Mutig etwas ausprobieren - Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. Er hat fünf ...
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www.landeskirche-braunschweig.de 3 | 2022 Mutig etwas ausprobieren Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. Er hat fünf strategische Projekte definiert.
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, die Kirche ist nicht der Himmel auf Erden. Die Kirche lebt mitten in der Welt, ihren Krisen und Konflikten. Aber wenn es gutgeht, lässt sie den Himmel immer wieder hervorscheinen, weil sie einer anderen Logik folgt als die Welt. Es ist nicht die Logik von Macht und Gewalt, sondern die Logik von Frieden und Versöhnung. Denn die Kirche ist nicht nur eine Institution wie andere auch, sondern vor allem eine Gemeinschaft von Menschen, die dem Reich Gottes verpflichtet sind und die deshalb darauf setzen, dass Wendungen zum Guten möglich sind. Diese Wendungen wünschen wir uns sehnlich herbei. Denn lange war die Welt nicht so bedroht, wie in dieser Zeit. Vieles, was uns selbstverständlich Foto: Klaus G. Kohn erschien, muss neu gewonnen werden: Demokratie und Freiheit, Frieden und Wohlstand, eine intakte Natur. Schon Corona war eine Bewährungsprobe, doch der Krieg Russlands gegen die Ukraine und dessen weltweite Folgen sind es noch mehr. Zukunftsängste greifen um sich und machen viele Her- zen unruhig. Deswegen reicht es nicht, die Kirchengebäude im Winter kaltfallen zu lassen oder gar zu schließen, um Energie und Kosten zu sparen. So sinnvoll das aus verschiedenen Gründen auch sein mag. Gerade in schweren Zeiten muss die Kirche ein Haus der offenen Tür sein, ein Ort der Zuwendung und des Trostes. Vor diesem Hintergrund planen die evangelische Kirche und ihre Diakonie zum Beispiel die Aktion #wärmewinter, um vor allem Menschen mit geringem Einkommen und in prekären Lebenssituationen zu unterstützen. Sie folgen damit dem biblischen Auftrag, in der Welt dem Reich Gottes Gestalt zu geben. Dabei begleitet sie die evangelische Publizistik, wie auch wieder mit dieser Ausgabe unseres Magazins. Sie erzählt von Menschen, die sich ihre Hoffnung auf Wendungen zum Guten nicht abtrotzen lassen. Eine Hoffnung, die der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann beim Kirchentag 1950 in Essen in die Worte fasste: „Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt!“ Eine anregende Lektüre, Ihr Michael Strauß Impressum Herausgeber Pressestelle der Landeskirche Braunschweig I Redaktion Michael Strauß (mic) I Anschrift Dietrich-Bonhoeffer- Straße 1, 38300 Wolfenbüttel, Tel. 05331-802108, Fax 05331-802700, presse@lk-bs.de, www.landeskirche-braunschweig.de I Layout Dirk Riedstra | Druck MHD Druck und Service GmbH, 29320 Hermannsburg | Titelfoto: Klaus G. Kohn 3 | 2022 |2
4 Foto: Dommuseum Hildesheim/Florian Monheim Foto: Diakonie/Thomas Meyer 14 Foto: Harzer Tourismusverband/Annette Frank Foto: Sabrina D. Seal 16 18 In dieser Ausgabe 4 Blickpunkt 16 Hintergrund Islam in Europa 1000 bis 1250 Integration durch Sprache Eine Ausstellung zeigt den Austausch zwischen In Delligsen organisiert die Kirchengemeinde christlicher und islamischer Welt. Sprachkurse für Geflüchtete aus der Ukraine. 8 Porträt 18 Reportage Dienst am Nächsten Von Engeln umarmt Diakonie-Beauftragter Ekke Seifert kümmert sich Der Harzer Klosterwanderweg verbindet Orte um Hilfe für Menschen in Not. zwischen Goslar und Quedlinburg. 10 Titelthema 22 Geschichte Mutig etwas ausprobieren Denker zwischen den Welten Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Vom Sklaven zum Philosophie-Professor: Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. der Afrikaner Anton Wilhelm Amo (1703-1759). 14 Interview 26 Rezension Raus aus der Einsamkeit Gemeinsam statt einsam Diakoniepräsident Ulrich Lilie unterstreicht im Johann Hinrich Claussen und Ulrich Lilie haben Interview die Bedeutung der Gemeinschaft. ein Buch über die Einsamkeit geschrieben. 3 | 2022 |3
Blickpunkt Foto: Dommuseum Hildesheim/Florian Monheim Islam in Europa 1000 bis 1250 Den kulturellen Austausch zwischen der islamischen und der christlichen Welt im Mittelalter zeigt eine neue Ausstellung im Dommuseum Hildesheim. Sie prä- sentiert 94 seltene und hochkarätige Kunstwerke aus Regionen, die vom Islam geprägt waren und in verschiedenen Kir- chenschätzen sowie staatlichen Museen europaweit zu finden sind. Leihgaben stammen aus Florenz, Lon- don, Paris und Wien. Zu sehen sind kost- bare Bergkristalllgefäße, Seidenstoffe, Elfenbeinschnitzereien und Überset- zungen wissenschaftlicher Literatur aus Cordoba, Palermo Kairo oder Konstan- tinopel, entstanden in den Jahren 1000 bis 1250. Wie der Kurator der Ausstellung, Dr. Felix Prinz, gegenüber unserem Magazin betonte, handele es sich bei den Expona- ten nicht um Beutekunst, die im Zuge der Kreuzzüge (1095-1291) in den Westen gelangte. Es seien insbesondere Stücke aus Handel und Wissenschaft. Die Ausstellung ist bis zum 12. Februar 2023 im Dommuseum Hildesheim zu sehen. Neben deutschen Erläuterungen enthält sie Texte in englischer, arabischer und türkischer Sprache. Ein Begleitpro- gramm bietet Führungen und Vorträge. Das Foto zeigt eine Senmurven-Aqua- manile, ein Gefäß zur Handwaschung bei liturgischen Handlungen. Senmurven sind Fabelwesen aus der altiranischen Mythologie. Sie verbinden den Kopf eines Drachen mit dem Schwanz eines Pfaus. www.dommuseum-hildesheim.de 3 | 2022 |4
Nachrichten Elsbeth Strohm 100 Nothilfe mit Augenmaß Sensei – so bezeichnen Japaner Menschen, Angesichts des anhaltenden russi- die für sie ein Vorbild sind. Für die Menschen schen Angriffskriegs auf die Ukraine in Kamagasaki, einem sozialen Brennpunkt hat sich der braunschweigische Lan- in Osaka (Japan), war Elsbeth Strohm ein desbischof Christoph Meyns gegen Foto: Klaus G. Kohn solches Vorbild. Sie wirkte 30 Jahre als Mis- einen „radikalen Pazifismus“ ausge- Foto: Privat sionarin in der Japan Evangelical Lutheran sprochen. Dieser lasse Aggressoren Church, eine der fünf Partnerkirchen der freie Hand und verweigere die not- Landeskirche Braunschweig. In diesem Jahr feierte die wendige Pflicht des Staates, seine Bürger vor Gewalt ehemalige Mitarbeiterin der Landeskirche Braunschweig und Tod zu schützen, sagte der evangelische Theo- ihren 100. Geburtstag. Zwar lebt sie seit ihrem Ruhestand loge am 19. August dem Evangelischen Pressedienst in Kitzingen, im Braunschweiger Land erinnern sich aber (epd). Aus christlicher Perspektive sei die Beteili- noch viele an sie und ihr langjähriges Wirken. gung an Verteidigungsmaßnahmen als „ultima ratio“ Sie half den Menschen, die am Rand der Gesellschaft zu rechtfertigen. „Sie sind Ausdruck konkreter Not- stehen: Arbeitslosen, Tagelöhnern und Alkoholkranken. hilfe für den Nächsten.“ In dem Problemstadtteil Kamagasaki baute Strohm ein Welche Maßnahmen angemessen seien, um einer Baby-Center zur Tagesbetreuung von Kleinstkindern auf kriegerischen Aggression mit militärischen Mitteln zu und machte es damit jungen, oft alleinerziehenden Müt- begegnen und Gewalt einzudämmen, müsse sorgfäl- tern möglich, einer Arbeit nachzugehen und Geld zu ver- tig abgewogen werden, unterstrich Meyns im Zusam- dienen. Für die Suchtkranken der Stadt richtete Strohm- menhang mit einer Diskussion zum Krieg in der Ukra- Sensei eine Beratungsstelle ein, um sie mit medizinischer ine. „Eine Gegenreaktion muss stets im Blick haben, und psychosozialer Hilfe unterstützen zu können. Das Haus dass sie das Ausmaß von Tod und Zerstörung weiter erhielt den Namen „Kibo no ie“, übersetzt „Haus der Hoff- verstärken kann.“ nung und Freude“. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil Der Krieg führe die Politik in ein Dilemma, das nicht der missionarischen Arbeit Strohms war auch die Partner- zu lösen sei, ohne Schuld auf sich zu laden, sagte der schaftsarbeit zwischen der Landeskirche Braunschweig Landesbischof. „Liefert man Waffen, werden damit mit der Partnerkirche in Japan. Die Partnerschaft besteht Menschen getötet. Liefert man keine Waffen, wer- bereits seit über 50 Jahren. den andere Menschen getötet.“ Ihre Arbeit wirkt bis heute nach. Sowohl das Baby-Center, Auch wenn es notwendig werden könne, militärische dass jetzt eine Tagesstätte zur Betreuung von Schulkindern Mittel einzusetzen, um „Leib und Leben“ zu verteidigen, und heranwachsenden jungen Menschen mit Behinderung müsse die Kirche sich vor allem daran beteiligen, Wege geworden ist, als auch die Beratungsstelle für Suchtkranke zum Frieden zu suchen, forderte der Theologe. Jeder bestehen fort und werden durch einen Pfarrer der Partner- Christ könne für sich persönlich Gewalt ablehnen und kirche verantwortet. Auch wird der „Arbeitskreis Japan in Leid erdulden, unterstrich Meyns. „Aus Verantwortung der Landeskirche in Braunschweig“ weitergeführt, der auf für Andere kann aber die Anwendung militärischer Mit- Anregung von Elsbeth Strohm im September 1986 gegrün- tel ethisch geboten sein.“ Der Kirche gehe es darum, det wurde und den sie auch während ihres Ruhestands „ausdauernd für den Frieden zu beten“ und sich den noch für einige Zeit leitete. |sea Menschen seelsorgerlich zuzuwenden. |epd Neue Förderrichtlinie Eine neue Richtlinie beschreibt die Voraussetzungen für die Förderung von Erprobungs- räumen und Multiprofessionellen Teams in der Landeskirche Braunschweig. Auf dieser Grundlage können Kirchengemeinden, Kirchengemeindeverbände und Propsteien Anträge stellen. Die Richtlinie ist zum 1. Juli 2022 in Kraft getreten. Sie ist in der Rechtssammlung online nachzulesen unter RS 126. Außerdem erläutert ein Schaubild die Förderprogramme. Es findet sich auf den landeskirchlichen Internetseiten zum Zukunftsprozess. Mit einer Fördersumme von insgesamt 3,7 Millionen Euro soll die Arbeit in den Kirchen- gemeinden und Propsteien durch neue Maßnahmen verbessert und erneuert werden. Die Landessynode hat bei ihrer Tagung am 7. Mai 2022 die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass in „Erprobungsräumen“ Pfarrerinnen und Pfarrer von Beschäftigten aus weiteren Berufsgruppen unterstützt werden können. Außerdem sollen neue Projekte sowie die Bildung multiprofessioneller Teams ermöglicht werden. 3 | 2022 |6
Kirchen helfen in Energiekrise Grenzen überwinden Mit einem Festgottesdienst im Braunschweiger Dom hat die Landeskirche Braunschweig ihre Partnerschaftsjubiläen mit der Tamil Evangelical-Lutheran Church in India (50 Jahre) und der Evangelical-Lutheran Church in Namiba (25 Jahre) gefei- ert. In den Gebeten wurde deutlich, wofür die Kirchen gemein- sam eintreten: Pfarrer Dr. Thomas Kennedy Santhanatham aus Indien betete für die Gleichberechtigung der Frau und für die Würde jedes Menschen, gleich welcher geschlechtlichen Iden- tität. Moderatorin Pfarrerin Hilja Nghaangluwa Hamukwaya aus Namibia widmete sich dem Frieden in der Welt. Als Gratulant aus der Japan Evangelical Lutheran Church (JELC) betete Präsident George Joji Oshiba um die Verständigung und das Miteinander zwischen den Religionen. Foto: epd-bild/Heike Lyding Landesbischof Dr. Christoph Meyns betonte in seiner Predigt, Christen seien Brückenbauer, die die Gräben und Distanzen in dieser Welt zu überwinden suchen. Das sei ihr Auftrag: „Sie leben in der Gegenwart aus dieser Zukunftsvision und praktizieren über alle Unterschiede hinweg Gemeinschaft.“ Oberlandeskirchenrat Wenn es kalt wird, wollen die Kirchen mit Wärme- Thomas Hofer, Leiter des Ökumene-Referates im Landeskirchen- stuben helfen. amt, hatte die Gäste aus den Partnerkirchen willkommen geheißen. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten durch den Krieg in der Ukraine wollen die nie- dersächsischen Kirchen ihr Engagement gegen Hunger und Armut verstärken. Insbesondere wollen sie Mehreinnahmen bei der Kirchen- steuer, die durch die Energiepreispauschale entstehen, vollständig den Menschen zugute- kommen lassen, die in Not geraten. So heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der evange- lischen und katholischen Bischöfe und Leiten- den Geistlichen in Niedersachsen und Bremen vom 24. August. Geplant sind unter anderem zusätzliche Bera- tungsangebote, Wärmestuben und Lernräume Foto: Jörg Heidenreich für Kinder und Jugendliche sowie eine weiter- gehende Unterstützung der Tafeln. Jetzt sei die Zeit, um miteinander in Solidarität die Lasten zu tragen, sagte Landesbischof Dr. Christoph Mit einer Tagung und einem Gottesdienst würdigte die Landeskirche Meyns in Wolfenbüttel: „Als Kirche stehen wir ihre ökumenischen Partnerschaften. an der Seite der Schwachen!“ In der Erklärung betonen die Kirchen außer- Bei einer Tagung im Vorfeld war deutlich geworden, dass die Part- dem, dass sie selber nachhaltig wirtschaften nerschaften durch den Austausch leben. So kommen jedes Jahr und ihren Energieverbrauch senken wollen. So Jugendliche aus Namibia nach Deutschland und Jugendliche aus soll in den kirchlichen Gebäuden die Tempe- Deutschland besuchen Namibia. Zu Indien wird die Partnerschaft ratur gesenkt und die Beleuchtung reduziert durch Gemeindepartnerschaften getragen. Bei den Besuchen ste- werden. Sie sollen aber für Gottesdienst und hen Themen im Vordergrund, die besonders drängend sind: zum Gebet geöffnet bleiben. Bei allen Maßnahmen Beispiel Diskriminierung, der Umgang mit Minderheiten oder die wollen die Kirchen ökumenisch zusammenar- diakonische Verantwortung für Bedürftige und Schwache. Neue beiten und auch mit anderen zivilgesellschaft- Chancen entdeckten die Teilnehmenden in der Digitalisierung. Sie lichen Gruppen kooperieren. könne den direkten und zeitnahen Austausch befördern, hieß es. 3 | 2022 |7
4 | 2015 Evangelische Perspektiven | 8 Foto: Agentur Hübner Die Armutsbekämpfung besonders im Blick: Ekke Seifert. 3 | 2022 |8
Porträt Dienst am Nächsten Als Diakonie-Beauftragter geht es Ekke Seifert um konkrete Hilfe für Menschen in Not. Sein besonderes Augenmerk gilt der Armutsbekämpfung, speziell bei Kindern. C orona-Pandemie, Krieg in der Ukraine und Werk der Landeskirche Braunschweig. In der Stabsstelle nun die hohe Inflation – inzwischen jagt Grundsatzfragen erlebte er mit, wie das Werk Teil der eine Krise die nächste. Dort, wo Menschen Diakonie in Niedersachsen wurde. unter den Krisenfolgen leiden, ist die Diako- nie aktiv. Qualitäten eines Krisenmanagers muss auch Ekke Seifert mitbringen. Der 44-Jährige ist „Inflation und Energiekrise seit dem 1. Juli Beauftragter für die Diakonie in Braun- schweig und Vechelde. Er folgt auf Norbert Velten, der treiben viele Menschen in den Ruhestand gegangen ist. Von Velten hat Seifert in finanzielle Nöte.“ auch die Geschäftsführung der Hospiz Braunschweig gGmbH übernommen, die er gemeinsam mit Petra Gott- sand wahrnimmt. Weil Ekke Seifert seit 2017 auch Prokurist der Diakonie 2011 wurde Ekke Seifert Beauftragter für Diakonie und im Braunschweiger Land ist, sind ihm sein neuer Wir- Leiter des Hauses der Diakonie Helmstedt: „Anfangs hat- kungsbereich und die Akteure bereits bestens vertraut. ten wir dort drei Mitarbeitende, und die Zukunft war sehr „Diakonie, also der Dienst am Nächsten, ist ein wichtiges ungewiss.“ In Folge des „Arabischen Frühlings“ kamen Bindeglied zwischen Kirche und Gesellschaft“, betont verstärkt Menschen, die aus Afrika und dem Mittelmeer- Seifert. „Das finde ich sehr reizvoll. Unsere Arbeit bleibt raum geflohen waren. Durch Migrations- und Integra- nie abstrakt, ist immer konkret und geprägt durch Praxis tionsangebote wuchs die Kreisstelle auf ein gutes Dut- und Erfahrung.“ Sein besonderes Augenmerk liegt auf zend Mitarbeitende. Jetzt in Braunschweig kann Seifert Armutsbekämpfung, speziell bei Kindern. „Armut wird auf etwa 25 Diakonie-Mitarbeitende zählen, quer über auch mit höheren Regelsätzen bekämpft“, weiß der Dia- das Stadtgebiet verteilt. konie-Beauftragte. Aber ebenso entscheidend sei es, Ob in Schulen oder Beratungsstellen, die Bedarfe soziale Teilhabe und Eigenständigkeit zu ermöglichen. und Nöte der Menschen werden größer. „Inflation und Geboren im katholischen Münster/Westfalen, wuchs Energiekrise treiben viele Menschen in finanzielle Ekke Seifert im Emsland auf. Wieder in Münster folgte Nöte“, warnt Ekke Seifert. Davon zeuge der wachsende ein Studium der Politik- und Wirtschaftswissenschaft Ansturm auf die Tafel. Eine weitere Herausforderung sei sowie der Geschichte, inklusive eines Austauschauf- die baldige Fertigstellung eines Tageshospizes mit acht enthalts in Manchester. „Meine erste Berufsstation war Plätzen als Ergänzung zum Hospiz „Am Hohen Tore“. dann 2006 als wissenschaftlicher Assistent an einer Ber- Wie kann der 44-Jährige, der inzwischen mit Frau und liner Akademie“, erinnert sich Seifert. Als seine Frau, zwei Töchtern in Wolfenbüttel lebt, bei alldem am besten Pfarrerin Ina Naumann-Seifert, im Jahre 2009 in Off- abschalten? „Zum Beispiel bei der Jagd“, lacht Seifert, leben bei Helmstedt ihre erste Pfarrstelle antrat, ging und beim Gassigehen mit seinem Dackel, der gerade er mit. Seifert selbst fand eine Stelle im Diakonischen zum Jagdhund ausgebildet wird. | Michael Siano 3 | 2022 |9
Titelthema Mutig etwas ausprobieren Ein Zukunftsprozess will den Wandel der kirchlichen Arbeit im Braunschweiger Land voranbringen. Ein erster Beteiligungsprozess schafft dafür die Voraussetzungen. Er hat fünf strategische Projekte definiert. Mit der Gewinnung neuer Fachleute geht es um die Entlastung der Pfarrerinnen und Pfarrer – und um mehr Kooperation auf vielen Ebenen. 3 | 2022 | 10
Titelthema L ange verstand sich die Kirche als Fels in der Brandung, der dem Zeitenlauf trotzt. Doch mit dem gesellschaftlichen Umfeld verän- dert sich auch sie. Heute erinnert die Kirche an ein Schiff im Sturm: Abnehmende Mitglie- derzahlen, sinkende Steuereinnahmen, neue digitale Kommunikationsformen und Traditionsabbrüche erfor- dern Kursänderungen. Hinzu kommen Sparzwänge und die Notwendigkeit, Stellen abzubauen. Ob bei Pfarr- oder Erzieherinnenstellen, auch der Fachkräftemangel wirkt sich immer heftiger aus. „Alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann“, beschreibt Landesbischof Dr. Christoph Meyns die Lage in der Landeskirche Braunschweig. „Fast alle Kirchen- gemeinden sind mit Strukturprozessen beschäftigt und haben Fusionen hinter sich.“ Als er sein Amt 2014 antrat, zählte die Landeskirche rund 400 Kirchengemeinden. Derzeit sind es noch 299. Und schon bald seien es nur noch um die 250, prognostiziert Dr. Meyns. Die Entwicklung sei dynamisch und komplex. Sie dürfe nicht nur auf die Landeskirche als Institution verengt werden. „Ich möchte lieber vom kirchlichen Leben sprechen“, betont der Landesbischof. Dieses umfasse mehrere Dimensionen: Glaubensgemein- schaft, Lebensgemeinschaft, aber natürlich auch die Organisation. Meyns ist überzeugt: Ein geplanter Wan- del der kirchlichen Arbeit ist nötig. „Der Zukunftsprozess ist kein strukturelles, sondern ein spirituell getriebenes Projekt.“ Vor diesem Hintergrund hat die Landeskirche Braun- schweig unter maßgeblicher Initiative des Landesbi- schofs einen Zukunftsprozess aufgelegt. Unter dem Titel „Lebendige Kirche 2030. Auf dem Weg zu einem geplanten Wandel der kirchlichen Arbeit im Braun- schweiger Land“ wurde ein Papier mit Denkanstö- ßen zur künftigen Ausrichtung der kirchlichen Arbeit verfasst. Auf dieser Grundlage ist ein erster Beteili- Foto: Klaus G. Kohn gungsprozess entstanden, der auf den Internetseiten der Landeskirche dokumentiert ist und nachgelesen werden kann. 3 | 2022 | 11
Foto: Klaus G. Kohn Evelyn Samwer (l.) und Anke Grewe beim Zukunftstag in Braunschweig. „Wir brauchen „Dieser Prozess hat Energien freigesetzt“, resümiert Dr. Lothar Stempin. Der Ruhe- standspfarrer begleitete den Zukunftsprozess knapp dreieinhalb Jahre lang als externer mehr Mut, etwas Berater und Prozesskoordinator. Anfangs habe er häufiger Widerstand und Verweigerung gespürt, erinnert sich Stempin. „Inzwischen bin ich sehr angetan und erfreut, dass sich auszuprobieren. so viele kirchliche Mitarbeitende für diesen Prozess engagieren.“ Während die formale Entscheidungsebene bei der Kirchenregierung und der Landes- Und da darf auch synode liegt, bedarf es der Impulse und Ideen aus den kirchlichen und diakonischen Gruppen und Einrichtungen in der Landeskirche, von Haupt- und Ehrenamtlichen glei- chermaßen. „Die Prozess- und Entscheidungsebene parallel zu bewegen, ist das große mal was Kunststück“, meint Stempin. „Dieser Zukunftsprozess ist kein strukturelles, sondern ein spirituell getriebenes Projekt.“ Ein Rückgriff auf „alte Erfahrungen und Denkmus- schiefgehen.“ ter“ werde dabei nicht ausreichen. Auch Anke Grewe, Geschäftsführerin der Diakonie im Braunschweiger Land, ist sich sicher: „Wir brauchen mehr Mut, etwas auszuprobieren. Und da darf auch mal was schief- gehen.“ Kirchengemeinden und Diakonie müssten wieder enger zusammenfinden – und könnten zum Beispiel im Hinblick auf die Spezialseelsorge Synergien nutzen. Spannend findet die Diakonie-Chefin ihr Mitwirken in der Arbeitsgruppe „Seelsorgerliche Kirche und Diakonie“. Eine Idee dahinter: mehr Seelsorgeangebote in diakonischen Einrichtungen oder auch besondere Predigtreihen. Diakonische Einrichtungen seien dicht dran an den Proble- men der Menschen, in der Stadt oft mehr als in den Dörfern. Grewe: „Daher müssen wir die ländlichen Räume verstärkt in den Blick nehmen.“ Ob Corona oder Energiekrise: „In der Not kommen auch Menschen zu uns, die sonst mit der Kirche nichts am Hut haben.“ Das Projekt „Seelsorgerliche Kirche und Diakonie“ ist eines von ursprünglich vier stra- tegischen Projekten, die konkret aus dem Zukunftsprozess resultieren. Weitere Projekte sind „Geistliches Leben und Theologie“, „Erprobungsräume“ und „Netzwerkorientierte Zusammenarbeit in der Kirche“. Als fünftes Projekt kam das „Ehrenamt“ hinzu. Arbeits- gruppen sind dabei, die Projektideen mit Leben und Angeboten zu füllen. Mittlerweile gibt es auch eine Förderrichtlinie für Projekte sowie ein Antragsformular, ebenfalls auf der Website der Landeskirche. Immerhin steht eine Fördersumme von insgesamt 3,7 Millionen Euro zur Verfügung. 3 | 2022 | 12
Recht konkret sind bereits die Lösungs- ansätze des Projekts „Netzwerkorien- tierte Zusammenarbeit in der Kirche“. Hierzu hat die Landessynode beschlos- sen, Erprobungsräume einzurichten. Das neue Konzept sieht vor, für zunächst zwei Jahre Teams aus Fachleuten, sogenannte multiprofessionelle Teams, in die kirch- liche Arbeit einzubinden. „Wir erhoffen uns eine Ergänzung und Entlastung der Pfarrerinnen und Pfarrer sowie eine Pro- fessionalisierung bestimmter Bereiche“, erläuterte Pröpstin Meike Bräuer-Ehgart bei der Vorstellung des Vorhabens für ihre Propstei Gandersheim-Seesen. Diese zusätzlichen Profis sollen sich zum Bei- spiel in den Bereichen Geschäftsführung, Gemeindeverwaltung, Projekt- und Ver- anstaltungsmanagement, Bau und Finan- zen oder auch Diakonie einbringen. „Diesen Ansatz finde ich richtig gut, da Foto: Klaus G. Kohn eröffnen sich Perspektiven“, meint Pfar- rer Olaf Schäper aus Hornburg. „Denn wenn immer weniger Personen im Pfarr- dienst aktiv sind, gleichzeitig die Umwelt Netzwerke bilden ist die Losung der Stunde. aber immer komplexer wird, müssen wir eine Antwort auf die Frage finden, was der Pfarrdienst noch leisten kann und soll.“ Schäper selbst ist in der Arbeitsgruppe „Geistliches Leben und Theologie“ aktiv. Auch er beobachtet einen Relevanzver- lust der Kirche. „Die Selbstverständlich- keit, von der wir Jahrhunderte profitiert haben, ist weg.“ Dabei sei eigentlich alles da, um gesellschaftlich relevant zu blei- ben: eine packende Botschaft, eine funk- Foto: Privat tionierende Infrastruktur und viele moti- vierte Ehrenamtliche. Pfarrer Schäper: „Was wir aber noch besser hinbekommen müssen, ist die Einbindung aller Kirchen- vorstände in den Zukunftsprozess.“ Diese Gremien seien die entscheidenden Stell- schrauben für den Prozess. „Die müssen wir mitnehmen.“ Pfarrer i.R. Lothar Stempin, der die Pro- zessbegleitung inzwischen an Steven Burek als hauptamtlichen Projektkoordi- nator übergeben hat, sagt: „Wir müssen zu dem Zukunftsprozess noch breiter einla- Foto: Klaus G. Kohn den: Lektoren, Prädikanten, Kita-Mitar- beitende und viele, viele mehr…“ Letzt- lich gehe es um eine gesellschaftliche und kulturelle Dimension. | Michael Siano Ein wichtiges Ziel: Kirche und Diakonie wieder stärker verknüpfen. 3 | 2022 | 13
Raus aus der Einsamkeit Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht Gemeinschaft wie die Luft zum Atmen, sagt Ulrich Lilie (Berlin), Prä- sident der Diakonie Deutschland. Im Interview mit dem Evangelischen Pres- sedienst (epd) warnt er, Einsamkeit sei für die Gesundheit ein genauso star- ker Risikofaktor wie Fettleibigkeit oder Rauchen. Das Thema Einsamkeit sollte als gesellschaftliche Querschnitts- aufgabe koordiniert werden, sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Evangelischer Pressedienst: Herr Lilie, warum ist das sich bislang für immun hielten – quer durch alle gesell- Thema Einsamkeit für Sie wichtig? schaftlichen Schichten. Diakoniepräsident Ulrich Lilie: In der Pandemie mit Lockdown und Kontaktbeschränkungen haben viele Es gibt Menschen, die das Alleinsein suchen und als Menschen Erfahrungen mit Einsamkeit gemacht, die Bereicherung empfinden. Aber die Zahl derjenigen, die ungewollt in Isolation und Einsamkeit stürzen, wächst massiv. Woran liegt das? Ulrich Lilie Ja, in nahezu allen Altersgruppen gibt es immer mehr Menschen, die alleine leben. Die Bindekraft von gemein- Pfarrer Ulrich Lilie (65) ist seit 2014 Präsident der schaftsstiftenden Institutionen lässt nach. Nicht nur Kir- Diakonie Deutschland, stellvertretender Vorstands- chengemeinden, sondern auch Parteien, Gewerkschaf- vorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie ten oder Vereine haben Schwierigkeiten, Menschen zu und Entwicklung und seit 2021 Präsident der Bundes- halten. Es gibt einen Trend zur Individualisierung in arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege unserer medialen Massengesellschaft, der nicht rück- (BAGFW). Von 2011 bis 2014 war er Theologischer gängig gemacht werden kann. Das ist durchaus gut, weil Vorstand der Graf Recke Stiftung Düsseldorf. Bis es dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, viel auszuprobie- 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhaus- ren. Auf der anderen Seite ist der Mensch ein soziales seelsorger und Gemeindepfarrer mit dem Zusatzauf- Wesen und braucht Zugehörigkeit und Gemeinschaft wie trag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evange- die Luft zum Atmen. Wir brauchen nährende und schüt- lischen Krankenhaus. Vier Jahre versah er außerdem zende Beziehungen, um leben zu können. das Amt des Superintendenten des Evangelischen Kirchenkreises Düsseldorfs. Wenn die Gemeinschaft so wichtig ist, was sind die Fol- gen ungewollter Einsamkeit? Wir wissen aus der Stress- und Gehirnforschung, dass 3 | 2022 | 14
Interview ausfinden. Wir brauchen eine abgestimmte Strategie und einen langen Atem. Es hilft weder ein Beauftragter gegen Einsamkeit noch hilft es, Einsamkeit pauschal zur Krankheit der Moderne zu erklären und von einer neuen Seuche zu sprechen. Es gibt bereits viele interessante Initiativen und Ideen. Die gilt es jetzt zu beforschen, zu fördern und gut zu vernetzen. Experten sagen, Einsamkeit muss nicht zwangsläufig und aus heiterem Himmel entstehen, sondern baut sich nach und nach auf. Wer darin geübt ist, Kontakte aufzu- bauen, könnte besser geschützt sein, oder? Aber viele Menschen haben nach einem langen Tag schlicht nicht mehr die Kraft, ihre eigenen Sozialkontakte zu pflegen – wie beispielsweise Alleinerziehende, die sich um ihre Kinder und um die Arbeit kümmern. Und es gibt auch noch andere Einflussfaktoren. So deutet vieles dar- auf hin, dass Langzeitarbeitslosigkeit, Einsamkeit und ein Foto: epd-bild/Christian Ditsch Krankheitsrisiko eng zusammenhängen. Wie lässt sich gegensteuern? Wir sollten alle Betroffenen ermutigen, ihre Einsamkeit zu thematisieren. Wohlfahrtsverbände wie die Diako- nie, die Telefonseelsorge, Vereine, Kirchen oder kommu- nale Einrichtungen können hier viel tun. Das Programm „1.000 Bänke für Bremen“ ist ein schönes Beispiel. Dabei geht es um Ruhebänke, die älteren Menschen durch ihre besondere Sitzhöhe sowie Armlehnen gute Gelegen- heiten für eine Pause bieten. So können sie sich länger unfreiwilliges Alleinsein als extremer Stress erlebt wird draußen aufhalten, sich ausruhen, auf alte Bekannte und auf die gleichen Zentren wirkt wie das Schmerzemp- und neue Personen treffen. Kurz: Es geht immer darum, finden. Einsamkeit ist für die Gesundheit ein genauso Begegnungen und Gespräche zu ermöglichen. Kirchen- starker Risikofaktor wie etwa Fettleibigkeit oder dauer- gemeinden und diakonische Einrichtungen können dabei haftes Rauchen. Gleichzeitig ist es ein erheblicher Risi- eine wichtige Rolle spielen. kofaktor in der psychischen Entwicklung. Wer alleine lebt, erkrankt viel eher an einer Depression oder an Haben Sie konkrete Vorschläge? Schizophrenie. Bei älteren Leuten steigt die Gefahr Es ist sinnvoll und wichtig, viele Akteurinnen und für Demenzerkrankungen. Manche sagen, „ich mach’ Akteure aus der Zivilgesellschaft zusammenzubrin- Sudoku“. Doch das ist eben nicht das Richtige. Es geht gen. Nachbarschaftscafés, Patenschaftsmodelle oder vielmehr darum, lebendige Kontakte mit anderen zu Besuchsdienste sind hilfreich. Aber es geht auch um eine haben, sich auszutauschen und etwas mit anderen zu intelligente Stadtplanung und Quartiersgestaltung. Wo unternehmen. Menschen leben und wohnen, muss es lebendige, grüne und attraktive Begegnungsorte geben, an denen Men- 2018 wurde in Großbritannien ein Einsamkeitsminis- schen etwas zusammen unternehmen können. Warum terium gegründet. Können wir davon lernen, brauchen bauen wir keine öffentlichen Freibäder in die Citys, in wir das auch? denen heute oft leere Kaufhausruinen stehen? Wir könn- Das Thema Einsamkeit sollte als gesellschaftliche Quer- ten Volkshochschulen oder Stadtbibliotheken zu attrak- schnittsaufgabe ressortübergreifend und über ein brei- tiven Aufenthaltsorten weiterentwickeln. Es geht also tes zivilgesellschaftliches Netzwerk gut koordiniert auch um eine umsichtige Entwicklung unserer Städte angepackt werden. Das Wohnungsbauministerium ist und Dörfer. Diakonie und Kirche verstehe ich dabei als dabei genauso gefragt wie das Sport-, Innen-, Familien- gute Partner, weil sie schon über viele solcher Orte und oder Gesundheitsministerium. Für eine wirksame Stra- Netzwerke verfügen. tegie müssen wir alle aus der Tortenstück-Logik her- Das Interview führte Dieter Sell. 3 | 2022 | 15
Integration durch Sprache Viele Kirchengemeinden im Braunschweiger Land unterstützen Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind. In Delligsen organisiert die Kirchengemeinde zum Beispiel Sprachkurse für Geflüchtete sowie parallel dazu eine Kinderbetreuung. Susanne Wedemeier hält ein Geldstück in die sen angekommen. Um ihnen den Start in ihr neues Leben Luft. „Was ist das?“, fragt sie die Teilnehmenden ihres zu erleichtern, hat die Kirchengemeinde in Kooperation Deutschkurses. „Die Münze“, antworten die ukraini- mit der Kreisvolkshochschule Holzminden und dem Fle- schen Frauen im Chor. Auf der Flucht vor dem Krieg in cken Delligsen einen Sprachkurs „Deutsch als Fremd- ihrem Heimatland sind sie im niedersächsischen Dellig- sprache“ organisiert. 3 | 2022 | 16
Hintergrund An drei Tagen in der Woche können die Hier wird unter anderem das Vorgehen für Ukrainerinnen sechs Wochen lang im die geflüchteten Menschen in Delligsen Evangelischen Familienzentrum in Dellig- abgestimmt, und die Helfenden werden sen kostenfrei Deutsch lernen. Das Beson- vernetzt. „Wir haben uns größere Szena- dere: Während des Sprachkurses wird im rien vorgestellt. Wie 2015, als große Busse Raum gegenüber eine Kinderbetreuung in Delligsen ankamen“, sagt Schillert. angeboten. Das ist vor allem für die Mütter, die den Sprachkurs besuchen, eine große Hilfe. Noch kann nicht jedes Kind in einer regulären Betreuung untergebracht wer- den. Grund seien unter anderem fehlende Impfungen gegen Kinderkrankheiten, die in Deutschland verpflichtend sind für die Aufnahme in den Kindergarten. Neben engagierten Ehrenamtlichen sind bei der Kinderbetreuung im Fami- Foto: Sabrina D. Seal lienzentrum auch zwei sogenannte Sprachmittlerinnen angestellt. Sie kön- nen sich professionell um die Kinder kümmern. Das sei vor allem dann nötig, Im Familienzentrum: Carsten Schillert. wenn die Kinder Auffälligkeiten in ihrem Verhalten zeigen. „Die Kinder haben die Das sei diesmal nicht der Fall gewesen. Bilder vom Krieg in ihrer Heimat noch vor Viele Geflüchtete seien mit eigenen Autos Augen“, sagt Carsten Schillert, Kirchen- angereist, die meisten aus Charkiw. „Die Foto: Sabrina D. Seal vorstandsvorsitzender der Kirchenge- Frauen aus der Ukraine stehen mit bei- meinde in Delligsen. So kommt es auch den Beinen im Leben, sind gut vernetzt vor, dass sich ein Kind während des und sehr selbstständig. Daher bieten wir Unterrichts in den Raum schleicht und hier im Familienzentrum vor allem Hilfe auf den Schoß der Mutter klettert. „Die zur Selbsthilfe an“, sagt Schillert. Mama ist die Bezugsperson, die das Kind So stünden den Ukrainerinnen die hier in der Fremde hat.“ Räume im Familienzentrum zur eigen- Gestört fühlt sich dadurch niemand. ständigen Nutzung zur Verfügung. Hier „Nächstenliebe ist das allerwichtigste. können sie sich zum Beispiel zu Spiele- Wenn wir uns nicht gegenseitig unter- abenden treffen oder auch in der großen „Die Kinder stützen, hat alles keinen Sinn“, sagt Küche gemeinsam Speisen aus ihrer Hei- Susanne Wedemeier. Sie ist Coach für mat zubereiten. Außerdem sei es gelun- haben die Deutsch als Fremdsprache und unter- richtet die Frauen im Evangelischen gen, in den Freibädern in der Umgebung freien Eintritt für die Geflüchteten zu Familienzentrum, mittlerweile bereits organisieren. Bilder vom den zweiten Kurs. Dieser wird von der Anlässlich des Unabhängigkeitstages Evangelischen Erwachsenenbildung der Ukraine hat das Aktionsbündnis „Del- Krieg in ihrer Niedersachsen finanziert. Sie ist stolz ligsen hilft“, zu dem auch die Kirchenge- auf die Fortschritte der Teilnehmenden: meinde, das Evangelische Familienzen- Heimat noch „Am Anfang haben wir uns mithilfe einer Übersetzungs-App und auch auf Englisch trum und viele Ehrenamtliche gehören, ein großes Fest veranstaltet. „Alt- und verständigt. Jetzt stellen die Frauen ihre Neubürger“ trafen sich auf dem Außen- vor Augen.“ Fragen schon oft auf Deutsch.“ gelände der Kirchengemeinde. Während Kurz nach dem Beginn des russischen des Festes konnten Spenden in Höhe von Angriffskriegs auf die Ukraine wurde eine rund 600 Euro gesammelt werden. Die- Lenkungsgruppe von Bürgermeister Ste- ses Geld fließt in die Ukraine-Hilfe in phan Willudda gegründet. Carsten Schil- Delligsen und unterstützt so die weitere lert ist bei den wöchentlichen Treffen im Integration der neuen Mitbürgerinnen Familienzentrum von Anfang an dabei. und Mitbürger. | Sabrina D. Seal 3 | 2022 | 17
Von Engeln umarmt Der Harzer Klosterwanderweg führt über 95 Kilometer am Nordrand des Mittelgebirges entlang und verbindet zahlreiche Kirchen und Klöster. Zwischen Goslar und Quedlin- burg suchen Menschen beim Pilgern Erho- lung für Geist und Seele. „Das Pilgern beginnt beim Packen“, findet Axel Lundbeck, der mit seiner Frau Claudia seit zehn Jahren Gruppen Foto: Harzer Tourismusverband/Annette Frank auf dem Klosterwanderweg begleitet. „Damit, sich Gedanken dar- über zu machen, was man im Leben braucht und was nicht.“ Denn jedes Teil, das im Rucksack landet, muss getragen werden. Der Klosterwanderweg trifft einen Zeitgeist. „Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass spiritueller Tourismus an Bedeutung gewinnt“, sagt Melanie Krilleke von der Abteilung Klöster des Harzer Tourismusverbandes. Viele Menschen sehnen sich nach Ruhe und Klarheit, zudem war die Corona-Pandemie, in der lange Zeit keine Fernreisen möglich waren, für viele Menschen der Anstoß, Urlaub im eigenen Land zu machen und die landschaftlichen und kulturel- len Besonderheiten der Region neu zu entdecken. „Die Dichte an kulturellen Orten, die abwechslungsreiche und viel- fältige Landschaft, der relativ leichte Weg ohne große Steigungen Pilgern ist immer auch und nicht zuletzt die Hoffnung auf Einkehr in den Kirchen und Klös- tern – das spricht viele Menschen an“, erläutert Melanie Krilleke die eine Reise zu sich selbst Gründe, warum der Klosterwanderweg so beliebt ist. Denn wie an einer Perlenschnur reihen sich Kirchen und Klöster aneinander, darunter Neuwerk in Goslar, Grauhof, Wöltingerode, und eine Ilsenburg, Drübeck, Michaelstein, Wendhusen und Gernrode mit dem Heiligen Grab. Sie sind jahrhundertealte Zeugen der Geschichte Beziehungspflege und faszinieren mit ihrer Kultur und Spiritualität, der Atmosphäre stiller Klosterräume, mit duftenden Gärten und einzigartiger Archi- zwischen Gott und den tektur. Kaum jemand kennt die Wege zwischen den Kirchen und Klöstern so gut wie Claudia und Axel Lundbeck, fast 40 Mal waren sie hier Menschen. unterwegs, schätzen sie. Sie sind überzeugt, dass Pilgern mehr als nur eine Modeerscheinung ist. „Es bietet etwas, was vielen Men- 3 | 2022 | 18
Reportage schen wichtig ist: Natur, Bewegung und Spiritualität.“ Pil- gern sei immer auch eine Reise zu sich selbst und eine Beziehungspflege zwischen Gott und den Menschen. Dabei ist der Weg wichtiger als das Ziel, das Unterwegs- sein wichtiger als das Ankommen – Pilgern ist eine ganz- heitliche Bewegungskur für Leib und Seele. Die Menschen, die sich Claudia und Axel Lundbeck Foto: Harzer Tourismusverband/Melanie Krilleke anschließen haben eine ganz individuelle Beziehung zur Religion. Während einige christlich geprägt sind, haben andere keinen Bezug zur Kirche oder wollen auf diesem Weg ihren Glauben neu entdecken. Unterwegs wechseln sich Gesprächs- und Schweigephasen ab, zwischendrin wird immer wieder gesungen und es gibt Impulse zum Nachdenken. „Wir gestalten sie bewusst niedrigschwellig, um die Teilnehmenden an ihrem Stand des Glaubens abzu- holen. Das kann ein Fluss sein, an dem über den Lauf des 3 | 2022 | 19
tinformation zwischen Ilsenburg und Drübeck das erste Stück des Klosterwanderweges, nach und nach wurde er bis Thale, dann nach Quedlinburg und Goslar erweitert. Betreut wurde er vom Verein Harzer Klostersommer, der seit 2019 eine eigene Abteilung des Harzer Tourismus- verbandes ist. Als Geschäftsführerin koordiniert Melanie Krilleke dort die Zusammenarbeit der zahlreichen Part- ner entlang des Weges: Gastronomie, Touristinformati- onen, Klöster und Gemeinden. „Wir arbeiten verstärkt daran, mehr Übernachtungs- Foto: Harzer Tourismusverband/Melanie Krilleke möglichkeiten zu schaffen“, sagt Melanie Krilleke, viele Orte seien nicht auf die Bedürfnisse der Pilger nach einer einfachen und günstigen Unterkunft für eine Nacht ein- gerichtet. Mit verschiedenen Projekten versucht sie zudem, den Weg bekannter zu machen. So wird er im nächsten Jahr Teil eines internationalen Projektes sein, bei dem Kinder und Jugendliche die religiösen Stätten ihrer Heimat besser kennenlernen sollen. Als bald nach der Einrichtung des Weges sowohl die Orientierung auf dem Harzer Klosterwanderweg mit dem Tourismusfachleute als auch die Kirche an Lundbecks Ehepaar Lundbeck (links). herantraten, hatten sie schon einige Erfahrung im Pil- gern, trotzdem absolvierten sie eine Ausbildung als Pil- gerbegleiter. Schnell entstand die Idee der Engelsbänke, heute stehen 19 entlang des Weges. „Bänke laden die Wanderer ein, Rast zu machen und Engel sprechen auch Menschen an, die keinen Bezug zum Glauben haben“, sind Lundbecks überzeugt. „Wer sich auf eine der Bänke setzt, wird von einem Engel umarmt, er gibt dem Rastenden Flügel.“ Foto: Harzer Tourismusverband/Annette Frank „Wer sich auf eine der Bänke setzt, wird von einem Engel umarmt, er gibt dem Rastenden Flügel.“ Die in Handarbeit liebevoll und individuell erstellten Bänke sind zudem mit einem Bibelvers und einem QR-Code mit Informationen zum Weg und Ort versehen. Anders als der Jakobsweg oder der Loccum-Volken- röder Weg hat der Harzer Klosterwanderweg keine Tra- Engelsbänke bieten Rast auf dem Weg. dition als Pilgerweg. „Zum Pilgern braucht man keine besonderen Wege“, meinen Claudia und Axel Lundbeck. Lebens nachgedacht wird“, erklärt Claudia Lundbeck. Zudem führt der Weg auf den Spuren des historischen Dabei ist ihnen auch wichtig, den Ort wahrzunehmen, Hellweges, der zwischen dem Rhein und der Elbe ent- an dem die Gruppe sich aufhält. So ist die innerdeut- lang der nördlichen deutschen Mittelgebirgsschwelle sche Grenze, die die Menschen und auch die christli- führte. „Das Wegesystem haben neben Fernhandels- chen Gemeinden im Harz über Jahrzehnte geprägt hat, kaufleuten mit Sicherheit im Mittelalter auch Pilger immer ein Thema. Dafür nutzen sie auch Kontakte zu den genutzt“, sind sie überzeugt. Gemeinden entlang des Weges, die die Gruppen gerne Kann man Pilgern lernen? „Muss man nicht“, ist mit Kaffee und Kuchen verpflegen und von sich erzäh- Claudia Lundbeck überzeugt. „Einfach loslaufen und len. 2005 entstand auf Initiative der Ilsenburger Touris- machen!“ | Meike Buck 3 | 2022 | 20
Nachgefragt „Welche Chancen hat die Kirche im Rundfunk?“ Eine Antwort von Oliver Vorwald, Radiopastor für die Evangelische Kirche im NDR. Wir schaffen Nähe – morgens, mittags und abends. Mit Andachten (auf Hoch- und Plattdeutsch), Musikbeiträgen, Magazinsendungen und Got- tesdiensten begleiten wir als „Evangelische Kirche im NDR“ auf den Radio- wellen des NDR täglich bis zu 2,5 Millionen Menschen. Wer als Pastor kann schon von sich sagen, beim Aufstehen, auf dem Weg zur Arbeit und in die Nacht mit dabei zu sein? Allein die drei Sendereihen auf NDR1 Niedersachsen erreichen jeden Werk- tag mehr als eine Million Hörerinnen und Hörer. Hinzu kommen Formate im Foto: Jens Schulze Fernsehen wie „Das Wort zu Sonntag“ oder die „Klosterküche“ (Das Erste, N3). Die christlichen Verkündigungsbeiträge im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind eine wichtige Ausdrucksform für die Kommunikation des Evangeliums. Umso mehr, da wir in einer Zeit leben, wo vielerorts der Sonntagsgottesdienst nicht mehr der zentrale Versammlungsort der Gemeinde ist, die Teilnahme am schulischen Religionsunterricht zurückgeht und die Weitergabe des Evan- geliums im Familienkreis abbricht. Radio und Fernsehen sind die Kontaktflächen, über welche die allermeisten Menschen religiösen Inhalten begegnen. Hinzu kommen das Internet und die Social Media-Plattformen (insbesondere für die unter 30-Jährigen). Kom- mentare, Likes, Hörernachrichten zeigen: Gemeinde bildet sich auch „On Air“ und im Internet. Eine besondere Stärke der „Evangelischen Kirche im NDR“, unserer 16 Mit- arbeitenden und der fast 500 freien Autorinnen und Autoren, ist ihre Sprache. Sie erreicht und berührt auch jene Menschen, die den Kirchen fernstehen oder die sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnen. Träger der „Evangelischen Kirche im NDR“ ist das Evangelische Rundfunk- referat e.V. der norddeutschen Landes- und Freikirchen, darunter auch die Landeskirche Braunschweig. In ihrem Auftrag füllen wir seit 1949 die Sen- deplätze, die den Kirchen durch den NDR-Staatsvertrag eingeräumt werden. www.radiokirche.de 3 | 2022 | 21
Denker zwischen den Abbildung: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Welten U nter der Rubrik „Taufen“ steht im Kirchenbuch der Wolfenbütteler Schlosskirche, dass am 29. Juli 1708 „ein kleiner mohr“ in der Kapelle von Schloss Salz- dahlum in Anwesenheit der „Hochfürstlichen Herr- Als Sklave verschleppt und schaft“ getauft und „Anthon Wilhelm genannt“ wurde. gefördert vom Wolfenbütteler Dieser kleine Junge war damals ungefähr sieben Jahre alt. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine sehr weite und gefährliche Reise Herzog wurde der „Hofmohr“ von Westafrika nach Europa hinter sich. Anton Wilhelm Amo Heute steht zweifelsfrei fest, dass dieser afrikanische Junge nicht freiwillig nach Wolfenbüttel gekommen war, sondern sei- (1703 – 1759) zum ersten ner Familie in Axim im heutigen Ghana gewaltsam entrissen und afrodeutschen Philosophen. per Schiff als Sklave nach Europa verschleppt wurde. Die denk- würdige Geschichte dieses Jungen aus Ghana gehört folglich in Mit seinem Aufstieg durch den größeren Kontext des Sklavenhandels, eines der schlimms- Bildung kann er für heutige ten und opferreichsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte. Etwa zwanzig Jahre später schrieb sich Anton Wilhelm Amo als Menschen mit Migrationshin- Student der Philosophie in die Matrikel der Universität Halle ein. tergrund eine Art Vorbild sein. Es folgte eine glänzende Karriere als produktiver, renommierter Gelehrter und bei den Studenten beliebter Privatdozent an den Universitäten Halle, Wittenberg und Jena. Obwohl Amo keines- wegs, wie vielfach behauptet, die Ritterakademie in Wolfenbüt- tel oder die Universität Helmstedt besuchte, hat er in den Jahren 3 | 2022 | 22
Geschichte dazwischen am Wolfenbütteler Hof eine sehr gründliche Ausbildung in den sprachlichen und wissenschaftlichen Fächern erhalten. Amos Alma Mater Halle zählte im frühen 18. Jahrhun- dert zu den fortschrittlichsten Universitäten im deutsch- sprachigen Raum. Im Geiste der früheren Professoren und bedeutenden Aufklärer Christian Thomasius und Christian Wolff kam er dort mit dem Denken der Frühauf- klärung in Berührung. Gefördert von den Wolfenbütteler Herzögen und seinem Hallenser Mentor Johann Peter von Ludewig konnte der „erste schwarze Philosoph in Deutschland“ seine Interessen voll ausbilden und in selbst verfassten philosophischen Werken die eigene Foto: Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel philosophische Ausrichtung finden. Mit zwei überlieferten lateinischen Traktaten ging Amo als erster schwarzer Zunftgelehrter in die Philosophie- geschichte ein. In seiner Inauguraldissertation von 1734 Für einige gilt Anton Wilhelm Amo als Vordenker von Antirassismus und Antikolonialismus. Dokument mit der Unterschrift Anton Wilhelm Amos. über die „Unempfindlichkeit der menschlichen Seele“ Bisher noch nicht bekannt ist, dass Amo neben seinen konstatiert Amo eine strikte Trennung von Körper und lateinischen auch deutsche Werke verfasste. Er kann Geist und setzt sich explizit von René Descartes ab. Der damit nicht nur als erster afrodeutscher Philosoph, son- Geist des Menschen ist immer frei, auch wenn sein Kör- dern auch als erster schwarzer Dichter deutscher Zunge per verletzt oder gefangen gesetzt werden kann. gelten. Die Stuttgarter Forscherin Monika Firla hat zwei In einem weiteren Text „Über das Recht der Mohren deutschsprachige Gedichte aus der Feder von Amo ent- in Europa“, der bezeichnenderweise nicht überliefert deckt, mit denen er zum ersten schwarzen Literaten ist, setzt sich Amo für die Rechte schwarzer Menschen wurde, dessen Gedichte in Deutschland gedruckt wurden. ein. Für einige Aktivisten gilt er damit sogar als „Vor- Im Titel eines Glückwunschgedichts auf den Geburts- denker von Antirassismus und Antikolonialismus“. Fest tag seines fürstlichen Gönners Herzog August Wilhelm steht, dass Amo sich mit seinen philosophischen Wer- von Braunschweig-Wolfenbüttel von 1729 bezeich- ken ein vollkommen eigenständiges Profil bildete und net sich Amo selbst als „herzoglicher Bibliothekar und so zu einem Denker „zwischen den Welten“ und zu einem Sekretär“. Ob damit die herzogliche Bibliothek in Wol- Philosophen „ohne festen Wohnsitz“ wurde (Ottfried fenbüttel, also die Herzog August Bibliothek gemeint ist, Höffe). könnten weitere Nachforschungen zeigen. In einem wei- 3 | 2022 | 23
Foto: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Porträt einer jungen Dame von Anton Wilhelm Amo. teren Gedicht für seinen jüdischen Freund Moses Abra- zöge Anton Ulrich und August Wilhelm eine besondere ham Wolff macht Amo keinerlei „Unterschiede zwischen Affinität für Menschen schwarzer Hautfarbe hatten. Christen und Juden“ (Monika Firla). In den Romanen und Singspielen des bedeutenden Doch damit nicht genug, der vielseitig begabte Afro- Barockautors Herzog Anton Ulrich treten mehrfach deutsche hat sich auch als exzellenter Künstler und Äthiopier und Äthiopierinnen auf, die als sagenumwo- Zeichner hervorgetan. In der Thüringer Universitäts- bene Urchristen als besonders edelmütig und tugend- und Landesbibliothek Jena wird ein Stammbuch aufbe- haft galten. Wie die Quellen im Niedersächsischen Lan- wahrt, in das Amo das kunstvolle Porträt einer jungen desarchiv Wolfenbüttel zeigen, wirkten im Zeitraum von Dame mit Schnupftabakdose zeichnete. 1570 bis 1750 mehr als 40 Menschen afrikanischer Her- Mit seiner besonderen Biographie bildet Amo unter kunft als Bedienstete, Kammerdiener oder Musiker am den „Hofmohren“ der Frühen Neuzeit zweifellos eine Wolfenbütteler Hof. Ausnahme. Die Wolfenbütteler Herzöge ermöglichten Aufs Ganze ergibt sich ein zwiespältiges Bild: Mit ihm einen beispiellosen Aufstieg – vom aus Afrika ver- ihrer Vorliebe für farbige Menschen waren die Wel- schleppten Sklaven und späteren Wolfenbütteler Kam- fenherzöge einerseits Teil des Rassismus sowie des merdiener zum angesehenen Hochschuldozenten an grausamen Systems des Menschenhandels, anderer- mehreren deutschen Universitäten. Das immense Inte- seits ermöglichten sie ihren Schützlingen die berufliche resse an dieser Figur zeigt, dass Amo mit seinem Auf- Weiterbildung und Gründung eigener Familien. Wie das stieg durch Bildung für heutige Menschen mit Migrati- Beispiel Amo zeigt, diente dabei das identifikationsstif- onshintergrund eine Art Vorbild sein kann. Durch eine tende Ritual der christlichen Taufe nicht nur zur Ein- gute und sorgfältige Ausbildung kann Integration in gliederung in die frühneuzeitliche Ständegesellschaft, Deutschland auch heute gelingen. Möglich wurde die- sondern sie konnte sogar den Eintritt in die Welt der ser Aufstieg jedoch nur, weil die Wolfenbütteler Her- Wissenschaft ermöglichen. |Carsten Nahrendorf 3 | 2022 | 24
Kleine Kirchenkunde Kirchen im Konflikt Vor dem Hintergrund aktueller Krisen tagte der Weltkirchenrat in Karlsruhe. Besondere Streitpunkte: Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Israel- Palästina-Konflikt. Als der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) 1948 gegründet wurde, warf der Ost-West-Konflikt seine Schatten auf Europa und die Welt. Heute, fast 75 Jahre später, setzte sich der Weltkirchenrat, wie der ÖRK auch genannt wird, mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der Corona-Pandemie, dem Klimawandel und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich ausein- ander. Seine Vollversammlung tagte im September zum elften Mal, diesmal in Karlsruhe und erstmals in Deutsch- land. Foto: epd-bild/Thomas Lohnes Dem Weltkirchenrat gehören Kirchen in mehr als 120 Ländern und Gebieten weltweit an, die wiederum mehr als 580 Millionen Christinnen und Christen vertreten. Seine Mitglieder kommen heute vorwiegend aus Afrika, Asien, der Karibik, Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten sowie dem pazifischen Raum. In Karlsruhe: Dr. Agnes Aboom (Kenia), Vorsitzende des Streit gab es unter anderem um die Teilnahme einer ÖRK-Zentralausschusses; Metropolit Nifon von Targoviste Delegation der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK), der (Rumänien), stellvertretender Vorsitzender; Bischöfin Mary größten von 352 Mitgliedskirchen des Weltkirchenrates: Ann Swenson, (USA) stellvertretende Vorsitzende. Vor der Vollversammlung wurde immer wieder deren Ausschluss gefordert. Der ÖRK plädiert hier für Dialog, religiöser Sprache und Autorität zur Rechtfertigung von dennoch kam es zum Schlagabtausch. Der ukrainische bewaffneter Aggression und Hass sei abzulehnen. Erzbischof Jewstratij prangerte eine jahrhundertelange Stark umstritten war auch der Israel-Palästina-Konflikt. Unterdrückung seines Landes durch Russland an. Der Ein Eklat blieb aber aus. Kritiker hatten befürchtet, der aktuelle Angriffskrieg füge sich in die imperialistische Weltkirchenrat würde Israel zum Apartheid-Staat erklä- russische Geschichte zur Unterwerfung der Ukraine ein, ren. In einem zum Abschluss verabschiedeten Statement sagte Jewstratij. findet man einen Kompromiss: „In jüngster Zeit haben Die ROK wiederum wies Äußerungen von Bundesprä- zahlreiche internationale, israelische und palästinen- sident Frank-Walter Steinmeier zum Auftakt des Welt- sische Menschenrechtsorganisationen und juristische Ökumene-Gipfels zurück. Steinmeiers Anschuldigungen Gremien Studien und Berichte veröffentlicht, in denen seien völlig unbegründet, erklärte der russisch-ortho- die Politik und die Handlungen Israels als ‚Apartheid‘ im doxe Delegationsleiter, Metropolit Antonius. Zum Auftakt Sinne des Völkerrechts beschrieben werden.“ der Vollversammlung hatte der Bundespräsident die rus- Während einige Kirchen und Delegierte nachdrücklich sisch-orthodoxe Kirchenleitung in ungewöhnlich scharfer die Verwendung dieses Begriffs unterstützten, da er die Form verurteilt. Deren Leitung führe ihre Gläubigen auf „Realität der Menschen in Palästina/Israel und die völker- einen „glaubensfeindlichen und blasphemischen Irrweg“. rechtliche Lage zutreffend beschreibt“, hielten ihn andere Zum Abschluss verurteilte die Vollversammlung den für „unangemessen, wenig hilfreich und schmerzhaft“, so russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Krieg sei das Statement. Zu letzteren zählt die Evangelische Kirche mit dem Wesen Gottes unvereinbar. Jeder Missbrauch in Deutschland (EKD). |Stephan Cezanne/epd 3 | 2022 | 25
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