Narrative Medizin: Vermenschlichte Gesundheitsversorgung
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WIRTSCHAFT Narrative Medizin: Vermenschlichte Gesundheitsversorgung Ein Beitrag von Marlene Hartinger NARRATIVE MEDIZIN /// Ein kürzlich erschienener Artikel in der New York Times 1 widmete sich vor allem zwei Fragen: wie das Erleben einer medizinischen Versorgung für Patienten nachhaltig positiver und einladender gestaltet werden könnte und welches Potenzial in einer solchen Verbesserung läge. Die Antworten, die der Artikel bot, berührten in ihrer Einfach- heit: Was es dafür brauche, sei Zeit, zwischenmenschliche Kompetenzen wie Interesse am Gegenüber und Empathie, und das aktive Bemühen des Behandlers, unvoreingenommen Literatur auf den Patienten als Mensch einzugehen. All diese Aspekte wurden unter dem Begriff der „Narrative Medicine“ (Narrative Medizin) zusammengefasst. Begeistert von den Inhalten des Artikels konnte sich die ZWP-Redaktion ein exklusives Interview mit der New Yorker Vorreiterin der „Narrative Medicine“, Dr. Rita Charon, sichern. Anders als in Deutschland werden derzeit an über stellen und Anliegen in ihrer ganzen Dimension zu sehen. 80 Prozent der medizinischen Ausbildungsstätten in den Neben der Zeit als wichtige Ressource ist das genuine In USA die Kenntnisse und Fertigkeiten der Narrativen Medi- teresse am Patienten (durch unvoreingenommenes Nach- zin gelehrt.1 Dabei liegt der Fokus auf der Kunst des Deeply fragen und Erzählen lassen) ausschlaggebend für eine Listening, eines umfassenden, tiefgreifenden Zuhörens und moderne medizinische Versorgung, die den individuellen einer aktiven und unvoreingenommenen Auseinanderset- Bedürfnissen des Patienten gerecht wird und ihm ermög- zung von Behandlern mit ihren Patienten. Diese Fähigkei- licht, aktiv an den eigenen Therapie- und Heilungsprozes- ten gelten als entscheidende Kompetenzen für eine lang sen zu partizipieren. Denn Patienten, denen in der ärzt fristig erfolgreiche Interaktion zwischen Arzt und Patient, die lichen Betreuung authentisch und mit wirklichem Interesse schlussendlich viele Aspekte positiv beeinflusst: das Erzie- begegnet wird, fassen Vertrauen, steigern ganz natürlich len erhoffter Therapieausgänge, die Stärkung der Selbst ihre Mitarbeit und Compliance und werden so Teil eines heilungskräfte von Patienten und eine Entlastung des Ge- Teams. sundheitssystems. In diesem Sinne ist die Narrative Medizin als kommunikative Disziplin für alle (zahn)medizinischen Fachbereiche äußerst Narrative Medizin vs. relevant und trägt überall dort, wo Patienten Hilfe ersu- Betreuung vom Fließband chen, dazu bei, dass diesem Gesuch bestmöglich nach gekommen werden kann. Natürlich ist ein solcher Ansatz Die Narrative Medizin wird dabei als Gegenentwurf zu einem eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für jede Fast-Food-Ansatz in der (Zahn-)Medizin verstanden, der (zahn)medizinische Einrichtung in Zeiten von Fachkräfte- Arztgespräche und Konsultationen kurz und in der Regel mangel und zunehmenden Patientenzahlen – und doch: oberflächlich hält. Während die medizinische Betreuung als Zuhören mit Verstand und Empathie, gekoppelt mit einem Schnellprodukt vom Fließband Patienten oftmals überhaupt gekonnten Zeitmanagement, sind Stellschrauben, die sich nicht wahrnimmt, investiert die Narrative Medizin Zeit in bewusst erlernen und drehen lassen und dabei nicht nur den Patienten und lädt ihn ein, von sich, seinen Erfahrun- das eigene Menschsein ans Licht bringen, sondern letzt- gen, Ängsten und Erwartungen zu erzählen. Dabei fühlt lich auch, durch kleinere wie größere Therapieerfolge, die sich nicht nur der Patient ernst genommen, auch der Be- unternehmerischen Belange einer Praxis oder eines Be- handler erhält so die Möglichkeit, Symptome in Kontexte zu handlungszentrums sichern. 22 ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis – 4/2021
ANZEIGE Interview „Die Narrative Medizin erhöht die Effektivität des Gesundheitsteams“ Dr. Rita Charon ist Medizinerin und Literaturwissen schaftlerin an der Columbia University in the City of New York. Mit einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlern und Praktikern hat sie die Disziplin der Narrativen Medizin ins Leben gerufen. Im exklu siven Interview verrät die überzeugte Hochschulleh rerin und Leiterin der Abteilung für Narrative Medi- zin an der Columbia University, welchen Gewinn ihr narrativer Ansatz für die Akteure des Gesundheits systems und für Patienten bürgt. Dr. Charon, Sie sind Begründerin der Narrativen Me dizin und Leiterin der Abteilung für Narrative Medizin an der Columbia University. Wie hat sich dieser Schwerpunkt bei Ihnen ergeben und was macht die Narrative Medizin im Kern aus? Die Disziplin der Narrativen Medizin, wie sie heute in den USA vielfach gelehrt und umgesetzt wird, entstand aus meinem Bemühen und dem meiner Kollegen, die besonderen Kräfte und Wirkungsmöglichkeiten der Geisteswissenschaften und Künste in die Ausübung von Gesundheitsberufen einzubringen. Während zu - vor ein fragmentiertes Gesundheitssystem Patienten oftmals nicht adäquat versorgte, teilweise weil Ärzte, Zahnärzte, Krankenschwestern und Therapeuten nicht entsprechend ausgebildet waren, auf Patienten einzu- gehen, bringt die Narrative Medizin einen scheinbar einfachen Ansatz ins Spiel: Durch das Studium von Philosophien und Psychologien des Menschseins und das Eintauchen in kreative Formen der Literatur und der bildenden Künste lernen unsere Studierenden, komplexe menschliche Situationen wahrzunehmen, den Worten und Erfahrungen ihrer Patienten große Aufmerksamkeit zu schenken und ihre eigenen imagi- nativen Fähigkeiten auszubilden und zu nutzen, um die nicht selten komplizierten Situationen von Menschen zu verstehen, die eine medizinische Versorgung benö- tigen. Durch so eine Vorgehensweise werden Patien- ten gehört und gesehen, ihnen wird geglaubt und sie werden anerkannt. Diagnosen treffen ins Schwarze, indem sie soziale und persönliche Aspekte, die das Leiden der Patienten tangieren, einbeziehen. Kliniker können durch eine solche patientenorientierte Berufs- ausübung Fachkraft und Mensch zugleich sein und genau das tun, was in einer profitorientierten und unpersönlichen Gesundheitsversorgung am häufigs - ten fehlt. Unsere Studierenden werden zu Patienten
© Vincent Ricardel Sprechende (Zahn-)Medizin in Deutschland In Deutschland scheint die Narrative (Zahn)Medizin noch weit von einer flächendeckenden Umsetzung entfernt, obwohl sich fürsprechern und Aktivisten für Patienten laut einer Umfrage genau das wünschen: Zwei von eine gerechte und angemessene drei Bundesbürger sind, so erfasst es das aktuelle Healthcare Gesundheitsversorgung. Sie bil- Barometer 2020, mit den ärztlichen Behandlungen unzufrieden. den Gemeinschaften des Res- Hauptgrund für die Kritik ist, wie in Befragungsjahren zuvor, die Dr. Rita Charon pekts mit ihren Kollegen, die mangelnde Zeit, die der Arzt den Patienten bei Behandlungen ebenfalls unter diesen unpersön- widmet.2 Auch die BZÄK hat schon 2016 auf die unzureichende lichen Gesundheitssystemen leiden. Patienten sind so weniger Umsetzung einer sprechenden Zahnmedizin hingewiesen. Im isoliert und Behandler sind, genährt durch den authentischen Fazit seines Positionspapiers fasste Prof. Dr. Oesterreich er Kontakt, weniger einsam in ihrer Arbeit. nüchternd zusammen: „Die derzeitigen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen fördern leider nicht, trotz aller politischen Was verbirgt sich hinter dem Konzept des radikalen Zuhörens? Deklarationen über die Rolle und Bedeutung des Patienten im Radikales Zuhören findet genau dann statt, wenn Zuhörer ihre Gesundheitswesen, die Aspekte der Beratung und der Spre Voreingenommenheit und Annahmen beiseiteschieben, um das, chenden Zahnmedizin. Gesprächsanteile, in denen Beratung was ein anderer ihnen erzählt, vollständig und vorurteilsfrei auf- und Motivierung erfolgen und so schließlich Compliance bzw. und wahrzunehmen. Im Kontext einer zahnmedizinischen Versor- Adhärenz erzeugt wird, sind derzeit sowohl im Rahmen der ge gung könnte zum Beispiel der Zahnarzt einen Patienten – über setzlichen Krankenversicherung als auch der privaten Gebüh seine zahnmedizinischen Symptome hinaus – zu dessen Angst renordnung untergewichtet und unzureichend abgebildet […].“3 vor Schmerzen, zu früheren, womöglich schlechten Erfahrungen bei der Suche nach einer verständnisvollen zahnmedizinischen Betreuung oder zu seiner Scham über die eigene schlechte Zahnhygiene befragen. All diese Informationen geben dem Zahn- Patientenverstehende © Nick Harwart arzt ein viel komplexeres Bild des Patienten, als nur die Tatsache eines schmerzenden Zahns im Ober- oder Unterkieferbereich. Kommunikation braucht Eine Herausforderung des tiefgehenden Zuhörens in der Zahn- in Deutschland eine medizin, im Vergleich zu anderen medizinischen Fachbereichen, Lobby! besteht gewiss darin, dass Patienten während der meisten Be- handlungen nicht sprechen können. Damit muss das radikale Dr. Carla Benz ist Fakultätsmit Zuhören hier erweitert werden und „Botschaften“ von Patienten glied de Fakultät Gesundheit des während der Behandlungen, in Form von Muskelanspannungen Departments Zahnmedizin der und Gesichtsgrimassen, wahrgenommen werden. Auch das ge- Universität Witten/Herdecke. zielte Nachempfinden der Behandlungssituation aus der Sicht Eines ihrer Schwerpunkte in der des Patienten fließt direkt in das radikale Zuhören mit ein. zahnärztlichen Praxis ist die patien Dr. Carla Benz tenverstehende Kommunikation. Wie wirkt sich Narrative Medizin auf die Compliance von Patien ten und ihren Selbstheilungskräften aus? Frau Dr. Benz, warum findet das Thema Patientenkommunikation Wir wissen, dass empathische Beziehungen zu (Zahn-)Ärzten die an den deutschen Unis nach wie vor nur wenig Beachtung? Zufriedenheit der Patienten mit ihrer Versorgung nachhaltig ver- Gute Frage! Es ist ohnehin schon erstaunlich genug, wie lange wir bessern. Gerade in den USA lässt sich durch belastbare Vertrau- mit einer völlig veralteten Approbationsordnung gearbeitet haben, ensverhältnisse zwischen Ärzten und Patienten die Anzahl an obwohl sich die Zahnmedizin in den vergangenen drei Jahrzehnten Klagen aufgrund von medizinischen Behandlungsfehlern verrin- technisch so rasant entwickelt hat. Das Curriculum des Studiengangs gern und das Befolgen der Patienten von Empfehlungen stei- nach neuer Approbationsordnung 2020 ist wieder sehr breit gefä gern. Es hat sich gezeigt, dass die Narrative Medizin die Effek- chert und inhaltlich aufgebläht, wobei leider wichtige allgemeinmedi tivität des Gesundheitsteams erhöht und den Glauben der Pa- zinische Inhalte, wie die Vermittlung von kommunikativen Kompeten tienten stärkt, dass die Ärzte „auf ihrer Seite“ sind, was wiederum zen, gekürzt wurden. Immerhin wurde die Möglichkeit eingeräumt, die Compliance deutlich verbessert. Ich bin davon überzeugt, Kommunikation als Wahlfach zu wählen. Dass eine Beziehung zwischen dass gehetzte Kliniker die Selbstheilungskräfte ihrer Patienten Ärzt*innen und Patient*innen sich auch positiv auf Therapieadhärenz gar nicht wahrnehmen können, wohingegen all jene Behandler, und Behandlungserfolg auswirken kann, ist wissenschaftlich belegt. die ihren Patienten Raum und Zeit geben und darauf achten, Wir sollten zudem nicht unterschätzen, welchen gesellschaftlichen wer diese Patienten sind (jenseits der Diagnosen), die Selbst- Stellenwert die zahnärztliche Versorgung in Deutschland hat. Allein heilungskräfte der Hilfesuchenden erkennen und direkt fördern aufgrund der halbjährlichen Vorsorgeuntersuchungen konsultieren können. uns Patient*innen häufig regelmäßiger als ihre Hausärzte*innen. Jeder Zahnarzt*in, der/die seit vielen Jahrzehnten eine Praxis führt, wird bestätigen können, dass es nicht nur um das zahnmedizinischtech nische „Versorgen“ geht. Mit der Zeit etablieren sich sensible Ver trauensverhältnisse zu ganzen Familien. Gegenseitiges Vertrauen ist Das komplette Interview mit im (zahn)medizinischen Alltag die entscheidende Basis. Regelmäßig Dr. Rita Charon im Original auf vermittelte kommunikative Kompetenzen wären da eine hilfreiche Englisch finden Sie hier. Wissensgrundlage.
IPC – Individual Prophy Cycle: Das patientenorientierte Präventionskonzept Prophy-Profis wissen: Jeder dentale Status quo erfordert individuelle Behandlungsmaßnahmen. Um dem gerecht zu werden, hat W&H gemeinsam mit Zahnmedizinern den Prophy-Workflow „IPC“ entwickelt. Dieses Konzept stellt die unterschiedlichen Patientenbedürfnisse in den Prophy for Mittelpunkt und ist die hochprofessionelle Grundlage für Professionals alle W&H-Prophy-Anwendungslösungen. by W&H Mehr Infos dazu unter wh.com
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