Pädagogisches Handeln in disruptiven Zeiten - SONDIERUNGEN ZWISCHEN EMPIRIE UND PRAKTISCHEN ERFAHRUNGEN
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FORSCHUNG Pädagogisches Handeln in disruptiven Zeiten SONDIERUNGEN ZWISCHEN EMPIRIE UND PRAKTISCHEN ERFAHRUNGEN Michael Schratz Der Autor fasst zusammen, vor wel- von der Bereitschaft und dem Interesse Medien in der Schule für schulbezo- che Herausforderungen schulische der jeweiligen Akteur*innen ab, sich gene Zwecke zu nutzen. Im Vergleich Akteur*innen durch die Schulschlie- darauf einzulassen. dazu liegen die Werte in Dänemark bei ßungen und den Fernunterricht Von (politisch) Verantwortlichen über 90 %. »Darunter ein erheblicher infolge der Coronapandemie 2020 wurde nach den Schulschließungen im Anteil von mehr als 80 Prozent däni- gestellt wurden, mit welchen Kon- Rahmen der Coronapandemie darauf scher Schüler/innen, der täglich in der zepten darauf reagiert wurde und gebaut und verwiesen, möglichst bald Schule digitale Medien für schulbezo- welche Chancen sich hieraus ergeben wieder zur »Normalität« bzw. gar gene Zwecke nutzt. In Deutschland lag könnten. »neuen Normalität« zurückzukeh- der entsprechende Anteil der Schüler/ ren, d. h. rasch wieder den »üblichen innen, für die das Lernen mit digitalen Schulmodus« herbeizuführen, wie es Medien zum Unterrichtsalltag gehört, Ver-rückte Lerngelegenheiten ein Bildungsminister forderte. Aus der bei lediglich 4,4 Prozent.« (Eickelmann, Ist im Alltag etwas ver-rückt, versucht Perspektive sich öffnender Möglich- 2020, S. 7). man, es möglichst rasch wieder in den keiten stellt sich allerdings die Frage: Wenn wir uns nach Stöcker (2020, S. 15) vorherigen Zustand zu bringen und die Ist es überhaupt erstrebenswert, dass im »größten Experiment der Mensch- ursprüngliche Ordnung wiederherzu- die Lehrkräfte nach den Schulschlie- heitsgeschichte, allerdings ohne Kon- stellen. Dieses menschliche Verhalten ßungen wieder »normalen Unterricht« trollgruppe« befinden, könnte das hat viel mit Gewohnheit und Routi- machen? Denn während die digitale erzwungene Aussetzen schulischer nen zu tun, die zur Aufrechterhaltung vernetzte Welt alle Lebens- und Berufs- Routinen eine Jahrhundertchance dar- des »geordneten« (Zusammen-) bereiche in hohem Maß durchdrungen stellen, die disruptiven Erfahrungen aus Lebens erforderlich sind. Ordnungen, hat, ist es nach Stöcker (2020, S. 61) »in der Zeit der Schulschließungen klug Gewohnheiten und Routinen sind es vielen Bundesländern aber auch im Jahr zu nutzen, um den Status von Schule allerdings auch, die Neuorientierungen 2020 noch möglich, Abitur zu machen, in der digitalen vernetzten Welt neu erschweren oder verhindern, da sie ohne im Unterricht ein einziges Mal zu denken. Denn ein soziales Experi- das spannungsreiche Verhältnis ge- mit den Grundprinzipien digitaler ment zur Erprobung neuer Konzepte sellschaftlicher Entwicklung zwischen Technologie in Berührung gekommen ließe sich in dieser Dimension for- Vergangenheit und Zukunft bestim- zu sein«. schungsethisch nicht durchführen. men. Unerwartet auftauchende Krisen Aus empirischer Sicht wird deutlich, Die durch die Schulschließung erzwun- widerfahren allerdings plötzlich und dass sich in Deutschland seit den Ergeb- gene Umstellung auf das Unterrichten setzen die gewohnten Alltagsbezüge nissen der internationalen Vergleichs- über Distanz hat lehr- und lernseits außer Kraft, wodurch die bisherigen studie »International Computer and von einem Tag auf den nächsten Muster unterbrochen werden. Disrup- Information Literacy Study 2013« trotz neue Kommunikations- und Organi- tive Erscheinungen können zur Inku- zahlreicher bildungspolitischer Maß- sationsformen erforderlich gemacht. bationsphase und Geburtsstätte für nahmen auch in der zweiten Erhebung Konzepte und Erfahrungen zu einer Neues werden, wenn die sich bietenden 2018 keine großen Fortschritte gezeigt neuen Unterrichtskultur im digitalen Möglichkeiten entsprechend genutzt haben. So gaben nach Schaumburg et Zeitalter liegen zwar bereits seit Jahren werden (Schratz, 2020). Ob dies der Fall al. (2019) in den achten Klassen nur in viel erprobter Form vor und wurden ist oder nicht, liegt einerseits an den 22,8 % der Schüler*innen an, einmal über Fortbildungsveranstaltungen Rahmenbedingungen, hängt aber auch in der Woche oder häufiger digitale angeboten, in der Breite aber nur 4 33/2020/2
FORSCHUNG zögerlich angenommen gogischen« Maßnahmen und selten an Schulen vom Spielverbot bis zum systematisch umgesetzt Sperren bestimmter (Mayr et al., 2009). Daher Befehle bzw. Seiten im erstaunt es nicht, dass Internet, um die Steue- in der repräsentativen rungsmöglichkeiten in Umfrage »Deutsches Schule und Unterricht Schulbarometer Spezial lehrseits zu behalten. – Corona-Krise« (forsa, Bloße Verbote stellen 2020) die Mehrheit der allerdings eine sehr ein- © Olga Yastremska/123rf befragten Lehrkräfte schränkende Form der (66 %) angibt, dass die ei- pädagogischen Interven- gene Schule auf die neue tion dar, zumal der offe- Unterrichtssituation im Abb. 1: Klassischer »Frontalunterricht« in Klassenstärke über Video erschien ne Internetzugang im Hinblick auf Ausstattung befragten Lehrkräften schwierig, da unklar bleibt, ob die Schüler*innen Alltag Teil der digitalen mit digitalen Medien tatsächlich dem Unterricht folgen vernetzten »anderen« und die technischen Welt ist und damit die Voraussetzungen we- Kluft zwischen Schule niger gut bzw. schlecht und Alltag vergrößert. vorbereitet war. Dennoch meldeten als Pdf-Datei, gescanntes oder foto- Da aufgrund des plötzlichen Auftre- 81 % der Befragten zurück, dass sie mit grafiertes Dokument) als Leitmedium tens der disruptiven Erscheinungen der neuen Situation zurechtgekommen im Unterricht mit den Schüler*innen zeitlich kaum entsprechende Voraus- seien, was zeigt, dass Not erfinderisch eingesetzt hatten. setzungen geschaffen werden konnten macht. Die Lehrkräfte hatten – zumeist und keine systematischen Planungen in Eigenregie – nach Lösungen gesucht, Krisen als Musterbrecher möglich waren, hat der Umgang mit um sich den völlig neuen Herausforde- der dadurch verursachten Unsicher- rungen zu stellen. In den über die Digitalisierung aller heit an alle Betroffenen besondere Im Hinblick auf das Initiieren von Lebensbereiche ausgelösten Transfor- Anforderungen gestellt: Kreativität, Veränderungsprozessen sind Krisen mationsprozessen stellt das »Unvor- Problemlösen, Eigenwilligkeit und Wil- gute Auslöser, da sie im Handeln eine hersehbare« das eigentliche Bedro- lenskraft waren genauso gefragt wie sofortige Anpassung an die veränder- hungspotenzial für die Schule dar, da Perspektiven und Visionen, besonders ten Ausgangsbedingungen bewirken. die bestimmende Kontrollmacht der aber eine Sensibilität im Umgang mit Allerdings handeln die Akteur*innen Lehrkräfte im zitierten Grundmuster den nicht über den herkömmlichen vielfach planlos, da sie keine Vorerfah- des Unterrichtsgeschehens beschnit- Unterricht erreichbaren Schüler*innen rung im Umgang mit den ver-rückten ten wird. Der schulische Unterricht sowie einer besorgten und belasteten Ausgangsbedingungen hatten, oder war bislang eine kalkulierbare Größe im Elternschaft. Das Bemühen um die greifen auf das ihnen Vertraute zurück. gesellschaftlichen Reproduktionspro- Überwindung der Distanz zwischen Dies zeigen die Befragungsergebnisse zess, um die Erziehung und Bildung der lehrseitigen Bildungsbemühungen aus der oben genannten Studie auf. Da Kinder und Jugendlichen in überschau- und lernseitiger Erreichbarkeit hat zum Zeitpunkt der Schulschließung an und vor allem kontrollierbarer Form bei jeder einzelnen Lehrperson das den meisten Schulen keine »Notfall- gesellschaftlich zu steuern. Spätestens Spannungsfeld zwischen Kontrolle pläne« für die dislozierte Beschulung wenn das Internet auf den Endgeräten und Ungewissheit spürbar gemacht, existierten, mussten die Lehrer*innen aktiviert wird, verringert sich spürbar das prinzipiell jede Lehr-Lern-Situation individuell nach möglichen Strategien die Steuerungsmöglichkeit des Lern- prägt, allerdings im Präsenzunterricht zur Weiterführung des Unterrichts in prozesses durch die Lehrperson. »Wie selten so sichtbar wird. der Fernbeziehung zu den Lernenden wenn sich eine Mauer zwischen den Wie schulische Akteur*innen auf die suchen. Demnach griffen die meisten Schülerinnen und Schülern und mir unerwarteten Schulschließungen re- auf bewährte Routinen zurück, denn auftut«, beschrieb dies ein Lehrer in agiert haben, um ihren Bildungs- und je nach Schulform gaben zwischen unserer Studie (Mayr et al., 2009), der Erziehungsauftrag bestmöglich zu 79 (Grundschule) und 90 % (Gymna- sich der Einschränkung seines Einflus- erfüllen, hat sich in einer Vielfalt von sium) der Lehrkräfte an, dass sie seit ses dadurch erst richtig bewusst wurde. Facetten gezeigt. Diese lassen wieder- der Schulschließung an erster Stelle Im Spannungsfeld zwischen Kontrolle um einzelne Schlüsselbereiche erken- Aufgabenblätter im Papierformat (z. B. und Ungewissheit reichen die »päda- nen, die ich im Folgenden zu bündeln 33/2020/2 5
FORSCHUNG versuche. Dazu greife ich einerseits auf stattung aufgezeigt, die im Hinblick Fachräume genutzt. Der Distanzun- die deutschlandweite Studie von forsa auf Chancengerechtigkeit eine große terricht erforderte es, dazu erweiterte (2020) sowie Erfahrungen im Kontext Rolle spielen (Bremm & Racherbäumer, Funktionen wie Lerntagebücher, Blogs des Deutschen Schulpreises zurück, der 2020). Nach der ersten Woche der oder Courselets für Schüler*innen im Jahr 2020/21 jene Schulen auszeich- Schulschließung wurde begonnen, die freizuschalten. Foren und Chaträume nen wird, die kluge Ideen im Umgang vielfältigen, meist noch unkoordinier- wurden für schulische Zwecke ange- mit der Coronakrise entwickelt haben ten Einzelaktivitäten zu systematisie- passt, Dateiablagen dienten immer und sich mit innovativen Konzepten ren, um aus dem Notfallmodus eine mehr dem regen Austausch zwischen den Herausforderungen der Pandemie – zumindest temporäre – Routine als Lehrkraft und Lernenden mit Aufga- stellten.1 verbindliche Basis im unsicheren Schul- ben bzw. Kontrollen. Lehrer*innen geschehen zu entwickeln. Zunächst sowie Schüler*innen mussten mit Transparenz nach innen und wurden als erstes Informationsme- der Lernplattform vertraut gemacht dium – z. T. mit externer Unterstüt- werden. Die Lehrkräfte erhielten über außen zung – die Homepages angepasst, die Lernplattform die Möglichkeit, zur Aufgrund der plötzlichen Außer- damit alle aktuellen Informationen inneren Differenzierung festzulegen, kraftsetzung der Alltagsroutinen gebündelt als aktueller Infopoint und welches Material für welches Kind war für die Schulleitung unmittelbar Wegweiser zur Verfügung standen. Ein freigeschaltet wird. So sollte vermieden strategisches Handeln gefragt. Um alle Downloadbereich sollte es vor allem werden, Kinder mit gering ausgepräg- Beteiligten und Betroffenen einzubin- Eltern ermöglichen, die notwendigen ter Selbstorganisationskompetenz in den, war zunächst eine transparente Informationen (z. B. Details über den Überlastungssituationen zu bringen. Informationspolitik erforderlich. Dazu Ersatzunterricht, Rolle der Erziehungs- wurden an einzelnen Schulen vom berechtigten etc.) möglichst in Echtzeit Stabilität und Verbindlichkeit Schulleitungsteam jeweils morgens zu erhalten. Diese erste Maßnahme zur Online-Meetings verabredet, um Sicherstellung von Transparenz nach Durch die Verlagerung des Arbeits- Kommunikationskanäle einzurichten, innen und außen führte zumeist zu platzes aus der Schulklasse nach Hause Anfragen von Eltern, Schüler*innen einer Abnahme einzelner Anfragen per wurde die Diskrepanz zwischen Schul- sowie Lehrkräften aufzugreifen und E-Mail oder Telefon und im Bedarfsfall und Lebenswelt im Bereich der digita- systematisch zu beantworten, Hygie- konnte gegebenenfalls gleich darauf len Medien am deutlichsten. Kinder nepläne umzusetzen und Notbetreu- verwiesen werden. erbringen heutzutage früh komplexe ung sicherzustellen. Probleme mussten Zur technischen Unterstützung Leistungen, um die Herausforderungen schnell diskutiert, weitergeleitet und der Kommunikation wurden von der Digitalität im Alltag zu bewältigen. im Idealfall behoben werden. Dazu den Schulen unterschiedliche (Aus- Das zeigt sich an deren souveränem wurden übergreifende Aufgabenberei- tausch-)Plattformen verwendet, um Umgang mit Smartphones und ande- che (z. B. Kommunikationstechnologie, die Abläufe zu systematisieren und ren Endgeräten sowie im Verhalten Inklusion etc.) festgelegt, die jeweils ei- die Administrierung für Einzelne zu in Computerspielen und sozialen nem Schulleitungsmitglied zugewiesen erleichtern. Dadurch konnte allen Medien. Phasen des kurzfristigen Er- und von diesem priorisiert behandelt (Lehrkräften, Schüler*innen, Eltern) bringens von geistiger Hochleistung wurden. Am Ende des Tages erfolgten individuell Zugang ermöglicht werden. wechseln dabei oft mit solchen des auf Basis der unterschiedlichen Wi- Die Dokumentationsfunktion der bloßen Konsumierens eines vielfäl- derfahrnisse Feedbackgespräche, um Plattformen sollte sicherstellen, dass tigen Medienangebots (Videoclips, deren Auswertung für die Planung des alle Informationen niederschwellig Channelsurfing, Chatrooms u. Ä.) ab, Folgetages berücksichtigen zu können. zugänglich sind und höchstmögliche sodass auf Hyperaktivität leiblicher Zur Bewältigung des Distanzunter- Transparenz besteht. Zur Schaffung Erfahrungen bei höchster Anspannung richts waren für alle Schüler*innen einer gelingenden Unterrichtskom- Passivität und Entspannung folgen. Die digitale Endgeräte erforderlich. Da eine munikation mussten viele Schulen derart entstehende dynamische Akti- Reihe von Kindern keine Möglichkeit erst ein Lernmanagementsystem ein- vierung junger Menschen ist oft durch hatte, auf solche zurückzugreifen, richten, das den digitalen Austausch Kurzfristigkeit, Unverbindlichkeit und mussten rasch Tablets und andere über die Distanz ermöglichte bzw. Variabilität gekennzeichnet. Endgeräte besorgt und an bedürftige erleichterte, um eine gemeinsame Im Gegensatz dazu sind Lernprozes- Schüler*innen verteilt werden, da sie Vorgangsweise zu ermöglichen. Hatten se in der Schule auf Verbindlichkeit sonst »abgehängt« worden wären. Schulen bisher bereits solche Systeme und Langfristigkeit ausgelegt. Das Diese erforderliche »Notversorgung« im Einsatz, wurden diese meist nur zum Abarbeiten von Arbeitsblättern, die hat Schwachstellen in der Grundaus- E-Mail-Verkehr oder zum Einloggen in ihnen während der Schulschließung 6 33/2020/2
FORSCHUNG auf unterschiedlichsten Wegen digital Videochat nur eine sehr begrenzte Vermittlungsgeschehen des Ersatzun- oder analog von den Lehrkräften über- Kommunikation möglich ist (Abb. 1). terrichts während der Schulschließung mittelt wurden, baut auf Planbarkeit. Aus Beobachtungen von Lehrkräften zeigte. Da in der Grundschule die Üblicherweise ist schulischer Unter- und Erfahrungen an Schulen war es für Beziehungspflege eine wichtige Rolle richt im meist stündlichen Wechsel des Schüler*innen dann möglich, unter den spielt, ging es den Lehrenden in der Faches nach vereinbarten didaktischen gegebenen Voraussetzungen erwartete Anfangsphase vor allem darum, Prinzipien getaktet, was plötzlich nicht Leistungen zu erbringen, wenn mit »das Miteinander und Füreinander [zu] mehr Geltung hatte. Vermittlung in der ihnen Beziehungen intensiviert und stärken. Unser Ziel ist es, den Kontakt vernetzten digitalen Welt lässt bisheri- aufrechterhalten wurden, um schnell zu den Kindern zu halten und ihnen zu ge didaktische Prinzipien fraglich wer- und unmittelbar auf Fragestellungen zeigen, dass man für sie da ist. Darum den. So wundert es nicht, dass mehr und Probleme reagieren zu können. rufen die Klassenlehrer/innen alle zwei als die Hälfte der befragten Lehrkräfte Dazu war es erforderlich, Aufgaben Tage bei den Kindern an. Das ist ein gro- angaben, dass sie sich ein gemeinsames individuell zuzuordnen, Inputs für ßer zeitlicher Aufwand, denn in vielen Verständnis der Schule dafür wünsch- möglichst homogene Kleingruppen Klassen sind 30 Kinder. Das sind auch ten, wie digitale Formate im Unterricht aufzubereiten und bei Bedarf techni- keine kurzen Anrufe, in denen es nur mal eben um den Wochenplan geht. Die Ge- sinnvoll eingesetzt werden. sche Unterstützung anzubieten. spräche können schon 20 bis 30 Minuten Wenn anfänglich noch keine zweck- Zur Weiterführung der positiven Er- dauern. Häufig wollen die Kinder auch mäßig eingerichtete Plattform zum fahrungen wurden nach Rückkehr an darüber sprechen, wie es ihnen zu Hause Austausch zur Verfügung stand, die Schulen zum Teil flexiblere Formen geht.« (Wagner & Kuhn, 2020, S. 31) versuchten die Lehrkräfte in Eigen- des Präsenzunterrichts eingeführt. So regie individuell Kontakt mit ihren können etwa an festen Zeitfenstern an Da die Kinder im Grundschulalter meist Schüler*innen aufzunehmen. Da einem oder zwei Unterrichtsnachmit- nicht in der Lage waren, über eine Lern- diese unkoordinierte Vorgehensweise tagen Schüler*innen, die selbstständig plattform zu arbeiten, mussten unter- den Letzteren keinen sicheren Rah- arbeiten können, selbst entscheiden, schiedliche Kommunikationskanäle ge- men gab, sind manche Kinder auch wo und wann sie arbeiten. Sie erhalten funden werden, um alle Schüler*innen gar nicht erreicht worden. Daher be- ihre Aufgaben über die Lernplattform, zu erreichen. Beispielhaft dafür sind mühten sich Schulen, möglichst bald die sie in einem vorgegebenen Rahmen Videogrüße einer Grundschullehrerin stabile Strukturen einzurichten, die in Eigenverantwortung bearbeiten (mit Klassenmaskottchen »Mobi«) ihren Lernenden einerseits Sicherheit müssen. Zugeordnete Lehrkräfte ste- über den Messengerdienst WhatsApp verschafften, andererseits von ihnen hen in diesen Zeitfenstern in Echtzeit an ihre Erstklasskinder (Schratz, 2020, stärkere Verbindlichkeiten einforder- zur Beantwortung von Fragen über die S. 36-37). ten. Je nach Vorgaben und Vorgehens- Chatkanäle zur Seite. Die anderen Ju- In sozialräumlich benachteiligten weise der Schulen entsprachen diese gendlichen, die ein intensiveres Unter- Lagen können Elternhäuser eine Un- den Strukturen eines Stundenplans im stützungsangebot benötigen, erhalten terstützung beim Lernen oft nicht leis- Präsenzunterricht oder eher offeneren als »Präsenzgruppe« in der Schule eine ten und digitaler Unterricht ist kaum Formen von Wochenplänen. Durch gezielte personalisierte Unterstützung möglich. Daher war der Austausch der Absprache zwischen den Lehrkräften im Kleingruppenarrangement. Damit Lehrkräfte untereinander sehr wichtig, kam es auch zu einer ausgewogene- wird nicht nur der gemeinsame Prä- um gemeinsam tragfähige Struktu- ren Beauftragung und damit Belas- senzunterricht im Klassenzimmer ren und Unterstützungssysteme zu tung der Schüler*innen. Hier gilt es, zugunsten lernseitiger Öffnung in be- schaffen, was enge Absprachen erfor- Kompetenzen im situationsgemäßen stimmten Phasen aufgelöst, sondern es derlich machte. So kümmerten sich Ausbalancieren der Ansprüche von erhalten jene Kinder eine zielgerichtete beispielsweise immer 3 Lehrkräfte um Verbindlichkeit und Ungewissheit zu Unterstützung, die beim Erwerb der eine Jahrgangsstufe über eine eigene erwerben. Lerninhalte Schwierigkeiten haben. WhatsApp-Gruppe und organisierten Ein üblicher »Frontalunterricht« sich über eine Austauschplattform, wo über Video in Klassenstärke wurde Auf die Beziehung kommt es an sie gemeinsame Chaträume nutzten, nur selten angeboten, um die Klasse Material einstellten und bearbeiten als solche zusammenzuschalten. Im virtuellen Kontext ist es über die konnten (Wagner & Kuhn, 2020, S. 30). Effektiver Unterricht erschien in die- Distanz meist schwer möglich, eine In der Coronakrise ist spürbar gewor- sem Format schwierig, da ab einer resonante Beziehung herzustellen. den, was früher entweder als selbstver- gewissen Teilnehmerzahl unklar ist, Damit kann eine wichtige Komponen- ständlich angesehen oder was zu wenig ob die virtuell Eingeloggten tatsäch- te menschlicher Kommunikation auf wertgeschätzt wurde: dass Schule der lich dem Unterricht folgen und über der Strecke bleiben, was sich auch im Mikrokosmos für das gesellschaftliche 33/2020/2 7
FORSCHUNG Zusammenleben ist. Denn es hat sich gige Erarbeitung und Wiederholung Digitale Grundbildung für alle gezeigt, dass besonders Schüler*innen zu ermöglichen. an sozialräumlich benachteiligten In dieser Altersstufe ging es im Aus- Die Schulschließungen haben zwar alle Standorten Gefahr laufen, in Krisensi- tausch mit den Lehrpersonen nicht Lehrkräfte damit konfrontiert, sich in tuationen wie der COVID-19-Pandemie um technische Probleme, sondern kürzester Zeit neue Kompetenzen zur benachteiligt zu werden. Während um gezielte Unterstützung bei der Weiterführung des Unterrichts auf des Distanzunterrichts hat dies dazu inhaltlichen Arbeit. Für sie zeigten sich Distanz anzueignen, allerdings warnt geführt, dass Schulleitungen dazu ten- große Unterschiede, wie die einzelnen Döbeli Honegger (2020, S. 15) vor zu dierten, die Anforderungen an solche Fachlehrenden mit dem Fernunterricht schnellen Schlüssen und argumentiert, Schüler*innen zu reduzieren (Jesacher- umzugehen versuchten. Geschätzt »dass das Unterrichten während des Rößler & Klein, 2020, S. 60). wurden vor allem jene, die ihnen zu Lockdowns in verschiedenster Hinsicht Die Autorinnen zeigen in ihrer Studie vereinbarten Zeiten für Fragen, Ide- einzigartig und nur bedingt mit unse- auf, »dass ohnehin benachteiligen- en oder Anregungen zur Verfügung rem normalen Schulalltag vergleichbar de Voraussetzungen aufseiten der standen. An einzelnen Schulen traten ist« und sich »die Erfahrungen aus dem Schüler*innen durch ungünstige Hal- die Klassenlehrkräfte mit jedem bzw. Covid-19-Notfallfernunterricht nicht tungen und Erwartungen seitens der jeder ihrer Schüler*innen zumindest als Planungsgrundlage für zeitgemäße Leitenden und Lehrenden potenziert 15 Minuten innerhalb einer Woche in Bildung in einer Kultur der Digitalität werden können« (ebd.). Kontakt, um die Beziehung zu halten eignen«. Krisen sind zwar, wie oben In der Sekundarstufe waren die und den Lernfortschritt zu monitoren. aufgezeigt, gute Auslöser, allerdings Schüler*innen eher in der Lage, sich Einzelne Lehrkräfte haben rückgemel- keine guten Lehrmeister. Dies wurde rasch zurechtzufinden. Als neue det, dass sie trotz oder gerade auf- anhand des hohen Prozentsatzes von Form des dislozierten Unterrichts grund der Distanz eine persönlichere Lehrkräften aufgezeigt, die klassische begannen sie auch nach der Metho- Beziehung zu einzelnen Schüler*innen Formate des Präsenzunterrichts auf de des »Flipped Classroom« (Walker aufbauen konnten, als sie sie vorher den Fernunterricht übertrugen, damit et al., 2020) zu arbeiten. Hierzu wird hatten. Und zwar deswegen, weil sie aber nur wenige Teilkompetenzen sozusagen der herkömmliche Un- im Fernunterricht viel stärker auf in der Auseinandersetzung mit der terricht auf den Kopf gestellt: Der jeden Einzelnen eingehen mussten. digitalen vernetzten Welt erworben inhaltliche Input erfolgt nicht über Andererseits meldeten Schüler*innen hatten. Umso mehr sollte der von der die Lehrkräfte, sondern wird von den zurück, dass sie noch nie so motiviert Pandemie ausgelöste Weckruf genutzt Schüler*innen selbst erarbeitet, indem lernen konnten. Die digital ver-rückte werden, um die Erfahrungen kritisch zu sie zunächst nach den erforderlichen Kommunikation kann sich insofern reflektieren und sowohl auf bildungs- Informationen (im Internet) suchen. auch positiv auf das Lehrer-Schüler- politischer Ebene als auch am jeweiligen Um diesen eine Brücke zur neuen Verhältnis auswirken, allerdings ist Schulstandort zweckdienliche Maßnah- Lernwelt mit digitaler Ausprägung dies nicht die Regel. Sie verweist aber men umzusetzen. In erster Linie sollten zu bauen, setzten einzelne Schulen auf neue Möglichkeitsräume für die die Voraussetzungen dafür geschaffen »Erklärvideos« ein, die vielfach selbst Personalisierung des Unterrichts. werden, dass alle Schüler*innen im Lau- hergestellt oder auch von fe ihrer Schulzeit Lehrkräften anderer Schu- die erforderlichen len übernommen wurden Kompetenzen (Abb. 2). Haben sich die für einen selbst- Kinder bzw. Jugendlichen bestimmten und daran gewöhnt, beginnen kritischen Umgang sie selbst, über das Internet in der digitalen hilfreiche Angebote z. B. auf vernetzten Welt YouTube zu recherchieren er werben . Als (z. B. Khan Academy) oder Grundlage dafür ist sogar solche Erklärvideos allerdings eine ver- © Вадим Пастух/123rf zu erstellen. Damit wird pflichtende digitale im Sinne eines »advance Grundbildung für organizer« das Vorwissen alle Schüler*innen aktiviert, um ihre Lernbe- erforderlich, so wie reitschaft zu stimulieren Abb. 2: Erklärvideos als Bausteine auf dem Weg zum »Flipped Classroom« sie etwa im österrei- und eine lehrkraftunabhän- chischen Lehrplan 8 33/2020/2
FORSCHUNG »Digitale Grundbildung« (BMBWF, gen, welche technische Ausstattung sie Kontext der Corona-Pandemie. In Detlef Fickermann & 2018) vorgesehen ist. brauchen, mit welcher Unterstützung Benjamin Edelstein (Hrsg.), »Langsam vermisse ich die Schule …«. Schule während und nach der Corona- Lehrplanvorgaben lassen sich allerdings sie langfristig arbeiten wollen, aber auch, Pandemie (S. 202-215). Münster: Waxmann. nicht einfach »ausrollen«, wie es die- welche Möglichkeiten sie didaktisch Döbeli Honegger, Beat (2020). Lernen trotz und durch ses im Transferdiskurs heute vielfach nutzen wollen, damit alle Lehrer*innen Corona. Bildung Schweiz, 5, 15-16. verwendete Wort andeutet. Schulen die digitale Kultur in ihren Fächern für Eickelmann, Birgit (2020). Wie der Blick in die Zahlen für den Blick nach vorne hilft. Perspektiven aus der Studie sind in den Handlungsoptionen ihrer ihre spezifischen Zwecke nutzen können. ICILS 2018 in der Zeit der Corona-Krise und darüber Akteur*innen an den jeweiligen sozia- Dazu gehört auch, dass die einzelnen hinaus. Lehren & Lernen, 46(4), 6-10. len Kontext gebunden. Diesbezüglich Fachgruppen überlegen, welche Inhalte forsa (2020). Deutsches Schulbarometer Spezial – Lehrerbefragung zur Coronakrise. Im Auftrag der haben die disruptiven Erfahrungen durch digitale Unterstützung besser als Robert-Bosch-Stiftung in Kooperation mit der ZEIT. Verfügbar unter: https://deutsches-schulportal.de/ während der Pandemie die vielen durch einen Lehrervortrag erarbeitet unterricht/das-deutsche-schulbarometer-spezial- Antworten auf die schulischen Fragen werden können. Das Konzept für die corona-krise/ [3.10. 20] im Umgang mit der digitalen ver- Digitalisierung sollte es für alle Fächer Grünberger, Nina, Nárosy, Thomas & Schratz, Michael (im Druck). Der Lehrplan »Digitale Grundbildung« für netzten Welt aufgezeigt. Sie »reichen ermöglichen, dass Schüler*innen in alle. »Policy Enactment« in der Digitalität. In Gerold von der technischen Ausstattung im ihrem eigenen Tempo arbeiten können Brägger & Hans-Günther Rolff (Hrsg.), Handbuch Ler- nen mit digitalen Medien. Weinheim: Beltz. Klassenzimmer oder konkreten Apps und dabei sowohl gefördert als auch Jesacher-Rößler, Livia & Klein, Esther (2020). COVID-19: und Tools für den Fachunterricht über gefordert werden. Strategien der Schulentwicklung in der Krise: Ergebnisse Kompetenzkataloge für Lernende Lehrende an Schulen, die bereits ein einer Schulleitungsbefragung in Österreich. https://doi. org/10.25651/1.2020.0010 [3.10.20] und Lehrende bis hin zu Forderungen, Gesamtkonzept für das Lehren in der Mayr, Kerstin, Resinger, Paul & Schratz, Michael (2009). Schule müsse sich in ihrer Verfasstheit digitalen vernetzten Welt entwickelt E-Learning im Schulalltag. Eine Studie zum Einsatz – von der zeitlichen Rhythmisierung haben, erlebten die Schulschließungen moderner Informations- und Kommunikations- technologien im Unterricht. Bad Heilbrunn: Klink- über die räumliche Gestaltung und weniger krisenhaft. Der Rahmen eines hardt. Verfügbar unter: http://www.gbv.de/dms/bs/ die Zusammenarbeit aller Akteure – gemeinsamen Konzepts gab den Lehr- toc/584679823.pdf [3.10. 20] radikal transformieren« (Grünberger personen und ihren Schüler*innen in Schaumburg, Heike, Gerick, Julia, Eickelmann, Birgit & Labusch, Amelie (2019). Nutzung digitaler Medien aus et al., im Druck). Die Erfahrungen der dieser Phase der Unsicherheit Halt. Ein der Perspektive der Schülerinnen und Schüler im inter- Schulschließungen haben nicht zuletzt solcher sorgt für Entlastung, weil sich nationalen Vergleich. In Birgit Eickelmann et al. (Hrsg.), ICILS 2018 #Deutschland. Computer- und informa aufgezeigt, dass Schule in der Digitalität alle in diesem System zurechtfinden, tionsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich und nicht nur einige speziell dafür ausgebil- bietet aber genug Freiraum, um zu Kompetenzen im Bereich Computational Thinking dete Lehrpersonen benötigt, sondern experimentieren und eigene Wege zu (S. 241-270). Münster: Waxmann. dass alle Unterrichtsfächer beteiligt finden. Die Öffnung der Schule in die Schratz, Michael (2020). Ver-rückte Klassenzimmer als Geburtsstätten für Neues? Lehren & Lernen, 46(5), sind und die Schule als Ganze sich im virtuelle Welt hat hohes Lernpotenzial 34-38. Veränderungsprozess befindet. Neu- erkennen lassen, das es künftig zu nut- Stöcker, Christian (2020). Das Experiment sind wir. ordnungen, die sich aus Krisen ergeben, zen gilt. Voraussetzung ist allerdings München: Blessing. benötigen nicht nur die Offenheit aller eine stimmige Lehrplanvorgabe für Wagner, Frank & Kuhn, Annette (2020). Es gibt so viele herzzerreißende Momente. Ein Gespräch über Schule, Akteur*innen, sich in der gegenständ- eine digitale Grundbildung für alle Eltern, Kinder und Verantwortung. Lehren & Lernen, lichen Auseinandersetzung den neuen sowie eine konsequente Professionali- 46(4), 30-32. Ansprüchen zu stellen. Nachhaltigkeit sierung der schulischen Akteur*innen Walker, Zachary, Tan, Desiree & Koh, Noi Keng (Hrsg.) (2020). Flipped classrooms with diverse learners. Inter- zeigt sich im Umlernen erst über eine auf allen Ebenen des Systems. national perspectives. Singapur: Springer. entsprechende Haltung, die über das situative Handeln hinauswirkt. ANMERKUNG DER AUTOR Ausblick Siehe https://www.deutscher-schulpreis.de/aktuel- 1 les-wettbewerbsjahr [5.10.20] Die digitale Transformation hat noch Michael Schratz, wenig Einzug in die Schulen gefunden, LITERATUR Dr. phil., ist Pro- wenn man das mit der Durchdringung fessor am Institut im Lebensalltag vergleicht. Die Chance BMBWF (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft für Lehrer*innen und Forschung) (2018). Lehrplan Verbindliche Übung bildung und Schul- besteht darin, den momentanen Digita- »Digitale Grundbildung«. Änderung der Verordnung über die Lehrpläne der Neuen Mittelschulen sowie der forschung und war lisierungsschwung zu nutzen und auf Ba- Verordnung über die Lehrpläne der allgemeinbilden- Gründungsdekan sis der zum Teil mühevollen Erfahrungen den höheren Schulen. Verfügbar unter: https://www. der School of Edu- ris.bka.gv.at/eli/bgbl/II/2018/71/20180419 [3.10.20] ein digitales Konzept zu entwickeln. Die cation an der Uni- Bremm, Nina & Racherbäumer, Kathrin (2020). Di- eigentliche Arbeit beginnt also erst jetzt. mensionen der (Re-)Produktion von Bildungsbenach- versität Innsbruck, Österreich. Dabei müssen die Schulen klug überle- teiligung in sozialräumlich deprivierten Schulen im 33/2020/2 9
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