Oral-History-Projekt Humangenetik: Historische Forschungsmethode zur Erhebung und Weiterverarbeitung narrativer Interviews - De Gruyter
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medizinische genetik 2021; 33(2): 181–187 F. Söhner*, H. Fangerau und M. Krischel Oral-History-Projekt Humangenetik: Historische Forschungsmethode zur Erhebung und Weiterverarbeitung narrativer Interviews Oral history of German human genetics: historical research methods for collecting and processing narrative interviews https://doi.org/10.1515/medgen-2021-2078 cation to human genetics. The oral history project focuses on questions regarding (1) biographical data and careers Zusammenfassung: Zwischen 2016 und 2018 wurden mit of interviewees, (2) development and application of diag- 33 Personen Interviews zur Geschichte der Humangene- nostic and therapeutic techniques, (3) establishment and tik in Deutschland zwischen 1970 und den 2000er Jahren growth of institutions of human genetics and (4) social de- geführt. 29 Interviewte stimmten einer wissenschaftlichen bates regarding the discipline. Analyse zu. Diese Interviews wurden mit den Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse und der Grounded Theo- Keywords: medical genetics, history of medicine, oral his- ry ausgewertet. Im Zentrum dieses Beitrags steht die kriti- tory, contemporary history, German society for human ge- sche Auseinandersetzung mit der Methode der Oral Histo- netics ry und ihrer Anwendung auf die Humangenetik. Das Oral- History-Projekt konzentriert sich auf Fragen zu (1) biogra- phischen Daten und Werdegang der Gesprächspartner*in- Wichtige professionspolitische und technische Entwick- nen, (2) Entwicklung und Anwendung von diagnostischen lungen der Humangenetik in Deutschland fallen in die und therapeutischen Techniken, (3) Etablierung und Aus- Zeitgeschichte. In der jüngsten Vergangenheit sind das die bau der Institutionen der Humangenetik und (4) der Wahr- Einführung der Humangenetik als eigenes Fachgebiet im nehmung der das Fach betreffenden gesellschaftlichen Jahr 1992 und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH) im Jahr 1987. Etwas weiter zurück Debatten. liegen etwa die Einführung der Zusatzbezeichnung Medi- Schlagwörter: Medizinische Genetik, Medizingeschichte, zinische Genetik im Jahr 1978 [1] sowie die Einführung der Oral History, Zeitgeschichte, Deutsche Gesellschaft für Hu- Amniozentese [2] und der genetischen Beratung [3] in die mangenetik klinische Versorgung in den 1970er Jahren. Den Bogen von einer Wissenschaftsgeschichte zu ei- Abstract: Between 2016 and 2018, interviews with 33 per- ner Sozialgeschichte der Humangenetik in Deutschland sons were conducted about the history of human genet- zwischen ca. 1970 und den 2000er Jahren spannt ein 2016 ics in Germany between 1970 and the 2000s. 29 intervie- von der GfH initiiertes Forschungsprojekt. [4] Dessen Ziel wees gave consent to have the interviews used for histor- ist es, die Entwicklung der (bundes-)deutschen Human- ical research. These interviews are currently being anal- genetik in ihrem Selbstverständnis „als Querschnittsfach ysed with the methods of qualitative content analysis and (Verzahnung mit nahezu allen klinischen Fächern) und grounded theory. The focus of this article lies on the criti- als Längsschnittfach (Brückenbildung von der Grundla- cal examination of the method of oral history and its appli- genforschung bis zum Patienten in der Genetischen Be- *Korrespondenzautor: F. Söhner, Institut für Geschichte, Theorie ratung)“ [5] ebenso zu dokumentieren und zu reflektieren und Ethik der Medizin, Centre for Health and Society, Medizinische wie die soziale Einbettung des Fachs. Eine zentrale Rolle Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Moorenstraße 5, nehmen im Projekt Interviews mit fachlichen Akteur*in- 40225 Düsseldorf, Deutschland, E-Mail: Felicitas.Soehner@hhu.de nen ein, deren Erinnerungen dokumentiert und an ande- H. Fangerau, M. Krischel, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät, ren historischen Quellen gespiegelt werden. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Moorenstraße 5, 40225 Wichtigstes Anliegen dieses Oral-History-Projekts ist Düsseldorf, Deutschland es, die Stimmen von Akteur*innen mit humangenetischer Open Access. © 2021 Söhner et al., publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
182 | F. Söhner et al., Oral-History-Projekt Humangenetik Qualifikation,1 die an diesen Entwicklungen wesentlich andere zurücknehmen oder gar weglassen. Ein Spezifikum beteiligt waren, dauerhaft zu bewahren. Im Folgenden der Oral History als historische Methode ist, dass die For- werden der Wert der „Oral History“ und damit der Inter- schenden an der Produktion der Quellen unmittelbar be- views mit Humangenetiker*innen für die Zeitgeschichte, teiligt sind und die generierten Daten ein Ergebnis indivi- die Auswahl der Gesprächspartner, die Interviewdurch- dueller Interaktionsprozesse sind. [9] Dies bedeutet, dass führung und Auswertungsstrategien vorgestellt. Zuletzt sowohl die Gesprächspartner als auch die Forschenden wird ein Ausblick auf erste Ergebnisse gegeben. das historische Narrativ beeinflussen können. Oral History als Zugang zu Methode der Datenerhebung Erinnerung In der qualitativen Sozialforschung existiert eine Vielzahl verschiedener Auswahlverfahren zur Ziehung von Stich- Biographische Interviews bieten in der Geschichtswissen- proben. Im vorliegenden Projekt war zur Auswahl des schaft unter der Bezeichnung „Oral History“ einen Ansatz, Samples eine theoretische Stichprobe gezogen worden, der eine qualitative Erschließung und Analyse von ein- um verschiedene Perspektiven professioneller Akteur*in- zelnen Perspektiven auf Geschichte beabsichtigt. [6] Eine nen mit unterschiedlicher Prominenz, fachlicher Ausrich- Stärke der Oral History liegt darin, neben den in Veröffent- tung und biographischer Zugehörigkeit, vergleichbarer zu lichungen, Akten und anderen Dokumenten notierten In- machen. Die Verfügbarkeit von lebenden Zeitzeug*innen formationen einen direkten Zugang zu Perspektiven von und die Bereitschaft zur Teilnahme reduzierten die theo- Akteur*innen zu erhalten, die in klassischen schriftlichen retische Stichprobe auf ein so genanntes Convenience- Quellen nicht festgehalten sind. Die historische Forschung Sampling. Dies ist eine Form eines nicht-zufälligen Aus- erhält die Möglichkeit, mündliche Überlieferungen, Mei- wahlverfahrens. Dies bedeutet, es wird an Hand von einfa- nungen, Einstellungen, Ereignissen oder Erfahrungen zu cher Verfügbarkeit eine nicht repräsentative Stichproben- erheben und zu analysieren. [7] Werden die Interviews ne- auswahl getroffen. ben schriftliche Quellen (und wo vorhanden auch Bild-, Die resultierende Gruppe ist nur bedingt geeignet, Film- und andere Tondokumente sowie Objekte als histo- daraus allgemeingültige Aussagen abzuleiten, es lassen rische Quellen) gestellt, kann das Bild der professionellen sich aber durchaus Generalisierungen ableiten, wenn sich Etablierung, fachlichen und technischen Entwicklungen beispielsweise in Bezug auf bestimmte Narrative Sätti- sowie der sozialen Einbettung der deutschen Humangene- gungseffekte ergeben. [10] Theoretische Sättigung bedeu- tik in der Nachkriegszeit um Wahrnehmungen und Emo- tet, dass im Datenmaterial durch die Hinzufügung weite- tionsschilderung einzelner Akteur*innen ergänzt werden. rer Aussagen kaum neue, relevante Informationen ergänzt Daneben kann dieses Bild auch in Gegenwart und Zukunft werden und somit verallgemeinerbare Aussagen gerecht- Anlass zur kritischen Reflektion sozialer, medialer, politi- fertigt erscheinen. [11–14] scher, medizinwissenschaftlicher und rechtlicher Perspek- tiven auf die Humangenetik sein. Die biographische Erzählung ist als eine „historische Narration“ zu verstehen und nicht als „originale“ vergan- Beschreibung der Stichprobe gene Erfahrung. Den Historiker*innen begegnen die „Ge- schichten“ der Interviewpartner*innen, die ihre Erfahrun- Entgegen der ursprünglichen Planung von 15–25 Inter- gen in historische Zusammenhänge einordnen und inter- views wurden schließlich 33 Interviews geführt, da die pretieren. [8] Sinnbildungen und Deutungen zu zurücklie- interviewten Personen weitere, potentiell relevante Ge- genden Prozessen und Ereignissen können unterschiedli- sprächspartner*innen benannten, die dann ebenfalls be- che Akzente setzen, also einzelne Aspekte hervorheben, fragt werden konnten. Die Auswahl beinhaltet 20 Ak- teur*innen der Humangenetik, die vom Arbeitskreis „Oral History“ der GfH vorgeschlagen wurden. Diese Personen- 1 Dazu zählen: Facharzt für Humangenetik, Zusatzbezeichnung „Me- gruppe wurde von den beauftragten Historikern zu einem dizinische Genetik“ oder „Fachhumangenetiker GfH/GAH“. (vgl. Be- Sample erweitert, das sowohl Geschlecht, Alterskohorten, rufsverband Medizinische Genetik e. V., Deutsche Gesellschaft für Humangenetik, Leitlinien zur Erbringung humangenetischer Leis- regionale als auch fachliche Zuordnung berücksichtigte. tungen: 1. Leitlinien zur Genetischen Beratung, medgen. 1996(8): Heft Es wurden Träger relevanter Merkmalskombinationen 3 (Sonderbeilage): 1–2). zu einem sog. theoretischen Sample zusammengestellt. [4]
F. Söhner et al., Oral-History-Projekt Humangenetik | 183 Insgesamt wurden 25 Männer und 8 Frauen aus den Ge- den offen formuliert, so dass Gesprächspartner*innen die burtsjahrgängen von 1925 bis 1950 interviewt. Nach dem Möglichkeit hatten, den Gesprächsverlauf auf ihnen re- Abschluss und der Freigabe der Interviews konnten 29 In- levant erscheinende Inhalte zu lenken. Über den erzähl- terviewaufzeichnungen ausgewertet werden. 24 Westdeut- generierenden Ansatz der Fragen im narrativen Interview sche, 2 Ostdeutsche, 2 Österreicher und 1 Schweizer hat- lassen sich Verlaufsformen von sozialen Veränderungs- ten ihre Daten zur Auswertung freigegeben. Alle Inter- prozessen erfassen und Kategorien zu deren weiterer Ana- viewpartner*innen waren Professor*innen an Universitä- lyse entwickeln. Die Prozessorientierung des leitfadenori- ten oder Hochschulen. Ihre Ausbildung beschrieben sie entierten Interviews ermöglichte die Erfassung umfassen- wie folgt (eine Nennung pro Interview): Medizin (21) und der Erzählungen, der narrative Fragestil ließ eine Erhe- Naturwissenschaften (8). Auf die Frage, auf welchem Weg bung von Daten im Zusammenhang mit der Fragestellung sie in Humangenetik kamen, nannten die Interviewpart- zu. Die Formulierung der Nachfragen orientierte sich an ner*innen (Mehrfachnennungen möglich, in nicht allen einem inhaltlichen und zeitlichen Horizont, um individu- Interviews wurde diese Frage beantwortet): Medizin (12), elle und institutionelle Entwicklungsverläufe zu erfassen. Pädiatrie (einschließlich Perinatologie) (7), Biologie (ein- [6, 8, 16, 17] schließlich Botanik) (4), Biochemie (2), Gerichtsmedizin (1), Innere Medizin (1). Die Nicht-Teilnahme (nonresponse) an einer Erhe- bung stellt ein zentrales Problem in der empirischen So- Methoden der Datenauswertung zialforschung dar. [15] Hierfür gibt es verschiedene Grün- In der Auswertung der Interviews geht es u. a. darum, de: 1. die vorgesehenen Person kann nicht kontaktiert wer- biographische Berichte zu dekonstruieren, also die Struk- den, 2. Der Person fehlen die Fähigkeit und/oder die Be- tur der Narration zu erschließen. Ein Ziel liegt dar- reitschaft zur Teilnahme und 3. das Einverständnis, die er- in, Deutungsmuster und Sinnbildungen herauszuarbei- hobenen Daten zur Verwendung freizugeben, kann nicht ten. Auch die Frage, welche Wertungen in die Narration erhoben werden. Grundsätzlich lässt sich die Gruppe der einfließen, steht im Mittelpunkt des Forschungsinteres- Nonresponenten nicht als homogene Gruppe verstehen. ses. Die Auswertung erfolgt nach qualitativen, historisch- Bezogen auf den hier betrachteten Personenkreis ist die hermeneutischen und sozialwissenschaftlichen Metho- Forderung nach einer fallbezogenen Begründung für ei- den. Anwendung finden die Ansätze der qualitativen In- ne Nichtteilnahme aufgrund der zugesicherten Anonymi- haltsanalyse nach Mayring [18] und Kuckartz [10] sowie tät und des Datenschutzkonzepts forschungsethisch nicht der so genannten Grounded Theory [19]. vertretbar. [6] Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring fokus- siert auf die Ordnung, Kategorisierung und Strukturierung von manifesten und latenten Inhalten und die Entwick- Datenerhebung lung von systematisch und intersubjektiv überprüfbaren Ergebnissen. [18] Die Grounded Theory verfolgt das Ziel, Die biographischen Gespräche wurden von der Historike- ausgehend von einer offenen Fragestellung mittels inhalt- rin Felicitas Söhner geführt. Die Interviews wurden durch licher Analyse von Interviews, Feldbeobachtungen und einen Leitfaden strukturiert, trotzdem wurde darauf Wert anderen empirisch erhobenen Daten neue Theorien zu gelegt, die Befragten möglichst frei sprechen zu lassen, um entwickeln. [20] Dabei ist die Grounded Theory weniger über ihre Erzählung eine Quelle zu produzieren. [4] Durch als einzelne Methode anzusehen, sondern als ein qualita- die direkte Beteiligung (durch Auswahl der Gesprächspart- tiver Forschungsstil, der eine Sammlung von Forschungs- ner, Fragestellungen, Anwesenheit, Kommunikation mit methoden und Verfahren zusammenfasst. In diesem Sinne den Interviewten) spielen die Interviewenden eine aktive wird sowohl induktiv aus den Daten ein Kategoriensche- Rolle in der Produktion der Quelle; dies muss in die Quel- ma gebildet und fortlaufend angepasst, als auch deduktiv lenkritik einbezogen werden. [7] das Schema auf die Datengrundlage angewendet. Die Ge- Der Leitfaden beinhaltete Fragen zu professionellem sprächsinhalte werden so kodiert und thematisch in Kate- Hintergrund, Forschungsnetzwerken, persönlichen Idea- gorien klassifiziert und zusammengefasst. Legewie spricht len und Zielen sowie Verortung der eigenen Rolle, des Fa- wegen des „Pendeln[s] zwischen Induktion und Dedukti- ches und fachlicher Institutionen. [4] Gleichzeitig wurde on, Datenerhebung und Dateninterpretation“ von einem versucht, das Interviewsetting und die Richtung der Ant- „Dialogcharakter“ der Methode, der es schließlich erlaubt, worten möglichst wenig zu beeinflussen. Die Fragen wur- bei einer „datenverankerte[n] Theorie“ anzukommen. [21]
184 | F. Söhner et al., Oral-History-Projekt Humangenetik Das Ziel der Analyse liegt im Entdecken von Erzähl- men selbst stellen die historischen Primärquellen dar. Als mustern und Kategorien in den erhobenen Daten und dem Findmittel wurde zu jedem Interview ein Regest erstellt. Bilden von historischen Hypothesen und neuen Erklä- Die Regesten enthalten Informationen zu Ort und Zeit- rungsansätzen im Sinne eines hermeneutischen Zirkels. punkt des Interviews, zu den beteiligten Gesprächspart- Dies bedeutet, der Auswertung liegt ein Vorverständnis zu nern, technische Daten zur Aufzeichnung und Hinwei- Grunde. Die Analyse führt zu einer Erweiterung des ur- se auf Zugangsbeschränkungen. Ihren Kern bildet die In- sprünglichen Vorwissens. Mit weiteren Durchgängen der formation, zu welchem Zeitpunkt im Interview welcher Quellenanalyse entwickelt sich ein fortschreitendes Ver- Fragenkomplex besprochen wird. Die Regesten enthalten ständnis der Inhalte. [10] dazu Stichworte aus den Antworten der Gesprächspart- Zur Datenauswertung in der Grounded Theory stehen ner*innen. Für zukünftige Veröffentlichungen werden Ab- verschiedene Instrumente zur Verfügung. [10, 18, 20, 22] In schnitte der Interviews transkribiert, wenn ein*e Befrag- diesem Projekt wurde die Einteilung und Strukturierung te*r im Wortlaut wiedergegeben werden soll. der Kategorien nach Kuckartz vorgenommen. [10] Da die Anwendung von Gütekriterien quantitativer Analysen auf die qualitative Forschung kontrovers diskutiert wird, [18, 22] haben wir uns entschlossen, wie von Kuckartz [10] vor- Ergebnisse geschlagen, alternative Maße interner und externer Studi- engüte einzusetzen. Die Gütekriterien der internen Studi- Die Gesprächsinhalte lassen sich folgenden Kategorien enqualität (Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, Verlässlich- und Sub-Kategorien zuordnen: keit) werden durch transparente Darstellung und Doku- (1) biographische Daten und Werdegang der Gesprächs- mentation des Forschungsprozesses erreicht. [10] Zur Ein- partner*innen (sozialer und Bildungshintergrund; haltung der externen Gütekriterien (Übertragbarkeit und Motivation für den Weg in die Humangenetik; Mento- Verallgemeinerung) wurden nicht direkt in die Befragung ren und wissenschaftliche Vorbilder; Wahrnehmung involvierte Fachpersonen in die Diskussion der Kategorien der eigenen Rolle im Fach sowie besonderer Leistun- einbezogen. [10] Hierzu gehörten u. a. Mitglieder des Ar- gen und Schwierigkeiten), beitskreises Oral History in der Humangenetik. (2) Entwicklung und Anwendung von diagnostischen und therapeutischen Techniken (Chromosomenanaly- se; Amniozentese; Molekulargenetik; Epigenetik) (3) Etablierung und Ausbau der Institutionen der Human- Datenschutz genetik (fachliches Profil; Beratungsstellen; Grün- dung der GfH; Regelung der Ausbildung und Facharz- Die Gesprächspartner*innen der Interviews wurden dar- tanerkennung; internationale Kontakte), sowie über aufgeklärt, dass die Gespräche aufgezeichnet und ge- (4) gesellschaftliche Einbettung des Faches in Deutsch- speichert werden. Sie sind auch über den Rahmen und land (Wissenschaftskommunikation mit Politik, Medi- die Intentionen der Forschung aufgeklärt worden. Inter- en und Öffentlichkeit; Dialog mit Patientenorganisa- views werden für dieses Forschungsprojekt nur ausgewer- tionen und Organisationen von Menschen mit Behin- tet, wenn die Gesprächspartner*innen dem schriftlich zu- derungen; Historische Verantwortung vor dem Hinter- gestimmt haben. Wörtliche Zitate aus Interviews werden grund der Eugenik in Deutschland; Attitüden gegen- den Beteiligten vor Verwendung in Publikationen vorge- über in die Medizin im Nationalsozialismus oder Eu- legt. Interviewpartner*innen haben die Möglichkeit, der genik verstrickten Akteur*innen). wörtlichen Verwendung ohne die Nennung von Gründen zu widersprechen. Die Interviews werden für Auswertun- Entlang dieser Kategorien kann in folgenden Studien ein gen pseudonymisiert und nur bei historischer Notwendig- Vergleich mit anderem Quellenmaterial ebenso erfolgen keit (Kontextualisierung, Zuordnung weiterer Quellen) für wie eine heuristische Annäherung an die Gesprächsinhal- den Auswertungsprozess entschlüsselt. te zur Entwicklung neuer Fragestellungen zur Geschichte der Humangenetik in Deutschland. Zugänglich für Forschende sind die Interviews im Ar- Dokumentation und Archivierung chiv der GfH in München. Nach dem Abschluss und Freiga- be der Interviews sind 29 Interviewaufzeichnungen mit Re- Die zur wissenschaftlichen Verwendung freigegebenen gesten 2018 an die GfH übergeben worden. Die Aufzeich- Tondokumente wurden digital archiviert. Die Tonaufnah- nungen der Interviews sollen langfristig als historische
F. Söhner et al., Oral-History-Projekt Humangenetik | 185 Quellen erhalten werden, die zukünftig unter verschiede- kleine Gemeinschaft der deutschsprachigen Humangene- nen Aspekten ausgewertet werden können. Die GfH be- tiker*innen kann aber nach Meinung der Autor*innen ei- wahrt damit einen Teil ihrer fachkulturellen Erinnerung. ne Generalisierbarkeit der gesammelten Narrative ange- [23–25] nommen werden. Im Vordergrund möglicher Auswertun- gen steht außerdem aufgrund der Komplexität der Lebens- läufe [16] auch weniger das Interesse an abstrakter Objekti- vität, [7] sondern das Bemühen, aus der Analyse von Ein- Diskussion zelfällen deutliche Tendenzen herauszuarbeiten [31] und Geschichte aus Sicht von Teilnehmer*innen zu verstehen. Die Methode der Oral History bietet die Möglichkeit, histo- [17, 32] rische Perspektiven zu untersuchen, die über schriftliche Dem Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit wird nicht Dokumente nicht ohne weiteres zu erheben sind. Dieser zuletzt über eine „theoretische Sättigung“ begegnet, ver- Zugang weist Spezifika auf, die ihn als nützliches, wenn bunden mit dem Ziel, durch das Sample der Gesprächs- auch nicht gänzlich problemloses zeithistorisches Instru- partner*innen ein verkleinertes Abbild der Grundgesamt- ment ausweisen. Denn die Weitergabe des Erlebten bildet heit zu erhalten. [33] keine historischen Fakten ab, sondern ist in der Narrati- Über den vorab entwickelten Gesprächsleitfaden [4] on bereits verarbeitetes Wissen: [26] so ist Subjektivität ein ließ sich sicherstellen, dass relevante Befragungsbereiche zentraler Aspekt der Oral History. [27] Mit dieser Methode in allen Interviews enthalten waren. Leitfadengestützte In- lassen sich historische Narrative als Verarbeitung subjek- terview sind zum einen offen genug, um neue qualitative tiver Vergangenheit rekonstruieren, die dann auf Abwei- Daten zu generieren, doch andererseits regelgeleitet und chungen vom bisherigen Quellenstand untersucht werden systematisch genug, um Forschungsfragen in einer ver- können. [16] gleichenden Analyse zu erschließen. Gleichzeitig bieten biographische Interviews neben Die Kodierung der Daten erfolgte prozessorientiert einem Mosaik von Erinnerungen „eine zusätzliche Orien- und auf Grundlage der empirischen Daten. Da rein de- tierungshilfe“. [28] Sie helfen Quellen einzuordnen, neue duktive Verfahren in der qualitativen Forschungspraxis als Quellen zu identifizieren, Entwicklungen zu verstehen eher nachrangig gelten, [18] wurden die inhaltlichen Ka- und heuristische Raster zu justieren. In der Oral History tegorien in einem gemischt deduktiv-induktiven Verfah- können zudem auch Personen zu Wort kommen, die keine ren erstellt. [34] Die Ergänzung durch induktive Kategorien war sinnvoll, um die über Vorwissen gebildeten Kategori- oder wenige Schriftquellen hinterlassen haben. So hat die en zum Untersuchungsfeld zu ergänzen. [10] Die aus den Oral History das Potenzial, die Zeitgeschichte mit bisher Interviews heraus gebildeten Kategorien liegen häufig nä- „stillen“ Akteur*innen anzureichern. her an der sozialen Realität, als dies bei theoretisch vorfor- Die Auswertung der bisher geführten Interviews mit mulierten Hypothesen der Fall sein kann. [24] Zeitzeug*innen der Humangenetik unterliegt gewissen in- Entlang der Kategorien konnte ein Vergleich mit an- haltlichen und methodischen Einschränkungen. Eine der derem Quellenmaterial ebenso erfolgen wie eine heuris- Limitationen stellen die Samplingstrategie und die Stich- tische Annäherung an die Gesprächsinhalte zur Entwick- probe selbst dar. Die Auswahl der in diesem Projekt Be- lung neuer Fragestellungen zur Geschichte der Humange- fragten erfolgte nach den Kriterien des Convenience Sam- netik in Deutschland. Der Gefahr einer eventuellen per- pling. Die Gesprächspartner*innen wurden nach ihrer Ver- sönlichen Voreingenommenheit wurde dadurch ein Ge- fügbarkeit, Bereitschaft und Fähigkeit zur Information so gengewicht gesetzt, dass diese Frage methodisch reflek- ausgewählt, dass die Breite des Gebiets möglichst abge- tiert und die Daten von verschiedenen Wissenschaftler*in- deckt wurde. Liegt eine Stärke dieser Variante des Sam- nen interpretiert wurden. Eine Objektivierung des Verfah- plings darin, dass die Befragten zugänglich und die Durch- rens erfolgte über die Ausarbeitung des Leitfadens sowie führung der Erhebung kosten- und zeitgünstig realisierbar durch die systematische Datenanalyse durch ein regelge- ist, so ist kritisch zu hinterfragen, wie weit sich über die- leitetes Vorgehen. [10, 18] se Form des Sampling repräsentative Ergebnisse erzielen Die Dateninterpretation basierte auf repräsentativen lassen. [29] Um möglichen Limitationen des Convenience Gesprächssequenzen als Analyseeinheiten nach den Re- Sampling zu begegnen, wurde auf breite Heterogenität der geln der qualitativen Inhaltsanalyse [10, 18]. Daraus gene- Fälle geachtet [4, 30]. Dennoch kann nicht ausgeschlos- rierte Ergebnisse wurden mit anderen historischen Quel- sen werden, dass eine abweichende Stichprobenauswahl len verglichen. Die Analyse sowie die Interpretation der zu anders gelagerten Ergebnissen geführt hätte. Für die Befunde wurden kommunikativ validiert. [6]
186 | F. Söhner et al., Oral-History-Projekt Humangenetik Ausblick Ethical approval: This paper does not include any studies conducted by the authors on humans or animals. The bi- Auf Basis der biographischen Interviews können zu- ographical interviews did not, in the authors’ opinion, re- künftig etwa Fragen zu (1) biographischen Daten und quire a vote by a research ethics committee. Werdegang der Gesprächspartner*innen, (2) Entwicklung und Anwendung von diagnostischen und therapeutischen Techniken, (3) Etablierung und Ausbau der Institutionen der Humangenetik sowie (4) gesellschaftlicher Einbettung des Faches in Deutschland beantwortet werden. Literatur Aus dem vorliegenden Material (Interviews, Regesten, Kategorienauswertungen, Objektivierung durch weiteres [1] Scholz-Kroner C. Qualitätssicherung in der Humangenetik. Eine Strukturanalyse. Dissertation. München: LMU; 2009. Quellenmaterial) lassen sich u. a. folgende konkrete Fra- [2] Nemec B, Zimmer F. Wie aus Umweltforschung die gestellungen ableiten: genetische Pränataldiagnostik entstand. Über eine – Welche Rollen spielen Geschichtsbewusstsein und Methodenverschiebung in der Vorsorge um 1970. NTM. historische Verantwortung in der deutschen Human- 2019;1:39–78. [3] Koch G, Schwanitz G. Genetische Beratung und pränatale genetik? Diagnostik in Erlangen, 1966-1977/78: mit einem kurzen – Welche Rolle spielen ethische Fragen in der humange- Beitrag zur Geschichte der genetischen Beratung. Erlangen: netischen Beratungspraxis? Palm & Enke; 1979. – Wie haben die Entwicklung und Anwendung von dia- [4] Krischel M, Söhner F, Fangerau H. Zeitgeschichte der gnostischen und therapeutischen Techniken die Hu- Humangenetik in Deutschland – Forschungsstand und Forschungsfragen. Med Genet. 2018;30(3):351–8. mangenetik geprägt? [5] Pfadenhauer M. Professionalität. Eine – Wie liefen die Prozesse der Trennung der Humangene- wissenssoziologische Rekonstruktion institutionalisierter tik von der Anthropologie und der Gründung der Deut- Kompetenzdarstellungskompetenz. Opladen: Leske + Budrich; schen Gesellschaft für Humangenetik ab? 2003. [6] Söhner F. Methodische Problemfelder und ethische Implikationen in der zeitzeugenbasierten Historiographie – Auf Basis des vorliegenden Materials werden die Autor*in- ein Erfahrungsbericht. BIOS. 2017;1+2:273–89. nen diese Fragen in folgenden Beiträgen adressieren. [7] Geppert A. Forschungstechnik oder historische Disziplin? Methodische Probleme der Oral History. Gesch Wiss Unterr. 1994;5:303–23. Author contributions: All authors have accepted respon- [8] Schreiber W. Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Ein sibility for the entire content of this manuscript and ap- Leitfaden für Nicht-Historiker. KU Eichstätt; 2008. proved its submission. All authors were equally involved [9] Apel L. Oral History reloaded. Zur Zweitauswertung von in the conception of the paper and its formulation. mündlichen Quellen. Westfäl Forsch. 2015;65:243–54. Acknowledgment: This article is part of the results of [10] Kuckartz U. Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim: Beltz; 2018. a research project on the contemporary history of hu- [11] Brüggemeier F-J. Aneignung vergangener Wirklichkeit – man genetics in Germany, which was financially and non- Der Beitrag der Oral History. In: Voges W, Hrsg. Methoden materially supported by the German Society of Human Ge- der Biografie- und Lebenslaufforschung. Opladen: Leske + netics (GfH). Budrich; 1987. S. 145–69. [12] Plato, A v. Geschichte und Psychologie – Oral History und Funding: M. Krischel, F. Söhner and H. Fangerau were Psychoanalyse. BIOS. 1998;11:171–200. members of the funded research project from 2016 to 2018. [13] Fuchs-Heinritz W. Biographische Forschung. Eine Einführung in The GfH paid travel expenses for M. Krischel and F. Söh- Praxis und Methoden. Berlin: Springer; 2000. ner. F. Söhner was employed in the research project from [14] Reinhart K. „Wir wollten einfach unser Ding machen“. DDR-Sportler zwischen Fremdbestimmung und 2016 to 2018; the position was funded by GfH. Selbstverwirklichung. Frankfurt: Campus; 2010. Availability of data and material: The data sets used [15] Engel U, Schmidt B. Unit- und Item-Nonresponse. In: Baur and/or analysed in the current study are available from the N, Blasius J, Hrsg. Handbuch Methoden der empirischen corresponding author on reasonable request. Sozialforschung. Wiesbaden: Springer; 2014. S. 331–49. Competing interests: The authors declare that they have [16] Plato, A v. Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der „mündlichen Geschichte“ in Deutschland. BIOS. no competing interests. 1991;4:97–119. Informed consent: Informed consent was obtained from [17] Grele R. Ziellose Bewegung. Methodologische und all individuals included in this study. theoretische Probleme der Oral History. In: Niethammer L,
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