NATHAN DER WEISE SCHAUSPIEL VON GOTTHOLD EPHRAIM LESSING - Spielzeit 2018/19 - Theater für Niedersachsen
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MENSCHLICHKEIT IM MITTELPUNKT Jerusalem, zur Zeit der Kreuzzüge. Als der jüdische Kaufmann Nathan von einer Geschäftsreise zurückkehrt, erfährt er, dass seine Tochter Recha von einem jungen Tempelherrn aus seinem brennenden Haus gerettet wurde und seitdem für ihren Schutzengel schwärmt. Der Tempelherr wiederum verdankt sein Leben dem muslimischen Herrscher Jerusalems, Sultan Saladin, der ihn begnadigt hat, weil er seinem verstorbenen Bruder ähnlich sieht. Saladin befindet sich in finanziellen Schwierigkeiten und lässt deshalb Nathan zu sich bringen. Aber anstatt ihn direkt um einen Kredit zu bitten, gibt Saladin vor, zunächst Nathans überall gepriesene Weisheit testen zu wollen. Er stellt ihm die höchst heikle Frage, welche Religion die einzig wahre und richtige sei, die christliche, die jüdische oder die muslimische. Nathan antwortet mit einem Gleichnis, der berühmt gewordenen „Ringparabel“, das statt religiöser Dogmen die gelebte Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Schon für Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) war sein „dramatisches Gedicht“ von 1779, uraufgeführt 1783, ein Manifest für den Humanismus der Aufklärung. Angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage weltweit gewinnt dieser Klassiker wieder an neuer Kraft: Die einen predigen Toleranz, Menschlichkeit und Respekt, die nächsten bestehen darauf, dass wir zuallererst die Grenzen unseres Wertesystems diskutieren müssen, während die dritten blind drauflos schlagen. Muss uns Lessings Weltgemeinschaft heute als unerreichbare Utopie erscheinen? Oder kann man den hoffnungsstiftenden Bogen von der Aufklärung in unsere Gegenwart schlagen, dass Verständigung über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg möglich ist? „Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, Verträglichkeit, Wohltun, Mit Ergebenheit in Gott zu Hilf ’!“ Nathan 2 Martin Schwartengräber (Nathan), hinten: Moritz Nikolaus Koch (Tempelherr) 3
WARUM „NATHAN DER WEISE“ von Dieter Hildebrandt berühmten jüdischen Schauspieler, die diese Rolle gespielt hätten, außer Landes, wenn sie rechtzeitig haben fliehen können; dann liegt der Text brav in den Archiven „Vor grauen Jahren lebt ein Mann im Osten, der Theater, dann ist die ganze Thematik der Menschen-Behutsamkeit, des Religions- der einen Ring von unschätzbarem Wert Respekts, der Vernunftlust und -list geächtet und geschändet, und auf einmal tragen Aus lieber Hand besaß. alle Juden, wie auf Verabredung, gelbe Sterne. Und schlimmer noch: Gerade dann, Der Stein war ein Opal, wenn das deutsche Publikum nicht so begierig auf den „Nathan“ ist, passieren im der hundert schöne Farben spielte, Lande Dinge wie die, die der Jude Nathan erlebt, knapp überlebt hat: und hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, „Ihr wisst wohl aber nicht, wer in dieser Zuversicht ihn trug …“ dass wenig Tage zuvor, in Gath die Christen alle Juden Mit Weib und Kind ermordet hatten; Wahrlich, das ist nationales Kulturgut, unzerstörbar, unverlierbar, das gehört zum Wißt wohl nicht, dass unter diesen meine Frau geistigen Bestand. Mögen unsere Städte zerstört werden von Kriegen und Kauf Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich befunden, häusern – die Ringparabel kann uns keiner nehmen. die in meines Bruders Hause, Nur manchmal können wir sie nicht hören; gelegentlich ist das deutsche Publikum Zu dem ich sie geflüchtet, nicht so begierig auf den „Nathan“ und die Worte des weisen Juden: Dann sind die insgesamt verbrennen müssen …“ 4 Martin Schwartengräber (Nathan) und Dennis Habermehl (Saladin) 5
Können denn solche Szenen vorausgeschrieben worden sein in einem Land, dass Ephraim Lessing. Er ist sich selber treu geblieben. Das ist sein Lebenswerk und sein die „Endlösung“ dann dennoch betrieb oder doch zuließ? Wie soll man verstehen, Überlebensrisiko, sein Luxus und sein Beispiel. Und Lessing ist immer noch unterwegs: dass die Deutschen erst bei „Holocaust“ begreifen, was ihnen schon beim Nathan hätte Angst machen müssen? Das, wessen sie leider auch fähig sind: Aufhetzbarkeit, „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, hysterische Parteinahme und Begriffsstutzigkeit gegenüber der eigenen Gegenwart … sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kom- Die deutsche Geschichte ist ein viel drastischerer Dramaturg gewesen und sie hat die men, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Figur des Nathan oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt, die Ringparabel bis zur Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer Wortlosigkeit oder bis zum Schrei verkürzt. wachsende Vollkommenheit besteht. Der Besitz macht ruhig, träge und stolz –“ Wer trägt die Schuld, dass der „Nathan“ (wie Helmut Göbel schreibt) nur als „zeitgemäß supranationales Wiedergutmachungsstück“ gespielt wird, also jeweils zu Wenn wir nichts von Lessing lernen, als wie man zum Sultan geht, nichts vom Nathan spät, und nicht als Gutmachungsstück, also beizeiten gelesen, verstanden, beherzigt begreifen als diesen schweren immerwährenden Weg, dann wird dies ein anderes, ein wird? Die „durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers“ (so Max Frisch über glücklicheres Land. Brecht) oder die bis zum Durchschlagen hochgeputschte deutsche Seele? Die Literatur oder die Lethargie? Lessing oder wir? Die Spannung ist nicht aufzuheben, Hugo von Hofmannsthal hat sie am genauesten bezeichnet: „Er war von einem anderen Geschlecht; er zeigte eine Möglichkeit deutschen Wesens, die ohne Nachfolge blieb … Seine Bedeutung für die Nation liegt in seinem Widerspruch zu ihr. Innerhalb eines Volkes, dessen größte Gefahr der gemachte Charakter ist, war er echter Charakter.“ Eine schöne Deutung, die Walter Jens der Figur gegeben hat, indem er Lessing sprechen lässt: „Ich wollte den Wucherer Shylock mit seinem Opfer versöhnen – mit Antonio, dem Kaufmann, aus dessen Leib sich der Jud sein Pfund Fleisch heraus- schneiden möchte … Diese beiden in einer einzigen Figur zu vereinen – einem Menschen-Bürger, der für alle steht, die guten Willens sind. Am Beispiel Nathans, des erlösten Shylock, eine Welt vorwegzunehmen, in der Jud so viel wie Christ gilt, Frau so viel wie Mann. Das Zauberreich der Toleranz. Vorschein einer Welt, die gerecht … und menschlich ist. Aber ich hab’s nicht geschafft. Familiarität und blutiger Hass, Wirklichkeit und Utopie … das wollte sich einfach nicht fügen. Das ging nicht zusammen“. Der Hinweis auf eine Passage sei erlaubt, auf eine Stelle, die im Stück gar nicht vorkommt: Nathan auf dem Weg zum Sultan – unerschrocken, gefasst und die Fragen bedenkend, die auch als Fallen gestellt werden können, die Wahrheiten übergehend, die nur Fußangeln sind, die Kleinmütigkeiten abwehrend, die immer am Wege lagern, und vor allem darauf bedacht, mit sich selbst im Reinen zu bleiben. So wie Nathan zum Saladin geht, so ist Lessing durch seine Zeit gegangen: Ein Mann allein, so hatte er es am liebsten, so wusste er sich am stärksten. Der Einzelgang war der erste Schritt seines Selbstbewusstseins; er bestimmte bis zuletzt die Laufbahn dieses Gotthold 6 Lilli Meinhardt (Recha) und Moritz Nikolaus Koch (Tempelherr) 7
„TRETET EIN, DENN AUCH HIER SIND GÖTTER!“ Lessing hat seinem Drama ein Motto vorangestellt: „Introite, nam et heic Dii sunt!“, was übersetzt so viel bedeutet wie „Tretet ein, denn auch hier sind Götter!“. Ursprüng- lich handelt es sich bei dem Motto um einen Ausspruch des griechischen Philosophen Heraklit (circa 480 v. Chr.). Eine überlieferte Anekdote berichtet, dass Heraklit einst von Fremden besucht wurde; als diese jedoch sahen, wie der Philosoph sich an einem Backofen wärmte, blieben sie zunächst an der Tür stehen, worauf Heraklit ihnen zurief: „Tretet ein, denn auch hier sind Götter!“ Die Aussage bezieht sich ursprünglich also nicht auf einen Tempel oder einen sakralen Bereich, sondern auf eine schlichte Alltagssituation und einen auf den ersten Blick alles andere als göttlichen Raum, die Küche. Die Botschaft hinter diesem Zitat ist einfach: Nicht im Besonderen, son- dern im Alltäglichen wirkt das Göttliche. Es ist demnach jedem Menschen möglich, wenn er dies erkennt, zu Gott zu gelangen. Gott ist überall, sein Wirkungsraum ist unbegrenzt und man kann jederzeit in diesen eintreten. 8 Martin Schwartengräber (Nathan) und Lilli Meinhardt (Recha). Klagemauer in Jerusalem 9
Geht man nun davon aus, dass Lessing der Auffassung gewesen ist, dass alle mono- theistischen Religionen mehr oder weniger die gleiche Glaubensgrundlage haben, da sie „alle sich [...] auf Geschichte [gründen]“ (Nathan), warum hat er dann nicht direkt das Motto etwa in der Form „Tretet ein, denn auch hier ist Gott!“ oder „... denn auch hier ist das Göttliche!“ notiert. Dies könnte damit zusammenhängen, dass der Begriff „Gott“ zu eng mit dem christlichen Glauben verwoben gewesen ist. Deshalb hätte seine Verwendung dazu führen können, dass man Lessing als Verfechter des Christentums als den einzig wahren Glauben hingestellt hätte. Die ins Plurale gewandte Formulierung „Götter“ hingegen vermeidet eine zu sehr parteiisch belastete Begrifflichkeit und wirkt, unterstrichen durch den ursprünglichen zeitlichen Abstand des Zitatkontextes, neutral. Andererseits wäre „Tretet ein, denn auch hier ist das Göttliche!“ wiederum zu weit gefasst. Die hinter dem Drama stehende Botschaft wäre dann zu allgemein und zu wenig aussagekräftig erschienen und hätte damit ihre Wirkung verfehlt. Auf die vorgestellte Art und Weise aber finden alle im Zuschauer- raum ihren eigenen Glauben im Drama durch verschiedene Charaktere verkörpert. Alle können so über deren vorgetragene Ansichten reflektieren und sich fragen, ob und wie sie zu diesen stehen. Generell ist das Motto, bezogen auf das Theater, als Aufforderung an die Zuschauer gemeint, gedanklich in das Stück einzutreten, sich mit dem Gezeigten auseinanderzusetzen und es nicht einfach als einzig geltende Wahrheit hinzunehmen. Charlie Müller IHR STUHL IM TfN! Mein Theater. Mein Platz. Mein Stuhl! www.tfn-online.de/stuhlpaten-gesucht/ 10 Katharina Wilberg (Daja) und Martin Schwartengräber (Nathan) 11
NATHAN DER WEISE Regieassistenz und Abendspielleitung Fenja Waginzik Ausstattungsassistenz Melanie Slabon Schauspiel von Gotthold Ephraim Lessing Inspizienz Mick Lee Kuzia Soufflage Cindy Mikosch Sounddesign Paul Flemming PREMIERE 26. Mai 2018, Großes Haus Regiehospitanz Felix Detering AUFFÜHRUNGSDAUER ca. 2 Stunden 40 Minuten, inklusive einer Pause TECHNIK/WERKSTÄTTEN INSZENIERUNG Bettina Rehm Technische Direktion Konstanze Gindl* AUSSTATTUNG Julia Hattstein Mitarbeiter Technische Direktion Alexander Maxein DRAMATURGIE Cornelia Pook Ausstattungsleitung Hannes Neumaier* Technische Leitung Produktion Andrea Radisch* Bühnentechnik Marcus Riedel*, Jenny Zentner, Josef Dettmar ENSEMBLE Beleuchtung Lothar Neumann*, Leah Elise Christ, Lars Neumann Sultan Saladin Dennis Habermehl Ton Indra Bodnar*, Attila Bazso, Paul Flemming Sittah, dessen Schwester Angelina Berger Maske Carmen Bartsch-Klute*, Ilka Beyer-Wessel, Birgit Heinzmann, Jennifer Mewes Nathan, ein reicher Jude in Jerusalem Martin Schwartengräber Requisite Silvia Meier* Recha, dessen angenommene Tochter Lilli Meinhardt Schneidereien Annette Reineking-Plaumann*, Egon Voppichler*, Anne Lauterbach, Daja, Gesellschafterin der Recha Katharina Wilberg Philipp Winkler Ein junger Tempelherr Moritz Nikolaus Koch Werkstättenleitung Werner Marschler* Ein Derwisch Tonio Schneider Tischlerei Johannes Niepel*, Dietmar Ernst Der Patriarch von Jerusalem Simone Mende Malsaal Simon Wolff Ein Klosterbruder Jonas Kling Schlosserei Joachim Stief* Dekoration Danja Eggers-Husarek, Anita Quade * Abteilungsleiter/-in Bettina Rehm Julia Hattstein Angelina Berger Dennis Habermehl Jonas Kling Moritz Nikolaus Koch Lilli Meinhardt Simone Mende 12 13
IMPRESSUM TfN · Theater für Niedersachsen Theaterstraße 6, 31141 Hildesheim | www.tfn-online.de | Spielzeit 2018/19 Intendant Jörg Gade | Prokuristen Claudia Hampe, Florian Ziemen Redaktion Cornelia Pook | Texte Hildebrandt, Dieter: Lessing. Biographie einer Emanzipation, München 1979 (der Text „Warum NATHAN DER WEISE“ heißt im Original „Obduktion II“ und wurde für dieses Programmheft gekürzt); Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert, München 1970. Charlie Müller: Das Motto zu NATHAN DER WEISE, München 2000 (für dieses Programm- heft stark gekürzt). | Bild Seite 9 ©picture-alliance/ dpa, Foto: Andreas Gebert Probenfotos Falk von Traubenberg | Porträtfotos T.Behind-Photographics, privat Titelbild LOOK//one GmbH | Layout Jolanta Bienia Druck Quensen Druck + Verlag GmbH Fotografieren sowie Ton- und Bildaufzeichnungen sind nicht gestattet und verstoßen gegen das Urheberrechtsgesetz. Gefördert durch: Medienpartner: Sponsoren/Partner: Freunde des Theater für Niedersachsen e. V. Tonio Schneider Martin Katharina Wilberg Schwartengräber Dennis Habermehl (Saladin), Lilli Meinhardt (Recha), 14 Moritz Nikolaus Koch (Tempelherr) und Angelina Berger (Sittah) 15
„WENN HAT, UND WO DIE FROMME RASEREI, DEN BESSERN GOTT ZU HABEN, DIESEN BESSERN DER GANZEN WELT ALS BESTEN AUFZUDRINGEN, IN IHRER SCHWÄRZESTEN GESTALT SICH MEHR GEZEIGT, ALS HIER, ALS ITZT?“ Tempelherr in NATHAN DER WEISE
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