Mutig etwas ausprobieren - Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. Er hat fünf ...

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                                                  3 | 2022

Mutig etwas ausprobieren
Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit
im Braunschweiger Land voranbringen. Er hat fünf strategische
Projekte definiert.
Mutig etwas ausprobieren - Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. Er hat fünf ...
Editorial

                                  Liebe Leserinnen und Leser,
                                  die Kirche ist nicht der Himmel auf Erden. Die Kirche lebt mitten in der Welt,
                                  ihren Krisen und Konflikten. Aber wenn es gutgeht, lässt sie den Himmel
                                  immer wieder hervorscheinen, weil sie einer anderen Logik folgt als die Welt.
                                  Es ist nicht die Logik von Macht und Gewalt, sondern die Logik von Frieden
                                  und Versöhnung. Denn die Kirche ist nicht nur eine Institution wie andere
                                  auch, sondern vor allem eine Gemeinschaft von Menschen, die dem Reich
                                  Gottes verpflichtet sind und die deshalb darauf setzen, dass Wendungen zum
                                  Guten möglich sind.

                                  Diese Wendungen wünschen wir uns sehnlich herbei. Denn lange war die
                                  Welt nicht so bedroht, wie in dieser Zeit. Vieles, was uns selbstverständlich
Foto: Klaus G. Kohn

                                  erschien, muss neu gewonnen werden: Demokratie und Freiheit, Frieden und
                                  Wohlstand, eine intakte Natur. Schon Corona war eine Bewährungsprobe,
                                  doch der Krieg Russlands gegen die Ukraine und dessen weltweite Folgen
                                  sind es noch mehr. Zukunftsängste greifen um sich und machen viele Her-
                                  zen unruhig.

                                  Deswegen reicht es nicht, die Kirchengebäude im Winter kaltfallen zu lassen
                                  oder gar zu schließen, um Energie und Kosten zu sparen. So sinnvoll das aus
                                  verschiedenen Gründen auch sein mag. Gerade in schweren Zeiten muss die
                                  Kirche ein Haus der offenen Tür sein, ein Ort der Zuwendung und des Trostes.
                                  Vor diesem Hintergrund planen die evangelische Kirche und ihre Diakonie
                                  zum Beispiel die Aktion #wärmewinter, um vor allem Menschen mit geringem
                                  Einkommen und in prekären Lebenssituationen zu unterstützen.

                                  Sie folgen damit dem biblischen Auftrag, in der Welt dem Reich Gottes Gestalt
                                  zu geben. Dabei begleitet sie die evangelische Publizistik, wie auch wieder
                                  mit dieser Ausgabe unseres Magazins. Sie erzählt von Menschen, die sich ihre
                                  Hoffnung auf Wendungen zum Guten nicht abtrotzen lassen. Eine Hoffnung,
                                  die der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann beim Kirchentag 1950 in
                                  Essen in die Worte fasste: „Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt!“

                                  Eine anregende Lektüre,
                                  Ihr

                                  Michael Strauß

                                  Impressum
                                  Herausgeber Pressestelle der Landeskirche Braunschweig I Redaktion Michael Strauß (mic) I Anschrift Dietrich-Bonhoeffer-
                                  Straße 1, 38300 Wolfenbüttel, Tel. 05331-802108, Fax 05331-802700, presse@lk-bs.de, www.landeskirche-braunschweig.de
                                  I Layout Dirk Riedstra | Druck MHD Druck und Service GmbH, 29320 Hermannsburg | Titelfoto: Klaus G. Kohn

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                                                          Foto: Dommuseum Hildesheim/Florian Monheim

                                                                                                                                        Foto: Diakonie/Thomas Meyer
                                                                                                                              14

                                                                                                                                                                                Foto: Harzer Tourismusverband/Annette Frank
                                                         Foto: Sabrina D. Seal

                16                                                                                                                                                    18
                             In dieser Ausgabe
4 Blickpunkt                                                                                           16 Hintergrund
   Islam in Europa 1000 bis 1250                                                                          Integration durch Sprache
   Eine Ausstellung zeigt den Austausch zwischen                                                          In Delligsen organisiert die Kirchengemeinde
   christlicher und islamischer Welt.                                                                     Sprachkurse für Geflüchtete aus der Ukraine.

8 Porträt                                                                                              18 Reportage
   Dienst am Nächsten                                                                                     Von Engeln umarmt
   Diakonie-Beauftragter Ekke Seifert kümmert sich                                                        Der Harzer Klosterwanderweg verbindet Orte
   um Hilfe für Menschen in Not.                                                                          zwischen Goslar und Quedlinburg.

10 Titelthema                                                                                          22 Geschichte
   Mutig etwas ausprobieren                                                                               Denker zwischen den Welten
   Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen                                                    Vom Sklaven zum Philosophie-Professor:
   Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen.                                                            der Afrikaner Anton Wilhelm Amo (1703-1759).

14 Interview                                                                                           26 Rezension
   Raus aus der Einsamkeit                                                                                Gemeinsam statt einsam
   Diakoniepräsident Ulrich Lilie unterstreicht im                                                        Johann Hinrich Claussen und Ulrich Lilie haben
   Interview die Bedeutung der Gemeinschaft.                                                              ein Buch über die Einsamkeit geschrieben.

                                                                                                                   3 | 2022                                                |3
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Blickpunkt

                                              Foto: Dommuseum Hildesheim/Florian Monheim
Islam in Europa
1000 bis 1250
Den kulturellen Austausch zwischen der
islamischen und der christlichen Welt im
Mittelalter zeigt eine neue Ausstellung
im Dommuseum Hildesheim. Sie prä-
sentiert 94 seltene und hochkarätige
Kunstwerke aus Regionen, die vom Islam
geprägt waren und in verschiedenen Kir-
chenschätzen sowie staatlichen Museen
europaweit zu finden sind.
Leihgaben stammen aus Florenz, Lon-
don, Paris und Wien. Zu sehen sind kost-
bare Bergkristalllgefäße, Seidenstoffe,
Elfenbeinschnitzereien und Überset-
zungen wissenschaftlicher Literatur aus
Cordoba, Palermo Kairo oder Konstan-
tinopel, entstanden in den Jahren 1000
bis 1250.
Wie der Kurator der Ausstellung, Dr.
Felix Prinz, gegenüber unserem Magazin
betonte, handele es sich bei den Expona-
ten nicht um Beutekunst, die im Zuge der
Kreuzzüge (1095-1291) in den Westen
gelangte. Es seien insbesondere Stücke
aus Handel und Wissenschaft.
Die Ausstellung ist bis zum 12. Februar
2023 im Dommuseum Hildesheim zu
sehen. Neben deutschen Erläuterungen
enthält sie Texte in englischer, arabischer
und türkischer Sprache. Ein Begleitpro-
gramm bietet Führungen und Vorträge.
Das Foto zeigt eine Senmurven-Aqua-
manile, ein Gefäß zur Handwaschung
bei liturgischen Handlungen. Senmurven
sind Fabelwesen aus der altiranischen
Mythologie. Sie verbinden den Kopf eines
Drachen mit dem Schwanz eines Pfaus.

www.dommuseum-hildesheim.de

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    2022 Evangelische Perspektiven || 5
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Nachrichten

               Elsbeth Strohm 100                                                                     Nothilfe mit Augenmaß
                               Sensei – so bezeichnen Japaner Menschen,                                               Angesichts des anhaltenden russi-
                               die für sie ein Vorbild sind. Für die Menschen                                         schen Angriffskriegs auf die Ukraine
                               in Kamagasaki, einem sozialen Brennpunkt                                               hat sich der braunschweigische Lan-
                               in Osaka (Japan), war Elsbeth Strohm ein                                               desbischof Christoph Meyns gegen

                                                                                Foto: Klaus G. Kohn
                               solches Vorbild. Sie wirkte 30 Jahre als Mis-                                          einen „radikalen Pazifismus“ ausge-
Foto: Privat

                               sionarin in der Japan Evangelical Lutheran                                             sprochen. Dieser lasse Aggressoren
                               Church, eine der fünf Partnerkirchen der                                               freie Hand und verweigere die not-
               Landeskirche Braunschweig. In diesem Jahr feierte die                                  wendige Pflicht des Staates, seine Bürger vor Gewalt
               ehemalige Mitarbeiterin der Landeskirche Braunschweig                                  und Tod zu schützen, sagte der evangelische Theo-
               ihren 100. Geburtstag. Zwar lebt sie seit ihrem Ruhestand                              loge am 19. August dem Evangelischen Pressedienst
               in Kitzingen, im Braunschweiger Land erinnern sich aber                                (epd). Aus christlicher Perspektive sei die Beteili-
               noch viele an sie und ihr langjähriges Wirken.                                         gung an Verteidigungsmaßnahmen als „ultima ratio“
               Sie half den Menschen, die am Rand der Gesellschaft                                    zu rechtfertigen. „Sie sind Ausdruck konkreter Not-
               stehen: Arbeitslosen, Tagelöhnern und Alkoholkranken.                                  hilfe für den Nächsten.“
               In dem Problemstadtteil Kamagasaki baute Strohm ein                                    Welche Maßnahmen angemessen seien, um einer
               Baby-Center zur Tagesbetreuung von Kleinstkindern auf                                  kriegerischen Aggression mit militärischen Mitteln zu
               und machte es damit jungen, oft alleinerziehenden Müt-                                 begegnen und Gewalt einzudämmen, müsse sorgfäl-
               tern möglich, einer Arbeit nachzugehen und Geld zu ver-                                tig abgewogen werden, unterstrich Meyns im Zusam-
               dienen. Für die Suchtkranken der Stadt richtete Strohm-                                menhang mit einer Diskussion zum Krieg in der Ukra-
               Sensei eine Beratungsstelle ein, um sie mit medizinischer                              ine. „Eine Gegenreaktion muss stets im Blick haben,
               und psychosozialer Hilfe unterstützen zu können. Das Haus                              dass sie das Ausmaß von Tod und Zerstörung weiter
               erhielt den Namen „Kibo no ie“, übersetzt „Haus der Hoff-                              verstärken kann.“
               nung und Freude“. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil                                Der Krieg führe die Politik in ein Dilemma, das nicht
               der missionarischen Arbeit Strohms war auch die Partner-                               zu lösen sei, ohne Schuld auf sich zu laden, sagte der
               schaftsarbeit zwischen der Landeskirche Braunschweig                                   Landesbischof. „Liefert man Waffen, werden damit
               mit der Partnerkirche in Japan. Die Partnerschaft besteht                              Menschen getötet. Liefert man keine Waffen, wer-
               bereits seit über 50 Jahren.                                                           den andere Menschen getötet.“
               Ihre Arbeit wirkt bis heute nach. Sowohl das Baby-Center,                              Auch wenn es notwendig werden könne, militärische
               dass jetzt eine Tagesstätte zur Betreuung von Schulkindern                             Mittel einzusetzen, um „Leib und Leben“ zu verteidigen,
               und heranwachsenden jungen Menschen mit Behinderung                                    müsse die Kirche sich vor allem daran beteiligen, Wege
               geworden ist, als auch die Beratungsstelle für Suchtkranke                             zum Frieden zu suchen, forderte der Theologe. Jeder
               bestehen fort und werden durch einen Pfarrer der Partner-                              Christ könne für sich persönlich Gewalt ablehnen und
               kirche verantwortet. Auch wird der „Arbeitskreis Japan in                              Leid erdulden, unterstrich Meyns. „Aus Verantwortung
               der Landeskirche in Braunschweig“ weitergeführt, der auf                               für Andere kann aber die Anwendung militärischer Mit-
               Anregung von Elsbeth Strohm im September 1986 gegrün-                                  tel ethisch geboten sein.“ Der Kirche gehe es darum,
               det wurde und den sie auch während ihres Ruhestands                                    „ausdauernd für den Frieden zu beten“ und sich den
               noch für einige Zeit leitete. 			                         |sea                         Menschen seelsorgerlich zuzuwenden.		               |epd

               Neue Förderrichtlinie
                                          Eine neue Richtlinie beschreibt die Voraussetzungen für die Förderung von Erprobungs-
                                          räumen und Multiprofessionellen Teams in der Landeskirche Braunschweig. Auf dieser
                                          Grundlage können Kirchengemeinden, Kirchengemeindeverbände und Propsteien Anträge
                                          stellen. Die Richtlinie ist zum 1. Juli 2022 in Kraft getreten. Sie ist in der Rechtssammlung
                                          online nachzulesen unter RS 126. Außerdem erläutert ein Schaubild die Förderprogramme.
                                          Es findet sich auf den landeskirchlichen Internetseiten zum Zukunftsprozess.
                                          Mit einer Fördersumme von insgesamt 3,7 Millionen Euro soll die Arbeit in den Kirchen-
               gemeinden und Propsteien durch neue Maßnahmen verbessert und erneuert werden. Die Landessynode hat bei
               ihrer Tagung am 7. Mai 2022 die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass in „Erprobungsräumen“ Pfarrerinnen und
               Pfarrer von Beschäftigten aus weiteren Berufsgruppen unterstützt werden können. Außerdem sollen neue Projekte
               sowie die Bildung multiprofessioneller Teams ermöglicht werden.

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Mutig etwas ausprobieren - Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. Er hat fünf ...
Kirchen helfen in Energiekrise                                                                            Grenzen überwinden
                                                                                                          Mit einem Festgottesdienst im Braunschweiger Dom hat die
                                                                                                          Landeskirche Braunschweig ihre Partnerschaftsjubiläen mit
                                                                                                          der Tamil Evangelical-Lutheran Church in India (50 Jahre) und
                                                                                                          der Evangelical-Lutheran Church in Namiba (25 Jahre) gefei-
                                                                                                          ert. In den Gebeten wurde deutlich, wofür die Kirchen gemein-
                                                                                                          sam eintreten: Pfarrer Dr. Thomas Kennedy Santhanatham aus
                                                                                                          Indien betete für die Gleichberechtigung der Frau und für die
                                                                                                          Würde jedes Menschen, gleich welcher geschlechtlichen Iden-
                                                                                                          tität. Moderatorin Pfarrerin Hilja Nghaangluwa Hamukwaya aus
                                                                                                          Namibia widmete sich dem Frieden in der Welt. Als Gratulant aus
                                                                                                          der Japan Evangelical Lutheran Church (JELC) betete Präsident
                                                                                                          George Joji Oshiba um die Verständigung und das Miteinander
                                                                                                          zwischen den Religionen.
                                                   Foto: epd-bild/Heike Lyding
                                                                                                          Landesbischof Dr. Christoph Meyns betonte in seiner Predigt,
                                                                                                          Christen seien Brückenbauer, die die Gräben und Distanzen in
                                                                                                          dieser Welt zu überwinden suchen. Das sei ihr Auftrag: „Sie leben
                                                                                                          in der Gegenwart aus dieser Zukunftsvision und praktizieren über
                                                                                                          alle Unterschiede hinweg Gemeinschaft.“ Oberlandeskirchenrat
Wenn es kalt wird, wollen die Kirchen mit Wärme-                                                          Thomas Hofer, Leiter des Ökumene-Referates im Landeskirchen-
stuben helfen.                                                                                            amt, hatte die Gäste aus den Partnerkirchen willkommen geheißen.

Angesichts steigender Lebenshaltungskosten
durch den Krieg in der Ukraine wollen die nie-
dersächsischen Kirchen ihr Engagement gegen
Hunger und Armut verstärken. Insbesondere
wollen sie Mehreinnahmen bei der Kirchen-
steuer, die durch die Energiepreispauschale
entstehen, vollständig den Menschen zugute-
kommen lassen, die in Not geraten. So heißt es
in einer gemeinsamen Erklärung der evange-
lischen und katholischen Bischöfe und Leiten-
den Geistlichen in Niedersachsen und Bremen
vom 24. August.
Geplant sind unter anderem zusätzliche Bera-
tungsangebote, Wärmestuben und Lernräume
                                                                                 Foto: Jörg Heidenreich

für Kinder und Jugendliche sowie eine weiter-
gehende Unterstützung der Tafeln. Jetzt sei die
Zeit, um miteinander in Solidarität die Lasten
zu tragen, sagte Landesbischof Dr. Christoph
                                                                                                          Mit einer Tagung und einem Gottesdienst würdigte die Landeskirche
Meyns in Wolfenbüttel: „Als Kirche stehen wir
                                                                                                          ihre ökumenischen Partnerschaften.
an der Seite der Schwachen!“
In der Erklärung betonen die Kirchen außer-                                                               Bei einer Tagung im Vorfeld war deutlich geworden, dass die Part-
dem, dass sie selber nachhaltig wirtschaften                                                              nerschaften durch den Austausch leben. So kommen jedes Jahr
und ihren Energieverbrauch senken wollen. So                                                              Jugendliche aus Namibia nach Deutschland und Jugendliche aus
soll in den kirchlichen Gebäuden die Tempe-                                                               Deutschland besuchen Namibia. Zu Indien wird die Partnerschaft
ratur gesenkt und die Beleuchtung reduziert                                                               durch Gemeindepartnerschaften getragen. Bei den Besuchen ste-
werden. Sie sollen aber für Gottesdienst und                                                              hen Themen im Vordergrund, die besonders drängend sind: zum
Gebet geöffnet bleiben. Bei allen Maßnahmen                                                               Beispiel Diskriminierung, der Umgang mit Minderheiten oder die
wollen die Kirchen ökumenisch zusammenar-                                                                 diakonische Verantwortung für Bedürftige und Schwache. Neue
beiten und auch mit anderen zivilgesellschaft-                                                            Chancen entdeckten die Teilnehmenden in der Digitalisierung. Sie
lichen Gruppen kooperieren.                                                                               könne den direkten und zeitnahen Austausch befördern, hieß es.

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Mutig etwas ausprobieren - Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. Er hat fünf ...
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Die Armutsbekämpfung besonders im Blick: Ekke Seifert.

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Mutig etwas ausprobieren - Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. Er hat fünf ...
Porträt

Dienst am Nächsten
Als Diakonie-Beauftragter geht es Ekke Seifert um konkrete Hilfe für
Menschen in Not. Sein besonderes Augenmerk gilt der Armutsbekämpfung,
speziell bei Kindern.

C
            orona-Pandemie, Krieg in der Ukraine und          Werk der Landeskirche Braunschweig. In der Stabsstelle
            nun die hohe Inflation – inzwischen jagt          Grundsatzfragen erlebte er mit, wie das Werk Teil der
            eine Krise die nächste. Dort, wo Menschen         Diakonie in Niedersachsen wurde.
            unter den Krisenfolgen leiden, ist die Diako-
            nie aktiv. Qualitäten eines Krisenmanagers
muss auch Ekke Seifert mitbringen. Der 44-Jährige ist                   „Inflation und Energiekrise
seit dem 1. Juli Beauftragter für die Diakonie in Braun-
schweig und Vechelde. Er folgt auf Norbert Velten, der
                                                                          treiben viele Menschen
in den Ruhestand gegangen ist. Von Velten hat Seifert                        in finanzielle Nöte.“
auch die Geschäftsführung der Hospiz Braunschweig
gGmbH übernommen, die er gemeinsam mit Petra Gott-
sand wahrnimmt.
  Weil Ekke Seifert seit 2017 auch Prokurist der Diakonie       2011 wurde Ekke Seifert Beauftragter für Diakonie und
im Braunschweiger Land ist, sind ihm sein neuer Wir-          Leiter des Hauses der Diakonie Helmstedt: „Anfangs hat-
kungsbereich und die Akteure bereits bestens vertraut.        ten wir dort drei Mitarbeitende, und die Zukunft war sehr
„Diakonie, also der Dienst am Nächsten, ist ein wichtiges     ungewiss.“ In Folge des „Arabischen Frühlings“ kamen
Bindeglied zwischen Kirche und Gesellschaft“, betont          verstärkt Menschen, die aus Afrika und dem Mittelmeer-
Seifert. „Das finde ich sehr reizvoll. Unsere Arbeit bleibt   raum geflohen waren. Durch Migrations- und Integra-
nie abstrakt, ist immer konkret und geprägt durch Praxis      tionsangebote wuchs die Kreisstelle auf ein gutes Dut-
und Erfahrung.“ Sein besonderes Augenmerk liegt auf           zend Mitarbeitende. Jetzt in Braunschweig kann Seifert
Armutsbekämpfung, speziell bei Kindern. „Armut wird           auf etwa 25 Diakonie-Mitarbeitende zählen, quer über
auch mit höheren Regelsätzen bekämpft“, weiß der Dia-         das Stadtgebiet verteilt.
konie-Beauftragte. Aber ebenso entscheidend sei es,             Ob in Schulen oder Beratungsstellen, die Bedarfe
soziale Teilhabe und Eigenständigkeit zu ermöglichen.         und Nöte der Menschen werden größer. „Inflation und
  Geboren im katholischen Münster/Westfalen, wuchs            Energiekrise treiben viele Menschen in finanzielle
Ekke Seifert im Emsland auf. Wieder in Münster folgte         Nöte“, warnt Ekke Seifert. Davon zeuge der wachsende
ein Studium der Politik- und Wirtschaftswissenschaft          Ansturm auf die Tafel. Eine weitere Herausforderung sei
sowie der Geschichte, inklusive eines Austauschauf-           die baldige Fertigstellung eines Tageshospizes mit acht
enthalts in Manchester. „Meine erste Berufsstation war        Plätzen als Ergänzung zum Hospiz „Am Hohen Tore“.
dann 2006 als wissenschaftlicher Assistent an einer Ber-        Wie kann der 44-Jährige, der inzwischen mit Frau und
liner Akademie“, erinnert sich Seifert. Als seine Frau,       zwei Töchtern in Wolfenbüttel lebt, bei alldem am besten
Pfarrerin Ina Naumann-Seifert, im Jahre 2009 in Off-          abschalten? „Zum Beispiel bei der Jagd“, lacht Seifert,
leben bei Helmstedt ihre erste Pfarrstelle antrat, ging       und beim Gassigehen mit seinem Dackel, der gerade
er mit. Seifert selbst fand eine Stelle im Diakonischen       zum Jagdhund ausgebildet wird.                | Michael Siano

                                                                            3 | 2022                                   |9
Mutig etwas ausprobieren - Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. Er hat fünf ...
Titelthema

Mutig etwas
ausprobieren
Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im
Braunschweiger Land voranbringen. Ein erster Beteiligungsprozess schafft
dafür die Voraussetzungen. Er hat fünf strategische Projekte definiert.
Mit der Gewinnung neuer Fachleute geht es um die Entlastung der
Pfarrerinnen und Pfarrer – und um mehr Kooperation auf vielen Ebenen.

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Titelthema

                      L
                                ange verstand sich die Kirche als Fels in der
                                Brandung, der dem Zeitenlauf trotzt. Doch
                                mit dem gesellschaftlichen Umfeld verän-
                                dert sich auch sie. Heute erinnert die Kirche
                                an ein Schiff im Sturm: Abnehmende Mitglie-
                      derzahlen, sinkende Steuereinnahmen, neue digitale
                      Kommunikationsformen und Traditionsabbrüche erfor-
                      dern Kursänderungen. Hinzu kommen Sparzwänge und
                      die Notwendigkeit, Stellen abzubauen. Ob bei Pfarr-
                      oder Erzieherinnenstellen, auch der Fachkräftemangel
                      wirkt sich immer heftiger aus.
                        „Alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann“,
                      beschreibt Landesbischof Dr. Christoph Meyns die Lage
                      in der Landeskirche Braunschweig. „Fast alle Kirchen-
                      gemeinden sind mit Strukturprozessen beschäftigt und
                      haben Fusionen hinter sich.“ Als er sein Amt 2014 antrat,
                      zählte die Landeskirche rund 400 Kirchengemeinden.
                      Derzeit sind es noch 299. Und schon bald seien es nur
                      noch um die 250, prognostiziert Dr. Meyns.
                        Die Entwicklung sei dynamisch und komplex. Sie
                      dürfe nicht nur auf die Landeskirche als Institution
                      verengt werden. „Ich möchte lieber vom kirchlichen
                      Leben sprechen“, betont der Landesbischof. Dieses
                      umfasse mehrere Dimensionen: Glaubensgemein-
                      schaft, Lebensgemeinschaft, aber natürlich auch die
                      Organisation. Meyns ist überzeugt: Ein geplanter Wan-
                      del der kirchlichen Arbeit ist nötig.

                            „Der Zukunftsprozess ist kein
                        strukturelles, sondern ein spirituell
                               getriebenes Projekt.“
                        Vor diesem Hintergrund hat die Landeskirche Braun-
                      schweig unter maßgeblicher Initiative des Landesbi-
                      schofs einen Zukunftsprozess aufgelegt. Unter dem
                      Titel „Lebendige Kirche 2030. Auf dem Weg zu einem
                      geplanten Wandel der kirchlichen Arbeit im Braun-
                      schweiger Land“ wurde ein Papier mit Denkanstö-
                      ßen zur künftigen Ausrichtung der kirchlichen Arbeit
                      verfasst. Auf dieser Grundlage ist ein erster Beteili-
Foto: Klaus G. Kohn

                      gungsprozess entstanden, der auf den Internetseiten
                      der Landeskirche dokumentiert ist und nachgelesen
                      werden kann.

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Foto: Klaus G. Kohn

                                         Evelyn Samwer (l.) und Anke Grewe beim Zukunftstag in Braunschweig.

 „Wir brauchen                    „Dieser Prozess hat Energien freigesetzt“, resümiert Dr. Lothar Stempin. Der Ruhe-
                                standspfarrer begleitete den Zukunftsprozess knapp dreieinhalb Jahre lang als externer
mehr Mut, etwas                 Berater und Prozesskoordinator. Anfangs habe er häufiger Widerstand und Verweigerung
                                gespürt, erinnert sich Stempin. „Inzwischen bin ich sehr angetan und erfreut, dass sich
auszuprobieren.                 so viele kirchliche Mitarbeitende für diesen Prozess engagieren.“
                                  Während die formale Entscheidungsebene bei der Kirchenregierung und der Landes-
Und da darf auch                synode liegt, bedarf es der Impulse und Ideen aus den kirchlichen und diakonischen
                                Gruppen und Einrichtungen in der Landeskirche, von Haupt- und Ehrenamtlichen glei-
                                chermaßen. „Die Prozess- und Entscheidungsebene parallel zu bewegen, ist das große
    mal was                     Kunststück“, meint Stempin. „Dieser Zukunftsprozess ist kein strukturelles, sondern
                                ein spirituell getriebenes Projekt.“ Ein Rückgriff auf „alte Erfahrungen und Denkmus-
  schiefgehen.“                 ter“ werde dabei nicht ausreichen.
                                  Auch Anke Grewe, Geschäftsführerin der Diakonie im Braunschweiger Land, ist sich
                                sicher: „Wir brauchen mehr Mut, etwas auszuprobieren. Und da darf auch mal was schief-
                                gehen.“ Kirchengemeinden und Diakonie müssten wieder enger zusammenfinden – und
                                könnten zum Beispiel im Hinblick auf die Spezialseelsorge Synergien nutzen. Spannend
                                findet die Diakonie-Chefin ihr Mitwirken in der Arbeitsgruppe „Seelsorgerliche Kirche
                                und Diakonie“.
                                  Eine Idee dahinter: mehr Seelsorgeangebote in diakonischen Einrichtungen oder auch
                                besondere Predigtreihen. Diakonische Einrichtungen seien dicht dran an den Proble-
                                men der Menschen, in der Stadt oft mehr als in den Dörfern. Grewe: „Daher müssen wir
                                die ländlichen Räume verstärkt in den Blick nehmen.“ Ob Corona oder Energiekrise: „In
                                der Not kommen auch Menschen zu uns, die sonst mit der Kirche nichts am Hut haben.“
                                  Das Projekt „Seelsorgerliche Kirche und Diakonie“ ist eines von ursprünglich vier stra-
                                tegischen Projekten, die konkret aus dem Zukunftsprozess resultieren. Weitere Projekte
                                sind „Geistliches Leben und Theologie“, „Erprobungsräume“ und „Netzwerkorientierte
                                Zusammenarbeit in der Kirche“. Als fünftes Projekt kam das „Ehrenamt“ hinzu. Arbeits-
                                gruppen sind dabei, die Projektideen mit Leben und Angeboten zu füllen. Mittlerweile
                                gibt es auch eine Förderrichtlinie für Projekte sowie ein Antragsformular, ebenfalls auf
                                der Website der Landeskirche. Immerhin steht eine Fördersumme von insgesamt 3,7
                                Millionen Euro zur Verfügung.

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Recht konkret sind bereits die Lösungs-
               ansätze des Projekts „Netzwerkorien-
               tierte Zusammenarbeit in der Kirche“.
               Hierzu hat die Landessynode beschlos-
               sen, Erprobungsräume einzurichten. Das
               neue Konzept sieht vor, für zunächst zwei
               Jahre Teams aus Fachleuten, sogenannte
               multiprofessionelle Teams, in die kirch-
               liche Arbeit einzubinden. „Wir erhoffen
               uns eine Ergänzung und Entlastung der
               Pfarrerinnen und Pfarrer sowie eine Pro-
               fessionalisierung bestimmter Bereiche“,
               erläuterte Pröpstin Meike Bräuer-Ehgart
               bei der Vorstellung des Vorhabens für ihre
               Propstei Gandersheim-Seesen. Diese
               zusätzlichen Profis sollen sich zum Bei-
               spiel in den Bereichen Geschäftsführung,
               Gemeindeverwaltung, Projekt- und Ver-
               anstaltungsmanagement, Bau und Finan-
               zen oder auch Diakonie einbringen.
                  „Diesen Ansatz finde ich richtig gut, da
                                                                  Foto: Klaus G. Kohn

               eröffnen sich Perspektiven“, meint Pfar-
               rer Olaf Schäper aus Hornburg. „Denn
               wenn immer weniger Personen im Pfarr-
               dienst aktiv sind, gleichzeitig die Umwelt                               Netzwerke bilden ist die Losung der Stunde.
               aber immer komplexer wird, müssen wir
               eine Antwort auf die Frage finden, was der
               Pfarrdienst noch leisten kann und soll.“
                  Schäper selbst ist in der Arbeitsgruppe
               „Geistliches Leben und Theologie“ aktiv.
               Auch er beobachtet einen Relevanzver-
               lust der Kirche. „Die Selbstverständlich-
               keit, von der wir Jahrhunderte profitiert
               haben, ist weg.“ Dabei sei eigentlich alles
               da, um gesellschaftlich relevant zu blei-
               ben: eine packende Botschaft, eine funk-
Foto: Privat

               tionierende Infrastruktur und viele moti-
               vierte Ehrenamtliche. Pfarrer Schäper:
               „Was wir aber noch besser hinbekommen
               müssen, ist die Einbindung aller Kirchen-
               vorstände in den Zukunftsprozess.“ Diese
               Gremien seien die entscheidenden Stell-
               schrauben für den Prozess. „Die müssen
               wir mitnehmen.“
                  Pfarrer i.R. Lothar Stempin, der die Pro-
               zessbegleitung inzwischen an Steven
               Burek als hauptamtlichen Projektkoordi-
               nator übergeben hat, sagt: „Wir müssen zu
               dem Zukunftsprozess noch breiter einla-
                                                                  Foto: Klaus G. Kohn

               den: Lektoren, Prädikanten, Kita-Mitar-
               beitende und viele, viele mehr…“ Letzt-
               lich gehe es um eine gesellschaftliche und
               kulturelle Dimension.            | Michael Siano                         Ein wichtiges Ziel: Kirche und Diakonie wieder stärker verknüpfen.

                                                                                                                     3 | 2022                                | 13
Raus aus
der Einsamkeit
Der Mensch ist ein soziales Wesen und
braucht Gemeinschaft wie die Luft zum
Atmen, sagt Ulrich Lilie (Berlin), Prä-
sident der Diakonie Deutschland. Im
Interview mit dem Evangelischen Pres-
sedienst (epd) warnt er, Einsamkeit sei
für die Gesundheit ein genauso star-
ker Risikofaktor wie Fettleibigkeit oder
Rauchen.

                                                         Das Thema Einsamkeit sollte als gesellschaftliche Querschnitts-
                                                         aufgabe koordiniert werden, sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie.

Evangelischer Pressedienst: Herr Lilie, warum ist das    sich bislang für immun hielten – quer durch alle gesell-
Thema Einsamkeit für Sie wichtig?                        schaftlichen Schichten.
Diakoniepräsident Ulrich Lilie: In der Pandemie mit
Lockdown und Kontaktbeschränkungen haben viele           Es gibt Menschen, die das Alleinsein suchen und als
Menschen Erfahrungen mit Einsamkeit gemacht, die         Bereicherung empfinden. Aber die Zahl derjenigen, die
                                                         ungewollt in Isolation und Einsamkeit stürzen, wächst
                                                         massiv. Woran liegt das?
 Ulrich Lilie                                            Ja, in nahezu allen Altersgruppen gibt es immer mehr
                                                         Menschen, die alleine leben. Die Bindekraft von gemein-
 Pfarrer Ulrich Lilie (65) ist seit 2014 Präsident der   schaftsstiftenden Institutionen lässt nach. Nicht nur Kir-
 Diakonie Deutschland, stellvertretender Vorstands-      chengemeinden, sondern auch Parteien, Gewerkschaf-
 vorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie      ten oder Vereine haben Schwierigkeiten, Menschen zu
 und Entwicklung und seit 2021 Präsident der Bundes-     halten. Es gibt einen Trend zur Individualisierung in
 arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege         unserer medialen Massengesellschaft, der nicht rück-
 (BAGFW). Von 2011 bis 2014 war er Theologischer         gängig gemacht werden kann. Das ist durchaus gut, weil
 Vorstand der Graf Recke Stiftung Düsseldorf. Bis        es dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, viel auszuprobie-
 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhaus-        ren. Auf der anderen Seite ist der Mensch ein soziales
 seelsorger und Gemeindepfarrer mit dem Zusatzauf-       Wesen und braucht Zugehörigkeit und Gemeinschaft wie
 trag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evange-     die Luft zum Atmen. Wir brauchen nährende und schüt-
 lischen Krankenhaus. Vier Jahre versah er außerdem      zende Beziehungen, um leben zu können.
 das Amt des Superintendenten des Evangelischen
 Kirchenkreises Düsseldorfs.                             Wenn die Gemeinschaft so wichtig ist, was sind die Fol-
                                                         gen ungewollter Einsamkeit?
                                                         Wir wissen aus der Stress- und Gehirnforschung, dass

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Interview

                                                                                              ausfinden. Wir brauchen eine abgestimmte Strategie
                                                                                              und einen langen Atem. Es hilft weder ein Beauftragter
                                                                                              gegen Einsamkeit noch hilft es, Einsamkeit pauschal zur
                                                                                              Krankheit der Moderne zu erklären und von einer neuen
                                                                                              Seuche zu sprechen. Es gibt bereits viele interessante
                                                                                              Initiativen und Ideen. Die gilt es jetzt zu beforschen, zu
                                                                                              fördern und gut zu vernetzen.

                                                                                              Experten sagen, Einsamkeit muss nicht zwangsläufig
                                                                                              und aus heiterem Himmel entstehen, sondern baut sich
                                                                                              nach und nach auf. Wer darin geübt ist, Kontakte aufzu-
                                                                                              bauen, könnte besser geschützt sein, oder?
                                                                                              Aber viele Menschen haben nach einem langen Tag
                                                                                              schlicht nicht mehr die Kraft, ihre eigenen Sozialkontakte
                                                                                              zu pflegen – wie beispielsweise Alleinerziehende, die sich
                                                                                              um ihre Kinder und um die Arbeit kümmern. Und es gibt
                                                                                              auch noch andere Einflussfaktoren. So deutet vieles dar-
                                                                                              auf hin, dass Langzeitarbeitslosigkeit, Einsamkeit und ein
                                                            Foto: epd-bild/Christian Ditsch   Krankheitsrisiko eng zusammenhängen.

                                                                                              Wie lässt sich gegensteuern?
                                                                                              Wir sollten alle Betroffenen ermutigen, ihre Einsamkeit
                                                                                              zu thematisieren. Wohlfahrtsverbände wie die Diako-
                                                                                              nie, die Telefonseelsorge, Vereine, Kirchen oder kommu-
                                                                                              nale Einrichtungen können hier viel tun. Das Programm
                                                                                              „1.000 Bänke für Bremen“ ist ein schönes Beispiel. Dabei
                                                                                              geht es um Ruhebänke, die älteren Menschen durch ihre
                                                                                              besondere Sitzhöhe sowie Armlehnen gute Gelegen-
                                                                                              heiten für eine Pause bieten. So können sie sich länger
unfreiwilliges Alleinsein als extremer Stress erlebt wird                                     draußen aufhalten, sich ausruhen, auf alte Bekannte
und auf die gleichen Zentren wirkt wie das Schmerzemp-                                        und neue Personen treffen. Kurz: Es geht immer darum,
finden. Einsamkeit ist für die Gesundheit ein genauso                                         Begegnungen und Gespräche zu ermöglichen. Kirchen-
starker Risikofaktor wie etwa Fettleibigkeit oder dauer-                                      gemeinden und diakonische Einrichtungen können dabei
haftes Rauchen. Gleichzeitig ist es ein erheblicher Risi-                                     eine wichtige Rolle spielen.
kofaktor in der psychischen Entwicklung. Wer alleine
lebt, erkrankt viel eher an einer Depression oder an                                          Haben Sie konkrete Vorschläge?
Schizophrenie. Bei älteren Leuten steigt die Gefahr                                           Es ist sinnvoll und wichtig, viele Akteurinnen und
für Demenzerkrankungen. Manche sagen, „ich mach’                                              Akteure aus der Zivilgesellschaft zusammenzubrin-
Sudoku“. Doch das ist eben nicht das Richtige. Es geht                                        gen. Nachbarschaftscafés, Patenschaftsmodelle oder
vielmehr darum, lebendige Kontakte mit anderen zu                                             Besuchsdienste sind hilfreich. Aber es geht auch um eine
haben, sich auszutauschen und etwas mit anderen zu                                            intelligente Stadtplanung und Quartiersgestaltung. Wo
unternehmen.                                                                                  Menschen leben und wohnen, muss es lebendige, grüne
                                                                                              und attraktive Begegnungsorte geben, an denen Men-
2018 wurde in Großbritannien ein Einsamkeitsminis-                                            schen etwas zusammen unternehmen können. Warum
terium gegründet. Können wir davon lernen, brauchen                                           bauen wir keine öffentlichen Freibäder in die Citys, in
wir das auch?                                                                                 denen heute oft leere Kaufhausruinen stehen? Wir könn-
Das Thema Einsamkeit sollte als gesellschaftliche Quer-                                       ten Volkshochschulen oder Stadtbibliotheken zu attrak-
schnittsaufgabe ressortübergreifend und über ein brei-                                        tiven Aufenthaltsorten weiterentwickeln. Es geht also
tes zivilgesellschaftliches Netzwerk gut koordiniert                                          auch um eine umsichtige Entwicklung unserer Städte
angepackt werden. Das Wohnungsbauministerium ist                                              und Dörfer. Diakonie und Kirche verstehe ich dabei als
dabei genauso gefragt wie das Sport-, Innen-, Familien-                                       gute Partner, weil sie schon über viele solcher Orte und
oder Gesundheitsministerium. Für eine wirksame Stra-                                          Netzwerke verfügen.
tegie müssen wir alle aus der Tortenstück-Logik her-                                                                               Das Interview führte Dieter Sell.

                                                                                                          3 | 2022                                          | 15
Integration durch
Sprache
Viele Kirchengemeinden im Braunschweiger Land unterstützen Menschen,
die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind. In Delligsen organisiert die
Kirchengemeinde zum Beispiel Sprachkurse für Geflüchtete sowie
parallel dazu eine Kinderbetreuung.

  Susanne Wedemeier hält ein Geldstück in die             sen angekommen. Um ihnen den Start in ihr neues Leben
Luft. „Was ist das?“, fragt sie die Teilnehmenden ihres   zu erleichtern, hat die Kirchengemeinde in Kooperation
Deutschkurses. „Die Münze“, antworten die ukraini-        mit der Kreisvolkshochschule Holzminden und dem Fle-
schen Frauen im Chor. Auf der Flucht vor dem Krieg in     cken Delligsen einen Sprachkurs „Deutsch als Fremd-
ihrem Heimatland sind sie im niedersächsischen Dellig-    sprache“ organisiert.

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Hintergrund

                                           An drei Tagen in der Woche können die                                 Hier wird unter anderem das Vorgehen für
                                         Ukrainerinnen sechs Wochen lang im                                      die geflüchteten Menschen in Delligsen
                                         Evangelischen Familienzentrum in Dellig-                                abgestimmt, und die Helfenden werden
                                         sen kostenfrei Deutsch lernen. Das Beson-                               vernetzt. „Wir haben uns größere Szena-
                                         dere: Während des Sprachkurses wird im                                  rien vorgestellt. Wie 2015, als große Busse
                                         Raum gegenüber eine Kinderbetreuung                                     in Delligsen ankamen“, sagt Schillert.
                                         angeboten. Das ist vor allem für die Mütter,
                                         die den Sprachkurs besuchen, eine große
                                         Hilfe. Noch kann nicht jedes Kind in einer
                                         regulären Betreuung untergebracht wer-
                                         den. Grund seien unter anderem fehlende
                                         Impfungen gegen Kinderkrankheiten, die
                                         in Deutschland verpflichtend sind für die
                                         Aufnahme in den Kindergarten.
                                           Neben engagierten Ehrenamtlichen
                                         sind bei der Kinderbetreuung im Fami-

                                                                                         Foto: Sabrina D. Seal
                                         lienzentrum auch zwei sogenannte
                                         Sprachmittlerinnen angestellt. Sie kön-
                                         nen sich professionell um die Kinder
                                         kümmern. Das sei vor allem dann nötig,                                  Im Familienzentrum: Carsten Schillert.
                                         wenn die Kinder Auffälligkeiten in ihrem
                                         Verhalten zeigen. „Die Kinder haben die                                    Das sei diesmal nicht der Fall gewesen.
                                         Bilder vom Krieg in ihrer Heimat noch vor                               Viele Geflüchtete seien mit eigenen Autos
                                         Augen“, sagt Carsten Schillert, Kirchen-                                angereist, die meisten aus Charkiw. „Die
                 Foto: Sabrina D. Seal

                                         vorstandsvorsitzender der Kirchenge-                                    Frauen aus der Ukraine stehen mit bei-
                                         meinde in Delligsen. So kommt es auch                                   den Beinen im Leben, sind gut vernetzt
                                         vor, dass sich ein Kind während des                                     und sehr selbstständig. Daher bieten wir
                                         Unterrichts in den Raum schleicht und                                   hier im Familienzentrum vor allem Hilfe
                                         auf den Schoß der Mutter klettert. „Die                                 zur Selbsthilfe an“, sagt Schillert.
                                         Mama ist die Bezugsperson, die das Kind                                    So stünden den Ukrainerinnen die
                                         hier in der Fremde hat.“                                                Räume im Familienzentrum zur eigen-
                                           Gestört fühlt sich dadurch niemand.                                   ständigen Nutzung zur Verfügung. Hier
                                         „Nächstenliebe ist das allerwichtigste.                                 können sie sich zum Beispiel zu Spiele-
                                         Wenn wir uns nicht gegenseitig unter-                                   abenden treffen oder auch in der großen
 „Die Kinder                             stützen, hat alles keinen Sinn“, sagt                                   Küche gemeinsam Speisen aus ihrer Hei-
                                         Susanne Wedemeier. Sie ist Coach für                                    mat zubereiten. Außerdem sei es gelun-
 haben die                               Deutsch als Fremdsprache und unter-
                                         richtet die Frauen im Evangelischen
                                                                                                                 gen, in den Freibädern in der Umgebung
                                                                                                                 freien Eintritt für die Geflüchteten zu
                                         Familienzentrum, mittlerweile bereits                                   organisieren.
 Bilder vom                              den zweiten Kurs. Dieser wird von der                                      Anlässlich des Unabhängigkeitstages
                                         Evangelischen Erwachsenenbildung                                        der Ukraine hat das Aktionsbündnis „Del-
Krieg in ihrer                           Niedersachsen finanziert. Sie ist stolz                                 ligsen hilft“, zu dem auch die Kirchenge-
                                         auf die Fortschritte der Teilnehmenden:                                 meinde, das Evangelische Familienzen-
Heimat noch                              „Am Anfang haben wir uns mithilfe einer
                                         Übersetzungs-App und auch auf Englisch
                                                                                                                 trum und viele Ehrenamtliche gehören,
                                                                                                                 ein großes Fest veranstaltet. „Alt- und
                                         verständigt. Jetzt stellen die Frauen ihre                              Neubürger“ trafen sich auf dem Außen-
vor Augen.“                              Fragen schon oft auf Deutsch.“                                          gelände der Kirchengemeinde. Während
                                           Kurz nach dem Beginn des russischen                                   des Festes konnten Spenden in Höhe von
                                         Angriffskriegs auf die Ukraine wurde eine                               rund 600 Euro gesammelt werden. Die-
                                         Lenkungsgruppe von Bürgermeister Ste-                                   ses Geld fließt in die Ukraine-Hilfe in
                                         phan Willudda gegründet. Carsten Schil-                                 Delligsen und unterstützt so die weitere
                                         lert ist bei den wöchentlichen Treffen im                               Integration der neuen Mitbürgerinnen
                                         Familienzentrum von Anfang an dabei.                                    und Mitbürger. 		               | Sabrina D. Seal

                                                                                        3 | 2022                                                            | 17
Von Engeln
umarmt
Der Harzer Klosterwanderweg führt über 95
Kilometer am Nordrand des Mittelgebirges
entlang und verbindet zahlreiche Kirchen
und Klöster. Zwischen Goslar und Quedlin-
burg suchen Menschen beim Pilgern Erho-
lung für Geist und Seele.

   „Das Pilgern beginnt beim Packen“, findet Axel
Lundbeck, der mit seiner Frau Claudia seit zehn Jahren Gruppen
                                                                        Foto: Harzer Tourismusverband/Annette Frank

auf dem Klosterwanderweg begleitet. „Damit, sich Gedanken dar-
über zu machen, was man im Leben braucht und was nicht.“ Denn
jedes Teil, das im Rucksack landet, muss getragen werden.
   Der Klosterwanderweg trifft einen Zeitgeist. „Die Erfahrungen
der letzten Jahre zeigen, dass spiritueller Tourismus an Bedeutung
gewinnt“, sagt Melanie Krilleke von der Abteilung Klöster des Harzer
Tourismusverbandes. Viele Menschen sehnen sich nach Ruhe und
Klarheit, zudem war die Corona-Pandemie, in der lange Zeit keine
Fernreisen möglich waren, für viele Menschen der Anstoß, Urlaub
im eigenen Land zu machen und die landschaftlichen und kulturel-
len Besonderheiten der Region neu zu entdecken.
   „Die Dichte an kulturellen Orten, die abwechslungsreiche und viel-
fältige Landschaft, der relativ leichte Weg ohne große Steigungen                                                     Pilgern ist immer auch
und nicht zuletzt die Hoffnung auf Einkehr in den Kirchen und Klös-
tern – das spricht viele Menschen an“, erläutert Melanie Krilleke die                                                 eine Reise zu sich selbst
Gründe, warum der Klosterwanderweg so beliebt ist.
   Denn wie an einer Perlenschnur reihen sich Kirchen und Klöster
aneinander, darunter Neuwerk in Goslar, Grauhof, Wöltingerode,
                                                                                                                             und eine
Ilsenburg, Drübeck, Michaelstein, Wendhusen und Gernrode mit
dem Heiligen Grab. Sie sind jahrhundertealte Zeugen der Geschichte                                                      Beziehungspflege
und faszinieren mit ihrer Kultur und Spiritualität, der Atmosphäre
stiller Klosterräume, mit duftenden Gärten und einzigartiger Archi-                                                   zwischen Gott und den
tektur.
   Kaum jemand kennt die Wege zwischen den Kirchen und Klöstern
so gut wie Claudia und Axel Lundbeck, fast 40 Mal waren sie hier
                                                                                                                            Menschen.
unterwegs, schätzen sie. Sie sind überzeugt, dass Pilgern mehr als
nur eine Modeerscheinung ist. „Es bietet etwas, was vielen Men-

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Reportage

schen wichtig ist: Natur, Bewegung und Spiritualität.“ Pil-
gern sei immer auch eine Reise zu sich selbst und eine
Beziehungspflege zwischen Gott und den Menschen.
Dabei ist der Weg wichtiger als das Ziel, das Unterwegs-
sein wichtiger als das Ankommen – Pilgern ist eine ganz-
heitliche Bewegungskur für Leib und Seele.
  Die Menschen, die sich Claudia und Axel Lundbeck
                                                              Foto: Harzer Tourismusverband/Melanie Krilleke

anschließen haben eine ganz individuelle Beziehung zur
Religion. Während einige christlich geprägt sind, haben
andere keinen Bezug zur Kirche oder wollen auf diesem
Weg ihren Glauben neu entdecken. Unterwegs wechseln
sich Gesprächs- und Schweigephasen ab, zwischendrin
wird immer wieder gesungen und es gibt Impulse zum
Nachdenken. „Wir gestalten sie bewusst niedrigschwellig,
um die Teilnehmenden an ihrem Stand des Glaubens abzu-
holen. Das kann ein Fluss sein, an dem über den Lauf des

                                                                                                               3 | 2022         | 19
tinformation zwischen Ilsenburg und Drübeck das erste
                                                                                                                         Stück des Klosterwanderweges, nach und nach wurde er
                                                                                                                         bis Thale, dann nach Quedlinburg und Goslar erweitert.
                                                                                                                         Betreut wurde er vom Verein Harzer Klostersommer, der
                                                                                                                         seit 2019 eine eigene Abteilung des Harzer Tourismus-
                                                                                                                         verbandes ist. Als Geschäftsführerin koordiniert Melanie
                                                                                                                         Krilleke dort die Zusammenarbeit der zahlreichen Part-
                                                                                                                         ner entlang des Weges: Gastronomie, Touristinformati-
                                                                                                                         onen, Klöster und Gemeinden.
                                                                                                                           „Wir arbeiten verstärkt daran, mehr Übernachtungs-

                                                       Foto: Harzer Tourismusverband/Melanie Krilleke
                                                                                                                         möglichkeiten zu schaffen“, sagt Melanie Krilleke, viele
                                                                                                                         Orte seien nicht auf die Bedürfnisse der Pilger nach einer
                                                                                                                         einfachen und günstigen Unterkunft für eine Nacht ein-
                                                                                                                         gerichtet. Mit verschiedenen Projekten versucht sie
                                                                                                                         zudem, den Weg bekannter zu machen. So wird er im
                                                                                                                         nächsten Jahr Teil eines internationalen Projektes sein,
                                                                                                                         bei dem Kinder und Jugendliche die religiösen Stätten
                                                                                                                         ihrer Heimat besser kennenlernen sollen.
                                                                                                                           Als bald nach der Einrichtung des Weges sowohl die
Orientierung auf dem Harzer Klosterwanderweg mit dem
                                                                                                                         Tourismusfachleute als auch die Kirche an Lundbecks
Ehepaar Lundbeck (links).
                                                                                                                         herantraten, hatten sie schon einige Erfahrung im Pil-
                                                                                                                         gern, trotzdem absolvierten sie eine Ausbildung als Pil-
                                                                                                                         gerbegleiter. Schnell entstand die Idee der Engelsbänke,
                                                                                                                         heute stehen 19 entlang des Weges. „Bänke laden die
                                                                                                                         Wanderer ein, Rast zu machen und Engel sprechen auch
                                                                                                                         Menschen an, die keinen Bezug zum Glauben haben“,
                                                                                                                         sind Lundbecks überzeugt.

                                                                                                                            „Wer sich auf eine der Bänke setzt,
                                                                                                                          wird von einem Engel umarmt, er gibt
                                                                                                                                 dem Rastenden Flügel.“
                                                                           Foto: Harzer Tourismusverband/Annette Frank

                                                                                                                           „Wer sich auf eine der Bänke setzt, wird von einem
                                                                                                                         Engel umarmt, er gibt dem Rastenden Flügel.“ Die in
                                                                                                                         Handarbeit liebevoll und individuell erstellten Bänke
                                                                                                                         sind zudem mit einem Bibelvers und einem QR-Code
                                                                                                                         mit Informationen zum Weg und Ort versehen.
                                                                                                                           Anders als der Jakobsweg oder der Loccum-Volken-
                                                                                                                         röder Weg hat der Harzer Klosterwanderweg keine Tra-
Engelsbänke bieten Rast auf dem Weg.                                                                                     dition als Pilgerweg. „Zum Pilgern braucht man keine
                                                                                                                         besonderen Wege“, meinen Claudia und Axel Lundbeck.
Lebens nachgedacht wird“, erklärt Claudia Lundbeck.                                                                      Zudem führt der Weg auf den Spuren des historischen
Dabei ist ihnen auch wichtig, den Ort wahrzunehmen,                                                                      Hellweges, der zwischen dem Rhein und der Elbe ent-
an dem die Gruppe sich aufhält. So ist die innerdeut-                                                                    lang der nördlichen deutschen Mittelgebirgsschwelle
sche Grenze, die die Menschen und auch die christli-                                                                     führte. „Das Wegesystem haben neben Fernhandels-
chen Gemeinden im Harz über Jahrzehnte geprägt hat,                                                                      kaufleuten mit Sicherheit im Mittelalter auch Pilger
immer ein Thema. Dafür nutzen sie auch Kontakte zu den                                                                   genutzt“, sind sie überzeugt.
Gemeinden entlang des Weges, die die Gruppen gerne                                                                         Kann man Pilgern lernen? „Muss man nicht“, ist
mit Kaffee und Kuchen verpflegen und von sich erzäh-                                                                     Claudia Lundbeck überzeugt. „Einfach loslaufen und
len. 2005 entstand auf Initiative der Ilsenburger Touris-                                                                machen!“				                                  | Meike Buck

3 | 2022                                | 20
Nachgefragt

                     „Welche
                     Chancen hat die
                     Kirche im
                     Rundfunk?“
                     Eine Antwort von Oliver Vorwald, Radiopastor für
                     die Evangelische Kirche im NDR.

                       Wir schaffen Nähe – morgens, mittags und abends. Mit Andachten
                     (auf Hoch- und Plattdeutsch), Musikbeiträgen, Magazinsendungen und Got-
                     tesdiensten begleiten wir als „Evangelische Kirche im NDR“ auf den Radio-
                     wellen des NDR täglich bis zu 2,5 Millionen Menschen. Wer als Pastor kann
                     schon von sich sagen, beim Aufstehen, auf dem Weg zur Arbeit und in die
                     Nacht mit dabei zu sein?
                       Allein die drei Sendereihen auf NDR1 Niedersachsen erreichen jeden Werk-
                     tag mehr als eine Million Hörerinnen und Hörer. Hinzu kommen Formate im
Foto: Jens Schulze

                     Fernsehen wie „Das Wort zu Sonntag“ oder die „Klosterküche“ (Das Erste, N3).
                       Die christlichen Verkündigungsbeiträge im öffentlich-rechtlichen Rundfunk
                     sind eine wichtige Ausdrucksform für die Kommunikation des Evangeliums.
                     Umso mehr, da wir in einer Zeit leben, wo vielerorts der Sonntagsgottesdienst
                     nicht mehr der zentrale Versammlungsort der Gemeinde ist, die Teilnahme
                     am schulischen Religionsunterricht zurückgeht und die Weitergabe des Evan-
                     geliums im Familienkreis abbricht.
                       Radio und Fernsehen sind die Kontaktflächen, über welche die allermeisten
                     Menschen religiösen Inhalten begegnen. Hinzu kommen das Internet und die
                     Social Media-Plattformen (insbesondere für die unter 30-Jährigen). Kom-
                     mentare, Likes, Hörernachrichten zeigen: Gemeinde bildet sich auch „On Air“
                     und im Internet.
                       Eine besondere Stärke der „Evangelischen Kirche im NDR“, unserer 16 Mit-
                     arbeitenden und der fast 500 freien Autorinnen und Autoren, ist ihre Sprache.
                     Sie erreicht und berührt auch jene Menschen, die den Kirchen fernstehen oder
                     die sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnen.
                       Träger der „Evangelischen Kirche im NDR“ ist das Evangelische Rundfunk-
                     referat e.V. der norddeutschen Landes- und Freikirchen, darunter auch die
                     Landeskirche Braunschweig. In ihrem Auftrag füllen wir seit 1949 die Sen-
                     deplätze, die den Kirchen durch den NDR-Staatsvertrag eingeräumt werden.

                     www.radiokirche.de

                                                                  3 | 2022                           | 21
Denker
                                                                                 zwischen den
                       Abbildung: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

                                                                                 Welten
                                                                                 U
                                                                                               nter der Rubrik „Taufen“ steht im Kirchenbuch der
                                                                                               Wolfenbütteler Schlosskirche, dass am 29. Juli 1708
                                                                                               „ein kleiner mohr“ in der Kapelle von Schloss Salz-
                                                                                               dahlum in Anwesenheit der „Hochfürstlichen Herr-
Als Sklave verschleppt und                                                                     schaft“ getauft und „Anthon Wilhelm genannt“ wurde.
gefördert vom Wolfenbütteler                                                     Dieser kleine Junge war damals ungefähr sieben Jahre alt. Er hatte
                                                                                 zu diesem Zeitpunkt schon eine sehr weite und gefährliche Reise
Herzog wurde der „Hofmohr“                                                       von Westafrika nach Europa hinter sich.
Anton Wilhelm Amo                                                                  Heute steht zweifelsfrei fest, dass dieser afrikanische Junge
                                                                                 nicht freiwillig nach Wolfenbüttel gekommen war, sondern sei-
(1703 – 1759) zum ersten                                                         ner Familie in Axim im heutigen Ghana gewaltsam entrissen und
afrodeutschen Philosophen.                                                       per Schiff als Sklave nach Europa verschleppt wurde. Die denk-
                                                                                 würdige Geschichte dieses Jungen aus Ghana gehört folglich in
Mit seinem Aufstieg durch                                                        den größeren Kontext des Sklavenhandels, eines der schlimms-
Bildung kann er für heutige                                                      ten und opferreichsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte.
                                                                                   Etwa zwanzig Jahre später schrieb sich Anton Wilhelm Amo als
Menschen mit Migrationshin-                                                      Student der Philosophie in die Matrikel der Universität Halle ein.
tergrund eine Art Vorbild sein.                                                  Es folgte eine glänzende Karriere als produktiver, renommierter
                                                                                 Gelehrter und bei den Studenten beliebter Privatdozent an den
                                                                                 Universitäten Halle, Wittenberg und Jena. Obwohl Amo keines-
                                                                                 wegs, wie vielfach behauptet, die Ritterakademie in Wolfenbüt-
                                                                                 tel oder die Universität Helmstedt besuchte, hat er in den Jahren

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Geschichte

dazwischen am Wolfenbütteler Hof eine sehr gründliche
Ausbildung in den sprachlichen und wissenschaftlichen
Fächern erhalten.
  Amos Alma Mater Halle zählte im frühen 18. Jahrhun-
dert zu den fortschrittlichsten Universitäten im deutsch-
sprachigen Raum. Im Geiste der früheren Professoren
und bedeutenden Aufklärer Christian Thomasius und
Christian Wolff kam er dort mit dem Denken der Frühauf-
klärung in Berührung. Gefördert von den Wolfenbütteler
Herzögen und seinem Hallenser Mentor Johann Peter
von Ludewig konnte der „erste schwarze Philosoph in
Deutschland“ seine Interessen voll ausbilden und in
selbst verfassten philosophischen Werken die eigene
                                                            Foto: Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel

philosophische Ausrichtung finden.
  Mit zwei überlieferten lateinischen Traktaten ging Amo
als erster schwarzer Zunftgelehrter in die Philosophie-
geschichte ein. In seiner Inauguraldissertation von 1734

               Für einige gilt
            Anton Wilhelm Amo
     als Vordenker von Antirassismus
          und Antikolonialismus.                                                                                Dokument mit der Unterschrift Anton Wilhelm Amos.

über die „Unempfindlichkeit der menschlichen Seele“                                                               Bisher noch nicht bekannt ist, dass Amo neben seinen
konstatiert Amo eine strikte Trennung von Körper und                                                            lateinischen auch deutsche Werke verfasste. Er kann
Geist und setzt sich explizit von René Descartes ab. Der                                                        damit nicht nur als erster afrodeutscher Philosoph, son-
Geist des Menschen ist immer frei, auch wenn sein Kör-                                                          dern auch als erster schwarzer Dichter deutscher Zunge
per verletzt oder gefangen gesetzt werden kann.                                                                 gelten. Die Stuttgarter Forscherin Monika Firla hat zwei
  In einem weiteren Text „Über das Recht der Mohren                                                             deutschsprachige Gedichte aus der Feder von Amo ent-
in Europa“, der bezeichnenderweise nicht überliefert                                                            deckt, mit denen er zum ersten schwarzen Literaten
ist, setzt sich Amo für die Rechte schwarzer Menschen                                                           wurde, dessen Gedichte in Deutschland gedruckt wurden.
ein. Für einige Aktivisten gilt er damit sogar als „Vor-                                                          Im Titel eines Glückwunschgedichts auf den Geburts-
denker von Antirassismus und Antikolonialismus“. Fest                                                           tag seines fürstlichen Gönners Herzog August Wilhelm
steht, dass Amo sich mit seinen philosophischen Wer-                                                            von Braunschweig-Wolfenbüttel von 1729 bezeich-
ken ein vollkommen eigenständiges Profil bildete und                                                            net sich Amo selbst als „herzoglicher Bibliothekar und
so zu einem Denker „zwischen den Welten“ und zu einem                                                           Sekretär“. Ob damit die herzogliche Bibliothek in Wol-
Philosophen „ohne festen Wohnsitz“ wurde (Ottfried                                                              fenbüttel, also die Herzog August Bibliothek gemeint ist,
Höffe).                                                                                                         könnten weitere Nachforschungen zeigen. In einem wei-

                                                                                                                           3 | 2022                                 | 23
Foto: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek
Porträt einer jungen Dame von Anton Wilhelm Amo.

teren Gedicht für seinen jüdischen Freund Moses Abra-    zöge Anton Ulrich und August Wilhelm eine besondere
ham Wolff macht Amo keinerlei „Unterschiede zwischen     Affinität für Menschen schwarzer Hautfarbe hatten.
Christen und Juden“ (Monika Firla).                        In den Romanen und Singspielen des bedeutenden
  Doch damit nicht genug, der vielseitig begabte Afro-   Barockautors Herzog Anton Ulrich treten mehrfach
deutsche hat sich auch als exzellenter Künstler und      Äthiopier und Äthiopierinnen auf, die als sagenumwo-
Zeichner hervorgetan. In der Thüringer Universitäts-     bene Urchristen als besonders edelmütig und tugend-
und Landesbibliothek Jena wird ein Stammbuch aufbe-      haft galten. Wie die Quellen im Niedersächsischen Lan-
wahrt, in das Amo das kunstvolle Porträt einer jungen    desarchiv Wolfenbüttel zeigen, wirkten im Zeitraum von
Dame mit Schnupftabakdose zeichnete.                     1570 bis 1750 mehr als 40 Menschen afrikanischer Her-
  Mit seiner besonderen Biographie bildet Amo unter      kunft als Bedienstete, Kammerdiener oder Musiker am
den „Hofmohren“ der Frühen Neuzeit zweifellos eine       Wolfenbütteler Hof.
Ausnahme. Die Wolfenbütteler Herzöge ermöglichten          Aufs Ganze ergibt sich ein zwiespältiges Bild: Mit
ihm einen beispiellosen Aufstieg – vom aus Afrika ver-   ihrer Vorliebe für farbige Menschen waren die Wel-
schleppten Sklaven und späteren Wolfenbütteler Kam-      fenherzöge einerseits Teil des Rassismus sowie des
merdiener zum angesehenen Hochschuldozenten an           grausamen Systems des Menschenhandels, anderer-
mehreren deutschen Universitäten. Das immense Inte-      seits ermöglichten sie ihren Schützlingen die berufliche
resse an dieser Figur zeigt, dass Amo mit seinem Auf-    Weiterbildung und Gründung eigener Familien. Wie das
stieg durch Bildung für heutige Menschen mit Migrati-    Beispiel Amo zeigt, diente dabei das identifikationsstif-
onshintergrund eine Art Vorbild sein kann. Durch eine    tende Ritual der christlichen Taufe nicht nur zur Ein-
gute und sorgfältige Ausbildung kann Integration in      gliederung in die frühneuzeitliche Ständegesellschaft,
Deutschland auch heute gelingen. Möglich wurde die-      sondern sie konnte sogar den Eintritt in die Welt der
ser Aufstieg jedoch nur, weil die Wolfenbütteler Her-    Wissenschaft ermöglichen.		                |Carsten Nahrendorf

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Kleine Kirchenkunde

Kirchen im Konflikt
Vor dem Hintergrund aktueller Krisen tagte der Weltkirchenrat in Karlsruhe.
Besondere Streitpunkte: Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Israel-
Palästina-Konflikt.

  Als der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) 1948
gegründet wurde, warf der Ost-West-Konflikt seine
Schatten auf Europa und die Welt. Heute, fast 75 Jahre
später, setzte sich der Weltkirchenrat, wie der ÖRK auch
genannt wird, mit dem russischen Angriffskrieg gegen die
Ukraine, der Corona-Pandemie, dem Klimawandel und
der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich ausein-
ander. Seine Vollversammlung tagte im September zum
elften Mal, diesmal in Karlsruhe und erstmals in Deutsch-
land.
                                                            Foto: epd-bild/Thomas Lohnes

  Dem Weltkirchenrat gehören Kirchen in mehr als 120
Ländern und Gebieten weltweit an, die wiederum mehr als
580 Millionen Christinnen und Christen vertreten. Seine
Mitglieder kommen heute vorwiegend aus Afrika, Asien,
der Karibik, Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren
Osten sowie dem pazifischen Raum.                                                          In Karlsruhe: Dr. Agnes Aboom (Kenia), Vorsitzende des
  Streit gab es unter anderem um die Teilnahme einer                                       ÖRK-Zentralausschusses; Metropolit Nifon von Targoviste
Delegation der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK), der                                       (Rumänien), stellvertretender Vorsitzender; Bischöfin Mary
größten von 352 Mitgliedskirchen des Weltkirchenrates:                                     Ann Swenson, (USA) stellvertretende Vorsitzende.
Vor der Vollversammlung wurde immer wieder deren
Ausschluss gefordert. Der ÖRK plädiert hier für Dialog,                                    religiöser Sprache und Autorität zur Rechtfertigung von
dennoch kam es zum Schlagabtausch. Der ukrainische                                         bewaffneter Aggression und Hass sei abzulehnen.
Erzbischof Jewstratij prangerte eine jahrhundertelange                                       Stark umstritten war auch der Israel-Palästina-Konflikt.
Unterdrückung seines Landes durch Russland an. Der                                         Ein Eklat blieb aber aus. Kritiker hatten befürchtet, der
aktuelle Angriffskrieg füge sich in die imperialistische                                   Weltkirchenrat würde Israel zum Apartheid-Staat erklä-
russische Geschichte zur Unterwerfung der Ukraine ein,                                     ren. In einem zum Abschluss verabschiedeten Statement
sagte Jewstratij.                                                                          findet man einen Kompromiss: „In jüngster Zeit haben
  Die ROK wiederum wies Äußerungen von Bundesprä-                                          zahlreiche internationale, israelische und palästinen-
sident Frank-Walter Steinmeier zum Auftakt des Welt-                                       sische Menschenrechtsorganisationen und juristische
Ökumene-Gipfels zurück. Steinmeiers Anschuldigungen                                        Gremien Studien und Berichte veröffentlicht, in denen
seien völlig unbegründet, erklärte der russisch-ortho-                                     die Politik und die Handlungen Israels als ‚Apartheid‘ im
doxe Delegationsleiter, Metropolit Antonius. Zum Auftakt                                   Sinne des Völkerrechts beschrieben werden.“
der Vollversammlung hatte der Bundespräsident die rus-                                       Während einige Kirchen und Delegierte nachdrücklich
sisch-orthodoxe Kirchenleitung in ungewöhnlich scharfer                                    die Verwendung dieses Begriffs unterstützten, da er die
Form verurteilt. Deren Leitung führe ihre Gläubigen auf                                    „Realität der Menschen in Palästina/Israel und die völker-
einen „glaubensfeindlichen und blasphemischen Irrweg“.                                     rechtliche Lage zutreffend beschreibt“, hielten ihn andere
  Zum Abschluss verurteilte die Vollversammlung den                                        für „unangemessen, wenig hilfreich und schmerzhaft“, so
russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Krieg sei                                      das Statement. Zu letzteren zählt die Evangelische Kirche
mit dem Wesen Gottes unvereinbar. Jeder Missbrauch                                         in Deutschland (EKD).		                    |Stephan Cezanne/epd

                                                                                                         3 | 2022                                    | 25
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