Netzentgelte 2019: Zeit für Reformen - Impuls - Agora Energiewende
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Netzentgelte 2019: Zeit für Reformen Impuls Andreas Jahn, Regulatory Assistance Project April 2019 ajahn@raponline.org Thorsten Lenck, Agora Energiewende thorsten.lenck@agora-energiewende.de Dr. Patrick Graichen, Agora Energiewende
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag 1 Netzentgelte 2019 So hat die Bundesnetzagentur in ihrem Datenblatt der Strom- und Gasnetzbetreiber vom 12. Dezember Die Kosten für die Stromnetze sind neben der Förde- 20181 unter anderem folgende Daten der Stromnetz- rung der Erneuerbaren Energien der größte Posten betreiber geschwärzt (vgl. Abbildung 1): auf unserer Stromrechnung. Diese Netzkosten erge- ben sich aus dem individuellen Stromverbrauch und → Regulierungskonto: Saldo des Jahres und Zu- be- den Preisblättern des örtlichen Netzbetreibers. Da ziehungsweise Abschlag aus der Auflösung des die Regulierungsbehörden jedoch nur die Erlösober- Saldos des Regulierungskontos → Grundlagen der Berechnungen des Effizienzwerts grenze genehmigen, besteht ein gewisser Spielraum, → Anzahl der Anschlusspunkte diese in Preisblätter umzusetzen. Ein direkter Rück- → Anzahl der Messstellen schluss auf die Höhe der Netzkosten lässt sich auf- → Stromkreislängen grund der Netzentgelte nur bedingt ziehen. → zeitgleiche Jahreshöchstlast → installierte dezentrale Erzeugerleistung Noch mehr geschwärzt: Die Netzdaten 2019 sind → Summe der Aufwandsparameter noch intransparenter als bisher → summierter Kapitalkostenaufschlag Aufgrund einer Entscheidung des Bundesgerichts- → dauerhaft nicht beeinflussbare Kosten hofs vom Dezember 2018 hat die Bundesnetzagentur → genehmigte Investitionsmaßnahmen → vorgelagerte Netzkosten den Umfang der vor eineinhalb Jahren begonnenen → vermiedene Netzentgelte Veröffentlichung der Netzbetreiberdaten nach § 31 → Anpassungsbetrag volatile Kosten Anreizregulierungsverordnung (ARegV) nun wieder deutlich verringert. Abbildung 1: Geschwärzte Veröffentlichung der Netzbetreiberdaten durch die Bundesnetzagentur Bundesnetzagentur (2018): Datenblatt der Strom- und Gasnetzbetreiber (Stand 12.12.2018) 1 Bundesnetzagentur (2018) 2
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag Im Kern darf die Bundesnetzagentur laut eigenen haben. Rechtssicherheit ist damit frühestens im Ap- Aussagen nur noch die Ergebnisse dieser Berech- ril 2019 mit der Entscheidung des Bundesgerichts- nungen, das heißt die Erlösobergrenzen und die Effi- hofs zu erwarten. Auch der Effizienzwert ist noch zienzwerte veröffentlichen. Zudem hat sich der Um- Gegenstand von Konsultationen,3 sodass auch die fang der von der Bundesnetzagentur regulierten Netzentgelte für 2019 nur auf Basis von „vermute- Unternehmen verringert. So hat im Januar 2019 die ten“ Werten gebildet werden konnten. Die Abwei- Landesregulierungsbehörde Thüringen ihre Arbeit chungen, die sich durch die tatsächlichen Eingangs- aufgenommen. Damit reguliert die Bundesnetzagen- werte ergeben, werden auf die Erlösobergrenzen und tur nur noch gut 200 der rund 900 Stromnetzbetrei- damit die Netzentgelte des folgenden Jahres ver- ber, nämlich die vier Übertragungsnetzbetreiber, die schoben. Verteilnetzbetreiber mit mehr als 100.000 ange- schlossenen Kunden sowie, per Organleihe, in vier Faktisch ergibt es sich daraus, dass die Veränderun- Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Bremen und gen der dritten Regulierungsperiode erst zusammen Schleswig-Holstein) die Strom- und Gasnetze mit mit der Veröffentlichung der vorläufigen Netzent- weniger als 100.000 angeschlossenen Kunden. Bei gelte für 2020 am 15. Oktober 2019 ersichtlich wer- der Veröffentlichung von Transparenzdaten fallen den können. die Landesregulierungsbehörden zudem nochmals stark hinter die der Bundesnetzagentur zurück, so- Änderungen durch das Netzentgeltmodernisie- dass insgesamt der Befund, dass die Netzkosten und rungsgesetz: Offshore-Umlage trägt Netzkosten Netzentgelte die „Blackbox“ der Energiewende dar- Das 2019 erstmals wirkende Netzentgeltmoderni- stellen2, heute mehr denn je gilt. sierungsgesetz (NEMoG) zielt darauf ab, sowohl die Netzkosten zwischen den Übertragungsnetzen Doch die Bundesnetzagentur hat selbst die Erlös- gleichmäßiger zu verteilen als auch die Netzkosten obergrenzen 2019, aus denen sich etwa die Kosten zu begrenzen. Hierfür wurde die bisherige Umlage des Übertragungsnetzes berechnen ließen, noch für die Offshore-Haftung in eine Umlage für die nicht bekannt gegeben. Offshore-Netzanbindung umgebaut. Im Jahr 2018 waren laut Bundesnetzagentur noch 1,5 Milliarden Hintergrund dürfte sein, dass mit dem Jahr 2019 die Euro für die Offshore-Anbindung in den Erlösober- dritte Regulierungsperiode für Stromnetze entspre- grenzen der Übertragungsnetzbetreiber enthalten. chend der Anreizregulierungsverordnung beginnt. Diese Kosten wurden in die Netzkosten aller vier Das heißt, die Regulierungsbehörden legen die Erlös- Übertragungsnetze gewälzt und somit bundesweit obergrenzen, also die erlaubten Erlöse der Netzbe- von allen Netzkunden getragen. Dadurch, dass diese treiber, neu fest. Maßgeblich neu sind in jeder Regu- Kosten nun in die neue Umlage überführt wurden, lierungsperiode die erlaubte Eigenkapitalverzinsung werden sie nun von den umlagepflichtigen Kunden und der Effizienzwert des Netzbetreibers. Die Fest- in Deutschland gezahlt – de facto kein großer Unter- legung der kalkulatorischen Eigenkapitalverzinsung schied.4 Durch die Reform werden 2019 1,7 Milliar- durch die Bundesnetzagentur ist noch Gegenstand den Euro für die Netze in der Nord- und Ostsee über eines laufenden Verfahrens. Die Bundesnetzagentur die neue Offshore-Umlage von 0,416 ct/kWh5 ge- hatte eine Senkung der Eigenkapitalrendite entspre- deckt. chend der allgemeinen Zinsentwicklung verordnet, für Neuanlagen beispielweise auf 6,91 Prozent, gegen Die bisher sehr heterogenen Netzkosten hat das NE- die sich Netzbetreiber gerichtlich zur Wehr gesetzt MoG damit wenig verändert, das große Land-Stadt- 2 Agora Energiewende/RAP/Raue LLP (2018) 4 Bundesnetzagentur (2019a) 3 Bundesnetzagentur (2019b) 5 Übertragungsnetzbetreiber (2018) 3
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag beziehungsweise Nordost-Südwest-Gefälle bleibt sichtlich.6 Eine weitere Absenkung ist dementspre- bestehen, wie Abbildung 2der Bundesnetzagentur chend auch mit den 2019er-Zahlen zu erwarten. Die für das Jahr 2018 zeigt. erste Abschmelzung der Netzentgelte für EEG-Anla- gen hat auch erste Auswirkungen auf die EEG-Um- Vermiedene Netzentgelte: Kosten begrenzt und lage, die 2018 um 200 Millionen Euro und für 2019 teilweise in EEG-Umlage verschoben nochmal um rund 130 Millionen Euro ansteigt. Weiterhin werden mit dem Gesetz die sogenannten vermiedenen Netzentgelte abgeschmolzen. Diese Das Grundsatzproblem der Zahlungen der „vermie- sind Auszahlungen der Netzbetreiber an Stromer- denen Netzentgelte“ wird jedoch nicht aufgelöst. zeuger, die unterhalb der Übertragungsnetzebene Auch nach der Reform bleibt weiterhin ein wirt- Strom in das Netz einspeisen. Da sich die Höhe die- schaftliches Interesse fossiler Erzeuger erhalten, in ser Auszahlungen an der Höhe der Netzentgelte ori- nachgelagerte Spannungsebenen einzuspeisen. Vo- entiert, waren diese in den vergangenen Jahren kon- raussichtlich wird diese Förderung etwa mit einer tinuierlich gestiegen, ohne dass es hierfür eine Milliarde Euro jährlich dauerhaft fortgeschrieben – Berechtigung gegeben hätte. Zudem gab es den An- eine Förderung, die sogar Netzausbau verursachen reiz, Kraftwerke auf niedrigere Spannungsebenen kann. „umzuhängen“, nur um von diesen Zahlungen zu profitieren. Netzkosten steigen 2019 um 1,5 bis 2 Milliarden Euro, Netzentgelte bleiben aber stabil Das Gesetz begrenzt die Höhe dieser Zahlungen auf Insgesamt bleiben die Netzentgelte wohl annähernd dem 2016er-Niveau und streicht sie zudem inner- auf dem Niveau von 2018. Unternehmen wie die halb der nächsten drei Jahre für Windkraft- und So- ene’t GmbH7, die diese Daten bundesweit erheben, laranlagen. Dies erhöht die EEG-Kosten in entspre- kommen zu dem Schluss, dass Haushaltskunden im chendem Umfang. Mittel um 0,5 Prozent entlastet werden. Entspre- chend ist derzeit davon auszugehen, dass die Erlös- In der Tabelle 1 wird bei den Planwerten der vermie- obergrenze von rund 24 Milliarden Euro aus 20188 denen Netzentgelte für 2018 diese Trendumkehr er- auch für 2019 angesetzt werden kann, sofern die Tabelle 1: Entwicklung der vermiedenen Netzentgelte sowie der Offshore-Umlage [Mio. Euro] 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 vermiedene Netzentgelte 1.279 1.489 1.784 1.853 2.526 1.353 Offshore-Umlage 1 162 5 184 1.705 Netzzuschuss an EEG-Konto (vermie- dene Netzentgelte für EEG-Anlagen) 750 850 876 677 546 Bundesnetzagentur (2018), Übertragungsnetzbetreiber (2018). Dargestellt sind die Werte in der Zuständigkeit der Bundesnetzagentur, Wert der vermiedenen Netzentgelte für 2018 ist Planwert. 6 Hinweis: Die zitierten vermiedenen Netzentgelte stellen keine vermiedenen Netzentgelte umfasst (Bundesnetzagentur2015: Gesamtwerte dar, da die Bundesnetzagentur nicht für alle dort Bericht zur Netzentgeltsystematik). erfassten Anlagen zuständig ist. Für 2015 hat die Bundesnetza- 7 ene’t (2019) gentur geschätzt, dass ihre Zuständigkeit rund 85 Prozent der 8 Agora Energiewende/RAP (2018) 4
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag Anhörungswerte in der Genehmigung bestehen blei- Durch die Verschiebung der Kosten in Umlagen ben. ergibt sich zudem ein abweichender Verteilungs- schlüssel. Die Netzentgelte werden von der Höchst- Auch wenn die genehmigten Erlöse der Netzbetrei- spannung in die Niederspannung gewälzt und den ber von rund 24 Milliarden Euro im Wesentlichen Verbrauchern entsprechend den in Anspruch ge- fortgeschrieben werden, so sind doch ganz erhebli- nommenen Netzebenen über Leistungs- und Ar- che Beträge in die Umlagen verlagert worden. In beitspreise, beziehungsweise für Haushaltskunden Summe steigen die bisher als Netzkosten bezeichne- über den Arbeitspreis und einen optionalen (jedoch ten Kostenkomponenten 2019 um rund 1,5 bis 2 Mil- fast flächendeckenden) Grundpreis, in Rechnung ge- liarden Euro, also zwischen sechs und acht Prozent. Abbildung 2: Verteilung der Netzentgelte für Haushaltskunden Bundesnetzagentur (2019) 5
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag stellt. Die Umlagen werden hingegen jeder Endkun- nig verändert, das große Stadt-Land- beziehungs- din und jedem Endkunden ausschließlich als Ar- weise Nordost-Südwest-Gefälle bleibt bestehen, wie beitspreis (ct/kWh) berechnet. In beiden Systemen Abbildung 2 der Bundesnetzagentur für das Jahr gibt es zudem umfängliche Ausnahmen für industri- 2018 zeigt. elle und andere Vielverbraucher. Trend zu höheren Grundpreisen hält an und ver- Bei der Betrachtung der Kostenverschiebung aus den stärkt Ungerechtigkeit gegenüber Kleinverbrau- Netzentgelten in die Umlage ergibt sich ein hetero- chern generes Bild, da die Netzkosten lokal unterschiedlich Auch wenn die Netzentgelte insgesamt wohl annä- sind. Dort, wo vermiedene Netzentgelte für Erneuer- hernd auf dem Niveau von 2018 bleiben, gilt dies bare-Energien-Anlagen hoch waren, ist eine Entlas- nicht in allen Kundengruppen. Insbesondere Klein- tung gegeben. Sofern im jeweiligen Verteilnetz bis- verbraucher haben tendenziell mit steigenden Netz- her kaum dezentrale Erzeugungsanlagen entgelten zu kämpfen – wenn auch nur in manchen angeschlossen sind, ergibt sich für die dortigen Ver- Netzgebieten. In der Tabelle 2 ist eine nicht reprä- braucher eine Mehrbelastung. Grundsätzlich könnte sentative Auswahl von zehn Netzbetreibern aufge- dies einen Ausgleich zwischen den Netzregionen führt, die über mehrere Jahre von uns ausgewertet darstellen, wenn die Energiewendekosten nun von wurde. allen Verbrauchern gleichmäßiger getragen werden. Das ist insgesamt aus Gründen der bundesweiten Die Grundpreise bei diesen Netzbetreibern sind im Verteilungsgerechtigkeit zu begrüßen. Durchschnitt von 2018 auf 2019 um fünf Prozent angestiegen, seit 2016 beträgt die Erhöhung sogar 68 Trotz dieser gesetzlichen Änderungen bleiben die Prozent. Der Effekt: Geringverbraucher werden bisher sehr heterogenen Netzkosten insgesamt we- kaum bis gar nicht entlastet, größere Haushaltskun- den und kleine Gewerbekunden hingegen schon. Tabelle 2: Grundpreise für Haushaltskunden in ausgewählten Stromnetzgebieten (Euro pro Jahr) 2016 2017 2018 2019 Stuttgart 0 0 0 0 Netze BW 0 0 28,00 28,00 Berlin 23,70 33,36 33,36 33,36 WeserNetz 40,00 58,00 50,00 56,00 Westnetz 43,92 51,10 54,75 58,40 Edis 54,36 58,40 62,05 62,05 Bayernwerk 54,00 60,00 62,05 65,70 EnergieNetz 54,00 66,00 72,00 76,00 SW Tübingen 75,00 75,00 75,00 85,00 EWE 40,00 70,00 96,00 96,00 Durchschnitt 38,50 47,19 53,32 56,05 Preisblätter der aufgelisteten Netzbetreiber 6
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag Damit setzt sich der schon zu den vergangenen Jah- Im Gegensatz dazu erhebt das Stromnetz Berlin auch reswechseln beobachtete Trend9 fort, ohne dass es Grundpreise für diese Netznutzungen. Von den be- dafür eine Begründung gäbe. In ein und derselben trachteten zehn Netzbetreibern werden in Berlin zu- Kundengruppe eines Netzbetreibers ergeben sich dem die geringsten Arbeitspreise (0,93 ct/kWh) für durch die unterschiedlichen Netzentgeltbestandteile die steuerbaren Verbrauchseinrichtungen erhoben. Netzentgelte, die von 4,3 bis 11 ct/kWh reichen (EWE Jedoch gibt es noch einen weiteren Arbeitspreis (1,83 für 1.500 und 80.000 Kilowattstunden Jahresver- ct/kWh) in dieser Kategorie, der im Tarif mit verrin- brauch), bei anderen jedoch nur von 6 bis 6,6 ct/kWh gerten, potenziellen Unterbrechungszeiten zusätz- (Stuttgart bei demselben Vergleich). Gesetzlich ist lich erhoben wird. Dagegen ergibt sich für Lade- be- eine Angemessenheit des optionalen Grundpreises ziehungsweise Speichervorgänge, die vollständig in und Arbeitspreises nach § 17(6)3 Stromnetzentgelt- der Nacht (22 bis 6 Uhr) abgewickelt werden, also verordnung gefordert. Bei der hier dargestellten eine weitere sinnvolle Ermäßigung, da die Netze in Auswahl der Netze beträgt die Spanne des Grund- dieser Zeit wenig genutzt werden. preises null bis 96 Euro. Für einen Geringverbrau- cher mit 1.500 kWh pro Jahr variieren die Netzkos- Resümee ten damit um rund 60 Prozent je nach Netzgebiet, Die Netzentgelte mögen auf den Preisblättern der obwohl die Netze ähnliche Kostenparameter aufwei- Netzbetreiber stagnieren, die Netzkosten für die sen. Entsprechend benennen die Verbraucher die Verbraucher steigen 2019 trotzdem, zum Teil sogar ansteigenden Grundpreise als zentralen Stromkos- erheblich – teilweise kaschiert in den Umlagen. Un- tentreiber.10 klar ist und bleibt wohl bis in den nächsten Herbst, wie sich die 2019 begonnene dritte Regulierungspe- Steuerbare Verbrauchseinrichtungen riode auswirkt. Bedingt durch Gerichtsverfahren hat Ebenfalls ist bei den Netzentgelten für die steuerba- sich die bisher mäßige Transparenz weiter ver- ren Verbrauchseinrichtungen in der Niederspan- schlechtert, die Netzkosten und die Netzentgelte nung (§ 14a EnWG) wenig Bewegung festzustellen. bleiben die Blackbox der Energiewende. Vereinzelt fassen Netzbetreiber, die bisher für Wär- mepumpen und Elektromobilität unterschiedliche Aller Voraussicht nach wird die Kostensteigerung Netzentgelte auswiesen, alle §14a-Verbräuche nun nicht nur durch den Netzausbaubedarf der Energie- zusammen und gewähren damit nur noch einen ein- wende anhalten, sondern auch aufgrund der Fehlan- zigen vergünstigten Netztarif. Interessant ist bei reize im System, die durch die letzten Gesetzesände- diesen unterbrechbaren Verbrauchsstellen auch, rungen nur partiell beseitigt wurden. Darüber hinaus dass im Regelfall keine Grundgebühren erhoben wird Netzbetreibern bei der Kostenverteilung ein werden. In § 19(2)1 der Stromnetzzugangsverord- Gestaltungsspielraum zugestanden, der unter ande- nung wird verlangt, dass der Netzgrundpreis einem rem in einer fortführenden Umverteilung zulasten „Als-ob-Leistungspreis“ dieser Kunden nahekom- der Geringverbraucher geht und zu einer heteroge- men soll. Nun könnte man schlussfolgern, dass diese nen Struktur bei den Netztarifen für die Elektromo- Kundengruppe keine leistungsbezogenen Kosten im bilität führt. Netz verursacht, was jedoch im unaufgelösten Wi- derspruch zur Bildung von reduzierten Netzentgel- ten für atypische Netznutzungen steht, bei denen ein (ermäßigter) Leistungspreis zu erheben ist. 9 Agora/RAP (2018). 10 vzbv (2018) 7
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag 2 Zeit für eine grundlegende Reform finanziert. Die Kostenwirkungen wären für den ein- der Netzentgelte zelnen Verbraucher so gravierend, dass eine Kosten- zuweisung nach reiner Verursachungsgerechtigkeit Nicht nur die Energiewende mit ihrer Vielzahl klei- weder zielführend noch durchsetzbar wäre. Ent- ner und dezentraler Erzeugungsanlagen und zuneh- sprechend folgt das heutige Kostensystem dem Ver- mend aktiv agierenden Verbrauchern ändert die ursachungsprinzip auch nur im Grundsatz; für die Nutzung der Stromnetze grundlegend. Wie im vor- bereits bestehenden Kosten und für den Ausbau der hergehenden Kapitel dargelegt, besteht auch bei den Netze gilt dies nicht. bisherigen Regelungen signifikanter Verbesse- rungsbedarf, der durch die Anforderungen der Ener- Die Energiewende verschärft diese Unsicherheit giewende noch verschärft wird. Sollen die Netzent- mindestens weiter. Auch wenn das heutige Strom- gelte unter den neuen Gegebenheiten weiterhin netz gut ausgebaut ist, gibt es weiteren Ausbaube- Anreize für eine (kosten)effiziente Netznutzung set- darf. Die Dimensionierung des Stromnetzes wird je- zen, müssen die Regularien für die Netzentgelte doch die zukünftigen Netzkosten stark beeinflussen. grundlegend neu ausgerichtet werden, was mit einer Dabei gibt es Interessenkonflikte zwischen bisheri- Diskussion der Zielhierarchie beginnen muss. gen Nutzern, die das Netz über Jahrzehnte abgezahlt haben, und die Notwendigkeit, neue Nutzer (Wärme, Häufig wird gefordert, die Netzentgelte sollten kos- Verkehr) aufzunehmen, die diesen Beitrag nicht ge- tenorientiert sein. In einem vermaschten Stromnetz leistet haben. Die Integration neuer Netznutzer wird wie dem deutschen sind die entstehenden Kosten je- nicht gelingen, wenn diese die Ausbaukosten allein doch kaum einzelnen Nutzern zuzuordnen, noch hat tragen müssen, noch wenn die bisherigen Nutzer mit man dies je grundsätzlich vorgehabt. Wie Berech- den Bestandskosten allein gelassen werden. nungen zeigen, kann dieses Prinzip bestimmte Nut- zergruppen schnell an die Grenze ihrer finanziellen Für eine kosteneffiziente Energiewende auch im Leistungsfähigkeit bringen.11 Das Ziel für den indivi- Stromnetz sollte daher zukünftig die Anreizwirkung duellen Netzkunden sollte nichtdestotrotz sein, die hinsichtlich der Kosteneffizienz des Gesamtsystems Gesamtkosten gering zu halten. Netzentgelte sollten als oberstes Prinzip adressiert werden. Mit anreiz- daher dafür – gerade auch in einer Energiewende- wirksamen Netzentgelten haben Netznutzer ein Welt – die richtigen Anreize setzen. wirtschaftliches Interesse, ihre Netznutzung so aus- zurichten, dass die Gesamtnetzkosten minimal wer- Eine neue Zielhierarchie ist nötig: Anreizwirkung den. Selbst eine Verteilungsgerechtigkeit, wie sie vor Verursachergerechtigkeit zwischen Netznutzergruppen (zeitlich, örtlich, nach Bisher folgt die Verteilung der Netzkosten weitest- Größe etc.) besteht, sollte erst nachgelagert berück- gehend dem Ansatz der Verursachungsgerechtigkeit. sichtigt werden. Für das bisherige, primäre Ziel der „Wer die Kosten im Netz verursacht hat, soll diese Verursachungsgerechtigkeit bleibt damit nur der auch bitte tragen.“ – Das hört sich grundsätzlich gut dritte Platz übrig, was aufgrund der geschilderten an. Jedoch stimmte dies schon in der Vergangenheit heutigen Einschränkungen vermutlich keine großen nicht. Denn das Stromnetz funktioniert eher wie ein Einbußen darstellt, da diese kaum den Grundsätzen bedingtes Solidarsystem. Auch wenn ein zusätzli- der Tarifgestaltung nach Bonbright12 bezüglich cher Verbraucher durch seinen Bedarf den Aus- o- Transparenz und Verständlichkeit entsprachen. der Neubau eines Trafos, einer Umspannstation oder einer Leitung verursacht, wird dieser immer von al- Auch bei einer auf die Anreizwirkung ausgerichte- len Netznutzern des jeweiligen Netzes gemeinsam ten Reform der Netzentgelte gilt es, zwischen der 11 E-Bridge, ZEW, TU Clausthal (2018) 12 RAP (2014) 8
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag Kostenorientierung und der Verteilungsgerechtig- und steuerbare Verbrauchseinrichtungen) grund- keit (im Sinne der individuellen Leistungsfähigkeit) sätzlich adressiert werden, jedoch nicht entlang der abzuwägen. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei akuten oder eigentumsübergreifenden Engpässe. Es der im internationalen Wettbewerb stehenden In- gibt gute Gründe, nicht das gesamte, grundsätzlich dustrie und einkommensschwachen Haushalte. Soll- bewährte System über Bord zu werfen, jedoch sollten ten sie bei der Reform im Sinne der Kostenorientie- wir nicht versuchen, einzelne Fehlanreize separat zu rung mit Netzentgelten belegt werden und dies eine mindern, sondern das System als Ganzes denken und unverhältnismäßige Härte darstellen, sind Entlas- behandeln. tungen gegebenenfalls außerhalb des Energiesys- tems (zum Beispiel durch Steuerentlastung) in Erwä- Wenn die Energiewende effizient umgesetzt werden gung zu ziehen. soll, müssen Verbrauch und Erzeugung von Strom auf dem Markt und der Transport über das Strom- Die Probleme der aktuellen Netzentgeltstruktur netz besser aufeinander abgestimmt werden. Der Die aktuelle Struktur der Netzentgelte stammt aus Reformbedarf soll an folgenden Herausforderungen der Zeit, als vornehmlich zentrale Kraftwerke den verdeutlicht werden: Strom in die Übertragungsnetze einspeisten, der dann bis hinunter zur Niederspannung an die Ver- 1. Die aktuelle Netzentgeltsystematik führt zu braucher verteilt wurde. Die Netzkosten werden höheren (volkswirtschaftlichen) Kosten als demgemäß – und damals auch sachgerecht – von nötig „oben“ aus den Übertragungsnetzen nach „unten“ in Für Verbraucher machen die Netzentgelte bis zu ei- die Verteilnetze gewälzt und in Form von Netzent- nem Drittel des Gesamtstrompreises aus. Verbrau- gelten ausschließlich für die Verbraucher abgerech- cher optimieren sich entsprechend den gesamten net. Zudem weist die Netzkostentragung vielerlei Strombezugskosten, inklusive Netzentgelte, wie die Ausnahmetatbestände auf, die auf eine gleichmäßige folgenden zwei Beispiele zeigen: Auslastung des Netzes und der Erzeugungsressour- cen abzielen. Die Idee war, dass dadurch das vorhan- → Netzentgelte verhindern industrielles Lastma- dene Stromnetz bestmöglich genutzt sowie zusätzli- nagement, wenn durch Lastverlagerung die Jah- cher Netzaus- und -neubau vermieden wird und die resbezugsspitze steigt und dadurch die individu- Systemkosten gesenkt werden. ellen Leistungsentgelte steigen. → Selbst bei ausreichend erneuerbarer Stromerzeu- gung im Markt bei gleichzeitig geringen oder ne- Die neuen Gegebenheiten der Energiewende mit ih- gativen Großhandelsstrompreisen laufen fossile rer volatilen erneuerbaren Erzeugung und den Po- Eigenerzeugungsanlagen mit höheren Erzeu- tenzialen der neuen, flexiblen Verbraucher wie gungskosten, weil ein alternativer Strombezug Elektromobilität und Wärmespeicher – aber auch aus dem Netz unter anderem durch die Netzent- Lastmanagement insgesamt – werden damit aber gelte entsprechend teurer wäre. nicht berücksichtigt. Durch die Annahme einer Kupferplatte im heutigen Strommarktdesign, bei der Während die Großhandelsstrompreise signalisieren, per Definition keine Netzengpässe auftreten, wird wann sich Erzeugung oder Verbrauch lohnen, ver- zudem der tatsächliche Zustand des Netzes auf zerren Netzentgelte dieses Signal – wie die beiden Marktebene negiert. Netzengpässe können im Über- genannten Beispiele verdeutlichen. Zudem fehlen tragungsnetz nur nachgelagert (Redispatch) bewirt- den Netzentgelten eine räumliche und eine zeitliche schaftet werden. Im Verteilnetz können diese im- (Preis-)Komponente, die zeigt, ob Erzeugung oder merhin mit Sonderentgelten (atypische Netznutzung Verbrauch auch netzseitig darstellbar ist. 9
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag 2. Netzentgelte geben keine oder falsche In- Idealerweise geben die Netzentgelte zumindest für vestitionsanreize für neue Erzeuger und Verbraucher geeignete Anreize für eine bessere Ko- neue Verbraucher ordination von Markt und Netz. Wie im ersten Teil erläutert, sind die Netzentgelte regional sehr unterschiedlich hoch, da sie auf histo- 3. Netzentgelte täuschen freie Netze vor, an- risch zufälligem Netzeigentum und den jeweiligen statt die Engpasssituationen im Netz abzu- Besiedlungsdichten basieren; in einigen Regionen bilden sind sie sogar doppelt so hoch wie in den günstigsten Wann und wo Strom aus dem Stromnetz entnommen Regionen. Netzentgelte sind zumeist in verbrauchs- wird, egal ob vor oder hinter einem Netzengpass, hat starken Regionen mit vergleichsweise hoher Bevöl- keinerlei finanzielle Auswirkungen für den Strom- kerungsdichte eher niedriger und in dünn besiedel- verbraucher. Gleiches gilt grundsätzlich auch für die ten Regionen mit viel erneuerbarer Erzeugung eher vermiedenen Netzentgelte der Einspeiser. Diese höher. werden bestenfalls nachträglich anhand der Netzsi- tuation bemessen, was für die Einspeiser einem Bei ansonsten gleichen Standortkriterien würden Blindflug bezüglich der Vergütungen gleichkommt.13 sich neue Verbraucher also bevorzugt für einen Damit besteht für dezentrale Stromerzeuger und Standort mit günstigen Netzentgelten in einem vor- Stromverbraucher (fast) kein Netzentgeltanreiz, ihre handenen Lastzentrum weit entfernt von neuen Er- Einspeisung beziehungsweise ihren Verbrauch zeit- zeugungsanlagen entscheiden. Diese Standortent- lich oder örtlich so auszurichten, dass das Netz nicht scheidung führt zu einem höheren überlastet, sondern effizient genutzt und betrieben Netzausbaubedarf gegenüber einer erzeugungsna- werden kann. Stromverbraucher und dezentrale hen Ansiedlung und somit zu höheren Netzkosten. Stromerzeuger können also durch ihr Verhalten „un- Eine genau umgekehrte Anreizwirkung wäre not- gestraft“ Netzengpässe hervorrufen; umgekehrt wird wendig, wollte man die (zusätzlichen) Netzkosten ein flexibles Verhalten, dass die Netze entlastet und insgesamt minimieren. für alle Netznutzer die Kosten senkt, nicht belohnt. Netzentgelte werden bisher nur von Stromverbrau- In der Vergangenheit waren Netzentgelte, die die chern bezahlt. Neue Erzeuger haben demzufolge bis- örtliche und zeitliche Auslastung der Netze berück- lang aus den Netzentgelten keinen monetären An- sichtigen, weniger wichtig als heute. Denn früher reiz, ihre Standortwahl so auszurichten, dass waren Stromerzeugung und -verbrauch zeitlich und Netzausbau vermieden wird – durch das System der örtlich planbarer als heute. Wann und wo wie viel sogenannten vermiedenen Netznutzungsentgelte Strom benötigt wurde, konnte für große Teile der wird der Fehlanreiz momentan sogar verschärft. Nachfrage gut und langfristig prognostiziert und so- wohl der Kraftwerkseinsatz als auch das Netz konn- Erste regulatorische Veränderungen wurden jüngst ten darauf ausgerichtet werden. Starre Netzentgelte vorgenommen, um diese Herausforderung anzuge- sind dementsprechend antiquiert. hen. So wurden bei den Windenergieausschreibun- gen für die bessere Verzahnung von Zubau und Netz Mit vielen dezentralen Erzeugungsanlagen, deren in Form direkter regulatorischer Eingriffe soge- Stromeinspeisung von Wind und Sonne abhängen, nannte Netzausbaugebiete geschaffen, in denen der und mit immer mehr Prosumern sowie neuen Zubau von Windenergieanlagen begrenzt wird. Auch das NEMoG verringert diese Fehlanreize ein wenig. 13 Lediglich die Netzentgelte für Sonderformen der Netznutzung nach § 19 Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) bilden hier eine kleine Ausnahme. 10
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag Stromverbrauchern wie Wärmepumpen und Elekt- Verbrauch wären dann die Netzentgelte entspre- rofahrzeugen, die häufig (zumindest theoretisch) fle- chend höher. Umgekehrt würde der Verbrauch durch xibel betrieben werden könnten, ändern sich die niedrigere Netzentgelte angereizt, in engpassfreie Netzengpässe viel dynamischer. Wenn die Höhe der Zeiten verlagert zu werden. Netzentgelte den Zustand des Netzes reflektieren würden, könnten damit Anreize entstehen, Strom dann ein- oder auszuspeisen, wenn das Netz „frei“ ist. Bei Netzengpässen zum Beispiel durch (zu) hohen Grün- und Weißbuchprozess Netzentgelte 2.0 Um zum bestmöglichen Ergebnis zu kommen, ist ein transparenter und offener Politikprozess analog zum Grün- und Weißbuchprozess zum Strommarkt 2.0 notwendig. Dieser würde beinhalten: → Erstellung eines umfassenden Netzkostenberichts bis Ende 2019: Die Bundesnetzagentur legt unter Ein- beziehung der Landesregulierungsbehörden einen Bericht vor über Höhe und Struktur der Netzkosten (genehmigte Erlöse) im Übertragungsnetz und in den Verteilnetzen und veröffentlicht alle dafür notwen- digen Daten entsprechend der Gesetzeslage. → Analyseprozess zu den Treibern der Netzkosten und Netzentgelte bis Frühjahr 2020: Die Bundesregie- rung vergibt Gutachten an nationale und internationale Wissenschaftler/-innen und Berater/-innen, wel- che den Istzustand und die verschiedenen Reformoptionen transparent darstellen. Zudem sollen die Wir- kung der Reformoptionen auf das Energiesystem in den Sektoren Strom, Wärme und Verkehr abgeschätzt, die Verteilungseffekte bei den Netzkunden analysiert sowie weitere Anforderungen für die Energiewirtschaft, Netzbetreiber und an Struktur und Aufgaben der Regulierungsbehörde(n) dargestellt werden. Vorschläge für eine Zielhierarchie werden erarbeitet. Die Ergebnisse werden in einem transpa- renten Konsultationsprozess öffentlich diskutiert. → Veröffentlichung eines Grünbuchs bis Sommer 2020: Veröffentlichung eines Grünbuchs der Bundesregie- rung auf Basis des Analyseprozesses, in dem die verschiedenen Optionen für eine Netzentgeltreform dargestellt und in ihren Vor- und Nachteilen beschrieben werden. Zur Erstellung des Grünbuchs werden alle beteiligten Institutionen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft eingeladen, ihre Stellungnah- men zu bestimmten Fragen bis Ende 2020 einzureichen. Zudem findet – vor Ende der Stellungnahmefrist – eine Konferenz statt, auf der die Optionen und ihre Auswirkungen öffentlich präsentiert und diskutiert werden. Die Gutachten sowie die Stellungnahmen der Stakeholder werden im Internet veröffentlicht. → Veröffentlichung eines Weißbuchs bis Herbst 2020: Auf Basis der Stellungnahmen und gegebenenfalls notwendig gewordenen Nachuntersuchungen formuliert die Bundesregierung den aus ihrer Sicht präfe- rierten Reformvorschlag und stellt ihn in einem Weißbuch zur Diskussion. Auch hierzu können die Stake- holder bis Ende 2020 Kommentare abgeben, die veröffentlicht werden. → Veröffentlichung eines Gesetzesentwurfs bis Sommer 2021: Erarbeitung und Veröffentlichung eines Ge- setzentwurfs für ein Netzentgeltreformgesetz inklusive Transparenzanforderungen durch die Bundesre- gierung, Beteiligung der Bundesländer und Verbände im Rahmen der normalen Verfahren. → Anfang bis Ende 2022: Gegebenenfalls Nachjustierung am Gesetzentwurf aufgrund von Koalitionsver- handlungen, anschließend Beschluss des Gesetzentwurfs durch das Bundeskabinett bis Ostern 2022. Bis Ende des Jahres parlamentarisches Verfahren des Netzentgeltreformgesetzes mit Verabschiedung in Bundestag und Bundesrat. → Anfang 2023: Inkrafttreten des Gesetzes. → Anfang 2024: Erstmalige Anwendung der Regelungen des Netzentgeltreformgesetzes. 11
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag 4. Das System der Netzentgelte und ihrer Aus- Inhalte des offenen Politikprozesses zur nahmeregelungen ist zu komplex geworden Netzentgeltreform Mit den Jahren hat sich aus dem Kostenwälzungs- In dem Grün- und Weißbuchprozess sollten folgende prinzip ein sehr kompliziertes Geflecht aus Ausnah- Aspekte berücksichtigt, diskutiert und zu klaren Po- meregelungen und daraus resultierenden Anreizen sitionen geführt werden: bei den Netzentgelten entwickelt, deren Ursachen und Wirkungen häufig nicht transparent sind.14 Be- → Diskussion der Zielhierarchie: Anreizwirkung kannt ist, dass unterschiedliche Regelungen unter- (effizientes Gesamtsystem), Verteilungsgerech- schiedliche Anreize erzeugen, die teilweise gegenei- tigkeit, Verursachungsgerechtigkeit nander laufen. Ausnahmeregelungen führen → Transparenz über Netzkosten und Netzentgelte zum Beispiel durch Meldepflichten an die Bun- teilweise dazu, dass Stromverbrauch und Volllast- desnetzagentur und Veröffentlichungspflichten; stunden künstlich hochgehalten oder gar Unterneh- Unterscheidung der Netzkosten in Netzinvestiti- mensrestrukturierungen angereizt werden. onskosten (zum Beispiel Kosten für Netzausbau) und Netzbetriebskosten (Redispatch, Einspeise- Durch die vielen Regelungen ist auch ein Steue- management) rungsverlust der Politik entstanden; Wirkungen von → Ausnahmetatbestände überprüfen und gegebe- Änderungen sind oft kaum abschätzbar. Bei der Re- nenfalls auf das zukünftige Stromsystem aus- form ist daher unbedingt die Praktikabilität und all- richten, unter anderem: gemeine Verständlichkeit der Netzentgeltsystematik • Monatsleistungspreise bei zeitlich begrenzter anzustreben. Leistungsaufnahme (§ 19 Absatz 1 StromNEV), • atypische Netznutzung bei abweichender Jahreshöchstlast (§ 19 Absatz 2 Satz 1 Strom- NEV) 3 Jetzt einen offenen und transparen- • Netzentgeltermäßigung für stromintensive ten Netzentgeltreformprozess star- Industrie mit hoher Benutzungsstundenzahl ten (§ 19 Absatz 2 Satz 2 ff. StromNEV) • singulär genutzte Betriebsmittel (§ 19 Absatz Das Herumdoktern an einzelnen Elementen der 3 StromNEV) Netzentgelte (NEMoG, § 14a EnWG etc.) ist nicht → Beteiligung der Erzeugung an den Netzkosten für Neubau und Bestand (zum Beispiel durch Ein- zielführend. Ein umfassender Reformprozess ist speiseentgelte oder Baukostenzuschüsse) dringend notwendig. Die Diskussion um das Wie ist → bundesweiter Netzkostenausgleich im Verteil- in den vergangenen Jahren mit zunehmender Inten- netz gegebenenfalls mit Unterscheidung nach zu sität, aber ohne eine Konvergenz der Positionen ge- definierenden Netzclustern wegen inhomogener führt worden. Das liegt auch daran, dass die Kon- Verteilnetzstrukturen zepte bisher auf einer zu wenig abstrakten Ebene → Anreize für Kleinverbraucher durch Netzentgelte diskutiert wurden; die Hierarchie der Grundsätze schaffen, die Netz- und Systemkosten niedrig zu wurde bisher nicht in den Fokus gestellt. Gleichfalls halten (anstelle fixer Grundpreise) liefern die Konzepte kaum konkrete Ausgestaltungen → zeitvariable oder von der Netzsituation abhän- (sowohl in marktlicher als auch in regulatorischer gige Netzentgelte, damit sich die Netznutzung auf die Netzsituation ausrichten kann, und Anreize Hinsicht) sowie kaum eine quantitative Abschät- für steuerbare Verbrauchseinrichtungen wie zung ihrer Folgen. Wir schlagen daher das im Fol- Speicher inklusive E-Mobilität und Power-to- genden skizzierte Verfahren vor. Heat (Weiterentwicklung des § 14a EnWG: Steu- erbare Verbrauchseinrichtungen15) 14 InfraComp (2015) 15 vgl. Connect Energy Economics (2015) 12
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag Die Netzentgeltreform muss die Finanzierung der Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) und in der An- Netzkosten bei gleichzeitig volkswirtschaftlicher reizregulierungsverordnung (ARegV) ist daher und klimaökonomischer Effizienz gewährleisten. der zügige Aufbau einer umfassenden Netzent- Dabei sind Verteilungsgerechtigkeit sowie Umsetz- gelt-Transparenzplattform gesetzlich zu veran- kern. barkeit, Transparenz, Verlässlichkeit und Nachhal- tigkeit der Maßnahmen zu gewährleisten. → Abschaffung der Anreize für Bandbezug Hohe Vollbenutzungsstunden (Bandbezug) stellen Änderungen, die nicht länger warten dürfen: allein keine begründete Ausnahme zur Reduzie- Quickfixes für die Netzentgelte rung der Netzentgelte dar. Selbst unter Fortfüh- rung der industriepolitischen Erwägungen sind Zur Vermeidung von Fehlsteuerungen und Ineffizi- Anpassungen möglich. Die Stromnetzkapazitäten enzen sollten bereits, bevor die umfassende Netzent- sind eine knappe Ressource. Daher gilt auch hier geltreform in Kraft tritt, aktuelle Regelungen ange- Efficiency First. Der grundsätzliche Anreiz, die Netzkosten durch möglichst geringe Verbrauchs- passt beziehungsweise abgeschafft werden. Zur leistung zu senken, sollte erhalten bleiben. Wenn Vermeidung von Brüchen und kurzfristig starker jedoch das Netz zu bestimmten Zeiten engpass- Marktveränderungen kann es sinnvoll sein, Rege- frei ist, sollte dann eine Erhöhung des Strombe- lungen nicht abrupt, sondern in mehreren zeitlich zugs nicht durch höhere Netzentgelte bestraft klar festgesetzten Schritten über die nächsten Jahre werden. Umgekehrt sollte sich auch eine Netz- anzupassen. knappheit in den Netzentgelten widerspiegeln. Sinnvollerweise wird die Anreizstruktur der Zu den größten Baustellen zählen: Netzentgelte perspektivisch auf die örtlich und → Neufassung der Transparenzregeln im Ener- zeitlich variierenden Netzsituationen ausgerich- giewirtschaftsgesetz und in der Anreizregu- tet. Die Ausnahmen für Bandbezug (§ 19 Absatz 2 lierungsverordnung sowie Aufbau einer Netz- Satz 2 ff. Stromnetzentgeltverordnung, Strom- entgelt-Transparenzplattform NEV: Sonderformen der Netznutzung) sollten da- Für viele Stromverbrauchsgruppen wie Haus- her als erste umstrukturiert werden.16 halte, Gewerbe und nicht privilegierte Industrie haben die Netzentgelte einen wesentlichen Anteil → Grundpreise bei Kleinverbrauchern niedrig an den gesamten Stromkosten. Damit Netzent- halten: Höhere Grundpreise sind bei Haushalts- gelte als gerecht empfunden und anerkannt wer- kunden nicht zielführend. Sie generieren keine den, ist gerade im regulierten Netzbetrieb ein ho- Anreize zum systemdienlichen Strombezug und hes Maß an Transparenz erforderlich. Das betrifft wären weder verursachungs- noch verteilungs- nicht nur die Netzentgelte selbst, sondern auch gerecht beziehungsweise sozialverträglich, da die die Kennwerte, die man benötigt, um die Berech- Haushalte mit dem geringsten Verbrauch die nung der Netzentgelte nachvollziehen zu können größten Zusatzkosten tragen. Jahresleistungs- – wie zum Beispiel Erlösobergrenzen und nutzer- preise wirken ähnlich. Die Vorschrift in § 17 Ab- gruppenspezifische Verbrauchs- beziehungs- satz 6 StromNEV (Ermittlung der Netzentgelte), weise Leistungsangaben. die besagt, dass „Grundpreis und Arbeitspreis in Dabei reicht eine Veröffentlichung der Transpa- einem angemessenen Verhältnis zueinander zu renzdaten auf den jeweiligen Internetseiten der stehen“ haben, ist entsprechend präziser zu for- derzeit fast 900 Netzbetreiber nicht aus. Wirk- mulieren. lich transparent werden die Daten erst, wenn sie ohne größeren Rechercheaufwand einsehbar → Technologieförderung über vermiedene Netz- werden. entgelte abschaffen: Da der Nachweis der sys- Neben der Neufassung der Transparenzregeln im 16 Connect Energy Economics (2015) 13
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag temdienlichen Betriebsweise auch für die ver- Resümee bleibenden Ausschüttungen der vermiedenen Die Diskussion über eine Reform der Netzentgelt- Netzentgelte mit hohem Aufwand verbunden systematik dauert inzwischen mehrere Jahre, ohne ist17, sollten die vermiedenen Netzentgelte eben- dass bisher Fortschritte erkennbar wären. Im Ge- falls für steuerbare Anlagen abgeschafft werden genteil: Die bestehenden Netzkosten und Netzent- (§ 18 StromNEV: Entgelt für dezentrale Einspei- gelte werden wieder intransparenter, und etliche sung). Die bisher in den vermiedenen Netzent- gelten enthaltene Förderung der Kraft-Wärme- Verteilnetzbetreiber haben einen schleichenden Kopplung (KWK) sollte in das KWK-Gesetz über- Prozess in Richtung höhere Grundpreise in Gang ge- führt werden. setzt. → Ausnahmeregelung für elektrische Speicher: Die Politik hat eine Reform der Netzentgelte eigent- Als Übergangslösung, bis Netzentgelte einen sys- lich auf die Tagesordnung gesetzt, so auch in dem im temdienlichen Betrieb anreizen, sollten die Aus- März 2018 beschlossenen Koalitionsvertrag („Wir nahmeregelungen für neue elektrische Speicher werden mit einer Reform der Netzentgelte die Kos- für alle Speicher vereinheitlicht werden (§ 18 ten verursachergerecht und unter angemessener Be- Absatz 6 EnWG). rücksichtigung der Netzdienlichkeit verteilen und bei Stromverbrauchern unter Wahrung der Wettbe- → Flexible Netzentgelte für flexible Verbraucher: werbsfähigkeit mehr Flexibilität ermöglichen.“). Neue Verbraucher wie Wärmepumpen und Elektromobilität können per se flexibel betrieben werden. Es braucht daher klare Strukturen (bei- Da die Netzentgelte bald der größte Posten auf der spielsweise Netzanschlussbedingungen), damit Stromrechnung sein werden, ist ein weiterer Still- diese Verbraucher zeitliche und/oder örtliche stand nicht mehr tragbar. Die hier vorgeschlagenen Anreize über die Netzentgelte erhalten, um auch Kurzfristmaßnahmen und der Grün- und Weiß- bei einem schnellen Rollout die Netzdienlichkeit buchprozess mit klaren zeitlichen Vorgaben ist ein zu gewährleisten. Vorschlag dafür, wie diese Situation überwunden werden kann. 17 Ganz zu schweigen vom Missbrauchspotenzial durch in niedri- gere Spannungsebenen umgehängte Kraftwerke (siehe Bundes- netzagentur 2019). 14
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag Literaturverzeichnis www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/Elekt- rizitaetundGas/Unternehmen_Institutionen/Netz- Agora Energiewende/Regulatory Assistance Project entgelte/Strom/EffizienzvergleichVerteilernetzbe- (RAP) (2018): Netzentgelte 2018: Problematische treiber/3RegP/3RegP_node.html, 21. März 2019 Umverteilung zulasten von Geringverbrauchern www.agora-energiewende.de/fileadmin2/Pro- Connect Energy Economics (2015): Aktionsplan jekte/2014/transparente-energiewirt- Lastmanagement. Endbericht einer Studie von schaft/Agora_RAP_Netzentgelte_2018_WEB.pdf, Connect Energy Ecomomics. Studie im Auftrag von Januar 2018 Agora Energiewende www.agora-energiewende.de/veroeffentlichun- Agora Energiewende/Regulatory Assistance Project gen/aktionsplan-lastmanagement/, Mai 2015 (RAP)/Raue LLP (2018): Stromnetzentgelte: Eine Blackbox, die nicht geöffnet werden kann? Eine E-Bridge, ZEW, TU Clausthal (2018): Neue Preismo- rechtliche Analyse der aktuellen Situation delle für die Energiewirtschaft – Reform der Struktur www.agora-energiewende.de/fileadmin2/Pro- von Netzentgelten und staatlich veranlasster Preis- jekte/2014/transparente-energiewirt- bestandteile schaft/Agora_RAP_Blackbox-Netzent- www.agora-energiewende.de/veroeffentlichun- gelte_WEB.pdf, August 2018 gen/neue-preismodelle-fuer-die-energiewirt- schaft/, November 2018 Bundesnetzagentur (2013): Beschluss, BK4-13-0739 www.bundesnetzagentur.de/DE/Service-Funktio- ene’t (2019): Trend zur Senkung der Netznutzungs- nen/Beschlusskammern/1_GZ/BK4- entgelte bestätigt sich GZ/2013/2013_0001bis0999/2013_700bis799/BK4 www.enet.eu/newsletter/trend-zur-senkung-der- -13-0739/BK4-13-0739_Entschei- netznutzungsentgelte-bestaetigt-sich, 8. Januar dung_BF.pdf?__blob=publicationFile&v=4, 11. De- 2019 zember 2013 InfraComp (2015): Transparenzdefizit der Netzregu- Bundesnetzagentur (2018): Transparenz in der lierung. Studie im Auftrag von Agora Energiewende Netzentgeltbildung – Veröffentlichung von Netzbe- www.agora-energiewende.de/veroeffentlichun- treiberdaten gen/transparenzdefizite-der-netzregulierung/, Juni www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/Elekt- 2015 rizitaetundGas/Unternehmen_Institutionen/Netz- entgelte/Transparenz/Transparenz_node.html, De- Regulatory Assistance Project (RAP) (2014): Netz- zember 2018 entgelte in Deutschland: Herausforderungen und Handlungsoptionen. Studie im Auftrag von Agora Bundesnetzagentur (2019a): Monitoringbericht 2018 Energiewende www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Down- www.agora-energiewende.de/veroeffentlichun- loads/DE/Allgemeines/Bundesnetzagentur/Publika- gen/netzentgelte-in-deutschland/, Dezember 2014 tionen/Berichte/2018/Monitoringbericht_Ener- gie2018.pdf?__blob=publicationFile&v=3, 8. Februar ÜNB (Übertragungsnetzbetreiber) (2018): Prognose 2019 der Offshore-Netzumlage 2019 www.netztransparenz.de/portals/1/Content/Ener- Bundesnetzagentur (2019b): Effizienzvergleich 3. giewirtschaftsgesetz/Um- Regulierungsperiode 15
Agora Energiewende | Netzentgelte2019 – Reformvorschlag lage%20%c2%a7%2017f%20EnWG/Um- lage%20%c2%a7%2017f%20EnWG%202018/ONU%2 0Prognose%202019%20Ver%c3%b6ffentlichung.pdf Verbraucherzentrale Bundesverband e. V., vzbv, (2018): Faktenblatt Netzentgelte: Mehr Transparenz und gerechte Kostenverteilung www.vzbv.de/sites/default/files/2018_vzbv_fak- tenblatt_netzentgelte.pdf, November 2018 16
Agora Energiewende Anna-Louisa-Karsch-Straße 2 | 10178 Berlin P +49. (0) 30. 284 49 01-00 F +49. (0) 30. 284 49 01-29 www.agora-energiewende.de info@agora-energiewende.de Agora Energiewende ist eine gemeinsame Initiative der Stiftung Mercator und der European Climate Foundation.
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