Mein Pferd 03/2015: Titelthema "Die Welt in deinen Augen" - Interview mit Dr. Britta Schöffmann

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Mein Pferd 03/2015: Titelthema „Die Welt in deinen Augen“
– Interview mit Dr. Britta Schöffmann –

Mein Pferd: Wie entstehen Missverständnisse mit dem Pferd?
Dr. Britta Schöffmann:
Die meisten Missverständnisse entstehen meiner Meinung nach durch mangelndes
Wissen und mangelndes Können. Viele Menschen machen sich zu wenig Gedanken
darüber, wie ein Pferd tickt. Sie vermenschlichen es und versuchen, Gemeinsamkeiten
zwischen sich und ihrem Pferd zu entdeckten. Dabei täten sie besser daran, die
Unterschiedlichkeit zwischen Mensch und Pferd zu sehen und zu akzteptieren. Denn
Menschen und Pferde sind sehr unterschiedlich. Sie sehen anders, sie hören anders, sie
lernen anders und sie haben andere Bedürfnisse. Beim Reiten kommt obendrein noch
hinzu, dass es kaum einen komplexeren Sport gibt. Auf dem Pferderücken muss der
Mensch erst mal sich selbst körperlich und mental beherrschen können, bevor er
harmonisch und effektiv aufs Pferd einwirken und ihm womöglich auch noch etwa
beibringen kann.

Mein Pferd: Welche Folgen können dauerhaft ungelöste Misserverständnisse auf die
Beziehung zu meinem Pferd und meine Sicherheit haben?
Dr. Britta Schöffmann:
Ungelöste Missverständnisse können vielfältige Auswirkungen haben. Pferde als soziale
Lebewesen erwarten vom "Partner" Mensch eindeutige und nachvollziehbare Signale und
Anweisungen. Bleiben die aus, kann dies zu Verwirrung und zu Verunsicherung führen, zu
einer Verstärkung des Instinktverhaltens (z.B. Flucht) aber auch zu
Rangfolgeauseinandersetzungen oder sogar Aggressionsverhalten.

Mein Pferd: Warum sollte ich, sofern Haltung, Gesundheit und Equipment stimmen, den
Fehler immer zuerst bei mir suchen?
Dr. Britta Schöffmann:
Ganz einfach: Für ein Pferd gibt es kein falsch oder richtig. Es weiß ja nicht, dass es
beispielsweise an einer Ampelkreuzung sicherer wäre, ruhig stehen zu bleiben. Es weiß
nicht, dass Biegearbeit seinen Rücken kräftigt und beweglich macht und es auf lange Sicht
geraderichtet. Es weiß auch nicht, dass ein fliegender Galoppwechsel innerhalb nur einer
Phase gesprungen werden soll. Ein Pferd handelt immer gemäß seinem Instinkt und
gemäß dem, was wir ihm als Mensch beigebracht haben oder gerade beibringen. Es
spiegelt uns, unser Auftreten, unser Verhalten, unsere Stimmung, unser Timing und - beim
Reiten - unsere Hilfengebung wieder. Geschieht also ein "Fehler", muss ich mich immer
fragen: Was habe ich gerade (oder in der Vergangenheit) getan, dass mich das Pferd so
und nicht anders verstanden hat?

Mein Pferd: Ich gerate mit meinem Pferd in eine nicht zufriedenstellende Situation: Wie
sollte ich hier reagieren?
Dr. Britta Schöffmann:
Das ist nicht immer ganz einfach. Sicher gibt es auch bei Tieren Tage, an denen Sie
weniger Spaß an der Mitarbeit haben als an anderen. Ich würde hier aber statt "Lust" eher
den Begriff "Motivation" wählen. "Keine Lust haben" klingt so menschlich, so absichtlich,
so nach "Ich habe keine Lust zu arbeiten, ich bin heute mal faul". Motivation dagegen
entsteht durch das Tun an sich und die damit verbundenen angenehmen Reize und ist
Grundvoraussetzung für jegliches Lernen. Die Kunst der Arbeit mit dem Pferd besteht
darin, es bei Laune und damit motiviert zu halten. Das "Verstehen" gehört für mich absolut
dazu. Wenn ein Pferd gar nicht erst versteht, was es tun soll und der Mensch womöglich
verärgert reagiert, entsteht Verunsicherung beim Pferd. Warum sollte es also weiter
freudig und motiviert versuchen herauszufinden, was der Mensch von ihm will, wenn
sowieso nur Ärger oder gar Strafe drohen. Das vermeintlich lustlose oder sture Pferd
macht in solchen Momenten mit Vermeideverhalten also nur das, was wir ihm zuvor
vermittelt haben.

Mein Pferd: Wie sollte ich in einer solchen Situation nicht reagieren?
Dr. Britta Schöffmann:
Auf keinen Fall strafen oder das Gewünschte wieder und wieder verlangen. Angst vor
Strafe und/oder unzählige Wiederholungen machen meist alles schlechter statt besser und
nehmen dem Pferd die Freude an der (Mit)Arbeit.

Mein Pferd: Wie sollte ich in einer solchen Situation stattdessen reagieren?
Dr. Britta Schöffmann:
Je nach Situation (Fehler) ignorieren, Anforderung wiederholen und bei Gelingen loben.
Wenn's trotzdem nicht funktioniert, erst einmal etwas anderes verlangen - das macht bei
Mensch und Pferd den Kopf frei und bringt Entspannung - und dann später noch mal an
die gewünschte Aufgabe herangehen. Und wenn dann tatsächlich mal ein Tag dabei ist,
wo gar nichts richtig klappen will, einfach mal Fünf gerade sein lassen, Zügel lang und
eine gemütliche Runde im Gelände genießen. Morgen ist auch noch ein Tag. Immer.

Praxisbeispiel: Mein Pferd kommt auf der Koppel nicht zu mir, sondern bleibt lieber bei
seinen Kumpels. Mag es mich nicht? Verbringt es nicht gerne Zeit mit mir?
Dr. Britta Schöffmann:
Die Frage ist typisch menschlich und zeigt, wie Menschen Pferdeverhalten aus ihren
eigenen Gefühlsvorstellungen heraus interpretieren. Pferde sind Herdentiere, die den
Sozialkontakt zu Ihresgleichen brauchen. Das hat nichts mit mögen oder nicht mögen zu
tun, das ist ein elementares Grundbedürfnis des Pferdes. Individuell unterschiedlich ist
allerdings, wie stark der Herdentrieb ausgebildet ist. Der eine Pferdetyp hängt extrem an
Artgenossen, der andere ist selbstständiger und eventuell auch neugieriger. Auch die Art
der Bindungsfähigkeit zum Menschen ist von Pferd zu Pferd unterschiedlich. Im
Gegensatz zum eher distanzierten Typ genießt der eher anhängliche Typ menschliche
Zuwendungen ganz einfach mehr - aber auch dann kann sie kein Ersatz für Artgenossen
sein. Allerdings hat auch das Auftreten, die Ausstrahlung des Menschen einen Einfluss
darauf, ob ein Pferd auf Zuruf kommt oder folgt. Je mehr Führungsqualitäten der Mensch
aus Sicht des Pferdes aufweist - und ich meine damit nicht Dominanz, sondern Dinge wie
Souveränität, Verlässlichkeit, Freundschaft -, desto eher folgt das Pferd. Durch sichere
"Führung" im Alltag sowie durch gezieltes Training, gerne am Boden, lässt sich diese
Führungsqualität ausbauen. Trotzdem ersetzt aber auch das nicht den notwendigen
Sozialkontakt zu Artgenossen. Wenn ein Pferd also, trotz allem Trainings, lieber bei seinen
Kumpels auf der Wiese bleibt, statt wiehernd auf den Menschen zuzugaloppieren - nicht
überinterpretieren, sondern gegebenenfalls einfach akzeptieren. Wer das nicht möchte,
muss intensiv an sich selber und auch täglich und zeitlich intensiv mit einem Pferd
arbeiten. Von nix kommt nix.

Praxisbeispiel: Mein Pferd schnappt nach mir, wenn ich es mit Futter belohne – Ist das
der Dank?
Dr. Britta Schöffmann:
Auch dies ist wieder ein typisch menschlicher Gedanke. Der ethische Begriff der
Dankbarkeit lässt sich nicht so ohne weiteres auf ein Pferd übertragen. Futter bedeutet für
ein Pferd - so wie für jedes Lebewesen - zunächst einmal Überleben. Fressen ist ein
elementares Bedürfnis und kann deshalb auch bei der Ausbildung als echte Belohnung
eingesetzt werden. Allerdings gehört dazu ein genaues Timing des Belohnenden. Aber
gerade hier liegt meist das Problem. Viele Menschen neigen dazu, im falschen Moment
ein Leckerli zu geben, zum Beispiel wenn das Pferd scharrt oder - "wie süüüß" - den
Menschen anstupst oder in der Jackentasche nach Fressen sucht. Scharren ist aber
Betteln und Anstupsen ist die nächste, schon recht respektlose Aufforderung, quasi das
"Her mit dem Futter!!!". Eine Futterbelohnung fungiert lerntheoretisch im Sinne einer
"positiven Verstärkung". Der Mensch verstärkt damit das zuvor gezeigte Verhalten. In
diesem Beispiel also das Scharren bzw. das Stupsen. Das Pferd lernt: Wenn ich
scharre/stupse bekomme ich Nahrung. Im nächsten Schritt kann sich daraus - je nach
Charakter des Pferdes - sogar ein Schnappen also noch intensivere Aufforderung
entwickeln. Ein Pferd, das bei der Futterbelohnung schnappt, ist vom Menschen also
dahin erzogen worden.

Praxisbeispiel: Mein Pferd tobt sich mein Longieren und Laufenlassen aus und keilt
dabei über Distanz immer wieder in meine Richtung aus. Ist das Absicht? Möchte mich
mein Pferd verletzen?
Dr. Britta Schöffmann:
Wenn Pferde im Freilauf oder an der Longe zum Toben und Auskeilen neigen, wollen sie
dem Menschen im Allgemeinen nichts Böses, sondern leben lediglich ihren unerfüllten
Bewegungsdrang aus. Pferde brauchen aber Bewegung, viel Bewegung. Bei den meisten
heutigen Haltungsformen wird dies nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt. Tägliche
Arbeit (nicht nur 20 Minütchen ein wenig gemütlich herumjuckeln) ist genauso wichtig wie
täglich möglichst mehrstündiger Freilauf mit Artgenossen. Überschüssige Energie - die
dann meist gar nicht erst entsteht - kann auf der Weide im Spiel mit anderen ausgelebt
werden. Allerdings muss der Mensch trotzdem im Umgang am Boden immer Vorsicht
walten lassen. Pferde kommunizieren miteinander im Spiel oder bei
Rangfolgeauseinandersetzungen auf Augenhöhe - das heißt 600 Kilogramm
Lebendgewicht gegen 600 Kilogramm Lebendgewicht. Ein angedeutes Auskeilen oder ein
leichter Treffer sind da meist unkompliziert. Anders ist das, wenn das "Spielkamerad" nur
60 Kilo auf die Waage bringt. Das Einhalten von Sicherheitsregeln kann deshalb
lebensrettend sein.

Praxisbeispiel: Möchte ich beim Longieren das Tempo erhöhen, schiebt mein Pferd die
Hinterhand nach außen und bleibt mir zugewandt stehen. Ist es einfach nur faul?
Dr. Britta Schöffmann:
Nein, ein solches Verhalten hat nichts mit Faulheit zu tun sondern ist eine Reaktion des
Pferdes auf eine Aktion des Menschen. Je nach Körperhaltung und Position wirkt der
Longierende vortreibend, abbremsend oder ausbremsend ein. In der neutralen Position
befindet sich das Pferd genau zwischen Longe und Longierpeitsche, der Körper des
Longierers ist mittig. Zum Vortreiben verlagert er seine Position etwas Richtung
Hinterhand, gegebenenfalls unterstützt durch Anheben bzw. Schwenken der
Longierpeitsche, zum Tempo verlangsamen etwas Richtung Vorhand, unterstützt durch
Senken der Peitsche. Dabei kann er seinen Körper auch ein wenig in die entsprechende
Richtung (vorwärts bzw. verhaltend) drehen. Allein mit diesen körpersprachlichen
Ausdrucksmöglichkeiten lässt sich schon viel erreichen. Wichtig ist aber auch das Maß an
Energie, die der Mensch ausstrahlt. Ein Longierer, der sein Pferd übervorsichtig um ein
Mehr an Vorwärts bittet und dies auch in mangelnder Körperspannung und zögerlicher
Stimme vermittelt, wird keinen Erfolg haben, da ihn das Pferd nicht versteht. Auch hier gilt,
wie für jegliche Aktion im Umgang mit dem Pferd, sei es am Boden oder vom Sattel aus:
Alle Signale und Hilfen müssen klar und eindeutig und immer gleich (für das entsprechend
gewünschte Verhalten) sein, damit das Pferd sie zuordnen und entsprechend reagieren
kann. Ein Pferd ist immer ein Spiegel des Menschen.

Praxisbeispiel: Mein Pferd galoppiert aus dem Schritt ruhig an. Gebe ich die Galopphilfe
aus dem Trab, buckelt es kurz, bevor es in den Galopp fällt. Wo hakt es? Möchte es mich
abwerfen?
Dr. Britta Schöffmann:
Ein Pferd nimmt sich nicht vor: Ich möchte meinen Reiter beim Angaloppieren abwerfen!
Es reagiert auch hier wieder auf etwas, was der Reiter tut - oder nicht tut. Meist ist die
Hilfengebung nicht eindeutig oder sogar so falsch, dass sie dem Pferd die gewünschte
Reaktion - in diesem Fall das umgehende Angaloppieren - erschwert oder sie verhindert.
Manche Reiter neigen zum Beispiel dazu, das Trabtempo etwas zu erhöhen wenn sie
angaloppieren wollen. Dabei gerät das Pferd aber aus dem Gleichgewicht, kommt auf die
Vorhand und wird lang, seine Hinterhand arbeitet statt unter den Schwerpunkt nun nach
hinten heraus. Das Pferd kann so kaum korrekt in den Galopp gelangen. Wenn der Reiter
nun noch mit einem Wühlen seines Oberkörpers sowie mit Sporen und Gerte auf seinem
Wunsch nach Galopp besteht, ist es nur verständlich, wenn das Pferd mit einem kurzen
Buckler reagiert. Wie gesagt: es re-agiert auf den Reiter. Statt also zu denken: 'Das blöde
Pferd buckelt immer beim Angaloppieren' sollte sich der Reiter immer zunächst fragen:
Was mache ich in welchem Augenblick? Das Timing der Hilfengebung ist dabei genau so
wichtig wie die Hilfen an sich. Jeder Tempo- oder Gangartenwechsel muss mit einer
halben Parade - also dem Zusammenwirken von Hand, Kreuz und Schenkel – vorbereitet
werden. Im Falle des Angaloppierens verkürzt sich dadurch der Rahmen des Pferdes
minimal, es tritt mehr unter den Schwerpunkt und wird so in die Lage versetzt, ohne
Probleme unter dem Reiter in den Galopp zu springen.

Praxisbeispiel: Im Gelände erschrickt sich mein sonst gelassenes Pferd vor einer
Plastikbandabsperrung und lässt sich kaum noch kontrollieren. Auf dem Reitplatz hat es
keine Angst vor Flatterbändern – stellt es sich nur an oder vertraut es mir nicht?
Dr. Britta Schöffmann:
Es macht schon einen Unterschied, ob eine unheimliche oder vermeintlich bedrohliche
Situation im heimischen Umfeld oder in fremder Umgebung geschieht - wobei sogar
gerade auf dem eigenen Platz jede Veränderung vom Pferd oft besonders kritisch beäugt
wird. Wichtig ist, dass ich mit meinem Pferd zunächst im sicheren Umfeld, also zu Hause,
alle möglichen Situationen erarbeite und übe und sie dann erst auf unbekanntem Terrain
abfrage. Pferde sind in der Lage, Übungen, Lektionen und auch komplette Situationen zu
generalisieren und dann auch in fremder Umgebung abrufbar zu machen. Um hier jedoch
keine Rückschläge zu erleiden, muss das Training zu Hause aus zwei Teilen bestehen: 1.
Gewöhnung, 2. Einwirkung. Statt also zu Hause nur in perfekter Abgeschiedenheit, quasi
unter einer Käseglocke, zu reiten, sollten Pferde mit möglichst vielen Umweltreizen
häppchenweise nach und nach konfrontiert werden, bis diese kein Fluchtverhalten mehr
auslösen. Die jeweilige Einwirkung durch den Menschen, sei es am Boden oder vom
Sattel aus, ist dabei allerdings sehr wichtig. Konsequenz, Ruhe und Geduld statt Zwang
und Grobheit. Das Pferd muss lernen, den Menschen als souveräne Vertrauensperson, als
Freund und Beschützer zu akzeptieren und ihm zu folgen – nicht als jemanden, vor dem
es Angst haben muss. Zwar lassen sich auch durch Druck kurzfristige Erfolge
verzeichnen, doch sind sie meist nicht nachhaltig und meist sogar gefährlich, da das Pferd
jede Lücke eines solchen Systems (zum Beispiel einen 'schwächeren' Reiter) nutzen
würde und zu instinktiven Verhaltensweisen übergehen würde und dabei meist noch
unkontrollierbarer sein würde.

Praxisbeispiel: Möchte ich etwas Anlehnung und Aufrichtung abfragen, gibt mein Pferd
nur kurz im Genick nach, zieht mir nach wenigen Schritten die Zügel aus der Hand und
streckt sich vorwärts-abwärts. Sollte ich nur noch in Dehnungshaltung reiten?
Dr. Britta Schöffmann:
Ich frage Anlehnung nicht ab, ich erarbeite und erreiche Anlehnung. Das gilt auch für die
Vorwärts-Abwärts-Haltung, denn auch hier bleibt die weich-federnde Verbindung zwischen
Reiterhand und Pferdemaul - und nichts anderes ist Anlehnung - bestehen, nur eben
innerhalb eines weiteren Rahmens. Lediglich beim Reiten mit hingegebenem Zügel
besteht keine Anlehnung (deshalb auch die Bezeichnung "mit" und nicht "an"
hingegebenem Zügel). Wenn mein Pferd mir die Zügel aus der Hand zieht, dann hat es
vorher weder im Genick nachgegeben, noch war es in korrekter Aufrichtung. Denn zu
beidem gehört, ganz wichtig, die Selbsthaltung. Je geschlossener mein Pferd über
entsprechende Lektionen wie Übergänge und Biegearbeit von hinten nach vorn unter den
Schwerpunkt fußen kann, desto besser kann es sich in Selbsthaltung bewegen und desto
feiner wird dabei auch die Anlehnung, über die sich der Reiter mit ebenfalls immer feineren
Zügelhilfen seinem Pferd mitteilen kann. Das Vorwärts-Abwärts-Reiten selbst hat nichts
mit "Zügel aus der Hand ziehen" zu tun, sondern mit Dehnungsbereitschaft und dem
Herauskauen lassen. Die Bereitschaft, sich zu dehnen, sollte immer bestehen - aber das
Pferd dehnt sich, wenn ich es als Reiter zulasse, ans Gebiss heran und nicht auf oder
gegen das Gebiss. Reiten im Vorwärts-Abwärts-Dehnungshaltung ist Weg zur (beim
Lösen) und Überprüfung der Losgelassenheit (während der Arbeit, in der
Entspannungsphase), aber nicht Ziel. Denn wenn ein Pferd nur vorwärts-abwärts geritten
wird, kommt es mit der Zeit auf die Vorhand, "fällt auseinander" und belastet seine
Vorhand zu stark. Das Ziel ist die Erreichung und Verbesserung der Versammlung und
damit die Verbesserung der Durchlässigkeit.

Praxisbeispiel: Mein Pferd driftet in die Bahnmitte ab, wenn ich ein Schulterherein
abfragen möchte. Hat es keine Lust auf die Lektion?
Dr. Britta Schöffmann:
Ob eine Lektion gelingt oder nicht gelingt, ist keine Frage von Lust oder Unlust, sondern
von Verstehen und Können. Zunächst einmal muss ich mich als Reiter meinem Pferd so
klar und eindeutig mitteilen können, dass es begreift, was ich will und - in meinem Sinne -
richtig reagieren kann. Eine genaue Vorstellung von der Lektion sowie eine möglichst
perfekte Hilfengebung sind dafür Grundvoraussetzung. Driftet mein Pferd in die Bahnmitte
fehlt beim Schulterherein meist das stimmige Zusammenspiel zwischen innerem Schenkel
und äußerem Zügel. Meine Frage muss also - wieder einmal - lauten: Was mache ich
falsch? Und nicht: Was macht mein Pferd falsch? Außerdem muss ich wissen, was alles
eine Lektion ausmacht. Im Schulterherein zum Beispiel wird Längsbiegung auf drei
Hufschlaglinien entgegen der Bewegungsrichtung verlangt. Aber lässt sich mein Pferd
überhaupt stellen? Ohne Stellung gibt es aber keine Biegung. Ein sicheres
Schenkelweichen oder auch eine Vorhandwendung, beides Lektionen in Stellung, sollten
also klappen, bevor ich ein Schulterherein verlange. Im nächsten Schritt sollten Pferd und
Reiter in der Lage sein, kreisrunde Volten und Zirkel links und rechts herum zu
absolvieren, denn die gelingen nur, wenn die Reiterhilfen gut ineinander greifen und das
Pferd über diese Biegearbeit auf beiden Händen geschmeidiger wird. Erst wenn all das
klappt, kann ich als Reiter den Schritt zur nächst schwierigeren Lektion, hier also zum
Schulterherein, in Angriff nehmen. Gibt es dann immer noch Probleme, kann es helfen,
das Schulterherein treppenförmig zu reiten: Ein paar Tritte Schulterherein - dann zwei, drei
Tritte diagonal herausreiten - dann wieder ein paar Tritte (parallel zur langen Seite)
Schulterherein - dann wieder herausreiten usw. Auf diese Weise erlernt der Reiter ein
besseres Zusammenspiel seines inneren Schenkels und äußeren Zügels - und das Pferd
versteht ihn auf einmal.
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