprach die Laudatio für die 21 nasiums auf vielfältige Weise dafür, dass das schule Bergedorf. Sie hatten ein ergreifendes dem Publikum. „Die Jury hat ‚Halimahs Er- Schülerinnen und Schüler der Ida Ehre Schu- Schicksal der jüdischen Frauen, die zwischen Musiktheaterstück über „Das Kinderkranken- wachen‘ den BERTINI-Preis zugesprochen, le und ihr Theaterprojekt „Wir wären alle nicht 1944 und 1945 in diesem Lager inhaftiert haus Rothenburgsort“ verfasst und mehrmals weil sie den Mut der Beteiligten auszeichnen hier“. Die heutige Klasse 9c hatte für eine Ver- waren, nicht vergessen wird. Sie starteten erfolgreich aufgeführt. Darüber hinaus setz- möchte“, sagte Laudatorin Katja Conradi anstaltung zum Thema „70 Jahre Menschen- Umfragen, erstellten einen Wikipedia-Eintrag ten sie sich aktiv für das Gedenken an die 56 von der BürgerStiftung Hamburg. Es habe rechte“ ein Theaterstück über Menschenrech- und wollen das Thema im Unterricht ihrer behinderten Kinder ein, die dort in der NS- den ganzen Mut der Jugendlichen erfordert, te in Szene gesetzt und aufgeführt, in dem Schule verankern. Darüber hinaus planen Zeit ermordet worden waren: Kurzerhand in- „vermeintliche Gewissheiten anzuzweifeln, es auch um die Inklusion geht – ein Thema, sie, Hinweistafeln im öffentlichen Raum an- stallierten sie vor dem Gebäude der ehemali- sich gegen vorgefertigte Rollenbilder zur Wehr das für die Schülerinnen und Schüler geleb- zubringen sowie einen Film zu drehen. „Ihr gen Klinik einen vorläufigen Gedenkort. „Ihr zu setzen und Freiheit und Selbstbestimmung ter Schulalltag ist, da in der Klasse sieben seid Euch darüber einig, dass Unrecht nicht habt nicht nur hingeschaut und erinnert, son- einzufordern“, so Katja Conradi anerken- Schülerinnen und Schüler eine Behinderung verschwiegen werden darf und öffentlich dern Euch auch eingemischt“, lobte Barbara nend. haben. Auf der Bühne zeigten sie den Mut, erkennbar sein soll, besonders wenn es mit- Hartje in ihrer Laudatio das Engagement der Für den musikalischen Rahmen der Preisver- sich als solche zu outen. „Mit Eurem Stück ten im eigenen Stadtteil geschah. Und dafür Jugendlichen. leihung sorgten die „Alstertalboys“ von der seid Ihr couragiert gegen Ausgrenzung und wollt Ihr dauerhaft etwas tun“, stellte Lau- Im Theaterprojekt „Halimahs Erwachen – lieber Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg mit Marginalisierung“ eingetreten, so Laudator dator Hanno Billerbeck vom Kirchenkreis tot als ehrenlos!“ befassten sich 30 Schülerin- Lenn von Sassen und Hannes Goldau an der Hansjürgen Menzel-Prachner. Hamburg-Ost den persönlichen Einsatz der nen und Schüler des Helmut-Schmidt-Gym- Gitarre, Wotan Láposi am Keyboard, Paul Mit ihrem Projekt „Gedenken an 500 jüdische Jugendlichen heraus. nasiums mit Tabuthemen wie Zwangsheirat, Schultheiß am Bass und Carl John am Schlag- Zwangsarbeiterinnen im KZ-Außenlager Neu- Als einen kleinen, aber wichtigen Beitrag sexuelle Selbstbestimmung und Ehrenmord zeug. Sie begeisterten das Publikum mit Klas- graben“ engagierten sich 19 Schülerinnen zur Erinnerungsarbeit in Hamburg beschrieb in Familien, die stark von kulturellen und sikern wie „Smoke on the Water“ von Deep und Schüler des Gymnasiums Süderelbe, der Barbara Hartje vom Freundeskreis KZ- religiösen Traditionen geprägt sind. Die The- Purple und „The Thrill is Gone“ von B. B. Stadtteilschulen Neugraben-Fischbek und Gedenkstätte Neuengamme das Projekt von ater-Trilogie wurde mehrfach mit großer Re- King sowie mit dem modernen Titel „Toxici- 8 Süderelbe sowie des Friedrich-Ebert-Gym- 27 Schülerinnen und Schülern der Stadtteil- sonanz aufgeführt, anschließend diskutierten ty“ von System of a Down. 9
FOTOS JÖRG MODROW AUSDRUCKSSTARK: die am 10. Dezember 1948 von den Vereinten SCHÜLERINNEN DER IDA EHRE SCHULE BEI DER PROBE Nationen verkündet wurde. Die 30 Grund- rechte sollen laut Amnesty International den „größtmöglichen Schutz aller Menschen ge- währleisten“. Alle Schülerinnen und Schüler erhielten ein kleines Heft, in dem sie die 30 Artikel nachlesen konnten und das sie später „WIR WÄREN Es entstand als Antwort auf eine Anfrage der auch auf der Bühne verwendeten. Sie fragten 21 ehemaligen Schulleiterin der Ida Ehre Schule Helga Wendland. Sie war Mitorganisatorin sich, wie es mit diesen Rechten in der Praxis aussieht. „Wir haben dann Ideen und aktu- Schülerinnen und Schüler der Ida Ehre der Diskussionsveranstaltung „Menschen- elle Nachrichten zu Verstößen gegen die Men- ALLE NICHT HIER“ Schule stellen in ihrem Theaterstück dar, rechte für alle – nach 70 Jahren am Ende?“ schenrechte gesammelt“, berichtet Zoe Wolf welche Bedeutung die Menschenrechte heute in der Apostelkirche in Eimsbüttel. „Es wurde (15). Aktuelle Themen in den Medien waren haben und warum besonders das Recht auf nach einem Einstieg für den Gesprächsabend zu jener Zeit etwa die Ermordung des Jour- Inklusion wichtig ist. gesucht, an dem unter anderen Politikprofes- nalisten Jamal Kashoggi im saudiarabischen sorin Gesine Schwan und Gabriele Stein von Konsulat in Istanbul, die willkürliche Entlas- FÜR ENYA PFAUTER WAREN DIE MENSCHENRECHTE In diesem Artikel wird das Recht behinderter Amnesty International teilnahmen“, erläutert sung zahlreicher Staatsangestellter nach dem EIN GANZ NEUES THEMENFELD. „BEVOR WIR AN UN- Menschen auf Bildung verankert und ein „in- Theaterlehrer Timo Gerdes. Gemeinsam mit Putsch in der Türkei oder die ungleichen Ver- SEREM THEATERSTÜCK GEARBEITET HABEN, WUSS- klusives Bildungssystem“ eingefordert – glei- Musik- und Klassenlehrer Thomas Bischoff dienstmöglichkeiten von Mann und Frau hier- TE ICH NICHT, DASS ES BESTIMMTE RECHTE GIBT WIE cher Zugang zu den Bildungseinrichtungen für dachte er über eine mögliche Inszenierung zulande. ETWA DAS RECHT AUF BILDUNG“, SAGT DIE 15-JÄH- alle. „Wenn es den Artikel nicht gäbe, wäre nach und fragte die Schülerinnen und Schüler RIGE SCHÜLERIN DER IDA EHRE SCHULE. MANCHEN ich gar nicht hier an dieser Regelschule“, sagt der damaligen 8c des Theater-Musik-Profils Diese Rechercheergebnisse flossen in das IHRER MITSCHÜLERINNEN UND MITSCHÜLER GING Benjamin, der wegen einer körperlichen Be- „Klangwelt und Bühnenzauber“, ob sie sich Stück ein, das die Schülerinnen und Schüler ES ÄHNLICH, ANDERE HATTEN SCHON ETWAS VOM hinderung im Rollstuhl sitzt. Das trifft auch eine Aufführung zu dem Thema vorstellen gemeinsam mit Theaterlehrer Timo Gerdes er- WAHLRECHT ODER DEM RECHT AUF GLEICHBEHAND- auf die anderen behinderten Schülerinnen könnten. Die 21 Jugendlichen hatten große arbeiteten. „Wir haben einige Menschenrech- LUNG GEHÖRT. FÜR BENJAMIN SCHNACKENBURG und Schüler der Klasse zu. Deswegen heißt Lust darauf, und so ging es an die Erarbeitung te vorgestellt und Bezug darauf genommen, (15), EINEM VON SIEBEN SCHÜLERINNEN UND SCHÜ- ihr Stück, das sie zum 70. Jahrestag der Men- des Stücks. was sie für das Zusammenleben bedeuten“, LERN IN DER KLASSE MIT EINER BEHINDERUNG, IST schenrechte erarbeiteten: „Wir wären alle erklärt Enya. Wie zum Beispiel das Recht, BESONDERS DER ARTIKEL 24 DER UN-BEHINDERTEN- nicht hier.“ Die Klasse beschäftigte sich zunächst mit der dass niemand in Sklaverei oder Leibeigen- 10 RECHTSKONVENTION WICHTIG. Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, schaft gehalten werden darf (Artikel 4), oder 11
INKLUSIV: SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER STUDIEREN GEMEINSAM ROLLENTEXTE EIN. das Recht jedes Menschen, bei Verfolgung in Frey selbst verfassten Song, der um Verständ- anderen Ländern Asyl zu suchen (Artikel 14). nis und Anerkennung für andere wirbt. Mit den Beispielen von Verstößen gegen die Grundrechte warfen die Jugendlichen auch Nachdem der Theatertext stand, ging es an einen kritischen Blick auf die Einhaltung und die Rollenverteilung und die Proben. Manche GEDENKEN AN 500 JÜDISCHE den Wert der Menschenrechte heute. Sätze waren nicht leicht zu sprechen, da sie die juristische Sprache der Grundrechte wie- FOTOS JÖRG MODROW Bei dieser Frage kam auch der Aspekt „Inklu- dergeben. Bei den Proben halfen die Schüle- sion“ zum Tragen. Aufgrund von Lern- oder rinnen und Schüler sich gegenseitig und jeder ZWANGSARBEITERINNEN Konzentrationsschwäche oder wegen körper- konnte dabei seine Fähigkeiten einbringen. licher oder emotionaler Einschränkungen ha- „Ich kann mir Texte schnell merken“, erklärt ben sieben der 21 Schülerinnen und Schüler Benjamin. „Ich musste für meine Sätze län- einen anerkannten Förderbedarf und werden ger üben“, sagt Aniston Kula Papa (15). Doch IM KZ-AUSSENLAGER NEUGRABEN von Sonderpädagoginnen und Sonderpädago- dann konnte er sie mit seiner kräftigen Stim- gen zusätzlich betreut. Deshalb war es allen me überzeugend rüberbringen. „Es zeigte sich Schülerinnen und Schülern ein wichtiges An- schon bei den Vorbereitungen, dass Inklusion liegen, auf den Artikel 26 hinzuweisen, der in der Profilklasse wirklich gelebt wird“, sagt das Recht auf volle Entfaltung der Persön- lichkeit beinhaltet, und auf den Artikel 24 der Timo Gerdes. Die Aufführung am 4. Februar 2019 in der 19 Schülerinnen und Schüler des Profilkurses „Sprache und Kultur“ engagierten sich auf vielfältige UN-Behindertenrechtskonvention, der den Apostelkirche war ein gelungenes Ereignis. Weise dafür, dass das Schicksal von 500 jüdischen Zwangsarbeiterinnen nicht vergessen wird. In ihrem Artikel 26 bekräftigt. „Er existiert seit 2008 Das Publikum bedankte sich mit großem Ap- schulübergreifenden Profilkurs „Sprache und Kultur“, den das Gymnasium Süderelbe, die Stadtteilschulen und erkennt das Recht auf Bildung für behin- plaus bei den jungen Schauspielerinnen und Neugraben-Fischbek und Süderelbe sowie das Friedrich-Ebert-Gymnasium gemeinsam anbieten, starteten derte Menschen an“, sagt Zoe. Und Benjamin Schauspielern. Auch eine Aufführung in der sie eine Umfrage, erstellten einen Wikipedia-Eintrag und wollen das Thema an ihrer Schule verankern. fügt den Satz hinzu, den er auch im Stück vor- Schule fand positive Resonanz. „Während trägt: „Ohne diesen Beschluss wäre ich nicht sich die Zuschauer in der Kirche mit dem The- NICHT WEIT ENTFERNT VOM GYMNASIUM SÜDER in Eurer Klasse. Ich wäre an einer Förderschu- ma schon etwas auskannten, war es für die ELBE, AM FALKENBERGSWEG IN NEUGRABEN, In der Schule war das ehemalige Außenlager le, die früher Sonderschule genannt wurde.“ Schülerinnen und Schüler eher etwas Neues BEFAND SICH BIS 1945 EIN AUSSENLAGER DES KZ bislang kein Thema. Aufmerksam auf des- Diese Worte fallen gegen Ende des Stücks, und und sie haben, wie ich damals, einiges über NEUENGAMME. HIER WAREN 500 JÜDINNEN UNTER sen Geschichte wurden die Schülerinnen und wenn Benjamin sie sagt, steht er mit seinem die Menschenrechte erfahren können“, befin- UNWÜRDIGEN BEDINGUNGEN IN HOLZBARACKEN Schüler des Profils „Sprache und Kultur“ Rollstuhl ganz vorn auf der Bühne. det Enya. „Die Botschaft unseres Stücks war INHAFTIERT. TAGSÜBER MUSSTEN DIE AUS TSCHE- durch eine Veranstaltung zum Gedenken an „Unser Theaterlehrer hat auch die anderen ja auch, dass die Menschenrechte nicht nur CHIEN VERSCHLEPPTEN FRAUEN AN VERSCHIE- die Holocaust-Opfer. „Nur wenige von uns Schülerinnen und Schüler mit einer Behinde- Friede, Freude, Eierkuchen sind, sondern dass DENEN PLÄTZEN RUND UM DAS LAGER ZWANGS- wussten bis dahin, dass dieses Lager exis- rung gefragt, ob wir uns zutrauen, mit dem es auch immer noch viele Konflikte gibt und ARBEIT LEISTEN. „SIE VERRICHTETEN SCHWERE tiert hat und unter welchen grauenvollen Be- Satz: ‚Ich wäre auch nicht hier‘ nach vorne man um die Einhaltung kämpfen muss“, er- ARBEITEN IM STRASSEN- ODER HÄUSERBAU AM dingungen die Frauen dort leben mussten“, zu treten“, schildert Zoe. „Obwohl die betref- klärt Benjamin. „Aber es ist gut, dass es die FALKENBERGSWEG“, SAGT BENNET (17), SCHÜLER berichtet Nikolina (17) vom Gymnasium fenden Schülerinnen und Schüler damit ihren Möglichkeit gibt, seine eigene Meinung zu DES GYMNASIUMS SÜDERELBE. HEUTE IST VON Süderelbe. Die Schülerinnen und Schüler des Förderstatus outen, waren alle auf Anhieb da- sagen“, betont Aniston und Zoe findet, „dass DEM EHEMALIGEN LAGER NICHTS MEHR ZU SEHEN. Profilkurses stammen nicht nur aus dem Gym- mit einverstanden“, betont Klassenlehrer Tho- wir dank dieser Rechte in einer Klasse sind, AUF DEM FREIEN GELÄNDE ERINNERT NUR NOCH EIN nasium Süderelbe, wo der Profilunterricht mas Bischoff. Das knapp zehnminütige Stück wo jeder – egal wie er ist – eine Bereicherung UNSCHEINBARER GEDENKSTEIN AN DAS SCHICK- stattfindet, sondern auch aus den Stadtteil- 12 schließt mit einem von der Schülerin Belinda ist.“ SAL DER JÜDISCHEN ZWANGSARBEITERINNEN. schulen Neugraben-Fischbek und Süderelbe 13
ERINNERUNGSARBEIT: SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER DOKUMENTIEREN DAS SCHICKSAL JÜDISCHER ZWANGSARBEITERINNEN. dazu, weil sich das Außenlager in unmittelba- rer Nachbarschaft zu unserer Schule befand. Deswegen wollen wir, dass es im Geschichts- unterricht behandelt wird“, sagt Judith (17) vom Gymnasium Süderelbe. Ihre Forderung, das Thema in das schulinterne Curriculum für das Fach Geschichte aufzunehmen, trugen sie bereits ihrem Fachleiter für Geschichte vor. sowie aus dem Friedrich-Ebert-Gymnasium. ger, sondern auch die von ihm zur Verfügung Mit erstem Erfolg. Der Pädagoge lud sie ein, UNSCHEINBAR: Gemeinsam mit ihrer Lehrerin Maryam An- gestellten persönlichen Aussagen der ehema- ihr Anliegen und ihre Argumente im März BISLANG INFORMIERT NUR wary waren sie sich einig, dass sie mehr über ligen Zwangsarbeiterinnen. Schultz hatte im DER GEDENKSTEIN ÜBER DAS 2020 auf der Fachkonferenz der Geschichts- das ehemalige Lager erfahren wollten, und Laufe seiner Forschungen Kontakt zu rund 30 AUSSENLAGER NEUGRABEN. lehrkräfte vorzustellen. sie fragten sich, ob ihre Mitschülerinnen und ehemaligen Inhaftierten des Außenlagers am Zusätzlich wollen die Schülerinnen und Schü- Mitschüler genauso wenig darüber informiert Falkenbergsweg aufgenommen und auch beim ler einen Dokumentarfilm erstellen. Sie ha- waren wie sie selbst. Besuchsprogramm von ehemaligen Zwangsar- ben dafür bereits mehrere Interviews mit Um das herauszufinden, starteten sie eine beiterinnen und Zwangsarbeitern in Hamburg Karl-Heinz Schultz geführt. „Dessen umfang- Umfrage in den Klassen 7 bis 12 im Gym- mitgewirkt. reiches Wissen möchten wir für die nachfol- nasium Süderelbe und befragten auch die In ihrem Wikipedia-Eintrag beschreiben die genden Generationen im Film festhalten und Eltern. Das Ergebnis war ernüchternd. „Die Jugendlichen das Lager. 1943 waren in einem weitergeben“, erklärt Larischa. Der Film soll wenigsten wussten etwas über das Lager und Teil des Lagers italienische Kriegsgefangene professionell produziert werden, weshalb die über die Zwangsarbeiterinnen“, sagt Larischa interniert. Im Sommer 1944 wurden die Bara- Jugendlichen Kontakt zum Filmemacher Ul- (16), Schülerin des Friedrich-Ebert-Gymna- cken geräumt. Im September 1944 wurde hier rich Raatz aufgenommen haben. „Für die Ar- siums. „Wir haben dann überlegt, woran das ein Frauenlager eingerichtet. „Die Frauen ka- beit mit Ulrich Raatz hat uns der Verein ‚Kul- liegt und was wir dagegen machen können“, men aus dem in Tschechien liegenden KZ The- gendlichen stellten zu den Fakten auch Links turhaus Süderelbe‘ ein Startkapital von 500 erläutert sie weiter. Die Jugendlichen stellten resienstadt in das polnische Vernichtungslager mit kurzen Biografien von fünf ehemals inhaf- Euro gespendet. Wir sind jetzt dabei, weitere fest, dass es weder gut sichtbare Hinweise vor Auschwitz-Birkenau. Sie wurden von SS-Ärz- tierten jüdischen Frauen online. Die Arbeit an Spenden zu sammeln, und freuen uns deshalb Ort gab noch Informationen im Internet zu ten als arbeitsfähig eingestuft und weiter nach dem Wikipedia-Eintrag sei sehr lehrreich, aber auch sehr über unsere Auszeichnung mit dem finden waren. Und so entschlossen sie sich, als Hamburg transportiert“, schildert Laura (17) auch anspruchsvoll gewesen. „Wichtig waren BERTINI-Preis – denn auch das Preisgeld Erstes einen Text für einen Wikipedia-Eintrag von der Stadtteilschule Süderelbe. Im KZ-Au- die exakten Quellenangaben und erst nach- wollen wir für den Film verwenden“, sagt zu verfassen. ßenlager Neugraben wurden bis zu 26 Frauen dem der Text von Experten verifiziert worden Judith. Die Jugendlichen planen weitere Akti- Als Quellen dienten ihnen Bücher, Artikel und in einen Raum gepfercht. Die Bedingungen war, konnte er freigeschaltet werden“, berich- onen wie das Aufstellen von neuen Hinweis- Recherchen, etwa aus der Geschichtswerk- waren für die Inhaftierten im Alter von 16 bis tet Asiah (16) vom Gymnasium Süderelbe. schildern und Informationstafeln vor und auf statt sowie von Karl-Heinz Schultz, der sich 45 Jahren katastrophal. „Sie trugen nur dün- Oberstes Ziel der Jugendlichen war es, mit ih- dem Gelände des ehemaligen Frauenlagers. seit vielen Jahren im Freundeskreis der KZ- ne Kleidung und Holzschuhe, auch im Win- rem Eintrag eine breite Öffentlichkeit zu in- Auch damit wollen sie das Thema ins öffentli- Gedenkstätte Neuengamme und in der Initia ter, bekamen wenig zu essen und es war der formieren. Doch das allein reicht ihnen nicht. che Bewusstsein bringen. „Dieser grauenvolle tive „Gedenken in Harburg“ engagiert. Die Bevölkerung verboten, ihnen Essen zuzuste- Sie wollen auch erreichen, dass das Thema im Teil der Geschichte darf nicht unter den Tep- Schülerinnen und Schüler nutzten nicht nur cken. Manche taten es aber trotzdem“, weiß Geschichtsunterricht ihrer Schule verankert pich gekehrt werden“, betont Nikolina. 14 seine umfangreichen Kenntnisse über das La- Julia (16) vom Gymnasium Süderelbe. Die Ju- wird. „Wir haben ja einen besonderen Bezug 15
andersartig-gedenken.de andersartig-gedenken.de GEWISSENLOS: MEHRSTIMMIG: ERINNERN AN DIE MORDE ÄRZTINNEN ERMORDETEN BEHINDERTE KINDER MIT EINER CHORISCH WERDEN VERSCHIEDENE SICHTWEISEN ÜBERDOSIS LUMINAL. AUF DIE KINDERMORDE VERMITTELT. IM KINDERKRANKENHAUS mordung von Menschen mit Behinderungen durch die Nationalsozialisten. Sie wollten angeblich „unwertes Leben“ vernichten. Die Kinderkrankenhaus geforscht“, berichtet The- Klasse war von dem Schicksal der ermorde- aterlehrer Bernd Ruffer. Beide Autoren stell- ROTHENBURGSORT ten Kinder so schockiert, dass sie dieses The- ten den Schülerinnen und Schülern biografi- ma in einem eigenen Stück umsetzen und sche Informationen über die Ärztinnen und mit Fragen zum Wert des Lebens in unserer Bildmaterial für ihr Stück zur Verfügung. heutigen Gesellschaft verbinden wollte. „Als Grundlage diente uns das Musical von Dirk Entstanden ist ein Musiktheaterstück, das auf 27 Schülerinnen und Schüler der Profilklasse MuT – Musik und Theater – der Stadtteilschule Schattner. Wir haben daraus auch vier Songs verschiedenen zeitlichen Ebenen spielt. Als Bergedorf inszenierten ein Musiktheaterstück über den menschenverachtenden Umgang mit übernommen, wollten aber unseren Schwer- Hauptstrang führen die Szenen mit den bei- jungen Patientinnen und Patienten in der NS-Zeit – und forderten das Publikum zum Nachdenken punkt stärker auf das legen, was damals den Jugendlichen auf dem Dachboden durch über den Wert des Lebens in der heutigen Gesellschaft auf. passiert ist“, erklärt Jovan. Die Jugendlichen die Handlung. Daran anknüpfend, wird das recherchierten weitere Zusammenhänge und Geschehen in der damaligen Klinik szenisch ZWEI JUGENDLICHE STÖBERN AUF EINEM DACHBO- ZEN MIT EINER ÜBERDOSIS LUMINAL VERABREICHT. luden die Autoren Andreas Babel und Hilde- dargestellt. Und der auf der Bühne stets an- DEN IN ALTEN PAPIEREN UND FOTOS IHRER GROSS- DADURCH KAM ES ZU LUNGENENTZÜNDUNGEN, AN gard Thevs in ihre Klasse ein. wesende Chor vermittelt in seinen Songs wei- MUTTER. SIE STOSSEN AUF EIN ALBUM MIT BILDERN DENEN DIE KINDER NACH EINIGEN TAGEN QUALVOLL tere Aspekte der Handlung. Die Lieder wur- AUS EINEM KINDERKRANKENHAUS. WÄHREND SIE STARBEN“, BERICHTET JOVAN THIEDIG (15). DIE JU- Der Celler Journalist Andreas Babel hatte den zusammen mit Musiklehrerin Christiane SICH DIE DOKUMENTE ANSCHAUEN, FRAGEN SIE GENDLICHEN WAREN DURCH EIN MUSICAL DES HAM- sich für sein Buch „Kindermord im Kranken- Vad und Künstlern des ursprünglichen Musi- SICH, WAS GENAU SIE DORT SEHEN, UND STELLEN BURGER AUTORS UND REGISSEURS DIRK SCHATTNER haus: Warum Mediziner während des Nati- cals erarbeitet. „Wir wollten die verschiede- FEST: „KEINE AHNUNG.“ DAS IST AUCH EIN TEIL DES AUF DIESE EREIGNISSE GESTOSSEN. onalsozialismus behinderte Kinder töteten“ nen Sichtweisen auf die Bühne bringen, etwa TITELS DES MUSIKTHEATERSTÜCKS DER PROFIL- intensiv mit den damaligen Ärztinnen des die der Ärztinnen, die den Tötungsbefehlen KLASSE. IN „DAS KINDERKRANKENHAUS ROTHEN- „Wir hatten uns in der 8. Klasse mit dem Krankenhauses Rothenburgsort und ihren folgten. Oder die der Krankenschwestern, BURGSORT. ODER: KEINE AHNUNG!“ THEMATISIEREN Nationalsozialismus beschäftigt, vor allem Taten befasst. Einige von ihnen praktizierten die etwas ahnten oder sogar wussten, aber DIE 15- BIS 17-JÄHRIGEN SCHÜLERINNEN UND SCHÜ- mit dem Antisemitismus und der „Aktion nach dem Ende der NS-Zeit ungestraft weiter schwiegen“, erläutert Jolin Steinhauf (16). LER DIE GRAUENVOLLEN EREIGNISSE IN DER DAMA- T4“ der Nazis, und wir hatten Dirk Schatt- als angesehene Kinderärztinnen. „Auch Hil- Das Stück kommt mit wenigen Requisiten LIGEN KINDERKLINIK. „MINDESTENS 56 BEHINDERTE ner zu Besuch, der uns von seinem Stück er- degard Thevs hatte für ihr Buch `Stolpersteine aus, Projektionen von Fotos der Kinder, Ärz- KINDER WURDEN DORT IN DER NS-ZEIT VON JUNGEN zählte“, schildert Alyssa-Paris Röhrl (15). Die in Hamburg-Rothenburgsort´ im Hamburger tinnen und Schwestern aus der damaligen 16 ÄRZTINNEN ERMORDET. SIE HATTEN IHNEN SPRIT- „Aktion T4“ bezeichnet die systematische Er- Staatsarchiv über die Vorgänge rund um das Zeit illustrieren die Handlung. 17
ein trauriges Thema, aber man muss es auf- greifen und die menschenverachtende Politik von damals zeigen“, sagt Mattes Ilgner (15). „Und das Publikum hat das verstanden, viele UNVERGESSEN: waren sehr berührt“, fügt Marlon Leonhard NAMEN, Bröske (15) hinzu. GEBURTSDATEN UND FUSSABDRÜCKE Über ihre Theaterarbeit hinaus befassten ERINNERN AN sich die Jugendlichen mit der Frage, wie die DIE ERMORDETEN Gebäude des ehemaligen Kinderkranken- KINDER. hauses Rothenburgsort als Gedenkstätte ge- staltet werden könnten. Die Klinik bestand „Wir wollten aber nicht nur zeigen, was bis 1982, zurzeit werden die Gebäude vom mit behinderten Menschen damals geschah, Institut für Hygiene und Umwelt genutzt. sondern auch, wie Behinderte heute wahr- „Aber das Institut zieht demnächst um, und FOTOS JÖRG MODROW genommen werden“, sagt Jovan. So gab es obwohl es schon seit Langem Planungen zur Filmausschnitte über eine ehemalige Mit- Einrichtung eines Mahnmals gibt, verzögert schülerin mit Trisomie 21, einer vererbbaren sich deren Umsetzung“, berichtet Alyssa. Chromosomenstörung, die auch als „Down- Die Jugendlichen wollten nicht abwarten und Syndrom“ bezeichnet wird. Dem Mädchen suchten nach einer Übergangslösung. Nach wurde von einem Bademeister das Recht auf dem schockierenden Attentat auf eine jüdi- das Schwimmenlernen verweigert. Drei Schü- sche Synagoge in Halle im Oktober 2019 mit HALIMAHS ERWACHEN – lerinnen sprachen sich auf der Bühne gegen zwei Toten setzten sie ihre Überlegungen in diese Ausgrenzung aus. Und sie gingen noch die Tat um. „Um wenigstens aufzuklären und einen Schritt weiter und fragten sich selbst an das Vergangene zu erinnern, bauten wir und das Publikum: „Wenn Sie als Schwan- aus verschiedenen Materialien eine Installa- LIEBER TOT ALS EHRENLOS! gere erfahren würden, dass Sie ein Kind mit tion mit Silhouetten von Kindern, Kranken- Trisomie 21 erwarten, was würden Sie tun?“ schwestern und einem Kinderbett“, schildert Schon zu Beginn des Stücks wurde das Pub- Marlon. „Wir hatten ja selbst vor dem Stück likum aufgefordert, zu ethischen Fragen Stel- keine Ahnung, haben uns aber dem Thema lung zu nehmen, etwa bei der Überlegung, wie ein autonomes Fahrzeug für den Fall gestellt“, fügt Jolin hinzu. Die Installation wurde zusammen mit einer Informationstafel 30 Schülerinnen und Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums in Wilhelmsburg erarbeiteten eine Theater-Trilogie, die sich mit Tabuthemen wie Zwangsheirat, Ehrenmord programmiert sein sollte, wenn es nicht mehr im November 2019 in einer Gedenkstunde und Homosexualität auseinandersetzt, und regten damit einen wichtigen Diskurs an. bremsen kann: Wen soll es überfahren, wen als temporärer Gedenkort eingeweiht. Die leben lassen? „Wofür stimmen Sie?“ – das Schülerinnen und Schüler spielten und sangen EINE GROSSE MUSLIMISCHE HOCHZEITSGESELL- FRAUEN, STELLEN FRAGWÜRDIGE KONZEPTE EINER Publikum sollte sich entscheiden und zu der Auszüge aus ihrem Stück. „Wir haben eine SCHAFT, DIE IN EINEM FESTLICH DEKORIERTEN SAAL KULTURELL UND RELIGIÖS TRADIERTEN WELT DAR, einen oder anderen Möglichkeit aufstehen. Verantwortung gegenüber den Kindern: Sie BEI MUSIK UND TANZ SCHEINBAR AUSGELASSEN FEI- IN DER DAS MÄNNLICHE OBERHAUPT DER FAMILIE dürfen nicht vergessen werden!“, sagt Alyssa. ERT: DIESES SZENARIO EMPFÄNGT DEN ZUSCHAUER DAS SAGEN HAT. ES GEHT UM TABUTHEMEN WIE Die Reaktionen auf dieses herausfordernde Und weil es bald keine Zeitzeugen mehr ge- IN DEM THEATERPROJEKT „HALIMAHS ERWACHEN“, ZWANGSHEIRAT UND EHRENMORD, JUNGFRÄULICH- Stück waren sehr positiv. Die 27 Schülerin- ben wird, die von den Verbrechen berichten DAS VON DEM MEDIENPROFIL UND DER THEATER-AG KEIT VOR DER HOCHZEIT UND HOMOSEXUALITÄT, UM nen und Schüler führten es mehrmals an íhrer können, „wollen wir die neuen Zeitzeugen DES HELMUT-SCHMIDT-GYMNASIUMS IN HAMBURG- UNGLEICHHEIT IN DEN GESCHLECHTERROLLEN UND Schule auf, aber auch an anderen Orten, so sein“, ergänzt Mattes. WILHELMSBURG AUF DIE BÜHNE GEBRACHT WUR- WIDERSPRÜCHLICHE MORALVORSTELLUNGEN IN auf den Bühnen des Hamburger Sprechwerks, DE. IN DEM PROJEKT MIT DREI VARIATIONEN EINES DER GESELLSCHAFT. auf Kampnagel und im PEM Theater an den THEATERSTÜCKS KONNTE DAS PUBLIKUM EINER Themen, auf die die 30 Schülerinnen und Elbbrücken. Im Rahmen des Wettbewerbs NICHT ENDENDEN HOCHZEITSFEIER BEIWOHNEN, Schüler des Theaterprojekts in ihrem Umfeld „andersartig gedenken on stage“ erhielten sie BEI DER DAS MÄDCHEN HALIMAH IM MITTELPUNKT häufig treffen. „In der Schule habe ich oft er- für ihre Leistung sogar den 1. Preis und spiel- STEHT. DOCH DIE EREIGNISSE RUND UM HALIMAH lebt, dass viele Jungen gegen Homosexuelle ten ihr Stück anlässlich der Preisverleihung UND IHRE FAMILIE SIND ALLES ANDERE ALS FEIER- schimpfen. Das hat mich immer gestört“, be- 18 auch im Theater Thikwa in Berlin. „Es ist LICH. SIE HANDELN VON DER UNTERDRÜCKUNG DER richtet Hewi Amin (19). 19
Und Narin Bozkurt (18) stellt fest: „Die Jungs haben gegenüber Mädchen mehr Freiheiten. Sie werden zum Beispiel nicht verurteilt, wenn sie viele Beziehungen haben. Dagegen müssen Mädchen tugendhaft bleiben, sonst gelten sie als Schlampen.“ Das war für sie ei- ner der Gründe, warum sie bei dem Theater- projekt mitmachen wollte, das von Theater- lehrer Hedi Bouden geleitet wurde und drei sich ergänzende Aufführungen vorsah. Im April 2018 wurde das Stück „Halimahs VERBLENDET: INFAM: EIN VATER SIEHT SEINE HALIMAH WIRD ALS HURE BESCHIMPFT. Erwachen – Lieber tot als ehrenlos!“ im Bil- TOCHTER LIEBER TOT ALS dungszentrum „Tor zur Welt“ in Wilhelmsburg EHRENLOS. uraufgeführt. Im Juni 2018 kam in Koopera- tion mit dem Theater am Strom die Variante „Wie könnte ich stolz sein an deiner Stelle?“ würden, so die Schülerin. „Unser Ziel war in der Paul-Gerhardt-Kirche in Wilhelmsburg es, mit unseren Stücken einen Diskurs anzu- auf die Bühne. Im Mai 2019 folgte der Ab- regen“, betont Hevi. „Viele Leute sind etwa schluss der Trilogie mit dem Stück „Halimahs gegen die Zwangsheirat, fragen sich aber, ob Erwachen – Einladung zur Zwangsheirat“, ihre Meinung richtig ist. In unseren Auffüh- aufgeführt im Phönix Veranstaltungssaal in „Im Kern unseres Stücks geht es um Hali- rungen sollten sie Argumente finden, die sie Harburg. Die beteiligten Schülerinnen und mah, eine starke, aufgeweckte junge Frau, in ihrer Meinung stärken“, fügt Muhamed Schüler begannen in der Klasse 10 mit der die ihren Weg geht, aber von der Gesellschaft, hinzu. Arbeit an dem Projekt und haben mittlerwei- schon weil sie ein Kopftuch trägt, nicht ak- le ihr Abitur abgelegt. Doch ihr Projekt, zu zeptiert wird. Und dazu zwingt ihre Familie Dass die Resonanz bei allen drei Aufführun- dem auch zwei Poetry-Night-Veranstaltungen sie, einen ihr verhassten Cousin zu heiraten, gen überaus positiv war, hat die Schülerinnen und Diskussionen gehörten, strahlt bis heute um die Blutfehde mit einer anderen Familie und Schüler überrascht. „Wir hatten damit in den Stadtteil aus. zu befrieden“, erklärt Hewi. Außerdem hat sie von männlichen Rettungskräften anfassen gerechnet, dass Leute uns beschimpfen, wenn Halimah Stress mit ihrem jüngeren Bruder zu lassen“, schildert Hevi. Daraus leitet sich wir so etwas auf die Bühne bringen. Doch sie Wichtige literarische Vorlagen für die Insze- Yahya. „Der ist homosexuell, was seine Fami- der Ausspruch: „Lieber tot als ehrenlos!“ her, waren froh, dass wir es gewagt haben, diese nierungen waren Lessings „Emilia Galotti“ lie aber nicht erfahren darf. Deshalb spielt er der sich ebenso durch das Stück zieht wie der Tabuthemen anzusprechen“, berichtet Muha- und Hebbels „Maria Magdalena“, wo es um sich nach außen als besonders männlich auf Ausruf: „Ich bin Halimah. Ich bin eine Toch- med. Zweimal spielten die Schülerinnen und Vater-Tochter-Beziehungen und Ehrenkode- und als derjenige, der die Ehre seiner Schwes- ter, eine Schwester, ein Mensch!“ Schüler vor großem Publikum: Im Bildungs- xe geht. Grundlegend war auch das Drama ter verantworten muss, indem er sie zur Hei- zentrum „Tor zur Welt“ waren es rund 400 „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind. rat drängt“, erläutert Narin. Neben der Hauptgeschichte um Halimah sind Zuschauerinnen und Zuschauer, im Phönix In der am Ende des 19. Jahrhunderts ent- weitere Szenen zu den Themen „Hochzeit“, Veranstaltungssaal waren es sogar über 400. standenen Tragödie geht es um eine Gruppe Bei der Entwicklung dieser Geschichte hatten „Ehre“ und „Gewalt gegen Frauen“ angelegt. Der Saal, der wie ein Hochzeitssaal ausstaf- von Jugendlichen, deren Sexualität erwacht die Schülerinnen und Schüler auch auf aktu- „Wir wollten zum Beispiel zeigen, wie Famili- fiert war, war besonders überzeugend. „Viele und die auf eine Gesellschaft stoßen, in der elle Nachrichten zurückgegriffen. „In der Zei- en ihre Kinder bei bereits arrangierten Hoch- Zuschauer haben gesagt, dass sie es ziemlich sexuelle Aufklärung ebenso tabuisiert ist wie tung hatten wir gelesen, dass eine junge Frau zeiten manipulieren und Druck ausüben, authentisch fanden“, sagt Narin. die Auseinandersetzung mit Homosexualität es ablehnte, ihren Cousin zu heiraten. Er ver- damit sie zustimmen. So sagen Mütter ihren oder Vorverurteilungen. Die immer noch er- suchte, mit gefälschten Nacktfotos im Internet Töchtern etwa: ‚Wenn du ihn nicht heiratest, Die inzwischen ehemaligen Schülerinnen staunlich aktuellen Themen hatten das Medi- ihre Ehre zu besudeln. Nachdem sie jedoch liebst du deine Familie nicht‘“, erläutert Na- und Schüler haben viel Positives aus ihrer enprofil und die Theater-AG zu ihrem ersten ihre Unschuld beweisen konnte und eine Hei- rin. Neben der Rolle der Väter sei auch ein Theaterarbeit mitgenommen. „Als wir damit Stück „Halimahs Erwachen – Lieber tot als rat mit ihm weiter verweigerte, schoss er ihr entlarvender Blick auf die Mütter wichtig, begannen, mussten wir uns selbst erst mal ehrenlos!“ und den darauf aufbauenden In- ins Gesicht“, berichtet Muhamed Emin Se- „denn mit ihrem Verhalten stützen und erhal- überwinden, über diese Themen zu reden. szenierungen inspiriert. Sie entwickelten eine kertag (20). In einer anderen Geschichte, die ten sie das System“, erklärt Angelina Schott In der Klasse ging das dann und wir sind mit Handlung, mit der sie die literarischen Klassi- sich in Dubai ereignete, „hat ein Vater seine (18). Es ereigneten sich immer noch zu vie- der Zeit daran gewachsen und offener gewor- 20 ker mit heutigen Realitäten verbanden. Tochter ertrinken lassen, weil er verweigerte, le Fälle, in denen Frauen derart unterdrückt den“, resümiert Hewi. 21
BERTINI-PREISTRÄGER 2000 „Der edelste Teil“ ist der Titel eines Theaterstücks, das Se- 2003 Schuld und Sühne Mit seiner Expertise „Schuld und Sühne? MISCHEN SICH EIN quenzen von Flüchtlingsschicksalen anein- Die Strafverfolgung nationalsozialistischer anderreiht. Selbst erlittene gesellschaftliche Gewalt verbrechen am Beispiel des Konzen- Ausgrenzung, Ungerechtigkeiten und Diskri- trationslagers Neuengamme“ belegt Janko minierung hatten die Schülerinnen und Schü- Raab eindrucksvoll die von Ralph Giordano ler der Theatergruppe des Wirtschaftsgym- so genannte „zweite Schuld“ der Deutschen. SEIT 1999 WIRD IN HAMBURG AM 27. JANUAR DER LEN. JUNGE MENSCHEN DEUTSCHER, TÜRKISCHER, nasiums Gropiusring und der Gesamtschule Er weist anhand einer umfangreichen Doku- BERTINI-PREIS VERLIEHEN. SEIT 21 JAHREN BIETET AFGHANISCHER, GHANAISCHER, SYRISCHER ODER Steilshoop zu dem Stück inspiriert – die meis- mentenanalyse nach, dass viele Verbrechen DIE PREISVERLEIHUNG JUNGEN HAMBURGERIN- BOSNISCHER ABSTAMMUNG – KURZ: EIN QUER- ten der 18- bis 23-Jährigen stammten aus ungesühnt geblieben sind und dass ein be- NEN UND HAMBURGERN EIN FORUM, AUF DEM SIE SCHNITT DER HAMBURGER JUGEND, DIE SICH GEGEN dem Ausland. Das Theaterstück wurde in kur- trächtlicher Teil der Täter nicht verfolgt wurde. ANERKENNUNG UND ERMUTIGUNG FINDEN FÜR AUSGRENZUNG UND GEWALT UND FÜR EIN GLEICH- zer Zeit zu einem großen Erfolg und löste ein IHR ENGAGEMENT UND IHRE ZIVILCOURAGE. UNTER BERECHTIGTES MITEINANDER DER MENSCHEN IN beachtliches Echo, auch in den Medien, aus. DEN PREISTRÄGERINNEN UND PREISTRÄGERN WA- DIESER STADT EINSETZT. INSGESAMT 127 GRUPPEN 2004 REN SECHSTKLÄSSLER EBENSO WIE JUGENDLICHE UND EINZELPERSONEN WURDEN BIS HEUTE MIT DEM Der lange Faden der Hoffnung ARBEITSLOSE UND STUDIERENDE, SCHÜLERINNEN BERTINI-PREIS AUSGEZEICHNET. SIE HABEN SICH 2001 Katharina Schulz und Soja Derlein, Schülerin- UND SCHÜLER AUS STADTTEILSCHULEN, GYMNA- EINGEMISCHT UND SPUREN HINTERLASSEN. Kampagne gegen Rechts nen des Heisenberg-Gymnasiums, betreuten SIEN, BERUFSSCHULEN UND AUS SONDERSCHU- Tobias Fernau initiierte als Schulsprecher ein Besuchsprogramm für ehemalige Zwangs- DIE FOLGENDEN BEISPIELE ZEIGEN DAS SPEKTRUM der Integrierten Haupt- und Realschule arbeiter und lernten Tamara Nassonova ken- DER VIELFÄLTIGEN AKTIVITÄTEN, MIT DENEN HAM- Hegholt Aktionen gegen Rechtsextremismus nen. Sie erzählte ihnen über ihr schweres BURGER JUGENDLICHE HABEN AUFMERKEN LASSEN. in Bramfeld. Er veranstaltete in seiner Schu- Schicksal in Harburg in den Jahren 1942 bis 1998 le eine Podiumsdiskussion mit dem program- 1945 und von Johanna Günther, die unter Lebenszeugnisse aus dem KZ Sasel matischen Titel „Hegholt gegen Rechts“ und Gefahr für ihr eigenes Leben die Zwangs Unter diesem Titel veröffentlichten die Schü- organisierte eine Demonstration speziell für arbeiterinnen mit Essen versorgte. Die beiden lerinnen und Schüler aus dem Grundkurs die Bramfelder Schülerinnen und Schüler. Schülerinnen verfassten eine vielbeachtete Geschichte am Gymnasium Oberalster eine Als Termin wählte er mit dem 8. Mai 2001 Dokumentation zu dem Thema „Zwangsar- Broschüre, die auf den Lebenserinnerungen bewusst den Tag, an dem 56 Jahre zuvor beit“ und ließen eine Gedenktafel für Johan- von Madeleine Schulps beruht. Als eine der nationalsozialistischer Terror und Krieg been- na Günther auf dem Harburger Friedhof er- Holocaust-Überlebenden lebte sie zunächst det worden waren. Unter dem Motto: „Schü- richten. im Ghetto von Lodz, von dort wurde sie über ler für mehr Toleranz“ beteiligten sich mehr Auschwitz in das KZ Sasel deportiert. Die als 450 Jugendliche. Schülerinnen und Schüler übersetzten den 1999 2005 englischsprachigen Lebensbericht von Made- Erinnern an die weiße Rose „Seiner Unterwertigkeit wegen leine Schulps ins Deutsche, erläuterten und Frederic Wünsche, Schüler des Heisenberg- 2002 nicht tragbar“ kommentierten ihn und seinen geschichtli- Gymnasiums, schrieb eine Biografie über Ein Bus für Toleranz lautet der Titel der Dokumentation über chen Zusammenhang. Marie-Luise Schultze-Jahn, die als junge Stu- Um Jugendliche für Politik zu interessieren, Alfred – ein behindertes Kind, das 1938 dentin die Aktionen der Widerstandsgruppe konzipierten elf Mitglieder des Vereins „Ju- geboren und 1943 durch Gift getötet wurde. „Weiße Rose“ unterstützte. Schultze-Jahn ist gendinitiative Politik“ eine mobile Ausstel- Astrid Kleinwächter und Katja Ambos, beide Mitbegründerin der Stiftung Weiße Rose und lung: den „Future Bus“. Die 16 Tafeln der Schülerinnen des Heisenberg-Gymnasiums berichtete bis zu ihrem Tod am 22. Juni 2010 Ausstellung waren den Themen „Intoleranz“, in Harburg, waren 2005 in einer Ausstel- in Schulen und auf Gedenkveranstaltungen „Alltagsrassismus“ und „Rechtsextremismus“ lung zum Thema Euthanasie im Helms-Mu- FOTOS CARSTEN THUN über die Aktionen der Widerstandskämp- gewidmet. Der „Future Bus“ machte in zahl- seum auf das Schicksal Alfreds aufmerksam fer. Frederic Wünsche führte Interviews mit reichen Hamburger und schleswig-holstei- geworden. Sie beschlossen, Alfreds Leben Marie-Luise Schultze-Jahn und stellte die Er- nischen Schulen Halt, sein Team informierte nachzuzeichnen und aufzuschreiben. Es ent- gebnisse seiner Recherchen über die „Weiße und diskutierte über aktuelle Entwicklungen stand eine umfangreiche Darstellung der NS- Rose“ in einer informativen Dokumentation in rechts- wie auch in linksextremistischen Euthanasie-Politik, die das kurze Leben von zusammen. Szenen. Alfred schildert und zeigt, dass er keineswegs 22 ein Einzelschicksal war. 23
2006 2008 Kindermann, Schüler des Albert-Schweitzer- 2013 Aus der Reihe getanzt Wie Geschichte ein Gesicht bekommt Gymnasiums in Klein Borstel, beschäftigte Klischees und Erniedrigung: Die Facharbeit der beiden Schülerinnen des Florian Skupin und Sebastian Richter vom sich intensiv mit ihrer Biografie. Er erarbei- Auf den Spuren des Kolonialismus Heisenberg-Gymnasiums Nura Behjat und Alexander-von-Humboldt-G ymnasium tete ein Konzept für ein Hörspiel und nahm Die 20-jährige Abiturientin der Stadtteilschule Gesa Schwabe beschreibt die schweren Re- schrieben und verlegten gemeinsam mit an- es mit mehreren Sprechern in einem profes- Eidelstedt Jessica Köster begab sich auf die pressalien, denen die „Swing-Kids“ wegen deren Schülerinnen und Schülern ihrer Schu- sionellen Tonstudio auf. Es entstand eine CD Suche nach Spuren des Kolonialismus in ihrer Vorliebe für Swing und Jazz durch die le das Buch „Weitergelebt: Sieben jüdische mit didaktischem Material und Fragebogen Hamburg. Sie erstellte eine Dokumentation NS-Diktatur ausgesetzt waren. Zugleich war Schicksale“. Darin berichten jüdische Zeit- für den Schulunterricht. über den historischen Hintergrund und be- es das Anliegen der beiden Schülerinnen, auf zeugen, die den Holocaust überlebt haben schrieb in einem fiktiven Tagebuch die Reise das damalige Unrecht an Kindern und Ju- und heute in Israel zu Hause sind, über ihre des Kameruner Prinzen Samson Dido, der gendlichen aufmerksam zu machen. Schicksale. Beiden war das Thema so wichtig, 2011 1886 wie ein fremdartiges Tier in deutschen dass sie ein Unterrichtskonzept zum Buch Vom Leben und Sterben des Ernst Lossa Städten, darunter auch Hamburg, zur Schau entwickelten, das sie anderen Schulen zur Ernst Lossa wurde seiner Familie entrissen, in gestellt wurde. Der Prinz hatte sich vertrag- Verfügung stellten. Es regt an, sich intensiv die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee lich verpflichtet, mit einigen Familienange- mit den Berichten auseinanderzusetzen. Des eingewiesen und dort im Alter von 14 Jahren hörigen nach Deutschland zu reisen und die Weiteren gestalteten sie einen Abend im Har- Opfer der NS-Euthanasie. Der körperlich und Sitten und Gebräuche seiner Kultur in der so- burger Rieckhof mit vier Zeitzeugen. geistig gesunde Junge gehörte den Jenischen genannten „Völkerschau“ des Zoobetreibers an, einer süddeutschen Volksgruppe, die von Carl Hagenbeck darzustellen. „Sie wurden den Nazis verfolgt wurde. Sina Moslehi, als Halbwilde präsentiert, mussten Kunst 2009 Schüler des Heinrich-Heine-Gymnasiums, ar- stücke einstudieren und Kleidungsstücke tra- Romeo und Jasmin – Mord an der Ehre beitete sein Schicksal in einem eindrucksvol- gen, die mit ihrer Kultur überhaupt nichts zu Nach dem sogenannten Ehrenmord an der len Dokumentarfilm auf. tun hatten“, fand die engagierte Schülerin Bergedorfer Schülerin Morsal entschloss sich heraus. der Kurs „Darstellendes Spiel“ der dortigen Gesamtschule, nach den dahinterstehenden 2012 2007 Einstellungen und Überzeugungen zu fragen. Fabiola darf bleiben 2014 Die Anti-Mobbing-Website Die 17 Schülerinnen und Schüler, von denen Die 18-jährige Fabiola Cruz, ihre Mutter „Blutdruck“ – Ein Theaterstück Alexander Hemker wurde in seiner alten rund ein Drittel selbst einem muslimischen und ihre beiden Schwestern hielten sich seit Mit dem aktuellen Thema „Genmanipulati- Schule jahrelang von Mitschülern systema- Elternhaus entstammt, wagten sich an dieses Jahren illegal in Hamburg auf. Der gut inte on“ befassten sich 22 Oberstufenschülerinnen tisch gedemütigt. Bei Lehrkräften fand er wichtige Thema. Und kamen überein, ihre Fi- grierten Familie drohte die Abschiebung. Als und -schüler des Alexander-von-Humboldt- wenig Unterstützung. Er wurde krank. Erst guren nicht muslimisch oder westlich geprägt die angehende Abiturientin auf Facebook von Gymnasiums. In ihrem Theaterkurs schrie- nach einem Schulwechsel konnte Alexander auftreten zu lassen, sondern als Angehörige ihren Ängsten und ihrer Sehnsucht nach Frei- ben sie in Anlehnung an den Hollywood-Film Hemker wieder unbeschwert am Unterricht der unterschiedlichen kulturellen Gruppen heit berichtete, nahmen die 24 Schülerinnen „Gattaca“ ihr futuristisches Theaterstück teilnehmen. In seiner freien Zeit beschäftig- der „Rotfische“ und der „Blaufische“. und Schüler einer 12. Klasse der Max-Brauer- „Blutdruck“. Darin geht es um die Ausgren- te er sich weiter mit dem Thema „Mobbing“. Schule den Kampf um das Bleiberecht auf – zung vermeintlich minderwertiger Menschen. Weil er anderen Schülern in ähnlichen Situa- mit Erfolg. Als solche werden diejenigen angesehen, die tionen helfen wollte, richtete er eine Home- 2010 nicht im Reagenzglas nach den Wünschen der page gegen Mobbing ein, auf der betroffene Widerstand einer Lehrerin Eltern produziert, sondern auf natürliche Schüler, aber auch Lehrkräfte und Eltern Rat Yvonne Mewes unterrichtete während der Weise gezeugt wurden. Den Schülerinnen und und Hilfe finden. Seither gibt es die Seite: Nazi-Zeit als Lehrerin in Hamburger Schu- Schülern ist es mit ihrem Theaterstück gelun- www.schueler-gegen-mobbing.de len. Sie äußerte öffentlich ihre Ablehnung gen, auf die Gefahren der Genforschung und Sie wurde millionenfach aufgesucht. der NS-Ideologie und verweigerte die Mit- auf die Diskriminierung von Minderheiten gliedschaft in der NSDAP. Als die Schulbe- aufmerksam zu machen. hörde die Beamtin in der Kinderlandver- schickung einsetzen wollte, quittierte sie den Schuldienst. Dennoch wurde sie von zwei Schulverwaltungsbeamten bei der Gestapo denunziert. Die couragierte Frau starb 1945 24 im KZ Ravensbrück an Hungertyphus. Paul 25
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