Odyssee eines LED-Fernsehers - Insight Lieferketten - 11. Februar 2022 - Handelsblatt

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Odyssee eines LED-Fernsehers - Insight Lieferketten - 11. Februar 2022 - Handelsblatt
Insight Lieferketten – 11. Februar 2022

Odyssee eines LED-Fernsehers
Chipmangel, Hafensperrungen, Corona-Lockdowns und Unwetter: Das Handelsblatt
zeichnet den Weg eines in China produzierten TV-Geräts bis zum Endkunden nach.
von Christoph Schlautmann

Otto Schacht, Vorstand beim Speditionsriesen Kühne + Nagel, bringt die Misere auf den Punkt.
"Wenn ein Fahrradhändler in Valencia keine Ersatzteile aus Fernost bekommt", sagt er, "liegt die
Schuld oft Tausende Seemeilen entfernt von der eigentlichen Lieferkette, etwa beim überfüllten
Hafen von Los Angeles." Nach der Blockade des Suezkanals vor neun Monaten und
coronabedingten Schließungen chinesischer Häfen seien es nun eben die Staus vor den US-Kais, die
Chaos in den weltweiten Lieferketten verursachten.

Die Globalisierung, so erlebten es Deutschlands Einzelhändler zuletzt im Weihnachtsgeschäft, stößt
an ihre Grenzen. 78 Prozent von ihnen beklagten laut Ifo-Institut vor Weihnachten Lieferprobleme,
allen voran Spielzeug-, Fahrrad- und Elektronikläden. 5,3 Prozent an Umsatz habe sie das in der
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wichtigsten Verkaufssaison gekostet, errechnete die Managementberatung Coupa gemeinsam mit
Sapio Research.

Doch welche Komplikationen sind es, die den weltweiten Warenfluss seit dem Ausbruch der
Coronapandemie immer wieder aus dem Takt bringen? Um dies zu enträtseln, ließ das Handelsblatt
den Lieferweg eines Flachbildfernsehers aus China bis zum Endkunden in Brandenburgs Hauptstadt
Potsdam dokumentieren. Die 150 Tage dauernde Reise aus Fernost, so viel sei vorab verraten, glich
in manchen Phasen einer Odyssee.

Die exakten Daten dazu beschaffte der Lieferketten-Spezialist Project44, eine in Chicago
gegründete Onlinefirma, die seit Ende 2018 auch von europäischen Büros aus weltweite Transporte
überwacht und Investoren wie SAP, TPG oder Goldman Sachs zu ihren Geldgebern zählt. Ihren
Auftraggeber nennen durften die Amerikaner namentlich zwar nicht. Es handele sich aber um die
Order eines in Berlin tätigen Einzelhändlers, erklärte Project44. In diesem Fall ließ der Filialist die
Bestellung darüber hinaus seinem Endkunden per Paketdienst zustellen.

8. Juni 2021, null Tage Verspätung: Der Vorlauf

Bei Guangzhou in der chinesischen Provinz Guangdong läuft eine Bestellung ein über Halbleiter,
die in LED-Fernsehern verbaut werden sollen. Die Order stammt aus der benachbarten Metropole
Dongguan, wo Chinas führender TV-Hersteller Skyworth eine seiner Produktionsstätten betreibt.
Der Elektronikkonzern verkauft seine Fernseher unter anderem unter den Gerätemarken Toshiba
und Metz. Doch die Produktion der benötigten Chips liegt bereits seit Tagen brach. Gleich mehrere
Stadtverwaltungen in Chinas südlicher Provinz Guangdong haben die lokalen Industriebetriebe
aufgefordert, den Stromverbrauch zu drosseln. Grund sind außergewöhnlich hohe
Sommertemperaturen. Der damit verbundene Energiebedarf der Klimaanlagen setzt dem
Elektrizitätssystem der Millionenmetropole zu.

Guangdong, eine Wirtschaftsregion mit einem Bruttoinlandsprodukt im Ausmaß Südkoreas,
verzeichnet zu diesem Zeitpunkt einen Anstieg des Stromverbrauchs um 22,6 Prozent gegenüber
dem Vorjahr. Selbst im Vor-Corona-Jahr 2019 hatte der Stromverbrauch 7,6 Prozent unter diesem
Niveau gelegen. Auf die Industriewerke der Region hat dies fatale Auswirkungen. Für Stunden oder
sogar Tage müssen sie auf Anordnung der Behörden ihre Bänder stillstehen lassen. Die Vorlaufzeit
für die TV-Produktion verlängert das um acht Tage.

25. Juli 2021, acht Tage Verspätung: Die Produktion

Der geplante Auslieferungstermin für den bestellten LED-Fernseher platzt. Vier Tage zuvor hat das
Sturmtief "Cempaka" Südchina getroffen. Schwere Regenfälle und Überflutungen sind die Folge

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des Taifuns, teilweise kommt es in Dongguan, wo die Geräte zusammengeschraubt werden, wegen
umgeknickter Bäume zu Stromausfällen. Brückenunterführungen und Schienen stehen unter
Wasser, mehr als 105.000 Einwohner der Provinz müssen aus ihren Häusern gerettet werden.

Der Produktionsbeginn für die Charge, zu der auch das georderte TV-Gerät gehören soll, verschiebt
sich dadurch nach hinten. Am Ende verzögert sich die Auslieferung um eine Woche.

5. September 2021, 15 Tage Verspätung: Die Verschiffung

Nach einer Lkw-Fahrt von knapp 100 Kilometern erreicht der Flachbildfernseher den Hafen von
Yantian. Dort soll ihn ein von der französischen Containerreederei CMA CGM bereitgestelltes
Schiff am 5. September per Container mit auf die Reise nehmen. Doch aus dem Plan wird vorerst
nichts. Der viertgrößte Hafen der Welt leidet zu diesem Zeitpunkt immer noch unter dem
inzwischen wieder aufgehobenen Shutdown, den die chinesische Regierung im Juni verhängte,
nachdem sich angeblich wenige Hafenarbeiter mit Corona infiziert hatten. Immer noch stauen sich
Container im Hafen, verspäten sich Schiffe.

Selbst Anfang September noch verzögert dies die Einschiffung des in Deutschland bestellten TV-
Geräts. Zunächst fehlen der französischen Reederei die vollständigen Daten zum Transportverlauf,
dann verschiebt sich die Abfahrt des Schiffes um sechs Tage.

16. September 2021, 21 Tage Verspätung: Das Umladen

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Der Container mit dem LED-Fernseher wartet verladebereit an der Kaikante in Singapur. Dorthin
hat ihn der Brückenkran verfrachtet, nachdem das Containerschiff aus Yantian einen Teil seiner
Fracht beim Zwischenstopp in Singapur gelöscht hat. Ein anderes Schiff von CMA CGM, die
"Palais Royal", soll den Weitertransport des Flachbildfernsehers in Richtung Nordeuropa
übernehmen. Fachleute sprechen bei solchen Umladungen von "Trans-Shipment".

Doch der Umschlag verzögert sich. Singapur ist nach Schanghai der zweitgrößte Hafen der Welt,
seine Kailänge misst 21 Kilometer, an zwei Standorten lassen sich gleichzeitig bis zu 84
Containerschiffe abfertigen. Doch die enorme Zahl von Verspätungen mit Ursache in anderen
Häfen hat auch die Fahrpläne in Singapur erheblich durcheinandergewürfelt. An den mehr als 200
Containerbrücken kommt es in diesen Tagen zu einer Überlastung.

Davon ist auch der bestellte Fernseher unmittelbar betroffen. Den Container, in dem er sich
befindet, buchen die Hafenmanager um, weil der letzte Ladetermin für die "Palais Royal" um 12.30
Uhr Ortszeit nicht mehr zu erreichen ist. Der Frachter legt ohne das Gerät an Bord ab. Das Warten
auf die nächste Seeverbindung Richtung Europa beginnt.

Die Zunahme solcher "Rollovers", wie Logistiker Umbuchungen auf Folgeschiffe nennen, führt seit
Herbst 2020 zu ungeahnten Verspätungen im Container-Seeverkehr. Mit einer Rollover-Quote von
45 Prozent verpasst im Oktober in Singapur fast jede zweite Stahlbox ihr geplantes Anschlussschiff.
Weltweit wird sich die Lage in den darauffolgenden Monaten noch verschlimmern - von 40 Prozent
im Oktober auf 45 Prozent im Dezember.

Durchschnittlich 16 Tage Verspätung fahren Container im Januar 2022 auf ihrem Weg von Asien
nach Nordeuropa ein, hat der Logistikdienstleister Flexport ermittelt.

Angesichts solcher Verspätungszahlen hat der Empfänger des in China produzierten LED-TVs noch
relatives Glück. Zur sechstätigen Verspätung in Yantian kommen in Singapur "nur" sechs weitere
Tage hinzu. Die Sendung ist damit immer noch überdurchschnittlich pünktlich.

12. Oktober, 27 Tage Verspätung: Das Entladen

Der Containerfrachter der Ocean Alliance mit dem Fernseher an Bord erreicht Rotterdam; der
dortige Hafen ist mit einem Umschlag von zuletzt jährlich 15 Millionen Standardcontainern (TEU)
der größte Europas. Noch im Sommer 2021 hat der maritime Ortungsdienst "Seaexplorer" an
manchen Tagen bis zu 18 Containerschiffe gemeldet, die vor Rotterdam in der Nordsee dümpelten
und auf Einfahrt warteten. Nun aber ist die Einfahrt frei.

Doch die Freude über die überraschend schnelle Abfertigung des Containerschiffs weicht an Land
der Ernüchterung. Neben den Verladebrücken stapeln sich die Container in hohen Türmen

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übereinander. Allein vier Tage benötigt der Zoll, um die eingetroffene Ware freizugeben - Zeit, für
die der Hafen beim Import des TV-Geräts eine Zusatzgebühr kassiert. Zwischen 100 und 300 Euro
"Demurrage and Detention Charge" pro Container werden, je nach Hafen und Vertrag, für jeden
Tag Verzögerung fällig.

Von 2009 bis 2013 hatten die Niederländer erst ihr Hafengebiet um ein Fünftel erweitert.
Erstaunlich, dass der Platz für Container im vergangenen Jahr in vielen Wochen trotz Erweiterung
nicht ausreichte. Emile Hoogsteden, Vizepräsident der niederländischen Hafengesellschaft, macht
dafür indirekt Corona verantwortlich. Weil Konsumenten, statt teuer zu verreisen, übermäßig viel
Geld für Onlineshopping ausgäben, erklärte er Mitte November, stießen seine Lager für
Importwaren an ihre Grenzen. Während Container vor der Pandemie durchschnittlich vier Tage im
Hafen lagerten, kletterte die übliche Verweildauer zuletzt auf sieben Tage - wohl auch, weil der
Warenabfluss ins Hinterland durch den Mangel an Lkw-Fahrern ins Stocken geriet.

Auch Exporte dauern deshalb länger. Trifft ein Seefrachter etwa in Rotterdam erst mit Verspätung
ein, müssen die zum Verladen pünktlich angelieferten Stahlboxen den Hafen erst einmal wieder
verlassen, bevor Platz für frisch eingetroffene Ladung ist. Die Depots im Seehafen, erfahren die
Spediteure, seien überfüllt.

Für das Gesamtjahr 2021 meldet der Hafen eine Rollover-Rate von 51 Prozent. "Wir sehen bis
mindestens Ende 2022 keine wesentlichen Änderungen", sagt Port-Manager Hoogsteden. Eine
Einschätzung, die Project44-Manager Josh Brazil teilt. "Die kurzfristigen Prognosen für den
Seefrachtmarkt deuten auf knappe Kapazitäten mit einer sehr langsamen Stabilisierung im Jahr
2022 hin", sagt der für das Lieferketten-Geschäft verantwortliche Brazil.

Dass es Rotterdam weit schlimmer trifft als etwa die deutschen Nordseehäfen Hamburg oder
Bremerhaven, liegt an der Attraktivität des niederländischen Hafens. Dort wuchs die Menge an
Containern in den ersten neun Monaten 2021 um stattliche 7,8 Prozent - und damit deutlich stärker
als an der deutschen Küste.

Auf den zwei rund 100 Hektar großen Terminals stehen zwei Dutzend Containerbrücken, die per
Joystick und Kamera in Betrieb gehalten werden, mehr als 100 selbstfahrende Container-
Hubwagen, die ihre Fracht automatisch an die vorgesehenen Standorte befördern, ein 20 Meter ins
Wasser reichender Tiefseekai, der das Löschen selbst größter Containerriesen erlaubt, eine
viergleisige Eisenbahnanlage, die den Rotterdamer Hafen über die Betuwe-Linie mit dem
Ruhrgebiet verbindet.

16. Oktober, 31 Tage Verspätung: Der Nachlauf

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Dem in China georderten LED-Fernseher jedoch hilft das in diesen grauen Herbsttagen wenig. Statt
wie geplant am 12. gelangt er erst am 16. Oktober, einem Samstag, von seinem teuren Lagerplatz an
der niederländischen Kaikante zum wenige Kilometer entfernten Distributionszentrum einer großen
französischen Spedition in Rotterdam. Dort wird der Container geleert, die Ware anschließend per
Hubwagen an das entsprechende Ausgangs-Rampentor befördert. Doch auch hier dauert es länger
als geplant. Wegen eines Lockdowns im Verteilerzentrum wird die ursprünglich vorgesehene Lkw-
Tour Richtung Frankfurt, die am Sonntagabend starten soll, verpasst.

21. Oktober, 34 Tage Verspätung: Die Distribution

In dem hessischen Warenverteilzentrum der Spedition warten die Logistiker deshalb zunächst
vergeblich auf den Fernseher. Dessen Anlieferung aus Rotterdam stand bei ihnen für den 18.
Oktober auf dem Plan. Jetzt wächst die Sorge, dass ihnen der Auftragskunde aufgrund der
sogenannten "OTIF"-Klausel die Rechnung kürzt. Die Zusage "on-time, in-full", die sich hinter
dieser Abkürzung verbirgt, bedeutet, dass die Lieferung vollständig und in der vereinbarten Menge
zu erfolgen hat. Erst drei Tage später, am 21. Oktober, meldet Frankfurt den Eingang der Ware.

Das Distributionszentrum arbeitet allerdings auch selbst mit halber Kraft. Wegen Corona ist die
Mannschaft in separate Gruppen eingeteilt, die sich möglichst nicht begegnen sollen. Dennoch
kommt es zu Ausfällen aufgrund von Quarantäne-Anordnungen. Die umfangreichen
Hygienemaßnahmen, mit denen man den Betrieb sichern will, kosten zusätzlich Arbeitszeit und
Effizienz. Die Unterbesetzung verschärft das.

Die Kommissionierung der Warensendung an die Berliner Filiale, die auch den bestellten Fernseher
umfasst, muss warten. Am Abend des 27. Oktobers, fast eine Woche nach Lagereingang in
Frankfurt, geht sie schließlich auf den Lkw.

29. Oktober, 39 Tage Verspätung: Der Einzelhandel

Am 29. Oktober 2021, einem Freitag, trifft das Fernsehgerät endlich in der Berliner Filiale ein. Hier
geht es nun darum, den Artikel schnellstmöglich im eigenen Lager verkaufsfertig zu machen. Doch
auch bei dem Einzelhändler herrscht Unterbesetzung - wie inzwischen fast überall in Deutschland.

80 Prozent der Personalverantwortlichen bei deutschen Einzelhändlern leiden vor Weihnachten
unter der Schwierigkeit, Fachpersonal zu finden. Das ergibt Ende November eine Studie des Euro-
Handelsinstituts (EHI). Über einen Personalmangel in den Logistikabteilungen klagen 61 Prozent.

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Die Pandemie habe die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt nochmals verschärft, heißt es beim
EHI. Gleichzeitig aber beobachtet laut EHI mehr als die Hälfte der Händler einen gestiegenen
Bedarf an Beschäftigten in der Coronazeit. Auf die Auslieferung des bestellten LED-Fernsehers
wirkt sich dies mit zwei zusätzlichen Tagen aus, die man in Berlin für die Versandvorbereitungen
braucht.

5. November, 41 Tage Verspätung: Die Letzte Meile

Kurz vor dem Wochenende, am 5. November, stoppt der gelbe DHL-Lieferwagen vor der Tür des
Endkunden in Potsdam. 150 Tage seit der ersten Vorlaufbestellung hat es gedauert, bis er nun
seinen neuen LED-Fernseher in Empfang nehmen kann. Das sind 41 Tage mehr als beim Ablauf
nach Plan.

Die sogenannte "Letzte Meile" vom Händler bis zum Endkunden ist dabei das geringste Hindernis.
"Trotz der potenziellen Störfaktoren bleibt der Prozentsatz der pünktlichen Pakete konstant",
beobachtet Project44-Geschäftsführer Michael Wallraven. Mit einem Anstieg von 6,4 Prozent liege
sie sogar über dem Niveau von 2020. 2021 übertrafen die in Deutschland tätigen Paketdienste wie
DHL, Hermes, DPD oder UPS den Vorjahresrekord von 4,03 Milliarden ausgelieferten Päckchen
und Paketen noch einmal um acht Prozent.

Wie das Beispiel des LED-Fernsehers zeigt: Für Verzögerungen bei der Lieferung gibt es allerdings
weit mehr Variablen und Verantwortliche.

Die kurzfristigen Prognosen für den Seefrachtmarkt deuten auf knappe Kapazitäten mit einer sehr
langsamen Stabilisierung im Jahr 2022 hin.

Josh Brazil, Project44-Manager

45 Prozent aller Frachtcontainer im Seeverkehr verpassten im Dezember 2021 ihr geplantes
Anschlussschiff.

Quelle: Flexport

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