Armee der Zukunft: Trends und Folgerungen1
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Armee der Zukunft: Trends und Folgerungen1 von Universitätsprofessor Dr. Reiner K. Huber Institut für Angewandte Systemforschung und Operations Research (IASFOR) Fakultät für Informatik Universität der Bundeswehr München huber@informatik.unibw-muenchen.de Einleitung Die aktuellen Trends der zivilisatorischen Entwicklung deuten darauf hin, dass neuartige Bedrohungen den Charakter von Sicherheits- und Verteidigungspolitik im 21. Jahrhundert grundlegend ändern werden. Die terroristischen Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September dürften wohl auch die Skeptiker überzeugen, die Warnungen vor den Gefahren des internationalen Terrorismus für Panikmache oder auch die Suche nach neuen Aufgaben für die Streitkräfte hielten und nicht müde wurden, unter Berufung auf das Weißbuch 1994 darauf hinzuweisen, dass die Rückkehr des „schlimmsten Falles“, einer massiven Bedrohung des Territoriums von Staaten durch Invasionsarmeen wie zu Zeiten des kalten Kriegs, nicht auszuschließen sei und daher die Fähigkeit zur traditionellen Landesverteidigung für die Streitkräfteplanung Deutschlands bestimmend bleiben müsse. Im Weißbuch 1994 wurde unter Ziffer 210 festgestellt: „An die Stelle des Risikos eines großen Krieges in Europa sind eine Vielzahl von Risikofaktoren anderer Art getreten, die sich regional sehr unterschiedlich ausprägen.“ Unbeschadet dieser Diagnose wurde unter Ziffer 520 gefordert, dass Landesverteidigung die primäre Aufgabe der deutschen Streitkräfte bleibt. Dort heißt es beispielsweise, dass Deutschland Landstreitkräfte braucht, „die nach voller Ausnutzung der verfügbaren Mobilmachungszeit zusammen mit den Bündnispartnern in der Lage sind, Deutschland gegen den zur Zeit unwahrscheinlichen Fall eines Angriffs gegen sein Territorium zu schützen“. Nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen im Kosovo-Konflikt haben sich aber die Akzente in jüngster Zeit verschoben. So stellt der Generalinspekteur der Bundeswehr im Eckwertepapier zur konzeptionellen und planerischen Weiterentwicklung der Streitkräfte vom Mai 2000 auf den S.9-10 fest: „In dem Maße wie die Wahrscheinlichkeit eines strategischen Angriffs auf das gesamte Bündnisgebiet abgenommen hat, ist die Gefahr auf regionaler Ebene gestiegen. Im Rahmen der gegenseitigen Beistandsverpflichtung ist daher kollektive Verteidigung zur Unterstützung von Bündnispartnern angemessene Reaktion auf einen regional begrenzten Angriff auf das Bündnisgebiet oder auf regionale Krisen und Konflikte, die in eine 1 Erschienen in der Zeitschrift Europäische Sicherheit, 51. Jahrgang, Januar 2002, S. 31-36. Die Darlegungen beinhalten im wesentlichen den Diskussionsbeitrag des Verfassers zum Expertengespräch „Streitkräfte der Zukunft“ bei der Hanns-Seidel-Stiftung, Kreuth, 15.-16. Oktober 2001 1
militärische Bedrohung von Bündnispartnern umschlagen können. Sie (die angemessene Reaktion) • bedarf der raschen Bereitstellung deutscher Kräfte für den Einsatz im Bündnisgebiet insbesondere an dessen Grenzen, • erfolgt bei Regionalkonflikten an der europäischen Peripherie unter Umständen nach kurzer politischer Warnzeit und entsprechend kurzer militärisch nutzbarer Vorbereitungszeit, • erfordert militärische Vorsorge für den Fall einer derzeit zwar unwahrscheinlichen, aber nicht auszuschließenden Entwicklung zu einem massiven Angriff.“ Die Reihenfolge, in der diese Forderungen im Eckwertepapier gestellt werden, deutet darauf hin, dass der traditionellen, auf Mobilmachung bauenden Landesverteidigung nunmehr eine geringere Bedeutung beigemessen wird und präsente, mit den wichtigsten Bündnispartnern interoperable Kräfte als Gebot der Bündnisverteidigung gelten. Nichtsdestoweniger werden Überlegungen, die Allgemeine Wehrpflicht auszusetzen oder - wie von der Weizsäcker- Kommission vorgeschlagen - in einen „Auswahlwehrdienst“ umzuwandeln, meist mit der Begründung zurückgewiesen, dass nur ein großer Pool an Reservisten die Aufwuchsfähigkeit gewährleistet, die als Vorsorge für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich ein regionaler Konflikt zum großen Krieg entwickelt, unverzichtbar ist. Darüber hinaus wird befürchtet, dass es der Bundeswehr ohne den unlängst von Brigadegeneral a. D. Farwick als „Schnupperkurs“ bezeichneten Grundwehrdienst nicht mehr gelingen würde, hinreichend Freiwillige für einen längeren Dienst als Berufs- oder Zeitsoldaten zu gewinnen.1 Dass die Allgemeine Wehrpflicht nicht nur teuer - als Instrument der Nachwuchswerbung vermutlich zu teuer - sondern auch mit erheblichen Einschränkungen der Einsatzfähigkeit verbunden ist, wird dabei meist nicht bedacht. Die Ergebnisse der Untersuchungen über Investitions- und Modernisierungsdefizite und Einsatzbegrenzungen der Bundeswehr, die seit einigen Jahren an unserem Institut angestellt wurden, lassen sich in der folgenden These zusammenfassen: In Verbindung mit der Unterfinanzierung der Bundeswehr beinhaltet die Forderung nach Festhalten an der Allgemeinen Wehrpflicht die Gefahr, dass die Bundeswehr eine zunehmend mangelhaft ausgerüstete Armee der Vergangenheit bleiben wird, die unbeschadet ihrer Aufwuchsfähigkeit den Anforderungen der Zukunft auch in der Landes- und Bündnisverteidigung mangels Interoperabilität mit den wichtigsten Bündnispartnern nicht gerecht werden kann. Diese These wird von den Ergebnissen der soeben veröffentlichten Untersuchung des American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) der Johns Hopkins University zu den Aussichten der Bundeswehrreform bestätigt.2 Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluß, dass Deutschland, wenn es die Glaubwürdigkeit der Allianz nicht untergraben und die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nicht gefährden will, vor der Wahl steht, entweder den Verteidigungshaushalt beträchtlich zu erhöhen, um die Reformpläne des Verteidigungsministers realisieren zu können, oder den Streitkräfteumfang weiter zu reduzieren, um die Interoperabilität der Bundeswehr auch im Rahmen der geplanten Haushaltsbegrenzungen zu gewährleisten. Die amerikanischen und deutschen Autoren der AICGS-Sudie vermuten, dass die rot-grüne Bundesregierung wohl keines von beidem tun wird, sondern es vorzieht, weiter zu improvisieren in der Hoffnung, dass mit der Zeit zusätzliche Finanzmittel verfügbar werden. Nicht nur dass sie damit den Mißerfolg der Reform als vorprogrammiert betrachten, die Bundeswehr wird die Fähigkeit zur effektiven Beteiligung an Bündnisoperationen und internationalen Einsätzen verlieren und 2
damit ihren Einfluß im Bündnis und bei der Gestaltung der ESVP und schließlich auch ihre Legitimation in den Augen der deutschen Steuerzahler. Möglicherweise aber führen die Ereignisse vom 11. September zu der Erkenntnis, dass die Option des „Durchwurstelns“ in der Verteidigungspolitik und Bundeswehrplanung am Ende ist und die neue Lage Anlaß zur Überprüfung der Reformziele und der Verteidigungsausgaben werden muß. Nicht nur dass Deutschland derzeit über keine nennenswerten militärischen Fähigkeiten verfügt, um seinen Beistandsverpflichtungen im Rahmen des ersten Bündnisfalls in der Geschichte der Allianz nachzukommen. In Verbindung mit den Terrorismus-Resolutionen des UN-Sicherheitsrats vom 12. und 28. September und der Verkündung des Bündnisfalles ist die territoriale Begrenzung der Allianz gefallen. In einem Vortrag bei der Clausewitz-Gesellschaft in München hat General a. D. Naumann unlängst festgestellt, dass die NATO damit zu einem global operierenden Verteidigungsbündnis geworden ist. Die Frage nach den Streitkräften der Zukunft ist über Nacht vom Gegenstand akademischer Diskussionen zu einem Problem der aktuellen Politik geworden. In diesem Sinne soll zunächst versucht werden, einige für die Entwicklung von Streitkräften wichtige Entwicklungstrends zu beleuchten und damit zusammenhängende Aspekte terroristischer Angriffe zur Diskussion zu stellen als Grundlage für eine Reihe von Thesen zur Sicherheitspolitik und Streitkräfteentwicklung. Abschließend werden die finanziellen und strukturellen Randbedingungen für eine zukunftsfähige Reform der Bundeswehr beleuchtet. Entwicklungstrends Die Überlegungen hierzu stützen sich unter anderem insbesondere auf den Bericht von Sham Hamid über das Projekt „Insight“ der britischen Defence Evaluation and Research Agency (DERA), in dessen Rahmen für die globale Sicherheit relevante Triebkräfte identifiziert, deren Entwicklungstrends beschrieben und Implikationen für die Fähigkeiten der britischen Streitkräfte analysiert wurden,3 sowie auf die Ausführungen von Roland Kaestner, dem Leiter des Bereichs „Streitkräfteeinsatz 2020“ im Amt für Studien und Übungen der Bundeswehr, anläßlich des Workshops „Zukunftsperspektiven: Streitkräfte im 21. Jahrhundert“ vom Juni 2001 an der Landesverteidigungsakademie in Wien. 4 Dass die Entwicklung von Streitkräften mit den zivilisatorischen Entwicklungstrends einher geht, ist historisch belegt und hat sich der Neuzeit beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft gezeigt. An der Spitze dieses Wandels marschierte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts England. Danach folgten Frankreich im späten 18. und Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts. Es war dies die Zeit der Entstehung der Massenheere und der Vernichtungsschlachten. Mit zunehmender Industriealisierung der Gesellschaften und Technisierung der Armeen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden dann die Unterbrechung der Rohstoffversorgung und die Vernichtung der Produktionsbasis des Gegners zu vornehmlichen Kriegszielen. Den seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Gang befindlichen Wandel der Industriegesellschaften zu Informationsgesellschaften führen die USA an, gefolgt von Japan, Europa und den Tigerstaaten Asiens. Konfliktträchtige Folgen von Trends der zivilisatorischen Entwicklung in dieser Übergangsphase in die „postmodere“ Welt, die in der DERA-Studie als für die globale Sicherheit bedeutsam eingestuft wurden, seien hier stichwortartig zusammengefaßt: 3
• Bevölkerungsentwicklung: Hohes Bevölkerungswachstum in den armen und den Entwicklungsländern, stagnierendes bzw. rückläufiges Bevölkerungswachstum und zunehmende Lebenserwartung (Überalterung der Bevölkerung) in den reichen Industrieländern; Verschärfung des Nord-Süd Gefälles; gravierende Einschränkung der Lebensmöglichkeiten, Massenmigration und Destabilisierung der Gesellschaften im armen Süden (Entstehen von Megastädten); Migrationsdruck auf den reichen Norden; • Umweltveränderungen als Folge der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung: Umweltverschmutzung; Wüstenbildung; Klimaveränderung; Erschöpfung natürlicher Ressourcen (Wasser und fossile Brennstoffe) und Zerstörung der Natur; • Globalisierung der Wirtschaft als Folge der Beseitigung von Handelsbarrieren und der Entwicklung der Nachrichten- und Informationstechnik: Wachsende Interdependenz der Volkswirtschaften in und zwischen Regionen (EU, ASEAN) und damit verbunden Effizienzgewinne und Wohlstandswachstum, aber auch erhöhte Verwundbarkeit der Infrastruktur der entwickelten Welt; Abnahme der Einflußmöglichkeiten von Staaten auf ihre Volkswirtschaften; Verlagerung der wirtschaftlichen Regelungsmechanismen vom Staat zu internationalen Institutionen und transnationalen und internationalen Korporationen; Verschärfung der Gegensätze zwischen Arm und Reich innerhalb und zwischen Regionen und Verlust an sozialer Kohäsion; • Kohärenz der Politik als Folge der formalen politischen Prozesse in Staaten und Stärke und Legitimation der politischen Führung: Demokratisierung in den Ländern des Westens und in Teilen des südlichen Afrika und Autokratisierung in Nord- und Zentralafrika, Südostasien, und China; Lage der Menschenrechte; zivile Kontrolle des Militärs; Zunahme nichtstaatlicher Organisationen (NGO) und Akteure zu Lasten der Staatsmacht; internationale kriminelle Netzwerke (Terrorismus, Drogen- und illegaler Waffenhandel); Verlust des staatlichen Gewaltmonopols; wachsende Anzahl von Staaten ohne intakte staatliche Ordnung; • Zugang zu Information und Wissen als Folge der Entstehung globaler Informations- und Kommunikationsnetze: Verlust staatlicher Informationskontrolle; Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Individuen, NGO und Regierung; wachsender Einfluß der Medien auf die Politik und öffentliche Meinung; kulturelle Globalisierung und damit Entstehung von nicht erfüllbaren Erwartungen in armen Ländern; Unkontrollierbarkeit der Informationsnetzwerke (Anonymität, globale Verbreitung von Botschaften/Nachrichten ohne Möglichkeit der Verifizierung; Nutzung durch Terroristen; Begünstigung der Proliferation von „know how“ zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen); offensive Informationskriegführung (Manipulation der öffentlichen Meinung); • Wissenschaftlich-technische Entwicklung: Beschleunigung der Wissensproduktion und technologischer Innovationen sowie der Erneuerungsrate technischer Produkte auch im militärischen Bereich; Zunahme der „dual use“ Technologien (erschwerte Proliferationskontrolle); Verfügbarkeit einfach zu handhabender (chemischer und biologischer) Wirkstoffe zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen. Eine für die Streitkräfte der Zukunft bedeutsame Manifestation dieser Trends ist der Wandel im Kriegsgeschehen von den zwischenstaatlichen Kriegen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hin zu Bürgerkriegen und ethnisch, religiös und wirtschaftlich motivierten kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Nur etwa 15-20 Prozent aller Kriege nach 1945 waren zwischenstaatliche Kriege. Der 4
Politikwissenschaftler Herfried Münckler von der Alexander-Humboldt-Universität spricht von der Entstaatlichung des Krieges, die schließlich in einer weitgehenden Privatisierung des Kriegsgeschehens ähnlich wie im europäischen Mittelalter enden könnte. Das heißt der Staat wird als kriegführende Partei von Warlords, Guerrillagruppen und kriminellen Organisationen abgelöst, die vom Kriege leben und daher - anders als Staaten - kein Interesse an seiner Beendigung haben.5 Dieser Wandel hat sich in dramatischer Weise in den mit konventionellen Mitteln geführten terroristischen Angriffen vom 11. September auf das World Trade Center und das Pentagon manifestiert, in deren Folge die NATO zum ersten Male in ihrer mehr als 50-jährigen Geschichte den Bündnisfall verkündete. Obwohl sich diese Entwicklung mit den blutigen Anschlägen auf die US-Botschaftsgebäude in Nairobi und Daressalam sowie den Zerstörer USS Cole im Hafen von Aden ankündigte und es anscheinend auch hierzulande konkrete Hinweise auf die Existenz des für diese Anschläge verantwortlichen terroristischen Netzwerks gab, waren die USA, das Atlantische Bündnis und - mit wenigen Ausnahmen - der Rest der Welt auf diese Art von Angriffen völlig unvorbereitet. Auch wenn man die von Globalisierungsgegnern verschiedentlich vertretene These, dass die Selbstmordattentate eine unvermeidliche Folge der negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung sind, angesichts der sozialen Herkunft und Ausbildung der Attentäter für unbegründet hält, so ist doch richtig, dass sie sich der Instrumente und Technologien bedient haben, ohne die auch die Globalisierung nicht möglich wäre: Zuverlässige weltweite Kommunikation, offen zugängliche Informationsnetzwerke, Transportinfrastruktur, globale Finanzmärkte, Bankgeheimnis, durchlässige Grenzen und Freizügigkeit in den Demokratien des Westens, der die Zielscheibe des internationalen Terrorismus ist.6 Dass sich die Wurzeln des für die Angriffe vom 11. September verantwortlichen terroristischen Netzwerks Al-Qaida um Osama bin Laden in Afghanistan befinden, scheint die Beobachtung zu bestätigen, dass die solche Netzwerke vornehmlich in Staaten wie Afghanistan oder auch Kolumbien, Libanon und Somalia gedeihen, deren innere Ordnung infolge langjähriger Bürgerkriege weitgehend zerstört ist. Wie die genannten Beispiele zeigen, ist es unter solchen Bedingungen für kriminelle oder wirtschaftlich potente Gewaltunternehmer nicht allzu schwer, sich eines schwachen Staates als Operationsbasis zu bemächtigen. Durchaus vorstellbar ist auch, dass die Gewaltunternehmer des 21. Jahrhunderts nicht - wie im Falle von bin Laden allenthalben vermutet - auf eigene Rechnung handeln, sondern als Auftragnehmer anderer Gruppierungen oder sogenannter Schurkenstaaten, die sich mangels (noch) nicht vorhandener Abschreckungsfähigkeiten der Vergeltung der Angriffsopfer ausgesetzt sähen. In diesem Fall könnten die in Auftrag gegebenen terroristischen Angriffe Teil einer Strategie des Irak oder eines anderen Schurkenstaates sein, um mit der von ihnen betriebenen Entwicklung von Interkontinentalraketen (ICBM) dem Aufbau des von den USA geplanten, gegen diese Raketen gerichteten nationalen Raketenabwehrsystems (NMD) zuvorzukommen in der Annahme, dass sich die Ausgabenprioritäten der USA im Budget für „Home Defense“, aus dem sowohl NMD wie die Terrorismusbekämpfung bezahlt werden, als Folge von Terroranschlägen zu Lasten der Raketenabwehr ändern werden. Der in einem Bericht an den amerikanischen Präsidenten von einer Gruppe amerikanischer Physiker um der Nobelpreisträger Hans Bethe aufgestellten These, dass das geplante Raketenabwehrsystem eine riesige Fehlinvestition sei, weil es nicht vor Terroranschlägen schützt, und die zu seiner Verwirklichung erforderlichen Mittel daher besser in der Bekämpfung insbesondere von nuklearem Terrorismus angelegt wären, wird in den Augen der Weltöffentlichkeit und auch der amerikanischen Steuerzahler durch die Terrorangriffe in spektakulärer Weise Nachdruck 5
verliehen. So meinte beispielsweise Stefan Kornelius unlängst in einem SZ-Leitartikel, dass die Frage der Gefährdung durch ballistische Raketen und das daraus abgeleitete Bedürfnis der USA nach einer Raketenabwehr erheblich an Bedeutung verloren haben. 7 Thesen zur Sicherheitspolitik Aus dem bisher Gesagten werden eine Reihe wichtiger sicherheitpolitisch relevanter Gegebenheiten und Konsequenzen deutlich, die nachfolgend in Form von Thesen zusammengefaßt sind: • Sicherheitsrisiken sind interdependent: Die mit den jeweiligen Entwicklungstrends verbundenen Risiken bedingen und/oder verstärken bzw. schwächen sich gegenseitig. (Beispiel: Unter bestimmten Umständen kann Bevölkerungswachstum wirtschaftliche Entwicklung begünstigen, die ihrerseits in der Folge das Bevölkerungswachstum bremst; Bevölkerungswachstum aber belastet die natürliche Umwelt und trägt zur Verstärkung von Migrationsbewegungen bei, die ihrerseits wiederum umweltschädliche Konflikte um Ressourcen auslösen können und die wirtschaftliche Entwicklung abschwächen oder verhindern etc.). Ob und wann ein Trendindikator einen für die regionale oder globale Sicherheit „kritischen“ Wert erreicht oder überschreitet, hängt von den Werten aller anderen Indikatoren ab. Diesbezügliche Vorhersagen sind mit einem hohen Maß an Unsicherheit behaftet, weil die zugrundeliegenden Prozesses der Interaktion der einzelnen Trends nur in Teilen erforscht sind. Bei allen Modelle zur Krisenvorhersage handelt es sich bestenfalls um in Teilen validierte, aber in Gänze nicht validierbare Hypothesen über die Interaktionsprozesse. • Grenze zwischen Krieg und Frieden wird fließend: Damit verschwimmt auch die traditionelle Abgrenzung von äußerer und innerer Sicherheit. Münckler betrachtet die in den Beziehungen zwischen Territorialstaaten seit ihrem Entstehen verbundene Trennung von Krieg und Frieden und damit die Trennung von Gewaltanwendung und Erwerbsleben als die Voraussetzung einer stabilen Friedensökonomie. Dies unterstreichen die Reaktionen der Finanzmärkte auf die Änderungen des Marktgeschehens, die von den Ereignissen des 11. September ausgelöst wurden, ebenso wie die in Deutschland beginnende Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren. • Sicherheitsvorsorge ist nicht mehr national wahrnehmbar: Für den Bereich der äußeren Sicherheit ist diese These keine Neuigkeit, wohl aber für den der inneren Sicherheit. Nationale Unterschiede in der für die innere Sicherheit relevanten Gesetzgebung und unterschiedliche Standards unter anderem im Datenschutz, in polizeilichen Ermittlungsverfahren, der Personenüberwachung und Strafverfolgung erschweren den Kampf gegen international operierende kriminelle Organisationen und Terroristen. Besondere Bedeutung für die Sicherheitsvorsorge der Zukunft kommt einer arbeitsteiligen internationalen Zusammenarbeit von Polizei, Nachrichten- und Geheimdiensten zu. • Sicherheitsvorsorge erfordert einen holistischen und ressortübergreifenden Ansatz: Vorsorge im Bereich innerer und äußerer Sicherheit manifestiert sich in vielfältigen Funktionen, die in der Verantwortung dafür zuständiger, weitgehend unabhängig voneinander agierender Ressorts und Institutionen liegen. Diese konkurrieren um Ressourcen (Menschen und Finanzmittel), sind aber im Einsatz mehr oder weniger aufeinander angewiesen und bei richtiger Dimensionierung und Ausstattung in der Lage, 6
im Rahmen einer koordinierten Aufgabenteilung synergistische Effekte zu erzielen und damit ihre Effizienz zu steigern. Im militärischen Kampfeinsatz spricht man auf taktischer Ebene vom „Gefecht der verbundenen Waffen“ und auf der operativen Ebene von „joint operations“. Dabei wird die Wirkung der beteiligten Einheiten bzw. Systeme durch enge zeitliche und räumliche Abstimmung ihres Einsatzes verstärkt. Dies gilt um so mehr, je besser die Leistungsparameter der Einheiten und Systeme aufeinander abgestimmt sind. Mit anderen Worten, auf dem Hintergrund begrenzter Ressourcen erfordert die Maximierung der Wirkung von Systemen der Sicherheitsvorsorge nicht nur eine einheitliche Führung im Einsatz, sondern letztlich auch gemeinsame Planung bei der Auslegung und Beschaffung von Systemen und der Einsatzvorbereitung. Dies unterstreichen auch die in vielen Friedenseinsätzen gewonnenen Erfahrungen in der Zusammenarbeit von Militär und zivilen Organisationen. Eine einheitliche Führung von aufeinander angewiesenen militärischen und zivilen Aktivitäten ist der Effizienz der Einsätze im hohem Maße förderlich.8 Im übrigen können Friedenseinsätze wie die auf dem Balkan durchaus als Modell für Einsätze in inländischen Notstandssituationen betrachtet werden. • Verwundbarkeit postmoderner Industriestaaten insbesondere gegenüber asymmetrischen Gewaltformen wächst: Die Funktionsfähigkeit postmoderner Industriestaaten hängt in zunehmendem Maße von störungsfrei arbeitenden Rechner- und Kommunikationsnetzen ab. Dies gilt insbesondere für sensitive Bereiche wie zum Beispiel Energie- und Trinkwasserversorgung, Verkehr, öffentliche Verwaltung, Industrie, Handel, Banken, Versicherungen Polizei, Sicherheits- und Rettungsdienste und auch die militärische Führung auf allen Ebenen. Die Störungsmöglichkeiten derartiger Netze sind vielfältig und mit vergleichsweise geringem Aufwand herbeizuführen. Diesbezügliche Vorbereitungen und häufig auch die Angriffe selbst sind schwer erkennbar. Der Informationskrieg kennt keine Warnzeit und keinen Verteidigervorteil. • Sicherheitspolitik wird Gestaltungsaufgabe : Die der weiteren Entwicklung anhaftende Unsicherheit läßt eine Vielfalt von mehr oder weniger gefährlichen oder auch wünschenswerten sicherheitspolitischen Szenarien als denkbar erscheinen. Für die Sicherheitspolitik kommt es darauf an, den Prozess der zivilisatorischen Entwicklung in Richtung wünschenswerter Szenarien zu steuern. Mit anderen Worten, Sicherheitspolitik beinhaltet nicht mehr allein Sicherheitsvorsorge im Sinne der Fähigkeit, gegebenenfalls auftretende Gefahren mit diplomatischen und/oder militärischen Mitteln abwenden zu können, sondern auch und insbesondere zu verhindern, dass Gefahren entstehen, weil lokale und regionale Krisen entarten. Sicherheitspolitik wird zu einer Gestaltungsaufgabe, die angesichts der angesprochenen Entwicklungstrends nahezu alle Politikbereiche berührt. Damit erhebt sich die Frage, welche Art von Streitkräften für die Bewältigung dieser Aufgabe benötigt wird. Folgerungen für Streitkräfteentwicklung Für den mit der sicherheitspolitischen Gestaltungsaufgabe verbundenen militärischen Auftrag wurde in den USA der Begriff „Environment Shaping“ geprägt. Er zielt darauf ab, in Verbindung mit diplomatischen und wirtschaftlichen Maßnahmen das Entstehen von strategischen Vacua und gefährlichen regionalen Hegemonien zu verhindern. Eine RAND- Analyse stellt fest, dass die Streitkräfte der USA hierzu neben den Instrumenten der nuklearen Abschreckung die Mittel und Fähigkeiten zur globalen Machtprojektion und verlustarmen frühen Intervention sowie für friedensschaffende und friedenserhaltende Einsätze besitzen 7
müssen. Verlustarme Intervention setzt die Fähigkeit zum Kampf auf Distanz voraus und damit eine lückenlose strategische und taktische Aufklärung. Ein weiterer wesentlicher Aspekt der amerikanischen Überlegungen bezieht sich auf die Kontrolle der Verbreitung gefährlicher Technologien und Waffen und die Entwicklung von Systemen zur Abwehr von Massenvernichtungswaffen, weil unter der Androhung ihres Einsatzes die Bereitschaft zur Krisenintervention seitens der USA und seiner Verbündeten für gering erachtet wird.9 Zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangte die DERA in Großbritannien im Rahmen des erwähnten Projekts „Insight“ und in Deutschland Jürgen Schnell, der die künftige politische Instrumentierung der Streitkräfte des Westens in drei wesentlichen Fähigkeiten sieht, nämlich 1) einer weiträumigen Kriseninterventionsfähigkeit, 2) dem Ausbalancieren strategischer Optionen und 3) dem Schutz des eigenen Territoriums vorwiegend vor Bedrohungen aus der dritten Dimension.10 Mit den Anschlägen vom 11. September ist die Bekämpfung des internationalen Terrorismus unversehens zu einer vordringlichen Gestaltungsaufgabe westlicher Sicherheitspolitik geworden. Im Hinblick auf die hierfür erforderlichen militärischen Mittel rückt neben dem Schutz kritischer Objekte die globale Interventionsfähigkeit als Mittel der Landes- und Bündnisverteidigung in den Vordergrund mit dem Ziel, • Bürgerkriege, die den Nährboden für das Entstehen terroristischer Organisationen bereiten, zu verhindern oder zu beenden; • die physische Infrastruktur terroristischer Netzwerke und Ausbildungseinrichtungen, die sich in schwachen Staaten eingenistet haben, zu zerstören; • die Unterstützung von Terroristen seitens „Schurkenstaaten“ durch präventive Operationen zu unterbinden. Hinzu kommt die Fähigkeit zu offensiven und defensiven Informationsoperationen zur Verhinderung von Anschlägen und zum Schutz vor terroristischen Angriffen auf die militärischen Führungs- und Informationssysteme und die Informationsinfrastruktur in allen sicherheitsrelevanten Bereichen. In konzeptioneller Hinsicht sind Konsequenzen für die Streitkräfte der Zukunft von der Dynamik und Unsicherheit der sicherheitspolitischen Entwicklung geprägt. Die Streitkräfte der Zukunft müssen somit in der Lage sein, sich rasch auf neue Konfliktformen, neue Akteure, neue Aufgaben und die wachsende Geschwindigkeit technologischer Innovation einzustellen. Dies aber setzt einen Typus von Streitkräften voraus, der durch ein hohes Maß an Flexibilität, Lernfähigkeit und Professionalität gekennzeichnet ist sowie eine Führung, die willens ist, bestehende Strukturen und Konzepte im Sinne der Weiterentwicklung der Streitkräfte und als Beitrag zur Gestaltungsaufgabe der Sicherheitspolitik in Frage zustellen. Zur Lage der Bundeswehr Diesbezüglich hat die mit Modernisierungs- und Strukturdefiziten belastete und traditionellen Vorstellungen verhaftete Bundeswehr von heute noch einen weiten Weg vor sich, auf dem die Realisierung der Forderung nach mehr Professionalität wohl einer der schwierigsten Schritte sein dürfte, obgleich er unter militärischen, bündnispolitischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten rational wäre. Um dies abschließend zu erläutern, sei auf die eingangs aufgestellte These Bezug genommen, dass in Verbindung mit der Unterfinanzierung der Bundeswehr die Forderung nach Festhalten an der Allgemeinen Wehrpflicht die Gefahr mit sich bringt, dass die Bundeswehr eine zunehmend mangelhaft ausgerüstete Armee der 8
Vergangenheit bleiben wird, die unbeschadet ihrer Aufwuchsfähigkeit den Anforderungen der Zukunft auch in der Landes- und Bündnisverteidigung mangels Interoperabilität mit den wichtigsten Bündnispartnern nicht gerecht werden kann. Dieser These zugrundeliegende Untersuchungsergebnisse, die in Heft 4/2001 der Zeitschrift Europäische Sicherheit im einzelnen begründet wurden, sind in Tabelle 1 zusammengefaßt.11 Sie verdeutlichen den für drei Optionen langfristig erreichbaren Modernisierungsgrad der Bundeswehr, wenn man jeweils die Eckdaten der geplanten Reform (280.000 Soldaten, davon 27.000 FWDL und 53.000 GWDL) zugrunde legt. Der Modernisierungsgrad ist bemessen an den tatsächlichen investiven Ausgaben relativ zu den Ausgaben, die notwendig wären, um ein den US-Streitkräften vergleichbares Modernisierungsniveau zu erreichen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich der Stand der Ausrüstung in den über einen angemessenen Zeitraum getätigten investiven Ausgaben widerspiegelt. • Option A entspricht der gegenwärtigen Planung unter der Annahme, dass der Verteidigungshaushalt ab dem Jahre 2003 real auf dem für dieses Jahres vorgesehenen Niveau von 46,9 Mrd. DM eingefroren wird. Der Wert von 0,33 für den erreichbaren Modernisierungsgrad bedeutet, dass sich die Qualität der Ausrüstung der Bundeswehr nicht merklich verbessern läßt. Die im Jahre 2003 und danach verfügbaren Investitionsmittel liegen nach unserer Schätzung bei 10,7 Mrd. DM, das heißt um etwa 2 Mrd. DM unter den im Jahre 2001 theoretisch möglichen Ausgaben, wenn man die zwischenzeitlich für die Terrorismusbekämpfung in Aussicht gestellten Mittel in Höhe von 1,5 Mrd. DM außer Acht läßt. Allerdings gehen die Zahlen in Tabelle 1 von der optimistischen Annahme aus, dass die im Vollzug der Reform veranschlagten Veräußerungs- und Rationalisierungsgewinne tatsächlich erzielbar sind. • Option B zeigt das reale Niveau des Verteidigungshaushalts, das ab dem Jahre 2003 notwendig wäre, um einen investiven Haushaltsanteil von 30 Prozent zu gewährleisten, der nach herkömmlicher Auffassung für eine kontinuierliche Modernisierung der Bundeswehr als ausreichend betrachtet wird. Damit wäre langfristig ein Modernisierungsgrad von 0,45 erreichbar. • Option C zeigt, dass das reale Niveau des Verteidigungshaushalts bei 64 Mrd. DM und der Anteil der investiven Ausgaben bei 27 Mrd. DM liegen müßte, um langfristig einen Modernisierungsgrad von 0,8 erreichen zu können. Dieser Wert dürfte vermutlich ausreichen, um die Interoperabilität mit den wichtigsten Bündnispartnern USA, Großbritannien und Frankreich sicherzustellen. Man sieht, dass sich in diesem Fall der investive Haushaltsanteil zu 42 Prozent errechnet, was erheblich über dem bisher als angemessen betrachteten Wert von 30 Prozent liegt, aber durchaus plausibel ist, wenn man bedenkt, dass der Wert von 30 Prozent in etwa dem Niveau der investiven Ausgaben der Bundeswehr zur Zeit des Kalten Krieges entspricht. Damals lag die Friedensstärke der Bundeswehr bei 500.000 Soldaten. Wegen der von der Gesamtstärke nicht oder weniger stark abhängigen Sockelbeträge der investiven Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Erprobung und der bei geringeren Stückzahlen steigenden Beschaffungskosten für neues Gerät muß der investive Haushaltsanteil bei Umfangsreduzierungen ansteigen.12 Wollte man im Rahmen der derzeitigen Finanzplanung einen Modernisierungsgrad von 0,8 erreichen, dann müßte die militärische Gesamtstärke der Bundeswehr auf etwa 200.000 reduziert werden. Dies würde die Aussetzung der Wehrpflicht unumgänglich machen, wenn die im Rahmen der Reformpläne des Verteidigungsministers angestrebte personelle Einsatzstärke in etwa aufrechterhalten werden soll. Bei der von der Weizsäcker-Kommission 9
vorgeschlagenen Streitkräftestruktur mit einer Gesamtstärke von 240.000 (davon 5.000 FWDL und 25.000 GWDL) wäre ein Verteidigungshaushalt von real etwa 56 Mrd. DM erforderlich, um einen Modernisierungsgrad von 0,8 erreichen zu können. Bei einem Budget von 50 Mrd. DM wird der erreichbare Modernisierungsgrad für den Kommissionsvorschlag auf etwa 0,6 geschätzt. . Tabelle 1: Langfristig erreichbarer Modernisierungsgrad bei unterschiedlichen Zielsetzungen der geplanten Bundeswehrreform Option A B C Haushalt [Mrd DM] 46,9 52,0 64 Investitionen [Mrd DM] 10,7 15,5 27 Investitionsquote 0,227 0,30 0,42 Modernisierungsgrad 0,33 0,45 0,80 Unter militärischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten wäre somit der Abschied vom Vollzug der Allgemeinen Wehrpflicht in Richtung auf den von der Kommisssion vorgeschlagenen „Auswahl Wehrdienst“ oder eine Aussetzung der Wehrpflicht und der Übergang zu reinen Freiwilligenstreitkräften rational, zumal die sich nicht im Haushalt niederschlagenden Opportunitätskosten der Wehrpflicht erheblich sein dürften.13 Diese Ergebnisse bestätigen die Schlußfolgerung der eingangs erwähnten AICGS-Studie, dass die Bundesregierung vor der Wahl steht, entweder an den Reformplänen des Verteidigungsministers festzuhalten und den Verteidigungshaushalt beträchtlich zu erhöhen oder die Streitkräftestärke weiter zu reduzieren und die Wehrpflicht auszusetzen. Im übrigen entspricht das Haushaltsniveau von 64 Mrd. DM, das für die Realisierung der Reformpläne und eine umfassende Modernisierung der Bundeswehr als notwendig erachtet wird, einem Anteil von 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) Deutschlands, das im Jahre 2003 bei einem realen Wachstum von jährlich einem Prozent zu erwarten ist. Zum Vergleich sei erwähnt, dass im Jahre 2000 die Höhe des Verteidigungshaushalts Großbritanniens bei 2,4 Prozent, Frankreichs bei 2,1 Prozent, der USA bei 2,9 Prozent und Deutschlands bei 1,2 Prozent des jeweiligen BIP lag. Deutschland wurde diesbezüglich lediglich von Belgien, Luxemburg und Kanada unterboten. Der NATO-Durchschnitt belief sich auf 2,35 Prozent des kollektiven BIP aller NATO-Partner, der Durchschnitt der europäischen Partnerländer auf 1,77 Prozent. Zusammenfassung Die derzeit erkennbaren Trends der zivilisatorischen Entwicklung verdeutlichen, dass sich der Charakter von Sicherheits- und Verteidigungspolitik im 21. Jahrhundert grundlegend ändern wird. Bevölkerungsentwicklung, Umweltveränderungen, Globalisierung, neue Akteure und die rasante wissenschaftlich-technische Entwicklung bringen neue Mittel und Formen der Bedrohung mit sich und lassen eine Vielfalt sicherheitspolitischer Szenarien als möglich erscheinen. Die damit verbundene Dynamik und Unsicherheit erfordert, dass die Streitkräfte 10
der Zukunft in der Lage sind, sich rasch auf neue Konfliktformen und neue Aufgaben einzustellen. Ihr Grundprofil ist durch Fähigkeiten zur Früherkennung von Krisenherden, zur Projektion militärischer Macht über große Entfernungen und verlustarmen Krisenintervention sowie zum Schutz der eigenen Streitkräfte, Bevölkerung und kritischer Objekte, insbesondere der Informationsinfrastruktur, vor terroristischen Angriffen mit konventionellen und informationstechnischen Mitteln und der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen vorwiegend aus der dritten Dimension gekennzeichnet. Welche Fähigkeiten zum Kampf über große Entfernungen und verlustarmen Krisenintervention die USA in der Dekade seit dem Golfkrieg entwickelt haben, verdeutlichen die unerwartet raschen Erfolge im Krieg gegen die Taliban und die Kämpfer von Al Qaida in Afghanistan. Sie beruhen auf dem Zusammenwirken von drei kritischen Elementen: • Luftstreitkräften ausgerüstet mit bemannten und unbemannten Luftkriegsmitteln hoher Reichweite und bestückt mit Präzisionswaffen; • lückenloser taktischer Aufklärung in Echtzeit; • hochmobilen Bodentruppen, die in kleinen Gruppen unabhängig voneinander operieren und unter anderem die Ziele für die Luftstreitkräfte markieren. Diese Gruppen verfügen über hinreichend Feuerkraft und elektronische Hilfsmittel, um sich gegnerischem Feuer und einer Gefangennahme rechtzeitig entziehen zu können. Nach Aussagen von Richard Perle, dem Leiter des „Defense Review Board“ des Pentagon, sind heute etwa 20 Prozent der US-Streitkräfte entsprechend ausgerüstet. Er ist überzeugt, dass die Transformation aller Teilstreitkräfte zur Befähigung für diese neue Art der Kriegführung (Stichwort: Revolution in Military Affairs) beschleunigt wird.14 Die gemäß derzeitiger Planung angestrebte Reform der Bundeswehr erscheint wenig geeignet, die wachsenden Modernisierungsdefizite und Fähigkeitslücken zu beseitigen. Im Gegenteil, sie werden sich als Folge der Unterfinanzierung der Bundeswehr und des gleichzeitigen Festhaltens an der Allgemeinen Wehrpflicht eher verschärfen. Als Ausbildungsarmeen unterliegen Wehrpflichtstreitkräfte einer vergleichsweise hohen Einschränkung ihrer Einsatzfähigkeit und sind somit auf der Basis gleicher Leistung betrachtet auch ohne Berücksichtigung der schwierig zu beziffernden Opportunitätskosten teurer als Freiwilligenstreitkräfte. Jedoch bietet die mit Ereignissen des 11. September 2001 entstandene neue Lage einen auch der deutschen Öffentlichkeit vermittelbaren Anlaß, die Reformziele im Hinblick auf die Wehrstruktur zu überdenken und die zum Aufbau eines zukunftsfähigen Leistungsprofils der Bundeswehr und zur Sicherung der Interoperabilität mit den wichtigsten Bündnispartnern USA, Großbritannien und Frankreich notwendige Erhöhung des Verteidigungshaushalts politisch durchzusetzen. Endnoten (Literaturhinweise) 1 Farwick, Dieter: Die zukünftigen Aufgaben von Streitkräften. Vortrag auf der Expertentagung „Die Streitkräfte der Zukunft“ der Hanns-Seidel-Stiftung, Kreuth, 15.-16. Oktober 2001 2 AICGS: Redefining German Security: Prospects for Bundeswehr Reform. German Issues Volume, 25, September 2001: The Johns Hopkins University 3 Hamid, Sham: Force Planning under Uncertainty: The ‚Project Insight‘ of the United Kingdom: In Huber and Hofman, Eds.: Defense Analysis for the 21st Century: Issues, Approaches, Models. Baden-Baden 1999: Nomos, S. 108-138 11
4 Kaestner, Roland: Streitkräfte im 21. Jahrhundert. Vortragsmaterialien. Die Veröffentlichung der Beiträge zum Workshop der LVAK Wien ist in Vorbereitung. 5 Münkler, Herfried: Die brutale Logik des Terrors: Wenn Dörfer und Hochhäuser zu Schauplätzen von Massakern werden – Die Privatisierung des Kriegs in der Moderne. SZ am Wochenende, SZ Nr. 225, 29./30. September 2001, S. I 6 Starbatty, Johann: Das Gespenst der apokalyptischen Reiter. SZ Nr. 230, 6./7. Oktober 2001, S22 7 Kornelius, Stefan: Die Ära des sanften Riesen. SZ Nr. 225, 29./30. September 2001, S. 4 8 Erikson, Pär: Civil-Military Co-ordination in Peace Support Operations – An Impossible Necessity In: Woodcock and Davis, Eds.: Analysis of Civil-Military Interactions. Cornwallis Park, NS, 1999: The Canadian Peacekeeping Press, S. 17-35 9 Davis, Paul: Transforming U.S. Forces for Possible Revolutions in Military Affairs. In Huber and Hofman (Hrsg.): Defense Analysis for the 21st Century: Issues, Approaches, Models. Baden-Baden 1999: Nomos, S. 209-226 10 Schnell, Jürgen: Zur zukünftigen Rolle von Militärorganisationen – Wie verändern sich Einsatzspektrum und Management von Streitkräften? http://www.unibw- muenchen.de/campus/WOW/v1054/miloek1.html 11 Huber, Reiner K.: Die Erneuerung der Bundeswehr: Anfang eines weitergehenden Umbauprozesses? Europäische Sicherheit 4/2001, 25-29 12 Eine ausführlichere Begründung für diesen nicht-linearen Zusammenhang geben Huber und Schmidt in ihrem Beitrag „Auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht“, Europäische Sicherheit 2/2000, S. 30-31. 13 Unter Opportunitätskosten sind die indirekten Kosten zu verstehen, die dadurch entstehen, dass die Gesellschaft auf die höhere Wertschöpfung aus einer zivilen Tätigkeit der Wehr- und Zivildienstleistenden verzichtet. Der Hamburger Volkswirt Wolf Schäfer hat die Opportunitätskosten der Wehrpflicht und des an sie gekoppelten Zivildienstes im Jahre 1996 auf 8-9 Mrd. DM geschätzt. Angenähert errechnen sich damit indirekte Kosten in Höhe von mindestens 50.000 DM, die im Rahmen der Vorgaben der Bundeswehrreform den direkten Personalausgaben je GWDL-Dienstposten zuzurechnen sind (Schäfer, Wolf: Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee? Die Wehrstruktur aus ökonomischer Sicht. Wirtschaftsdienst, 80. Jg (2000), S 343-349). 14 (Joseph Fitschett: Campaign Proves the Length of U.S. Military Arm. International Herald Tribune, Nov 19, 2001, S.1 und 8). 12
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