Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

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MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1                 Bäcker – Chancengleichheit                        Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

        Parteienrecht im Spiegel der                                 ausgenommen haben. Praktisch stellte es sich mitun-
                                                                     ter als schwierig dar, Zugang zu hinreichend großen
             Rechtsprechung:                                         Veranstaltungsräumen zu erhalten, in denen eine
                                                                     Aufstellungsversammlung unter Einhaltung der Ab-
Chancengleichheit                                                    stands- und Hygieneregeln durchgeführt werden
                                                                     konnte. Die AfD Baden-Württemberg versuchte über
     Alexandra Bäcker1                                               Monate, einen geeigneten Veranstaltungsort für ei-
                                                                     nen kombinierten Programm- und Aufstellungspar-
                                                                     teitag zu finden. Zwar konnte sie sich vor dem VG
Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden                     Stuttgart3 gegen die Stadt Heilbronn mit dem An-
Kontaktverbote in unterschiedlichsten Ausgestaltun-                  spruch durchsetzen, die geplante Kandidatenaufstel-
gen in diversen Coronaschutzverordnungen haben                       lung mit 1200 Delegierten auf der Heilbronner The-
auch die politischen Parteien im zurückliegenden Be-                 resienwiese in einem Zelt abhalten zu dürfen, ließ
richtsjahr 2020 vor große Herausforderungen gestellt2.               diese Möglichkeit dann aber ungenutzt verstreichen,
Parteiarbeit ist zu einem großen Teil auf Kommunika-                 weil für den Parteitag stattdessen die EWS-Arena in
tion unter Anwesenden ausgerichtet. Diesem Leitbild                  Göppingen bevorzugt wurde. Der private Hallenbe-
folgte bislang nicht nur die politische Praxis, sondern              treiber kündigte der AfD allerdings den Mietvertrag
auch das Parteiengesetz und das Wahlrecht setzen                     wieder, weil er dazu von der Stadt Göppingen wegen
diese Form der Parteiarbeit als typisch voraus. Dies                 der Verschärfung des Infektionsgeschehens unter
gerät notwendig in Konflikt mit dem in Zeiten einer                  Androhung eines Zwangsgelds per Email aufgefor-
Pandemie geltenden Abstandsgebot: Denn demokra-                      dert worden war4, so dass die AfD auch diesen Par-
tische Teilhabe in den und vermittels der politischen                teitag letztlich absagte. Weil die in Pandemie-Zeiten
Parteien darf – generell, aber gerade auch in Krisen-                unerlässlichen Hygiene-Auflagen nicht eingehalten
zeiten – nicht schlechthin suspendiert werden.                       werden konnten, scheiterten auch diverse weitere Ver-
Wenn es um die Teilnahme an staatlichen Wahlen                       suche, den Landesparteitag in Präsenz abzuhalten5.
geht, liegt die Notwendigkeit, auch in Pandemie-Zeiten               Durchsetzen konnte sich die AfD auch vor dem VG
grundsätzlich Parteiversammlungen zu ermöglichen,                    Kassel6, das dem Kreisverband der AfD Werra-
auf der Hand. Demokratie ist stets nur „Herrschaft                   Meißner die Kandidatenaufstellung für die hessischen
auf Zeit“. Läuft der Zeitraum ab, für den bei der letz-              Kommunalwahlen in der mit 323 Quadratmetern
ten Wahl der Legitimationszusammenhang zwischen                      größten öffentlichen Einrichtung in der dem Werra-
Volk und gewählten Volksvertretern vermittelt wur-                   Meißner-Kreis angehörenden Gemeinde Meinhard
de, ist die notwendige Legitimation der Volksvertre-                 ermöglichte. Da die einschlägigen kommunalrechtli-
tung zu erneuern. Mag der Zeitpunkt – etwa pande-                    chen Bestimmungen einen Anspruch auf Zugang zu
miebedingt – auch noch so unpassend sein: die Par-                   den öffentlichen Einrichtungen einer Gemeinde nur
teien haben dann ihre Funktion als Wahlvorberei-                     Ortsansässigen vorbehalten, schied danach zwar ein
tungsorganisationen zu erfüllen. Zentral ist in die-                 originärer Überlassungsanspruch des AfD-Kreisver-
sem Zusammenhang ihre Aufgabe, aus ihren Reihen                      bandes aus: Der AfD-Kreisverband hat seinen Sitz
Wahlbewerber zu nominieren. Das hatte im Be-                         zwar im Kreisgebiet, aber nicht in der Gemeinde
richtsjahr nach allen geltenden Wahlgesetzen aller-                  Meinhard. Eröffnet aber eine Gemeinde generell den
dings auf Kandidatenaufstellungsversammlungen zu                     Zugang zu ihren Einrichtungen auch für Ortsfremde,
erfolgen, die zwingend als Präsenzveranstaltungen                    ist sie nach Maßgabe ihrer Überlassungspraxis an
durchzuführen sind. Rechtlich ermöglicht wurde dies                  den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden, der für
durch Ausnahmeregelungen in diversen Corona-                         politische Parteien in Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. § 5
schutzverordnungen, die Kandidatenaufstellungsver-                   Abs. 1 PartG Ausdruck gefunden hat. Ein daraus re-
sammlungen ausdrücklich vom Veranstaltungsverbot
1
    Dr. Alexandra Bäcker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des     3
                                                                           VG Stuttgart, Beschluss vom 18.11.2020 – 7 K 5102/20, juris.
    Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und    4
    Parteienforschung (PRuF) an der Heinrich-Heine-Universität             https://www.pressreader.com/germany/geislinger-zeitung/202
    Düsseldorf.                                                            01201/281487868913416, abgerufen am 19.02.2021.
                                                                     5
2
    S. grundlegend dazu Sophie Schönberger, Zwischen Parteitag             S. etwa die Zusammenstellung unter https://www.bw24.de/
    und Fernsehshow – Parteienrecht in Zeiten der Corona-Pan-              stuttgart/coronavirus-baden-wuerttemberg-afd-parteitag-messe-
    demie, in diesem Heft, S. 16 ff., und Fabian Michl, Anything           stuttgart-februar-alice-weidel-baden-wuerttemberg-absage-90
    goes! – Zur Aufstellung von Wahlbewerbern in der Covid-19-             168269.html, abgerufen am 19.02.2021.
                                                                     6
    Pandemie, in diesem Heft, S. 23 ff.                                    VG Kassel, Beschluss vom 25.11.2020 – 3 L 2106/20.KS, juris.

doi:10.24338/mip-202167-79                                                                                                             67
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung                  Bäcker – Chancengleichheit                   MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1

sultierender derivativer Zugangsanspruch7 bestand                   eine Kapazitätsüberschreitung auch konkret gegeben
auch zugunsten des AfD-Kreisverbandes, da das                       ist. Daran fehlt es, wenn weder bereits bestehende Re-
Bürgerhaus nach der Gebührenordnung sowohl Orts-                    servierungen noch anderweitige Nutzungsanfragen
ansässigen wie auch Auswärtigen zur Nutzung über-                   der Verfügbarkeit der öffentlichen Einrichtung entge-
lassen wird und auch in der Vergangenheit bereits                   genstehen. Allein der „fromme“ Wunsch des Bürger-
politischen Parteien zur Verfügung gestellt worden                  meisters, das Bürgerhaus im Falle einer – zudem pan-
war. Mit anderen Worten: Die Widmung der öffent-                    demiebedingt sehr unwahrscheinlichen – möglichen
lichen Einrichtung stand einer Überlassung an den                   Öffnung auch für andere Veranstaltungen prioritär
AfD-Kreisverband jedenfalls nicht entgegen. Zwar                    den ortsansässigen Sportvereinen wieder zur Nutzung
bestand nach der Verordnung zur Beschränkung von                    überlassen zu wollen, taugt allerdings nicht als recht-
sozialen Kontakten und des Betriebes von Einrich-                   licher Maßstab für die Entscheidung über den Zu-
tungen und von Angeboten aufgrund der Corona-                       gangsanspruch. Mangels tatsächlich bestehender Ka-
Pandemie (CoKoBeV) grundsätzlich ein Nutzungs-                      pazitätsauslastung war dem AfD-Kreisverband der
verbot für das Bürgerhaus zu Versammlungszwecken,                   Zugang zum Bürgerhaus daher zu gewähren.
von dem aber auch Ausnahmen vorgesehen waren.
                                                                    Demgegenüber scheiterte der AfD-Kreisverband Coes-
Zusammenkünfte von Personen, die aus geschäftlichen,
                                                                    feld vor dem VG Münster9 mit dem Versuch, einen
beruflichen, dienstlichen, schulischen oder betreuungs-
                                                                    Anspruch gegen die Gemeinde Nottuln auf Überlas-
relevanten Gründen unmittelbar zusammenarbeiten
                                                                    sung einer gemeindeeigenen öffentlichen Einrichtung
müssen, sowie Sitzungen und Gerichtsverhandlungen
                                                                    zur Kandidatenaufstellung für die nordrhein-westfäli-
waren von dem Verbot ausgenommen. Ein Ergän-
                                                                    schen Kommunalwahlen durchzusetzen. Zwar erlaubte
zungserlass des Hessischen Ministeriums des Innern
                                                                    auch die nordrhein-westfälische Coronaschutzverord-
und für Sport vom 3. November 2020 stellte klar, dass
                                                                    nung, Aufstellungsversammlungen als gesetzlich ge-
Parteiveranstaltungen, die zur Durchführung und Vor-
                                                                    fordertem Bestandteil eines demokratischen Wahlver-
bereitung von allgemeinen Wahlen erforderlich sind
                                                                    fahrens durchzuführen. Erlaubt heißt aber nur, dass es
(wie die Kandidatenaufstellung nach § 12 KWahlG
                                                                    nach den geltenden Sonderregelungen im Zusammen-
Hessen) unter die Ausnahmeregelung der CoKoBeV
                                                                    hang mit der Corona-Pandemie nicht verboten ist. Ob
fallen. Der Überlassung stand folglich auch insofern
                                                                    zugleich ein Rechtsanspruch auf Zugang zu geeigne-
kein rechtlicher Hinderungsgrund entgegen. Seiner
                                                                    ten Räumlichkeiten besteht, ist nach den dafür jeweils
konkreten Beschaffenheit nach war das Bürgerhaus
                                                                    geltenden weiteren Regelungen zu beurteilen. Ein ori-
auch geeignet, die Kandidatenaufstellungsversamm-
                                                                    ginärer Zugangsanspruch zu dem von der Gemeinde
lung unter Einhaltung der Abstands- und Hygienere-
                                                                    Nottuln als öffentliche Einrichtung betriebenen Bür-
geln durchzuführen. Bewegte sich die begehrte Benut-
                                                                    gerhaus scheiterte jedoch an der auch in der nord-
zung der öffentlichen Einrichtung damit insgesamt im
                                                                    rhein-westfälischen Gemeindeordnung zur Vorausset-
Rahmen des geltenden Rechts, konnte dem Anspruch
                                                                    zung gemachten Ortsansässigkeit. Der antragstellende
auf Benutzung allein noch die Kapazitätserschöpfung
                                                                    AfD-Kreisverband hatte seinen Sitz in Coesfeld und
als Grund für die Verweigerung des Zugangs entge-
                                                                    nicht in der Gemeinde Nottuln. Ein derivativer Zu-
gengehalten werden. Unabhängig davon, nach wel-
                                                                    gangsanspruch nach Maßgabe der Überlassungspraxis
chen Kriterien unter den Bewerbern auszuwählen ist,
                                                                    unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes
wenn die Kapazität einer öffentlichen Einrichtung
                                                                    scheiterte daran, dass die Gemeinde Nottuln am 27.
nicht ausreicht, um der Nachfrage uneingeschränkt
                                                                    März 2020 ihre Richtlinien für die Nutzung von Lie-
gerecht zu werden8, ist eine Auswahlentscheidung
                                                                    genschaften und Räumen in rechtlich zulässiger Weise
aber jedenfalls nur und erst dann zu treffen, wenn
                                                                    – vor Antragstellung durch den AfD-Kreisverband –
7
    Anders Friedrich Schoch, Rechtsprechungsentwicklung – Zu-       dahingehend geändert hatte, dass politischen Parteien
    gang zu kommunalen öffentlichen Einrichtungen, in: NVwZ         in den letzten sechs Monaten vor einer Wahl keine
    2016, 257 (262), plädiert demgegenüber dafür, die „Einwoh-      gemeindeeigenen Räumlichkeiten für Veranstaltungen
    nerklausel“ der Gemeindeordnungen der Länder für die durch      gleich welcher Art zur Verfügung gestellt werden. Es
    § 9 PartG verpflichtend vorgeschriebenen Parteitage und die
    nach Art. 21 Abs. 1 GG geschützten Wahlkampfveranstaltun-       mag – bei Lichte betrachtet – für eine solche Ände-
    gen durch Bundesrecht partiell als derogiert zu behandeln und   rung der Verwaltungspraxis nicht der ideale Zeit-
    nimmt insoweit einen originären Zugangsanspruch an; offen       punkt gewesen sein: Das Pandemie-Geschehen hatte
    gelassen bei Andreas Heusch, Demokratischer Wettbewerb          bereits deutlich an Fahrt aufgenommen und eine unter
    auf kommunaler Ebene, in: NVwZ 2017, 1325 (1330 f., Fn. 52).
8
                                                                    diesen erschwerten Bedingungen durchzuführende
    Ausführlich dazu jüngst Thomas Spitzlei, Die Auswahlkriteri-
    en beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen im Fall der
                                                                    9
    Kapazitätserschöpfung, in: JA 2020, 372 ff.                         VG Münster, Beschluss vom 23.07.2020 – 1 L 598/20, juris.

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MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1                Bäcker – Chancengleichheit                         Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Kommunalwahl stand vor der Tür. Aber formal steht                   über einen Wahlvorschlag“ von der elektronischen
es „einem Träger öffentlicher Gewalt [...] grundsätz-               Kommunikation ausgeschlossen ist und stattdessen im
lich frei, seine Vergabepraxis aus wichtigem Grund                  Wege der Briefwahl oder Urnenwahl stattfinden muss12.
für die Zukunft zu ändern, solange vor der Änderung
                                                                    Am 14. Januar 2021 stellte der Bundestag formal fest,
der Vergabepraxis gestellte Anträge noch auf der
                                                                    dass die Durchführung von Wahlveranstaltungen
Grundlage der bisherigen Praxis bearbeitet werden.
                                                                    derzeit zumindest teilweise unmöglich ist13. Darauf-
[...] Ein wichtiger Grund für die Änderung ist in dem
                                                                    hin ist am 3. Februar 2021 nach Zustimmung des
Bestreben [...] zu sehen, durch die Regelung jeglichen
                                                                    Bundestages die Verordnung des Bundesinnenminis-
Eindruck einer parteipolitischen Stellungnahme oder
                                                                    teriums über die Aufstellung von Wahlbewerbern
Bevorzugung einer Partei oder Wählergruppe [...]
                                                                    und die Wahl der Vertreter für die Vertreterver-
fortan zu vermeiden.“10 Zwar hätte die Gemeinde Not-
                                                                    sammlungen für die Wahl zum 20. Deutschen Bun-
tuln eine zeitlich befristete Ausnahme von ihrer Richt-
                                                                    destag unter den Bedingungen der COVID-19-Pan-
linie beschließen oder deren Geltung bis zum Kom-
                                                                    demie vom 28. Januar 2021 in Kraft getreten14. Diese
munalwahltermin aussetzen können, um den schwieri-
                                                                    COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung er-
gen Bedingungen, unter denen in Zeiten einer Pande-
                                                                    möglicht aufgrund der derzeitigen pandemiebeding-
mie eine Kommunalwahl zu organisieren ist, Rech-
                                                                    ten Beschränkungen, von der Pflicht zur Durchfüh-
nung zu tragen. Rechtlich verpflichtet war sie dazu je-
                                                                    rung von Präsenzversammlungen zur Wahl der Be-
doch nicht. Dass dies zwar wünschenswert gewesen
                                                                    werber und der Vertreter für Vertreterversammlun-
wäre, aber nicht zwingend, hat auch das nord-
                                                                    gen abzuweichen. Zugelassen sind die Durchführung
rhein-westfälische Innenministerium mit Hinweisen
                                                                    einer Versammlung ausschließlich im Wege elektro-
zum weiteren Wahlverfahren vom 20. Mai 2020
                                                                    nischer Kommunikation, die Teilnahme einzelner
– zeitlich nach der Änderung der Richtlinie durch die
                                                                    oder eines Teils der Parteimitglieder an einer Ver-
Gemeinde Nottuln – deutlich gemacht, indem es die
                                                                    sammlung im Wege elektronischer Kommunikation,
Gemeinden dazu aufforderte, die Parteien bei der Er-
                                                                    die Durchführung einer Versammlung durch mehrere
füllung der notwendigen infektionsschutzrechtlichen
                                                                    miteinander im Wege der elektronischen Kommuni-
Voraussetzungen insbesondere durch das Angebot ge-
                                                                    kation verbundene gleichzeitige Teilversammlungen
eigneter Räumlichkeiten zu unterstützen, zugleich
                                                                    an verschiedenen Orten sowie die Wahlbewerberauf-
aber auch darauf hinwies, dass Wahlvorschlagsträger
                                                                    stellung im schriftlichen Verfahren. Dies gilt aller-
insofern nicht ausschließlich auf die Kommune ange-
                                                                    dings nur für die Vorauswahl unter den Bewerbern,
wiesen seien, sondern nach der Coronaschutzverord-
                                                                    die Schlussabstimmung über einen Wahlvorschlag
nung nunmehr auch wieder alternative Tagungsräume
                                                                    kann nur im Wege der Urnenwahl, der Briefwahl oder
wie Gaststätten suchen könnten11.
                                                                    einer Kombination aus Brief- und Urnenwahl durch-
Um den mit dem Pandemie-Geschehen verbundenen
Schwierigkeiten bei der Kandidatenaufstellung in                    12
                                                                          Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Geset-
Präsenzveranstaltungen entgehen zu können, hat der                        zes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-,
Bundestag am 9. Oktober 2020 mit Blick auf die in                         Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Be-
                                                                          kämpfung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie vom
diesem Jahr am 26. September stattfindende Bundes-                        28.10.2020, BGBl. I 2020 Nr. 49, S. 2264 f.; kritisch zur Ver-
tagswahl vorsorglich das Bundeswahlgesetz geän-                           ordnungsermächtigung Anna von Notz, It’s Democracy, Stupid!:
dert. Unter der Voraussetzung, dass der Bundestag                         Von einem Gesetzgeber, der dem Bundesinnenministerium in
„im Falle einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen                     Demokratiefragen mehr zutraut als den politischen Parteien,
                                                                          VerfBlog, 2020/10/19, https://verfassungsblog.de/its-democra
Ereignisses höherer Gewalt“ feststellt, dass Kandidaten-                  cy-stupid/, DOI: 10.17176/20201019-233516-0; Fabian Michl,
aufstellungsversammlungen ganz oder teilweise un-                         Bundestag macht Unmögliches möglich: Aufstellung von Kan-
möglich sind, wird das Bundesinnenministerium er-                         didaten für die Bundestagswahl 2021, VerfBlog, 2021/1/14,
mächtigt, eine Verordnung zu erlassen, die die Beru-                      https://verfassungsblog.de/bundestag-macht-unmogliches-mo
fung von Wahlkandidaten ohne Präsenzversammlun-                           glich/, DOI: 10.17176/20210115-061729-0; zur entsprechen-
                                                                          den Verordnungsermächtigung im nordrhein-westfälischen
gen erlaubt (§ 52 Abs. 4 BWahlG). Sofern der Bun-                         Gesetzentwurf, Sophie Schönberger, Stellungnahme zum Ent-
destag der Verordnung zustimmt, können dann Kandi-                        wurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Landeswahlge-
datenaufstellungsversammlungen auch digital durch-                        setzes, LT NRW, Stellungnahme 17/3423, S. 2 ff., https://
geführt werden, wobei aber die „Schlussabstimmung                         www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokum
                                                                          ent/MMST17-3423.pdf, abgerufen am 16.02.2021.
10                                                                  13
     VG Münster, Beschluss vom 23.07.2020 – 1 L 598/20, juris             BT-Drs 19/25816 (Antrag), http://dipbt.bundestag.de/dip21/
     Rn. 22, 24.                                                          btd/19/258/1925816.pdf.
11                                                                  14
     https://www.im.nrw/system/files/media/document/file/200520           COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung, BGBl. I
     _2coronaerlass.pdf, abgerufen am 11.02.2021.                         2021 Nr. 4, S. 115 f.

doi:10.24338/mip-202167-79                                                                                                             69
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung                   Bäcker – Chancengleichheit                         MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1

geführt werden, dies allerdings selbst dann, wenn dies               geben hätten, oder stattdessen auf eine Stimmabgabe
nach der Satzung der Partei nicht vorgesehen ist.                    zu verzichten und damit auch den von ihnen ge-
                                                                     wünschten Kandidaten ihre Zustimmung zu entzie-
Den Erläuterungen des Bundeswahlleiters zufolge
                                                                     hen, gerät dies in Konflikt mit den Wahlrechtsgrund-
dient die Regelung zur Schlussabstimmung „der Ein-
                                                                     sätzen der Freiheit und Gleichheit der Wahl18.
haltung der Wahlgrundsätze im Verfahren der Wahl-
bewerberaufstellung. Der Wahlgrundsatz der Öffent-                   Auch der Bundeswahlleiter geht in seinen aktuellen
lichkeit der Wahl aus Artikel 38 in Verbindung mit                   Hinweisen vom 3. Februar 2021 zur Durchführung
Artikel 20 Absatz 1 und 2 Grundgesetz gebietet nach                  von Aufstellungsversammlungen für Bundestags-
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,                    wahlen von der Unzulässigkeit der strikten Block-
dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher                wahl aus19, und zwar ohne die nach der COVID-19-
Überprüfbarkeit unterliegen. Elektronische Abstim-                   Wahlbewerberaufstellungsverordnung offenbar vor-
mungsverfahren sind darum im Verfahren der Wahl-                     gesehene Ausnahme zu erwähnen. Zwar wurden die
bewerberaufstellung nicht für die Schlussabstimmung                  Hinweise augenscheinlich in erster Linie für die
über die Wahlbewerber und die Vertreter zugelassen.                  nach wie vor möglichen Präsenzversammlungen er-
Bei der Wahlbewerberaufstellung können elektroni-                    stellt. Für die daneben möglichen weiteren Verfah-
sche Verfahren nur zur Vorermittlung, Sammlung                       ren der Kandidatenaufstellung wird explizit auf die
und Vorauswahl der Bewerbungen benutzt werden.                       Hinweise zur Anwendung der COVID-19-Wahlbe-
Sie sind also nur im Vorfeld und als Vorverfahren                    werberaufstellungsverordnung verwiesen. Dort aller-
zur eigentlichen, schriftlich mit Stimmzetteln ge-                   dings findet sich zu dieser Frage nichts.
heim durchzuführenden Abstimmung der Stimmbe-
                                                          Zugegebenermaßen hätte es dazu auch nicht viel zu
rechtigten zulässig“15. Als Schlussabstimmung soll
                                                          sagen gegeben, außer, dass – sofern eine Partei die-
dabei nur die endgültige Abstimmung über einen
                                                          ses Verfahren der Kandidatenaufstellung zur An-
Wahlvorschlag zu verstehen sein und damit „die ver-
                                                          wendung bringt – der in der strikten Blockwahl lie-
bindliche Abstimmung über denjenigen Kandidaten,
                                                          gende Verstoß gegen die Freiheit und Gleichheit der
den die Mehrheit im elektronischen Abstimmungs-
                                                          Wahl durch Verkürzung der aktiven Statusrechte der
verfahren als Wahlkreisbewerber gewählt hat, oder
                                                          Parteimitglieder20 per Verordnung (!) für hinnehm-
über die im elektronischen Abstimmungsverfahren
                                                          bar erklärt wurde. In der Beschlussempfehlung des
durch die Mehrheit aufgestellte Landesliste mit
                                                          Ausschusses für Inneres und Heimat zur COVID-19-
sämtlichen Bewerbern und deren Reihenfolge“16.
                                                          Wahlbewerberaufstellungsverordnung heißt es dazu
Eine so verstandene Schlussabstimmung birgt je- auch lediglich, dass es organisatorisch und zeitlich
doch ein Problem: Darf die Schlussabstimmung „en nur schwer durchführbar sei, den in der elektronischen
bloc“ über die Landesliste im Ganzen („mit sämtli- Abstimmung unterlegenen Bewerbern die Möglich-
chen Bewerbern und deren Reihenfolge“) erfolgen17, keit der Teilnahme an der Schlussabstimmung zu er-
stößt ein solches Verfahren durchaus auf Bedenken: möglichen. „Die Aufstellung der Landesliste einer
Sofern die Abstimmungsberechtigten gezwungen Partei gemäß § 27 BWahlG mit streitigen Abstim-
sind, entweder auch Kandidaten „mit“ zu wählen, mungen für einzelne Listenplätze und der Möglich-
denen sie bei einer Einzelwahl ihre Stimme nicht ge- keit der Bewerbung für mehrere Listenplätze ist als
                                                          Briefwahl oder einer Kombination aus Brief- und
   Bundeswahlleiter, Hinweise zur Anwendung der COVID-19- Urnenwahl aus praktischen Gründen unmöglich.“
                                                                                                         21
15

     Wahlbewerberaufstellungsverordnung vom 08.02.2021, S. 25,       18
     https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/3798f833-2590-484            Johann Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21
     3-9a7d-6e17de63c0f2/btw21_hinweise-covid-19-wahlbewerb               Rn. 41 § 27 Rn. 21b.
                                                                     19
     eraufstellungs-vo.pdf, abgerufen am 12.02.2021.                      Bundeswahlleiter, Hinweise zur Durchführung von Aufstel-
16
     Bundeswahlleiter, Hinweise zur Anwendung der COVID-19-               lungsversammlungen für Bundestagswahlen vom 03.02.2021,
     Wahlbewerberaufstellungsverordnung vom 08.02.2021, S. 24,            S. 34, https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/42eac9e4-85
     https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/3798f833-2590-484            6c-42f6-94c1-4503e8d5f878/btw_leitfaden_aufstellungsversa
     3-9a7d-6e17de63c0f2/btw21_hinweise-covid-19-wahlbewerb               mmlung.pdf, abgerufen am 12.02.2021.
                                                                     20
     eraufstellungs-vo.pdf, abgerufen am 12.02.2021.                      So schon Jürgen Seifert, „Blockwahlsystem“ und innerparteili-
17
     Dass die Regelung in dieser Weise zu verstehen sein soll, er-        che Demokratie, in: Kritische Justiz 1969, 284 (287 ff.), https://
     gibt sich aus einem Redebeitrag des Abgeordneten Friedrich           doi.org/10.5771/0023-4834-1969-3-184; ähnlich Sophie-
     Straetmanns im Rahmen der Beratung der Beschlussempfeh-              Charlotte Lenski, Parteiengesetz und Recht der Kandidaten-
     lung und des Berichts des Ausschusses für Inneres und Hei-           aufstellung, 2011, § 15 PartG Rn. 9, § 21 BWahlG Rn. 82.
                                                                     21
     mat zur COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung,                 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inne-
     Plenarprotokoll des Bundestages 19/206 vom 28.02.2021,               res und Heimat zur COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsver-
     26026, https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19206.pdf.            ordnung, BT-Drs 19/26244, S. 6.

70                                                                                                   doi:10.24338/mip-202167-79
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1                   Bäcker – Chancengleichheit                        Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

In der Tat: So denn Kandidatenaufstellungsver-                         chen, bleibt abzuwarten24. Dringend anzuraten ist je-
sammlungen in Präsenz verzichtbar sein sollen bzw.                     doch, die Schlussabstimmung dann nicht als Ja-
müssen, lässt das vorherrschende Verständnis von                       Nein-Abstimmung über die Liste „mit sämtlichen
einer dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ge-                    Bewerbern und deren Reihenfolge“ auszugestalten.
nügenden Wahlhandlung, deren wesentlichen Schrit-                      Wenn in der Schlussabstimmung aus tatsächlichen
te öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen müssen,                    Gründen wegen der bei einer Briefwahl gegebenen
wohl tatsächlich keine andere Wahl: Danach sind                        zeitlichen Restriktionen schon kein Einfluss auf die
Brief- und/oder Urnenwahl derzeit „alternativlos“.                     Zusammensetzung der Liste genommen werden
Die Einbuße der Möglichkeit, den bei der – wenn-                       kann, muss die Stimmabgabe wenigstens die Rei-
gleich „unverbindlichen“ – Vorauswahl unterlege-                       hung der Kandidaten auf der Liste zumindest poten-
nen Kandidatinnen und Kandidaten eine Teilnahme                        tiell verändern können. Auch damit wäre aber das
an der schriftlichen Schlussabstimmung zu ermögli-                     Risiko nicht ausgeräumt, dass schon in der Voraus-
chen, ist aufgrund der limitierenden Wirkung des                       wahl unterlegene und damit unzufriedene Bewerber
Faktors Zeit bei der Organisation und Durchführung                     gerichtlich erfolgreich gegen die Kandidatenaufstel-
des Massenverfahrens Wahl unvermeidbar.                                lung vorgehen, nachgängig im Wege der Wahlprü-
                                                                       fung, aber unter Umständen auch schon vor der
Unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung elementa-
                                                                       Wahl mit einer Verfassungsbeschwerde25. Verfas-
rer Verfahrensgrundsätze einer demokratischen
                                                                       sungsrechtlich weist die Beschneidung der Geltung
Wahl ist das Verfahren der (strikten) Blockwahl al-
                                                                       der Wahlgrundsätze durch den Verordnungsgeber je-
lerdings verfassungsrechtlich bedenklich, weil die
                                                                       denfalls reichlich Konfliktpotential auf.
freie Auswahlmöglichkeit der wahlberechtigten Par-
teimitglieder unter den Bewerbern und damit der                        Letztlich darf diese demokratiewesentliche Entschei-
dem demokratischen Prinzip innewohnende Minder-                        dung über das Verfahren der Kandidatenaufstellung
heitenschutz beschnitten wird22. Eine „Wahl en                         auch nicht dem Verordnungsgeber überlassen blei-
bloc“, die den Wahlberechtigten keinerlei Einfluss                     ben. Das Berufen auf die eine Notfalllösung erfor-
auf die konkrete Zusammensetzung und Reihenfolge                       dernden besonderen Bedingungen der Corona-Pan-
der Listenkandidaten belässt, ist keine Wahl, son-                     demie verliert immer mehr an Rechtfertigungspoten-
dern eine Akklamation und genügt nicht dem Gebot                       tial und kann den parlamentarischen Gesetzgeber
innerparteilicher Demokratie23.                                        nicht auf Dauer aus seiner Verantwortung entlassen,
                                                                       die aktuell entwickelten Notfallmechanismen verfas-
Letztlich entspräche also weder die „unverbindliche
                                                                       sungskonform gesetzlich nachzuzeichnen.
Vorauswahl“ unter den Bewerbern – die wegen der
Verwendung elektronischer Abstimmungsverfahren                         Deutlich geworden ist zudem, dass der Gesetzgeber
dem Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit der Wahl                          sich verstärkt um die Entwicklung elektronischer
nicht genügt – noch eine als strikte Blockwahl                         Wahlverfahren bemühen sollte, die „ein auf Nach-
durchgeführte Schlussabstimmung – die mit den                          vollziehbarkeit gegründetes Vertrauen des Wahl-
Wahlgrundsätzen der Freiheit und Gleichheit der                        volks in die Korrektheit des Verfahrens bei der Er-
Wahl kollidiert – dem Demokratieprinzip. Die Kan-                      mittlung des Wahlergebnisses ermöglichen und da-
didatenaufstellung wird auch nicht dadurch demo-                       mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ge-
kratisch, dass sie in zwei unzulänglichen Verfahren                    nügen“26. Wahlen sind Massenverfahren, die in ei-
erfolgt, die nur „zusammengerechnet“ möglicher-                        nem überschaubaren Zeitraum ein verbindliches le-
weise allen Wahlgrundsätzen gerecht werden. Auch
soweit dadurch den besonderen Bedingungen in Pan-                      24
                                                                             Innerhalb der FDP besteht offensichtlich kein Bedarf, so der
demie-Zeiten gegenständlich und zeitlich begrenzt                            Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle im Rahmen der Be-
Rechnung getragen wird, wäre eine strikte Block-                             ratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus-
                                                                             schusses für Inneres und Heimat zur COVID-19-Wahlbewer-
wahl, die nach der Verordnung aber zulässig sein                             beraufstellungsverordnung, Plenarprotokoll des Bundestages
soll, wohl nicht hinnehmbar.                                                 19/206 vom 28.02.2021, 26025, https://dip21.bundestag.de/
                                                                             dip21/btp/ 9/19206.pdf.
Ob überhaupt Parteien von den durch die Verord-                        25
nung eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch ma-                                 Den Weg dazu bereitet hat der VerfGH Sachsen, Urteil vom
                                                                             25.07.2019 – Vf. 77-IV-19 (e.A.), Vf. 82-IV-19 (e.A.), juris,
22
                                                                             der im Falle der teilweisen Nichtzulassung der AfD-Landes-
     BVerfGE 89, 243 (264).                                                  liste zur Landtagswahl ausnahmsweise keinen Vorrang der
23
     So ausdrücklich das Bundesparteigericht der CDU, Beschluss              nachgängigen Wahlprüfung vor der Verfassungsbeschwerde
     vom 06.03.1992 – BPG 3/91, im Volltext abrufbar unter https://          annahm und so Rechtsschutz auch schon vor der Wahl ermög-
     docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-           lichte; kritisch und mit anderer Auffassung Alexander Brade,
     34178/CDU91-03.pdf, abgerufen am 15.02.2021.                            Präventive Wahlprüfung?, in: NVwZ 2019, 1814 ff.

doi:10.24338/mip-202167-79                                                                                                               71
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung                Bäcker – Chancengleichheit                     MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1

gitimationsverschaffendes Ergebnis hervorbringen                  dingt mehrfacher Verschiebung28 des eigentlich ge-
müssen. Die Corona-Pandemie hat die limitierende                  planten Parteitages die CDU, um so den vakanten
Wirkung des Faktors Zeit hierfür noch einmal unter-               Posten des Vorsitzenden neu zu besetzen und turnus-
strichen. Auch Demokratie muss mit dem vielbe-                    mäßig den Bundesvorstand neu zu wählen29. Die
schworenen Aufbruch einer Gesellschaft in die digi-               AfD hielt demgegenüber, unbeeindruckt von der
tale Zukunft Schritt halten können.                               Entwicklung des Infektionsgeschehens, an der Über-
                                                                  zeugung von auch unter Pandemiebedingungen reali-
Dies gilt nicht nur für die dem staatlichen Wahlver-
                                                                  sierbaren Präsenzparteitagen fest und versuchte
fahren zugehörige Kandidatenaufstellung, sondern
                                                                  mehrfach, sich dafür gerichtlich Zugang zu öffentli-
auch die „rein“ innerparteiliche Willensbildung, der
                                                                  chen Einrichtungen zu erstreiten. So ersuchte die
die Parteitage dienen. Auch diese sind nach den par-
                                                                  bayerische AfD vor dem VG Ansbach30 und in
teiengesetzlichen Regelungen als Präsenzveranstal-
tungen gedacht und auch für diese hat der Gesetzge-               zweiter Instanz vor dem VGH Bayern31 jeweils er-
ber anlässlich der Corona-Pandemie inzwischen                     folglos um Eilrechtsschutz, um einen mit 751 Teil-
Ausnahmeregelungen geschaffen, die aber bestimm-                  nehmern am 21. November 2020 geplanten Landes-
te Gegenstände der Willensbildung von der grund-                  parteitag durchführen zu können. Die ursprünglich
sätzlich eingeräumten Möglichkeit zur Entscheidung                auf Grundlage der zu diesem Zeitpunkt gültigen
per elektronischem Abstimmungsverfahren ausneh-                   Sechsten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmen-
men. Dies betrifft generell die Beschlussfassung                  verordnung erteilte Ausnahmegenehmigung hatte
über die Satzung und – wie bei den Ausnahmereg-                   das Landratsamt Roth widerrufen und gleichzeitig
lungen zur Kandidatenaufstellung – die Schlussab-                 die Neuerteilung einer Ausnahmegenehmigung auf
stimmung bei allen innerparteilichen Wahlen nach                  der Grundlage der nunmehr geltenden Achten Baye-
§ 9 Abs. 4 PartG27. Alternativ zur Präsenzveranstal-              rischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ver-
tung sind hier lediglich die Abstimmung oder Wahl                 sagt. Bei der im Rahmen des Eilrechtsschutzes vor-
per Brief- und/oder (auch zeitlich versetzter) Urnen-             zunehmenden Interessenabwägung kamen die Ge-
wahl an verschiedenen Orten erlaubt. Da aber die                  richte zu dem Schluss, dass die Erfolgsaussichten
Parteien nach dem Parteiengesetz verpflichtet sind,               der gegen den angegriffenen Bescheid gerichteten
in regelmäßigen Abständen, mindestens in jedem                    Klage in der Hauptsache zwar als offen anzusehen
zweiten Kalenderjahr, Parteitage abzuhalten (§ 9                  28
                                                                       Zu den Problemen pandemiebedingter Verschiebungen partei-
Abs. 1 S. 3 PartG), Vorstände (§ 11 Abs. 1 PartG),                     engesetzlich geforderter innerparteilicher Wahlen Jendrik
Delegierte (§ 8 Abs. 1 PartG) und Mitglieder von                       Wüstenberg, „Verschieberitis“: Verstoß gegen das innerpar-
                                                                       teiliche Demokratieprinzip?, JuWissBlog Nr. 128/2020 vom
allgemeinen Parteiausschüssen und ähnlichen Ein-                       04.11.2020, https://www.juwiss.de/128-2020/, abgerufen am
richtungen (§ 12 Abs. 3 PartG) zu wählen, stellen                      17.02.2021.
die in Pandemie-Zeiten geltenden Kontaktverbote                   29
                                                                       Die praktischen Probleme der auf Grundlage der neuen ge-
auch für diesen Bereich der innerparteilichen Wil-                     setzlichen Regelung durchgeführten Briefwahl nach einem di-
lensbildung eine große Herausforderung dar. Die                        gitalen Parteitag löste die CDU zwar einfallsreich, aber an-
Parteien sind in zentralen Fragen der innerparteili-                   greifbar: Bei ihrem Parteitag auf elektronischem Wege wur-
                                                                       den zwar nur unverbindliche „Probeabstimmungen“ durchge-
chen Demokratie wie der Besetzung von Wahläm-                          führt. Das so ermittelte „Stimmungsbild“ setzte sich bei der
tern und gegebenenfalls notwendiger Anpassungen                        formal gesetzeskonform als Briefwahl durchgeführten Schluss-
der in der Satzung niedergelegten Organisations-                       abstimmung allerdings insofern durch, als dass die Kandida-
und Entscheidungsregeln gezwungen, entweder das                        ten sich vor der „Probeabstimmung“ dazu verpflichten ließen,
                                                                       bei Unterliegen in der Probeabstimmung für die eigentliche
langwierige und begrenzt praktikable Verfahren der                     Abstimmung im Wege der Briefwahl nicht mehr anzutreten.
(auch kombinierbaren) Brief- und/oder Urnenwahl                        Dass darin ein Verstoß gegen das passive Wahlrecht der Be-
zu wählen oder zu versuchen, der Pandemie zum                          werber und eine bewusste Umgehung von Sinn und Zweck
Trotz Präsenzparteitage abzuhalten. Zu ersterem ent-                   der gesetzlichen Regelung zu sehen ist, moniert zu Recht So-
schloss sich nach langem Ringen und pandemiebe-                        phie Schönberger, Stellungnahme zum Entwurf eines Vierten
                                                                       Gesetzes zur Änderung des Landeswahlgesetzes, LT NRW,
                                                                       Stellungnahme 17/3423, S. 2 ff., https://www.landtag.nrw.de/
                                                                       portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-3423.pdf,
26
     Nicht mehr, aber auch nicht weniger verlangt das BVerfG in        abgerufen am 16.02.2021; dies., Zwischen Parteitag und
     seiner Wahlcomputer-Entscheidung, BVerfGE 123, 39 (74).           Fernsehshow – Parteienrecht in Zeiten der Corona- Pandemie,
27
                                                                       in diesem Heft, S. 16 (21).
     Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Geset-    30
     zes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-,           VG Ansbach, Beschluss vom 19.11.2020 – AN 18 S
     Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Be-           20.02484, juris.
                                                                  31
     kämpfung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie vom               VGH Bayern, Beschluss vom 20.11.2020 – 20 CS 20.2729,
     28.10.2020, BGBl. I 2020 Nr. 49, S. 2264 f.                       juris.

72                                                                                              doi:10.24338/mip-202167-79
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1                  Bäcker – Chancengleichheit                        Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

sind, aber die Belange der AfD bei der danach im                      gen der Betätigungsfreiheit der Parteien für verhält-
Eilrechtsschutz allein gebotenen Abwägung der je-                     nismäßig: „Dabei verstößt es nicht gegen Art. 3
weils berührten Interessen hier zurücktreten müs-                     Abs. 1 GG, dass die Aufstellung von Kandidat*in-
sen32. Das veränderte Infektionsgeschehen in Bayern                   nen als Kernbereich der politischen Betätigungsfrei-
erfülle tatbestandlich die Voraussetzungen des in der                 heit privilegiert wird, während der Landesparteitag
ursprünglich erteilten Ausnahmegenehmigung ent-                       an dieser Privilegierung nicht teilnimmt und nur mit
haltenen Widerrufsvorbehalts für den Fall einer Ver-                  einer beschränkten Personenzahl stattfinden kann.
schärfung des COVID-19-Pandemiegeschehens und                         Es handelt sich mit Blick auf die verfassungsrechtli-
verhindere zugleich die Neuerteilung einer Geneh-                     che Relevanz beider Veranstaltungen bereits nicht
migung. Vor dem Hintergrund des tatsächlichen In-                     um gleiche Sachverhalte, denn Aufstellungsveran-
fektionsgeschehens und der damaligen Lagebeurtei-                     staltungen von Bewerber*innen für anstehende
lung des Robert-Koch-Instituts erschien die Gefahr,                   Wahlen sichern die in Art. 20 Abs. 2 und Art. 38 GG
einen Infektionsherd zu schaffen, der zu einer räum-                  verankerte Souveränität des Volkes im Rahmen der
lichen Verbreitung von Infektionen im gesamten Ge-                    repräsentativen Demokratie durch die uneinge-
biet Bayerns führen könnte, besonders groß: Ange-                     schränkte Ermöglichung und Abhaltung freier Wah-
sichts einer auf eine etwa neunstündige gleichzeitige                 len. Im Rahmen dessen sind die Parteien für Wahlen
Anwesenheit von bis zu 751 Personen eines bayern-                     und die politische Willensbildung unabdingbar. Dem
weiten Teilnehmerkreises in geschlossenen Räum-                       trägt Art. 21 GG Rechnung. Der Landesparteitag
lichkeiten ausgelegten Tagesordnung, sei dem Ge-                      dient hingegen vornehmlich der inneren Parteiorga-
sundheitsschutz der Bevölkerung der Vorrang vor                       nisation, vgl. § 9 Abs. 3 bis 5 PartG. Es ist auch
den Interessen des AfD-Landesverbandes einzuräu-                      nicht ersichtlich, dass die Aufgaben nach § 9
men, zumal auch das Infektionsschutzkonzept der                       Abs. 3 ff. PartG nicht durch ein kleineres Mitglieder-
AfD für den geplanten Parteitag Mängel aufwies.                       gremium oder unter Verzicht auf eine Präsenzveran-
                                                                      staltung wahrgenommen werden können. Es wäre
Auch das VG Schleswig-Holstein33 entschied im
                                                                      denkbar, dass ein Landesparteitag mit den anwesen-
Eilverfahren, dass die Stadt Neumünster der AfD
                                                                      den Mitgliedern online live übertragen und den übri-
Schleswig-Holstein eine Ausnahmegenehmigung für
                                                                      gen Mitgliedern Beteiligungsmöglichkeiten einge-
die Abhaltung ihres Landesparteitags mit über 100
                                                                      räumt werden. Selbst wenn Wahlen von Vorstands-
Teilnehmern verweigern durfte. Während die Corona-
                                                                      mitgliedern [...] aufgrund des [...] Grundsatzes der
Verordnung der Landesregierung für die am Folge-
                                                                      Öffentlichkeit der Wahl [...] nicht per Computer
tag geplante und auch genehmigte Kandidatenauf-
                                                                      stattfinden könnten, könnte eine dem Landespartei-
stellungsversammlung eine Ausnahme vom Verbot
                                                                      tag nachfolgende Abstimmung grundsätzlich per
für Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmern
                                                                      Briefwahl erfolgen“34.
vorsah, war dies für Parteitage nicht der Fall. Bei an-
deren als den nach der Corona-Verordnung privile-                     Mit Wahlen untrennbar verbunden ist der Wahl-
gierten Veranstaltungen bestand zwar die Möglich-                     kampf, der bei innerparteilichen Wahlen auf inner-
keit, in besonderen Härtefällen eine Ausnahmege-                      parteilichen Kommunikationswegen gezielt an die
nehmigung zu erteilen, wenn die Belange des Infek-                    jeweiligen Mitglieder gerichtet werden kann. Bei
tionsschutzes nicht überwiegen. Die Stadt Neumüns-                    staatlichen Wahlen müssen sich die Parteien jedoch
ter lehnte die Erteilung einer solchen Ausnahmege-                    an die gesamte Bevölkerung richten. Die Wahlsicht-
nehmigung für den AfD-Landesparteitag jedoch ab.                      werbung im öffentlichen Straßenraum ist, trotz zu-
Wegen der nach wie vor bestehenden Möglichkeit,                       nehmender Nutzung auch digitaler Wahlkampfmit-
Kandidaten für bevorstehende Wahlen bei Veran-                        tel, dafür nach wie vor von großer Bedeutung35. Dies
staltungen ohne Beschränkung der Teilnehmerzahl                       gilt gerade auch in Pandemie-Zeiten, in denen die
aufzustellen, hielt das VG die mit der Versagung der                  Wahlkampfaktivitäten der Parteien weitgehend auf
Ausnahmegenehmigung verbundenen Beschränkun-                          kontaktlose Werbung für die eigenen Ziele be-
                                                                      schränkt sind. Dabei ist die Wahlsichtwerbung poli-
32
     „Dabei können allerdings – eben wegen des summarischen
                                                                      34
     Charakters des Eilverfahrens und seiner nur begrenzten Er-             VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.11.2020 – 1 B
     kenntnismöglichkeiten – weder schwierige Rechtsfragen ver-             152/20, juris Rn. 27.
     tieft oder abschließend geklärt, noch komplizierte Tatsachen-    35
                                                                            Dazu etwa Eva-Maria Lessinger/Christina Holtz-Bacha,
     feststellungen getroffen werden“, so zu Recht das VG Ansbach,          Nicht von gestern – Die Parteienplakate im Bundestagswahl-
     Beschluss vom 19.11.2020 – AN 18 S 20.02484, juris Rn. 20.             kampf 2017, in: Holtz-Bacha (Hrsg.), Die (Massen-)Medien
33
     VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.11.2020 – 1 B                  im Wahlkampf, 2019, S. 125 ff., https://doi.org/10.1007/978-
     152/20, juris.                                                         3-658-24824-6_6.

doi:10.24338/mip-202167-79                                                                                                              73
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung                 Bäcker – Chancengleichheit              MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1

tischer Parteien im öffentlichen Straßenraum nach                  erkundigt, ob für das Anbringen von Plakaten an La-
einhelliger Rechtsprechung eine erlaubnispflichtige                ternen eine Sondernutzungserlaubnis benötigt werde
Sondernutzung. Es entspricht gefestigter Rechtspre-                und welche sonstigen Vorschriften/Satzungen etc.
chung, dass in Wahlkampfzeiten das den zuständi-                   für die Wahlwerbung zu beachten seien. Die Wäh-
gen Gemeindebehörden eingeräumte Ermessen bei                      lergruppe erhielt hierauf die Antwort, dass „für das
der Entscheidung über Anträge auf Erteilung von                    Anbringen von DIN A1-Plakaten im Stadtgebiet das
Sondernutzungserlaubnissen für Wahlsichtwerbung                    beigefügte Formular“ zu verwenden sei. Das beige-
hinsichtlich des „Ob“ auf Null reduziert ist, weshalb              fügte Formular führte jedoch unter „Art der Plakatie-
dann ein Anspruch besteht, in angemessener Weise                   rung“ auch das Format DIN A2 auf. Zudem über-
Wahlsichtwerbung auf öffentlichen Straßen zu er-                   sandte die Stadt Passau die Plakatierungsverordnung
möglichen. Dies gilt auch für Wählervereinigungen                  und eine Übersicht, in der ein „Sperrgebiet“ für
auf kommunaler Ebene, da ihr Wahlvorschlagsrecht                   Wahlplakate eingezeichnet war. Ein Hinweis darauf,
und die Chancengleichheit ihrer Kandidaten eben-                   dass ausschließlich DIN A1-Plakate verwendet wer-
falls gewährleistet sein müssen, so jetzt auch das VG              den dürfen, erfolgte nicht. Die Wählergruppe stellte
Regensburg36. Bezogen auf das „Wie“, also darauf,                  daraufhin einen Antrag auf Erteilung einer Sonder-
in welcher Weise dieser Anspruch zu erfüllen ist, ha-              nutzungserlaubnis für die Plakatierung von Wahl-
ben die Gemeinden allerdings durchaus einen Ge-                    sichtwerbung im Format DIN A2 und gab den Druck
staltungsspielraum, bei dem sie aber an den Grund-                 ihrer Wahlplakate in Auftrag. Erst danach wies die
satz der Chancengleichheit gebunden sind37 und ihr                 Stadt Passau erstmalig ausdrücklich darauf hin, dass
Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächti-                      Plakate nur im Format DIN A1 zugelassen seien und
gung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des                    erteilte letztlich auch nur eine insoweit beschränkte
Ermessens einzuhalten haben (s. z.B. § 40 VwVfG                    Sondernutzerlaubnis. Dabei hat die Stadt Passau im
NRW, Art. 40 BayVwVfG). Es ist den Gemeinden                       Rahmen der Ausübung des ihr zustehenden Ermes-
dabei grundsätzlich unbenommen, Wahlsichtwer-                      sen aber die in der Verweigerung einer Sondernut-
bung z.B. aus Gründen der Verkehrssicherheit oder                  zungserlaubnis für das Format DIN A2 liegende Er-
zur Bewahrung des Stadtbildes vor Verschandelung                   schwernis der Teilnahme am Wahlkampf nicht hin-
und Verschmutzung nur unter Auflagen zu erlauben                   reichend berücksichtigt. Die der Wählergruppe ent-
und dies auch in allgemeinen Richtlinien oder Sat-                 stehenden zusätzlichen Kosten und der zusätzliche
zungen festzulegen. Derlei Auflagen für die Plakat-                Aufwand hätte insbesondere im Hinblick auf die
werbung müssen aber erstens rechtsverbindlich an-                  Kürze der noch zur Verfügung stehenden Zeit zu ei-
geordnet werden und sich zweitens innerhalb der ge-                ner mit dem Chancengleichheitsgrundsatz nicht zu
setzlichen Grenzen der Ermessensausübung halten.                   vereinbarenden Benachteiligung geführt, die sich
An beidem fehlte es im Fall der seitens der Stadt                  auch nicht mit dem Schutz des Stadtbildes vor einer
Passau zwar „gewollten“, aber nicht kommunizierten                 Vielzahl unterschiedlicher Formate von Wahlplaka-
Beschränkung der Wahlsichtwerbung auf Plakate im                   ten rechtfertigen lässt. Die von der Stadt Passau be-
Format DIN A1. Das VG Regensburg gab deshalb                       zweckte Einheitlichkeit der Plakatformate für Wahl-
der Stadt Passau im Wege der einstweiligen Anord-                  werbung war nach Ansicht des VG Regensburg für
nung auf, der erstmals zur bayerischen Kommunal-                   sich genommen nicht geeignet, einer Beeinträchti-
wahl antretenden Wählergruppe „Zukunft Passau“                     gung des Stadtbildes entgegenzuwirken, wenn ande-
die beantragte Aufstellung von Plakaten im DIN A2-                 re Plakate, die nicht der Wahlwerbung dienen, auch
Format zu genehmigen. Die Vorgabe, dass Wahlpla-                   in anderen Formaten zugelassen werden und zudem
kate nur im DIN A1-Format zugelassen werden, war                   auf das Stadtbild nicht nur die Plakate auf gewidme-
nicht ausdrücklich in der Plakatierungsverordnung                  ten Flächen einwirken, sondern auch Plakate auf pri-
enthalten, sondern entsprach lediglich der geübten                 vaten Flächen, die jedoch ebenfalls auch in anderen
Verwaltungspraxis, die allerdings der Wählergruppe                 Formaten als DIN A1 möglich sind. „Damit ist, auch
im Vorfeld der Antragstellung nicht mit der notwen-                wenn man die besondere Massivität der Plakatierung
digen Klarheit mitgeteilt wurde. Vor der Beantra-                  im Wahlkampf berücksichtigt, nicht nachvollzieh-
gung der Sondernutzungserlaubnis hatte sich die                    bar, wie mit dem Verbot kleinerer Wahlplakate noch
Wählergruppe „Zukunft Passau“ per E-Mail danach                    eine weitere Beeinträchtigung des Stadtbildes ver-
                                                                   hindert werden soll“38.
36
     VG Regensburg, Beschluss vom 20.02.2020 – RN 2 E
     20.209, juris.
37                                                                 38
     Karl-Ludwig Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017,        VG Regensburg, Beschluss vom 20.02.2020 – RN 2 E
     § 1 Rn. 79.                                                        20.209, juris Rn. 33.

74                                                                                          doi:10.24338/mip-202167-79
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1               Bäcker – Chancengleichheit                      Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Der Ideenreichtum der Gemeinden, wie einer aus ih-                 Konkurrent nur die jeweils sechste Straßenlaterne
rer Sicht übermäßigen Plakatierung durch Limitie-                  nutzen darf“42. Zweitens ist das von der Stadt Ahaus
rung der Plakatierungsmöglichkeiten mit Hilfe von                  der Ordnungsverfügung und vom VG Münster seiner
Nebenbestimmungen zu Sondernutzungserlaubnissen                    Entscheidung zugrunde gelegte Verständnis der Auf-
entgegengewirkt werden könnte, scheint allerdings                  lage rechtswidrig: „In dem Fall, dass sechs Parteien
fast unerschöpflich. Dass auch die Stadt Ahaus dabei               jeweils ein Sechstel der zur Verfügung stehenden La-
die Grenzen des Rechts überschritten hat, hat das                  ternen für ihre Wahlplakate nutzten, bliebe – unab-
OVG NRW39 in zweiter Instanz entschieden. Die                      hängig von der Anzahl der Straßenlaternen – kein
Stadt hatte die Partei „BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN“                     Platz mehr, um auch nur je ein Mindestmaß von 5%
per Ordnungsverfügung aufgefordert, ihre Wahlpla-                  der für Parteiwerbung zur Verfügung stehenden Stra-
kate an Laternen, an denen sich jeweils bereits ein                ßenlaternen den übrigen Parteien für ihre Wahlwer-
Wahlplakat anderer Parteien (AFD und Linke) befin-                 bung zu überlassen. Auch würde ein solches Szenario,
det, abzuhängen und sich dabei auf eine Auflage in                 das die in Frage stehende Auflage ermöglichte, dazu
der Sondernutzungserlaubnis bezogen, derzufolge                    führen, dass sechs Parteien in völlig gleichwertigem
eine Plakatierung an nur jeder sechsten Straßenlater-              Umfang am Straßenwahlkampf durch Plakatieren
ne zugelassen ist, wobei zwischen zwei Plakaten ei-                von Straßenlaternen teilnehmen könnten, ohne dass
ner Partei mindestens fünf Straßenlaternen für ande-               ihre Bedeutung und Größe berücksichtigt würde,
re Parteien freizuhalten sind. Das VG Münster hatte                was aber einen Verstoß gegen den Grundsatz der ab-
in erster Instanz die Auflage ihrem „Wortlaut nach“                gestuften Chancengleichheit bedeuten würde“43.
in dem Sinne verstanden, dass „innerorts an einer                  Dass eine strikt formale Gleichbehandlung aller Par-
Straßenlaterne nur ein Wahlplakat angebracht wer-                  teien bei der Zuteilung von Plakatierungsmöglich-
den darf“40 und die Nutzung bereits „belegter“ Stra-               keiten für Wahlsichtwerbung eine Verfälschung des
ßenlaternen als Verstoß gegen die Auflage und die                  Parteienwettbewerbs mit sich bringt, weil damit der
Ordnungsverfügung daher als „offensichtlich recht-                 Anschein des gleichen Gewichts der verschiedenen
mäßig“41 gewertet. Einem solchen Verständnis er-                   Parteien und Wählergruppen erweckt und der Wäh-
teilte das OVG NRW zu Recht gleich in zweifacher                   ler über die wahre Bedeutung der einzelnen Parteien
Hinsicht eine Absage. Erstens enthielt die Auflage
                                                                   und Wählergruppen getäuscht wird, hat auch das VG
nach dem maßgeblichen Empfängerhorizont ein ent-
                                                                   Köln44 zu Recht betont. Ein Anspruch auf die im
sprechendes Verbot nicht: „Die Auflage führt in dem
                                                                   Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bean-
erläuternden Klammerzusatz den Abstand zwischen
                                                                   tragte Zuteilung weiterer Wahlwerbeflächen bestand
zwei eigenen Plakaten und nicht den Abstand zu Pla-
                                                                   gleichwohl nicht, da die bislang im Stadtrat noch
katen von anderen Parteien an; damit regelt sie bei
                                                                   nicht vertretene Wählergruppe auf Grundlage der ihr
verständiger Betrachtung lediglich eine die verschie-
                                                                   bereits erteilten Sondernutzungserlaubnis Wahlsicht-
denen Parteien und Wählergruppierungen treffende
                                                                   werbung im öffentlichen Straßenraum betreiben
Verknappung von Werbeträgern, wohl um möglichst
                                                                   durfte, die das ihr zustehende Maß der Selbstdarstel-
jeden Wahlbewerber mit Wahlplakaten zum Zuge
                                                                   lung im Verhältnis zu den anderen wahlwerbenden
kommen zu lassen. Von einem Verbot der Doppel-
                                                                   Parteien und Wählergruppen bereits überschritt45.
oder ‚Vollplakatierung‘ ist hingegen in der Auflage
                                                                   Der Chancengleichheitsgrundsatz schützt vor Be-
nicht die Rede. Sie lässt sich auch nicht sinnvoll da-
                                                                   nachteiligungen im Wettbewerb, rechtfertigt aber
hin verstehen. Die Auslegung der Auflage in der von
                                                                   keine Bevorzugung.
der Antragsgegnerin und dem Verwaltungsgericht
vorgenommenen Weise führte dazu, dass von dem                      Für eine erlaubnispflichtige Sondernutzung des öf-
Antragsteller etwas Unmögliches verlangt würde.                    fentlichen Straßenraums kann auch von politischen
Denn es ist angesichts der neun Parteien bzw.                      Parteien eine Sondernutzungsgebühr erhoben wer-
Wählergruppierungen, die in Ahaus zur Kommunal-                    den, sofern sich die Gebühr innerhalb eines vertret-
wahl am 13. September 2020 antreten, schon nach
den Gesetzen der Mathematik nicht möglich, Doppel-                 42
                                                                         OVG NRW, Beschluss vom 10.09.2020 – 11 B 1353/20, juris
belegungen von Laternen zu vermeiden, wenn jeder                         Rn. 15.
                                                                   43
                                                                         OVG NRW, Beschluss vom 10.09.2020 – 11 B 1353/20, juris
39
     OVG NRW, Beschluss vom 10.09.2020 – 11 B 1353/20, juris.            Rn. 24.
40                                                                 44
     VG Münster, Beschluss vom 07.09.2020 – 8 L 746/20, juris            VG Köln, Beschluss vom 28.08.2020 – 18 L 1510/20, juris,
     Rn. 7.                                                              Rn. 29.
41                                                                 45
     VG Münster, Beschluss vom 07.09.2020 – 8 L 746/20, juris            VG Köln, Beschluss vom 28.08.2020 – 18 L 1510/20, juris,
     Rn. 5.                                                              Rn. 31.

doi:10.24338/mip-202167-79                                                                                                         75
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung                    Bäcker – Chancengleichheit                     MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1

baren Gebührenrahmens hält, so dass die beabsich-                     der zeitlich begrenzte Wahlkampf. Dies macht die
tigte Meinungskundgabe dadurch nicht wesentlich                       sonstigen von Art. 21 Abs. 1 GG garantierten und in
erschwert oder gar unmöglich gemacht wird46. Dass                     § 1 PartG näher umschriebenen ständigen öffentli-
dies insbesondere auch für das dauerhafte Aufstellen                  chen Aufgaben der Parteien, dauernd an der öffentli-
von Schaukästen im öffentlichen Straßenraum gilt,                     chen Meinungsbildung und Willensbildung mitzu-
hat das VG Berlin47 entschieden und gab dem Berli-                    wirken, weniger gewichtig. Es ist auch einsichtig,
ner Bezirksamt Reinickendorf Recht, das von einem                     dass das Recht der politischen Parteien, ihre Tätig-
Kreisverband einer politischen Partei – anders als in                 keit werbewirksam zu erfüllen, zwischen den Wah-
der Vergangenheit gehandhabt – Sondernutzungsge-                      len weniger vordringlich ist als im Wahlkampf, der
bühren in Höhe von 4.988,16 Euro für den Zeitraum                     den Höhepunkt parteipolitischer Tätigkeit bildet und
von einem Jahr forderte. An 27 Standorten im Kreis-                   alle Parteien gleichzeitig zum gesteigerten Wettbe-
gebiet nutzte die Partei seit mehreren Jahrzehnten                    werb um die Wählerstimmen zwingt“48. Auch han-
fest mit dem Boden verbundene Metall-Schaukästen                      delte es sich bei den fest im Boden verankerten, dau-
im öffentlichen Straßenraum ganzjährig für Informa-                   erhaft aufgestellten Schaukästen nicht um gebühren-
tionen der Partei. Dabei handelte es sich nach dem                    freie (mobile) Informationsstände, die begrifflich
Berliner Straßengesetz (BerlStrG) um eine erlaub-                     nur für begrenzte Zeit eingerichtete Werbeanlagen
nispflichtige Sondernutzung, für die auch keine Ge-                   (z.B. einen Tisch) erfassen49. Unter der Vorausset-
bührenbefreiung oder -ermäßigung nach der Sonder-                     zung, dass die Sondernutzung im besonderen öffent-
nutzungsgebührenverordnung vorgesehen war. Zwar                       lichen Interesse liegt oder die Gebührenerhebung auf
sieht das BerlStrG vor, dass Werbeanlagen auf der                     Grund der Besonderheit des Einzelfalls zu einer Här-
Straße in unmittelbarem Zusammenhang mit Wahlen                       te führen würde, hätte das Bezirksamt die Sonder-
gebührenfrei sind. Dauerhafte und unabhängig von                      nutzungsgebühren auch ermäßigen oder sogar erlas-
Wahlkampfzeiten für parteipolitische Werbung ein-                     sen können. Nach Ansicht des VG Berlin war der
gesetzte Schaukästen sind davon jedoch nicht er-                      Anwendungsbereich dieser Ausnahmeregelung der
fasst, auch wenn diese in Wahlkampfzeiten Wahl-                       Sondernutzungsgebührenverordnung aber nicht er-
werbung enthalten mögen. Diese gebührenrechtliche                     öffnet, da es weder Anhaltspunkte für eine besonde-
„Differenzierung zwischen Wahlkampf- und sonsti-                      re Härte gab, noch die Sondernutzung im besonderen
gen Zeiten – wie sie der Sondernutzungsgebühren-                      öffentlichen Interesse liegt. Dafür genüge es nicht,
verordnung zugrunde liegt – [ist] zulässig. ‚Gipfel‘                  dass ein besonderes öffentliches Interesse an der
bzw. ‚Kernstück‘ der parteipolitischen Betätigung ist                 Mitwirkung von Parteien bei der politischen Wil-
                                                                      lensbildung des Volkes besteht. Nicht jede Sonder-
46
     So schon BVerfG, Beschluss vom 22.12.1976 – 1 BvR 306/76,        nutzung, die in irgendeiner Form auch der Allge-
     in: NJW 1977, 671; BVerwGE 56, 63 (68 ff.); ebenso Karl-         meinheit dient, eröffne den Anwendungsbereich der
     Ludwig Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 1       Vorschrift, sondern gerade die Sondernutzung selbst
     Rn. 79 a.E.; Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufla-    müsse im öffentlichen Interesse liegen. Trotz der ho-
     ge 2015, Art. 21 Rn. 62 Fn. 214; s. auch das Gutachten von
     Marc Lechleitner, Straßenrechtliche Sondernutzungsgebühren
                                                                      hen Bedeutung der Mitwirkung von Parteien an der
     für Wahlsichtwerbung, LT Brandenburg (Wahlperiode 6/37),         politischen Willensbildung des Volkes sei jedoch
     Parlamentarischer Beratungsdienst, https://nbn-resolving.org     nicht erkennbar, dass die Inanspruchnahme öffentli-
     /urn:nbn:de:0168-ssoar-54356-8; a.A. Matthias Friehe, Stra-      cher Straßen mit Schaukästen, die zur Information
     ßenrechtliche Wahlkampflenkung?, in: NVwZ 2016, 887              über Veranstaltungen und politische Initiativen so-
     (891), demzufolge Sondernutzungserlaubnisse für Wahlwer-
     bemöglichkeiten politischer Parteien im öffentlichen Raum        wie Einladungen zu Mitgliederversammlungen ge-
     gebührenfrei zu erteilen sind; das VG Dresden, Urteil vom        nutzt werden, diese Voraussetzung erfüllt. Politische
     19.12.2001 – 12 K 149/00, juris Rn. 14, geht von einem „ge-      Parteien seien für diese Tätigkeiten nicht in besonde-
     bührenrechtlichen Parteienprivileg“ aus, das sich in einer Er-   rem Maße auf Schaukästen angewiesen, sondern es
     mäßigung der Sondernutzungsnutzungebühr für Plakatwer-
     bung politischer Parteien auch außerhalb von Wahlkampfzei-
                                                                      „stehen diverse andere Informationskanäle – etwa in
     ten niederschlagen soll; in der Ausarbeitung der Wissen-         Gestalt der Nutzung sozialer Medien – offen“50.
     schaftlichen Dienste des Bundestages zur Gebührenpflichtig-      Letztlich habe das Bezirksamt Reinickendorf sein
     keit einer Plakatiergenehmigung für Parteien im Wahlkampf,       Recht zur Gebührenerhebung auch nicht verwirkt,
     WD 3 – 3000 – 041/13, S. 9 (online verfügbar unter https://      obwohl es aufgrund der bereits im Jahr 2006 in Kraft
     www.bundestag.de/resource/blob/412536/b50dffa59c4f452e4
     f626b0ec3a1d960/WD-3-041-13-pdf-data.pdf), wird unter            getretenen Sondernutzungsgebührenverordnung be-
     Bezugnahme auf das VG Dresden ein solches „gebührenrecht-        48
     liches Parteienprivileg“ zumindest für den Bereich der Wahl-          VG Berlin, Urteil vom 24.08.2020 – 1 K 11.18, juris Rn. 25.
                                                                      49
     werbung politischer Parteien angenommen.                              VG Berlin, Urteil vom 24.08.2020 – 1 K 11.18, juris Rn. 19.
47                                                                    50
     VG Berlin, Urteil vom 24.08.2020 – 1 K 11.18, juris.                  VG Berlin, Urteil vom 24.08.2020 – 1 K 11.18, juris Rn. 23.

76                                                                                                  doi:10.24338/mip-202167-79
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