OLV 2/ 2010 Prof. Birgit Wagner - 1001 Nacht: ein Text auf Wanderschaft

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OLV 2/ 2010 Prof. Birgit Wagner
              1001 Nacht: ein Text auf Wanderschaft
Diese VO-Einheit greift die Thematik der Interkulturalität auf und führt auf eine literari-
sche Reise im Zeichen von 1001 Nacht. Sie zeigt einen Text auf Wanderschaft durch
Raum und Zeit und dient zugleich dazu, einen überholten Begriff von Nationalliteratur in
Frage zu stellen: nämlich die Vorstellung, dass die Grenzen von Nationalliteraturen durch
die jeweiligen ‚nationalen’ Sprachen gebildet würden.
1001 Nacht ist eine Märchensammlung, die durch eine Rahmenerzählung zusammen-
gehalten wird: mit den Figuren Shahriar, Sheherazade und Dinarzade. Diese Rahmen-
erzählung führt die heilende Kraft des Erzählens vor: Erzählen besänftigt, tröstet, bringt
Emotionen fiktiv zur Entladung und hat somit ein zivilisatorisches Potential. Formal
gesehen präsentiert sich 1001 Nacht als eine Rahmenerzählung, in die viele einzelne
Märchen eingelegt sind, die gelegentlich selbst wiederum Sub-Erzähler oder Sub-
Erzählerinnen einsetzen (Bsp.: das Märchen vom Fischer, der eine Flasche fand.)

   1. Woher stammen die Märchen?

Ihr Ursprung liegt in Indien, in einer mündlichen Erzähltradition, die von Mund zu Mund
weitergegeben wurde und sich unaufhörlich anreichern konnte. Von Indien aus erreichen
die Märchen zunächst das (noch vorislamische) Persien, von dort den arabischen Raum,
wobei sie bei diesem Übersetzungsprozess islamisiert werden. Neue Märchen entstehen
in den wichtigen arabischen Städten des Mittelalters: Damaskus, Kairo und Bagdad (dort
spielen z.B. die Märchen mit der Figur des Kalifen Harun al-Raschid).
Aus dem arabischen Raum stammen die ersten Manuskripte, die mehr als nur Fragmente
enthalten; der arabische Titel, Alf layla wa-layla, ist um 1150 das erste Mal doku-
mentiert. Das erste einigermaßen vollständige Manuskript stammt aus dem 14. Jh. Die
Entstehung des Erzählkerns – jener Märchen, die heute traditionell zu 1001 Nacht gezählt
werden – ist im 17. Jh. abgeschlossen.

Zwischenstopp: kultur- und literarhistorische Betrachtung
      1001 Nacht ‚gehören’ keiner Nationalliteratur. Sie sind ein kollektives Werk, an
      dem Menschen aus Indien, Persien und dem arabischen Raum miterzählt haben.
      1001 Nacht besitzen keinen benennbaren ‚Autor’ und kein ‚Original’. Ihr Ursprung
      liegt in der mündlichen Erzählkultur, ihre Verschriftung erfolgte nachträglich: in
      Handschriften. Die ersten Druckfassungen in arabischer Sprache stammen erst
      aus dem 19. Jh.!
      1001 Nacht enthalten viele Elemente des Wunderbaren, so wie sie für das
      Märchen typisch sind (Dschinnis, Wunder wirkende Gegenstände, fantastische
      Geographien, verzauberte Menschen…)
      Die Elemente des Wunderbaren verbinden sich mit solchen, die der arabisch-
      sprachigen islamischen Kultur angehören: Glaubensformen, Gebetsformen, Archi-
      tektur, Inneneinrichtung, Dekor, Organisation des städtischen Raums, Organi-
      sation der islamischen Familie rund um den Harem.

   2. Der Weg nach Europa – Antoine Galland

Antoine Galland (1646-1715) war einer der ersten französischen Orientalisten. Die
Orientalistik, eine damals neue akademische Disziplin, widmet sich dem Studium der
modernen orientalischen Sprachen: des Türkischen, des Persischen, des Arabischen. Das
Interesse für diese Sprachen und ihre Kulturen wurde von Louis XIV (Ludwig XIV.)
gefördert, der an möglichst guten Beziehungen zum Osmanischen Reich (dem Türken-
reich) interessiert war. Das französische Interesse am Orient erwächst also aus einer
politischen Motivation. Galland verbrachte viele Jahre im diplomatischen Dienst in
Konstantinopel, unternahm Reisen Richtung Syrien und Persien, sammelte Münzen,
Medaillen und Handschriften. Die sog. Galland-Handschrift, le manuscrit Galland,
Gallands Hauptquelle, ist heute im Besitz der französischen Nationalbibliothek. Sie gilt als
2

eine der ältesten erhaltenen (um 1450), ist allerdings ein Bruchstück, das mitten in
einem Märchen abbricht. Galland zog für seine Übersetzung auch andere Quellen heran,
und er fügte dadurch dem traditionellen Bestand von 1001 Nacht Märchen hinzu, die
vorher nicht dazugehörten, darunter heute so bekannte wie Ali Baba und die vierzig
Räuber, Aladin und die Wunderlampe und Sindbad der Seefahrer.
Gallands Übersetzung, Les mille et une nuits, erschien in mehreren Bändchen zwischen
1704-1717: ein unmittelbarer Erfolg bei der zeitgenössischen Leserschaft. Da zu Beginn
des 18. Jhs. das Französische die Sprache der gebildeten Eliten Europas war,
beschränkte sich der Erfolg nicht auf den Raum Frankreich. Gallands Version der Märchen
wurde in der Folge auch in andere europäische Nationalsprachen übersetzt.
Wie sieht Gallands Übersetzung aus? Dem Übersetzungsideal seiner Zeit entsprechend,
geht er außerordentlich frei mit der Vorlage um. Übersetzungen wurden sprichwörtlich les
belles infidèles („die schönen Untreuen“) genannt – umso schöner, je untreuer: Anpas-
sung eines mittelalterlichen orientalischen Märchenbestands an den höfischen Geschmack
und den Geschmack der gebildeten Salonkultur der franz. Gesellschaft. Galland fügt
erklärende Passagen ein, lässt die zahlreichen lyrischen Passagen aus, in denen im
Arabischen die Schönheit von Mädchen und Jünglingen gepriesen wird oder über Leid und
Tod geklagt wird, er streicht die offen erotischen Passagen, von denen es in den arab-
ischen Märchen nicht wenige gibt, und lässt alle Stellen weg, die homoerotisches
Wohlgefallen erregen könnten. Mit andern Worten: er glättet, ebnet ein, zensuriert ein
bisschen, macht aus einem volksliterarischen Phänomen ein stilisiertes Gebilde für die
feinen Damen und Herren seiner Gesellschaft. Dabei ist sein Text im Resultat außer-
ordentlich schön zu lesen – ein Dokument des Stils, wie er dem Geschmack des sog.
siècle classique (der Zeit Ludwig XIV.) entspricht.
Das Erscheinen der 1001 nuits hat eine Lawine von literarischen Folgen ausgelöst:
        zwei Rezeptionslinien: 1. die Linie Kinderliteratur - Kinderausgaben von 1001
        Nacht konzentrieren sich auf jene Märchen, die Abenteuergeschichten erzählen
        (Bsp. Sindbad der Seefahrer, Ali Baba). 2. Die Linie Re-Erotisierung: in manchen
        neueren Übersetzungen des gesamten Märchenbestands oder auch in literarischen
        Nachahmungen einzelner Märchen werden gerade die erotischen Momente betont:
        1001 Nacht wird zu einer Quelle der orientalistischen Fantasie der Europäer, die
        anhand dieser Texte eine bestimmte Vorstellung von vermeintlich ‚typisch’
        orientalischer Wollust entwickeln.
        In der französischen Literatur entsteht noch zu Gallands Lebzeiten die
        Erzählgattung des conte oriental, Erzählungen und Novellen im Geschmack von
        1001 Nacht und anderen orientalischen Quellen.
Die Geschichte der weiteren Übersetzungen ist sehr komplex (Gallands Text zum Teil ins
Arabische rückübersetzt, in andere europäische Sprachen übersetzt, neue Übersetzungen
aus dem Arabischen wurden und werden bis heute angefertigt – s. Lektüretipps).

Zwischenstopp: die Wanderung der Texte als kultur- und literarhistorisches
Phänomen
      Zentral ist die Rolle von Übersetzern und Übersetzerinnen. Sie sind passeurs de
      langues, Vermittler zwischen den Kulturen, Wortkünstler, die ihre Muttersprache
      dadurch anreichern, dass sie Ausdrucksweisen anderer Sprachen in sie hinein
      nehmen. Übersetzte Texte, die Erfolg haben, gliedern sich in den Zusammenhang
      der ‚eigenen’ Literatur ein.
      Daraus ist unmittelbar einsichtig, dass Sprachgrenzen nicht die Grenzen von
      Nationalliteraturen bilden können. Was wäre z.B. die deutschsprachige Theater-
      tradition ohne das Vorbild Shakespeare??
      Textbestände, die von einer in eine andere Kultur wandern, werden in der
      Ankunftskultur anders gelesen als in der Herkunftskultur. 1001 nuits z.B. eröffnet
      in Frankreich (und in Europa) den sog. orientalisierenden Blick auf die islamischen
      Kulturen, einen Blick, der am Fremden v.a. das Typische sehen will und leicht
      dazu neigt, Stereotypen zu entwickeln und im Orient das prächtige, zugleich aber
      unheimliche Andere Europas zu sehen.
3

Die Wanderschaft von 1001 Nacht hört natürlich nicht im frühen 18. Jh. auf. Wir verfol-
gen den weiteren Reiseweg exemplarisch mit drei Stationen in der Romania (dem Raum
der romanischsprachigen Kulturen).

       3. Ein argentinischer Erzähler schreibt 1001 Nacht weiter:
       Jorge Luis Borges

Borges ist nicht nur der berühmteste Autor Argentiniens, sondern einer der berühmtesten
Autoren der Literatur des 20. Jhs. Die Erzählung Der Zahir, auf Span. El zahir, stammt
aus dem Erzählband Das Aleph (span. El Aleph, Erzählungen aus den Jahren 1944-1952).
Der Zahir ist eine kurze Erzählung, die mit mehreren zeitlichen Ebenen spielt. Die erste
davon ist die Ebene des Ich-Erzählers, der sich in Buenos Aires befindet. Dieser Ich-
Erzähler berichtet, wie ihm eines Nachts in einer schäbigen Vorstadtbar eine kleine
Münze herausgegeben wird, ein Zahir. Dieser Zahir nun ist der Angelpunkt, um den sich
die gesamte Geschichte dreht und der die Verbindung zu 1001 Nacht herstellt.
Auf welche Weise hängt nun Borges’ Meistererzählung mit 1001 Nacht zusammen?
        Borges streut diskrete Hinweise ein: die Ursprungsländer von 1001 Nacht Indien,
        Persien, Arabien; die Zaubermünze.
        Borges verwendet eine für 1001 Nacht typische Erzählweise, die verschiedene
        Geschichten mit unterschiedlichen Zeitebenen ineinander verschachtelt.
        Borges verwendet Elemente des Wunderbaren bzw. Fantastischen, wie sie aus den
        Märchen bekannt sind.
        Die Zahir-Sage wird im Raum der islamischen Kultur und ihrer besonderen Vor-
        stellung vom Wunderbaren lokalisiert.
Die Literaturwissenschaft nennt solche Formen der Bezugnahme intertextuelle Verweise.
Intertextualität beschreibt die Beziehungen eines Textes zu seinen Vorläufer-Texten. Sie
beschreibt nicht die Frage des Einflusses (also beispielsweise: welchen Einfluss die
Autorin X auf den Autor Y ausgeübt habe – das ist die Fragestellung der Einfluss-
forschung). Die Intertextualitätstheorie interessiert sich dafür, wie unter einem Text
seine Vorläufertexte gleichsam durchscheinen und wie diese Vorläufertexte oder Prätexte
zur Bedeutungsbildung des neuen Textes beitragen.
In Borges’ Erzählung wirkt sich so aus: 1. der Autor vertraut darauf, dass die Leser den
Prätext, in diesem Fall 1001 Nacht, erkennen. 2. Die Erzählung beginnt in einem als
realistisch geschilderten Milieu – das Argentinien der Erzählergegenwart – um dann in
eine Welt des Wunderbaren zu wechseln. Dieser Einbruch des Märchenhaften wird durch
die Verbindung mit 1001 Nacht vorbereitet und legitimiert. 3. Borges interessiert an
dieser märchenhaften Welt nicht in erster Linie ihre orientalische Färbung (das wäre
Orientalismus, s.o.), sondern die Möglichkeit, das realistische Erzählen hinter sich zu
lassen und für die LeserInnen erfundene und wunderbare Welten zu erschaffen.
Die Geschichte Der Zahir des argentinischen Erzählers wandert in der Folge zurück in die
alte Welt, und zwar nach Marokko, wo sie der Romanautor Tahar Ben Jelloun aufgreift.

    4. Tahar Ben Jelloun liest 1001 Nacht und Borges

Tahar Ben Jelloun aus Marokko gehört zum großen Kreis der frankophonen Literaturen,
d.h. jener Literaturen, die auf Französisch geschrieben werden, deren Autoren aber nicht
aus Frankreich stammen. Zum Großteil wird diese frankophone Literatur heute von
AutorInnen geschrieben, die in einem Land geboren und erzogen wurden, das ehemals
eine französische Kolonie war.
Ben Jelloun: geb. 1944 in Fes, als Marokko noch ein sog. Protektorat Frankreichs war
(Unabhängigkeit:1956). Lebt seit Jahrzehnten in Paris, schreibt für Le Monde, einer der
bekanntesten maghrebinischen Autoren französischer Sprache.1 So wie andere franko-
phone Autorinnen und Autoren ist Ben Jelloun in zwei Sprachen und Kulturen zu Hause:
im Arabischen und im Französischen, in der marokkanischen und der französischen
Kultur. Wenn ein solcher Autor einen intertextuellen Bezug zu 1001 Nacht in seinen

1
 Le Maghreb, dt. der Maghreb, ist die Sammelbezeichnung für die Länder Marokko, Algerien,
Tunesien.
4

Texten herstellt, hat das andere Implikationen als etwa im Fall von Borges. Ben Jellouns
Bezug zu 1001 Nacht besitzt Implikationen, die mit seiner Identität zu tun haben: mit der
Aneignung einer literarischen Tradition, die als die eigene empfunden werden kann. Das
drückt sich exemplarisch in seinem Roman L’enfant de sable aus (dt. Sohn ihres Vaters).
L’enfant de sable (1985) ist ein vielstimmiger Roman, verschiedene Erzähler und Erzäh-
lerinnen ergreifen im Laufe der Geschichte das Wort. Die Geschichte Ahmeds/Zahras wird
nicht nur von mehreren ErzählerInnen (Prinzip der SuberzählerInnen) berichtet, sondern
spaltet sich am Ende in verschiedene Varianten auf. Eine davon führt die Hauptfigur
nach Argentinien zu einer Figur, die man als fiktive Verkörperung des Autors Borges
lesen kann. Hier kommt überdies die Überlieferung von 1001 Nacht ins Spiel, und zwar in
Verbindung mit der Legende vom Zahir. Es handelt sich um einen komplexen Fall von
Zitatpraxis:
       Der argentinische Autor Jorge Luis Borges bezieht sich wiederholt auf die Märchen
       von 1001 Nacht, unter anderem in seiner Erzählung Der Zahir.
       Der marokkanische Autor Tahar Ben Jelloun lässt in seinem Roman L’enfant de
       sable eine fiktive Figur auftreten, in der die Leser den argentinischen Autor wieder
       erkennen können.
       Diese fiktive Figur behauptet, der weiblichen/männlichen Hauptfigur des Romans
       in Buenos Aires begegnet zu sein, wobei diese ihr eine Münze geschenkt habe, die
       dem Argentinier die Legende vom Zahir in Erinnerung gerufen habe.
Wir beobachten hier gleich mehrere Texte auf Wanderschaft, Texte, die zwischen der
islamischen und der westlich-christlichen Kultur zirkulieren, Texte, die zwischen den
Sprachen Arabisch, Spanisch und Französisch hin- und herwandern.

Zwischenstopp: Texte auf Wanderschaft und Intertextualität
       Texte wandern innerhalb von Sprachgemeinschaften, aber auch über die Grenzen
       von Sprachgemeinschaften hinaus.
       Die Intertextualitätsforschung interessiert sich für die dialogische Beziehung eines
       gegebenen Textes zu früheren Texten (Prätexten), auf die er implizit oder explizit
       Bezug nimmt und dadurch seine Bedeutung anreichert.
       Das Phänomen der Intertextualität lehrt erneut, dass die Sprachgrenzen von
       Nationalliteraturen durchlässig sind. Literaturen sind immer Teil der Weltliteratur.
Geschichten wie die aus 1001 Nacht können aber nicht nur zwischen Texten wandern,
sondern in andere Medien auswandern. Im Fall von 1001 Nacht sind das in historischer
Reihenfolge: 1. die Medien der bildenden Kunst (v.a. die orientalistische Malerei des 19.
Jhs. und die Buchillustration), 2. der Film und 3. der Fernsehfilm bzw. die Fernsehserie.
Diese Wanderschaft von einem Medium in ein anderes wird Intermedialität genannt.

      5. Ein Fall von Intermedialität: Pasolinis Il fiore delle mille e una notte

Pier Paolo Pasolini, Dichter, Romanautor und international erfolgreicher Filmemacher,
Regisseur des Films Il fiore delle mille e una notte2 (1974): eine freie Verfilmung
ausgewählter und zum Teil in der Handlung veränderter Märchen aus 1001 Nacht. Der
Film gehört zu Pasolinis Trilogia della vita (Trilogie des Lebens), drei Filmen, in denen
Pasolini, im Geist der 1960er und -70er Jahre, die Sexualität als eine Form befreiten
Lebens präsentieren wollte.
Mediale Unterschiede zwischen Text und Film: Der Schauplatz eines Erzähltextes kann
unbestimmt und der Einbildungskraft der Leser überlassen bleiben. Ein Film hingegen ist
im Visuellen notwendigerweise konkret. Pasolini wollte das märchenhafte orientalische
Ambiente von 1001 Nacht darstellen, und darstellen heißt nachstellen, konstruieren.
Daher hat er seinen Film nicht in Italien, sondern in den Ländern Jemen, Äthiopien, Iran
und Nepal gedreht. Das heißt aber nicht, dass der Film „realistisch“ wäre, im Gegenteil.
Die Zuschauer sehen märchenhaft bunte, ästhetisch durchgestaltete Bilder unbestimmter
Zeitlichkeit: hier steckt ein Stück Orientalismus drinnen (s.o.). Die fiktiven Schauplätze
sind Bagdad und andere Städte, Marktplätze und Gassen, der Hammam (das öffentliche

2
    Wortwörtlich: das Beste aus 1001 Nacht.
5

Bad), prunkvolle Paläste, Wüstenlandschaften, Oasen, Zelte, Karawansereien, Friedhöfe,
Gärten, der Magnetberg.
Pasolini gehört zu jenen, die sich für die erotische Seite von 1001 Nacht interessieren, er
wollte aus seiner Verfilmung ein Fest der Körper machen. Er selbst sagt, sein Film
schreibe sich ein in…
…jenen Kampf für die Demokratisierung des „Rechts auf Ausdruck“ und die sexuelle
Befreiung, die zwei zentrale Momente der progressiven Spannung der 1950er und 1960er
Jahre waren (aus: Abiura della Trilogia della vita).
Pasolinis Umgang mit den Märchen von 1001 Nacht ist also eine sehr persönliche Form
der Aneignung: er isoliert aus ihnen das, was ihm gefällt – eine Welt der neurosefreien
Erotik – um es dem europäischen Publikum als kritischen Spiegel vor die Augen zu
halten. Dass das mit dem realen Orient seiner Tage nichts, mit den Märchen in ihrer alten
Form nur stellenweise etwas zu tun hat, interessiert ihn dabei nicht. Als Resultat ist ein
bemerkenswerter Film entstanden.

Abschließende Thesen:
       Geschichten, die ursprünglich in Texten aufgezeichnet sind, können in andere
       Medien auswandern: in das Tafelbild, den Comic strip, den Film etc. Diese Form
       der Wanderschaft nennt man Medienwechsel, sie ist ein Phänomen der Inter-
       medialität.
       Literarische AutorInnen, aber auch FilmemacherInnen können sich überlieferte
       Geschichten in höchst individueller Form aneignen, können damit etwas zeigen
       wollen, was in erster Linie mit ihrer jeweiligen Gegenwart zu tun hat und nicht
       unbedingt die Bedeutung verwirklichen will, die die Geschichte in früheren Phasen
       mit sich trug.
Die Märchen von 1001 Nacht sind auf ihrer Wanderschaft durch die Jahrhunderte, die
Kontinente und die Medien eine west-östliche oder östlich-westliche Geschichte
geworden…

       Lektüretipps

Antoine Galland, Les Mille et une nuits, contes arabes. 3 Bde., Paris: Garnier-
Flammarion 1965
Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten arabischen Handschrift ins Deutsche
übertragen von Claudia Ott. München: Beck 2004 [eine sehr treue Übersetzung der sog.
Galland-Handschrift, die einen Eindruck von der arabischen Version vermittelt]
Jorge Luis Borges, Der Zahir: Erzählung aus dem Band Das Aleph ( El Aleph, Erzählun-
gen 1944-1952), übersetzt von Karl August Horst und Gisbert Haefs, Fischer TB
Tahar Ben Jelloun, L’enfant de sable. Paris : Seuil 1985 (Dt. Übersetzung: Sohn ihres
Vaters, Rowohlt Verlag)
Pier Paolo Pasolini, Trilogia della vita, Bologna: Cappelli 1975 [dieses Buch enthält u.a.
das Drehbuch zu Il fiore delle mille e una notte, der Film ist auf DVD erhältlich].
Birgit Wagner, Haremskonstellationen, oder: die Leerstelle der ‚orientalischen Liebe’ in
der französischen Liebeskonzeption, in: Kirsten Dickhaut/ Dietmar Rieger (Hg.), Liebe
und Emergenz, Tübingen 2006, S. 117-134 [ein Text zu Antoine Galland und seinem
Umfeld]
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