Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung
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MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Bäcker – Chancengleichheit Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung Parteienrecht im Spiegel der ausgenommen haben. Praktisch stellte es sich mitun- ter als schwierig dar, Zugang zu hinreichend großen Rechtsprechung: Veranstaltungsräumen zu erhalten, in denen eine Aufstellungsversammlung unter Einhaltung der Ab- Chancengleichheit stands- und Hygieneregeln durchgeführt werden konnte. Die AfD Baden-Württemberg versuchte über Alexandra Bäcker1 Monate, einen geeigneten Veranstaltungsort für ei- nen kombinierten Programm- und Aufstellungspar- teitag zu finden. Zwar konnte sie sich vor dem VG Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Stuttgart3 gegen die Stadt Heilbronn mit dem An- Kontaktverbote in unterschiedlichsten Ausgestaltun- spruch durchsetzen, die geplante Kandidatenaufstel- gen in diversen Coronaschutzverordnungen haben lung mit 1200 Delegierten auf der Heilbronner The- auch die politischen Parteien im zurückliegenden Be- resienwiese in einem Zelt abhalten zu dürfen, ließ richtsjahr 2020 vor große Herausforderungen gestellt2. diese Möglichkeit dann aber ungenutzt verstreichen, Parteiarbeit ist zu einem großen Teil auf Kommunika- weil für den Parteitag stattdessen die EWS-Arena in tion unter Anwesenden ausgerichtet. Diesem Leitbild Göppingen bevorzugt wurde. Der private Hallenbe- folgte bislang nicht nur die politische Praxis, sondern treiber kündigte der AfD allerdings den Mietvertrag auch das Parteiengesetz und das Wahlrecht setzen wieder, weil er dazu von der Stadt Göppingen wegen diese Form der Parteiarbeit als typisch voraus. Dies der Verschärfung des Infektionsgeschehens unter gerät notwendig in Konflikt mit dem in Zeiten einer Androhung eines Zwangsgelds per Email aufgefor- Pandemie geltenden Abstandsgebot: Denn demokra- dert worden war4, so dass die AfD auch diesen Par- tische Teilhabe in den und vermittels der politischen teitag letztlich absagte. Weil die in Pandemie-Zeiten Parteien darf – generell, aber gerade auch in Krisen- unerlässlichen Hygiene-Auflagen nicht eingehalten zeiten – nicht schlechthin suspendiert werden. werden konnten, scheiterten auch diverse weitere Ver- Wenn es um die Teilnahme an staatlichen Wahlen suche, den Landesparteitag in Präsenz abzuhalten5. geht, liegt die Notwendigkeit, auch in Pandemie-Zeiten Durchsetzen konnte sich die AfD auch vor dem VG grundsätzlich Parteiversammlungen zu ermöglichen, Kassel6, das dem Kreisverband der AfD Werra- auf der Hand. Demokratie ist stets nur „Herrschaft Meißner die Kandidatenaufstellung für die hessischen auf Zeit“. Läuft der Zeitraum ab, für den bei der letz- Kommunalwahlen in der mit 323 Quadratmetern ten Wahl der Legitimationszusammenhang zwischen größten öffentlichen Einrichtung in der dem Werra- Volk und gewählten Volksvertretern vermittelt wur- Meißner-Kreis angehörenden Gemeinde Meinhard de, ist die notwendige Legitimation der Volksvertre- ermöglichte. Da die einschlägigen kommunalrechtli- tung zu erneuern. Mag der Zeitpunkt – etwa pande- chen Bestimmungen einen Anspruch auf Zugang zu miebedingt – auch noch so unpassend sein: die Par- den öffentlichen Einrichtungen einer Gemeinde nur teien haben dann ihre Funktion als Wahlvorberei- Ortsansässigen vorbehalten, schied danach zwar ein tungsorganisationen zu erfüllen. Zentral ist in die- originärer Überlassungsanspruch des AfD-Kreisver- sem Zusammenhang ihre Aufgabe, aus ihren Reihen bandes aus: Der AfD-Kreisverband hat seinen Sitz Wahlbewerber zu nominieren. Das hatte im Be- zwar im Kreisgebiet, aber nicht in der Gemeinde richtsjahr nach allen geltenden Wahlgesetzen aller- Meinhard. Eröffnet aber eine Gemeinde generell den dings auf Kandidatenaufstellungsversammlungen zu Zugang zu ihren Einrichtungen auch für Ortsfremde, erfolgen, die zwingend als Präsenzveranstaltungen ist sie nach Maßgabe ihrer Überlassungspraxis an durchzuführen sind. Rechtlich ermöglicht wurde dies den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden, der für durch Ausnahmeregelungen in diversen Corona- politische Parteien in Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. § 5 schutzverordnungen, die Kandidatenaufstellungsver- Abs. 1 PartG Ausdruck gefunden hat. Ein daraus re- sammlungen ausdrücklich vom Veranstaltungsverbot 1 Dr. Alexandra Bäcker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des 3 VG Stuttgart, Beschluss vom 18.11.2020 – 7 K 5102/20, juris. Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und 4 Parteienforschung (PRuF) an der Heinrich-Heine-Universität https://www.pressreader.com/germany/geislinger-zeitung/202 Düsseldorf. 01201/281487868913416, abgerufen am 19.02.2021. 5 2 S. grundlegend dazu Sophie Schönberger, Zwischen Parteitag S. etwa die Zusammenstellung unter https://www.bw24.de/ und Fernsehshow – Parteienrecht in Zeiten der Corona-Pan- stuttgart/coronavirus-baden-wuerttemberg-afd-parteitag-messe- demie, in diesem Heft, S. 16 ff., und Fabian Michl, Anything stuttgart-februar-alice-weidel-baden-wuerttemberg-absage-90 goes! – Zur Aufstellung von Wahlbewerbern in der Covid-19- 168269.html, abgerufen am 19.02.2021. 6 Pandemie, in diesem Heft, S. 23 ff. VG Kassel, Beschluss vom 25.11.2020 – 3 L 2106/20.KS, juris. doi:10.24338/mip-202167-79 67
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung Bäcker – Chancengleichheit MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 sultierender derivativer Zugangsanspruch7 bestand eine Kapazitätsüberschreitung auch konkret gegeben auch zugunsten des AfD-Kreisverbandes, da das ist. Daran fehlt es, wenn weder bereits bestehende Re- Bürgerhaus nach der Gebührenordnung sowohl Orts- servierungen noch anderweitige Nutzungsanfragen ansässigen wie auch Auswärtigen zur Nutzung über- der Verfügbarkeit der öffentlichen Einrichtung entge- lassen wird und auch in der Vergangenheit bereits genstehen. Allein der „fromme“ Wunsch des Bürger- politischen Parteien zur Verfügung gestellt worden meisters, das Bürgerhaus im Falle einer – zudem pan- war. Mit anderen Worten: Die Widmung der öffent- demiebedingt sehr unwahrscheinlichen – möglichen lichen Einrichtung stand einer Überlassung an den Öffnung auch für andere Veranstaltungen prioritär AfD-Kreisverband jedenfalls nicht entgegen. Zwar den ortsansässigen Sportvereinen wieder zur Nutzung bestand nach der Verordnung zur Beschränkung von überlassen zu wollen, taugt allerdings nicht als recht- sozialen Kontakten und des Betriebes von Einrich- licher Maßstab für die Entscheidung über den Zu- tungen und von Angeboten aufgrund der Corona- gangsanspruch. Mangels tatsächlich bestehender Ka- Pandemie (CoKoBeV) grundsätzlich ein Nutzungs- pazitätsauslastung war dem AfD-Kreisverband der verbot für das Bürgerhaus zu Versammlungszwecken, Zugang zum Bürgerhaus daher zu gewähren. von dem aber auch Ausnahmen vorgesehen waren. Demgegenüber scheiterte der AfD-Kreisverband Coes- Zusammenkünfte von Personen, die aus geschäftlichen, feld vor dem VG Münster9 mit dem Versuch, einen beruflichen, dienstlichen, schulischen oder betreuungs- Anspruch gegen die Gemeinde Nottuln auf Überlas- relevanten Gründen unmittelbar zusammenarbeiten sung einer gemeindeeigenen öffentlichen Einrichtung müssen, sowie Sitzungen und Gerichtsverhandlungen zur Kandidatenaufstellung für die nordrhein-westfäli- waren von dem Verbot ausgenommen. Ein Ergän- schen Kommunalwahlen durchzusetzen. Zwar erlaubte zungserlass des Hessischen Ministeriums des Innern auch die nordrhein-westfälische Coronaschutzverord- und für Sport vom 3. November 2020 stellte klar, dass nung, Aufstellungsversammlungen als gesetzlich ge- Parteiveranstaltungen, die zur Durchführung und Vor- fordertem Bestandteil eines demokratischen Wahlver- bereitung von allgemeinen Wahlen erforderlich sind fahrens durchzuführen. Erlaubt heißt aber nur, dass es (wie die Kandidatenaufstellung nach § 12 KWahlG nach den geltenden Sonderregelungen im Zusammen- Hessen) unter die Ausnahmeregelung der CoKoBeV hang mit der Corona-Pandemie nicht verboten ist. Ob fallen. Der Überlassung stand folglich auch insofern zugleich ein Rechtsanspruch auf Zugang zu geeigne- kein rechtlicher Hinderungsgrund entgegen. Seiner ten Räumlichkeiten besteht, ist nach den dafür jeweils konkreten Beschaffenheit nach war das Bürgerhaus geltenden weiteren Regelungen zu beurteilen. Ein ori- auch geeignet, die Kandidatenaufstellungsversamm- ginärer Zugangsanspruch zu dem von der Gemeinde lung unter Einhaltung der Abstands- und Hygienere- Nottuln als öffentliche Einrichtung betriebenen Bür- geln durchzuführen. Bewegte sich die begehrte Benut- gerhaus scheiterte jedoch an der auch in der nord- zung der öffentlichen Einrichtung damit insgesamt im rhein-westfälischen Gemeindeordnung zur Vorausset- Rahmen des geltenden Rechts, konnte dem Anspruch zung gemachten Ortsansässigkeit. Der antragstellende auf Benutzung allein noch die Kapazitätserschöpfung AfD-Kreisverband hatte seinen Sitz in Coesfeld und als Grund für die Verweigerung des Zugangs entge- nicht in der Gemeinde Nottuln. Ein derivativer Zu- gengehalten werden. Unabhängig davon, nach wel- gangsanspruch nach Maßgabe der Überlassungspraxis chen Kriterien unter den Bewerbern auszuwählen ist, unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes wenn die Kapazität einer öffentlichen Einrichtung scheiterte daran, dass die Gemeinde Nottuln am 27. nicht ausreicht, um der Nachfrage uneingeschränkt März 2020 ihre Richtlinien für die Nutzung von Lie- gerecht zu werden8, ist eine Auswahlentscheidung genschaften und Räumen in rechtlich zulässiger Weise aber jedenfalls nur und erst dann zu treffen, wenn – vor Antragstellung durch den AfD-Kreisverband – 7 Anders Friedrich Schoch, Rechtsprechungsentwicklung – Zu- dahingehend geändert hatte, dass politischen Parteien gang zu kommunalen öffentlichen Einrichtungen, in: NVwZ in den letzten sechs Monaten vor einer Wahl keine 2016, 257 (262), plädiert demgegenüber dafür, die „Einwoh- gemeindeeigenen Räumlichkeiten für Veranstaltungen nerklausel“ der Gemeindeordnungen der Länder für die durch gleich welcher Art zur Verfügung gestellt werden. Es § 9 PartG verpflichtend vorgeschriebenen Parteitage und die nach Art. 21 Abs. 1 GG geschützten Wahlkampfveranstaltun- mag – bei Lichte betrachtet – für eine solche Ände- gen durch Bundesrecht partiell als derogiert zu behandeln und rung der Verwaltungspraxis nicht der ideale Zeit- nimmt insoweit einen originären Zugangsanspruch an; offen punkt gewesen sein: Das Pandemie-Geschehen hatte gelassen bei Andreas Heusch, Demokratischer Wettbewerb bereits deutlich an Fahrt aufgenommen und eine unter auf kommunaler Ebene, in: NVwZ 2017, 1325 (1330 f., Fn. 52). 8 diesen erschwerten Bedingungen durchzuführende Ausführlich dazu jüngst Thomas Spitzlei, Die Auswahlkriteri- en beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen im Fall der 9 Kapazitätserschöpfung, in: JA 2020, 372 ff. VG Münster, Beschluss vom 23.07.2020 – 1 L 598/20, juris. 68 doi:10.24338/mip-202167-79
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Bäcker – Chancengleichheit Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung Kommunalwahl stand vor der Tür. Aber formal steht über einen Wahlvorschlag“ von der elektronischen es „einem Träger öffentlicher Gewalt [...] grundsätz- Kommunikation ausgeschlossen ist und stattdessen im lich frei, seine Vergabepraxis aus wichtigem Grund Wege der Briefwahl oder Urnenwahl stattfinden muss12. für die Zukunft zu ändern, solange vor der Änderung Am 14. Januar 2021 stellte der Bundestag formal fest, der Vergabepraxis gestellte Anträge noch auf der dass die Durchführung von Wahlveranstaltungen Grundlage der bisherigen Praxis bearbeitet werden. derzeit zumindest teilweise unmöglich ist13. Darauf- [...] Ein wichtiger Grund für die Änderung ist in dem hin ist am 3. Februar 2021 nach Zustimmung des Bestreben [...] zu sehen, durch die Regelung jeglichen Bundestages die Verordnung des Bundesinnenminis- Eindruck einer parteipolitischen Stellungnahme oder teriums über die Aufstellung von Wahlbewerbern Bevorzugung einer Partei oder Wählergruppe [...] und die Wahl der Vertreter für die Vertreterver- fortan zu vermeiden.“10 Zwar hätte die Gemeinde Not- sammlungen für die Wahl zum 20. Deutschen Bun- tuln eine zeitlich befristete Ausnahme von ihrer Richt- destag unter den Bedingungen der COVID-19-Pan- linie beschließen oder deren Geltung bis zum Kom- demie vom 28. Januar 2021 in Kraft getreten14. Diese munalwahltermin aussetzen können, um den schwieri- COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung er- gen Bedingungen, unter denen in Zeiten einer Pande- möglicht aufgrund der derzeitigen pandemiebeding- mie eine Kommunalwahl zu organisieren ist, Rech- ten Beschränkungen, von der Pflicht zur Durchfüh- nung zu tragen. Rechtlich verpflichtet war sie dazu je- rung von Präsenzversammlungen zur Wahl der Be- doch nicht. Dass dies zwar wünschenswert gewesen werber und der Vertreter für Vertreterversammlun- wäre, aber nicht zwingend, hat auch das nord- gen abzuweichen. Zugelassen sind die Durchführung rhein-westfälische Innenministerium mit Hinweisen einer Versammlung ausschließlich im Wege elektro- zum weiteren Wahlverfahren vom 20. Mai 2020 nischer Kommunikation, die Teilnahme einzelner – zeitlich nach der Änderung der Richtlinie durch die oder eines Teils der Parteimitglieder an einer Ver- Gemeinde Nottuln – deutlich gemacht, indem es die sammlung im Wege elektronischer Kommunikation, Gemeinden dazu aufforderte, die Parteien bei der Er- die Durchführung einer Versammlung durch mehrere füllung der notwendigen infektionsschutzrechtlichen miteinander im Wege der elektronischen Kommuni- Voraussetzungen insbesondere durch das Angebot ge- kation verbundene gleichzeitige Teilversammlungen eigneter Räumlichkeiten zu unterstützen, zugleich an verschiedenen Orten sowie die Wahlbewerberauf- aber auch darauf hinwies, dass Wahlvorschlagsträger stellung im schriftlichen Verfahren. Dies gilt aller- insofern nicht ausschließlich auf die Kommune ange- dings nur für die Vorauswahl unter den Bewerbern, wiesen seien, sondern nach der Coronaschutzverord- die Schlussabstimmung über einen Wahlvorschlag nung nunmehr auch wieder alternative Tagungsräume kann nur im Wege der Urnenwahl, der Briefwahl oder wie Gaststätten suchen könnten11. einer Kombination aus Brief- und Urnenwahl durch- Um den mit dem Pandemie-Geschehen verbundenen Schwierigkeiten bei der Kandidatenaufstellung in 12 Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Geset- Präsenzveranstaltungen entgehen zu können, hat der zes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Bundestag am 9. Oktober 2020 mit Blick auf die in Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Be- kämpfung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie vom diesem Jahr am 26. September stattfindende Bundes- 28.10.2020, BGBl. I 2020 Nr. 49, S. 2264 f.; kritisch zur Ver- tagswahl vorsorglich das Bundeswahlgesetz geän- ordnungsermächtigung Anna von Notz, It’s Democracy, Stupid!: dert. Unter der Voraussetzung, dass der Bundestag Von einem Gesetzgeber, der dem Bundesinnenministerium in „im Falle einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Demokratiefragen mehr zutraut als den politischen Parteien, VerfBlog, 2020/10/19, https://verfassungsblog.de/its-democra Ereignisses höherer Gewalt“ feststellt, dass Kandidaten- cy-stupid/, DOI: 10.17176/20201019-233516-0; Fabian Michl, aufstellungsversammlungen ganz oder teilweise un- Bundestag macht Unmögliches möglich: Aufstellung von Kan- möglich sind, wird das Bundesinnenministerium er- didaten für die Bundestagswahl 2021, VerfBlog, 2021/1/14, mächtigt, eine Verordnung zu erlassen, die die Beru- https://verfassungsblog.de/bundestag-macht-unmogliches-mo fung von Wahlkandidaten ohne Präsenzversammlun- glich/, DOI: 10.17176/20210115-061729-0; zur entsprechen- den Verordnungsermächtigung im nordrhein-westfälischen gen erlaubt (§ 52 Abs. 4 BWahlG). Sofern der Bun- Gesetzentwurf, Sophie Schönberger, Stellungnahme zum Ent- destag der Verordnung zustimmt, können dann Kandi- wurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Landeswahlge- datenaufstellungsversammlungen auch digital durch- setzes, LT NRW, Stellungnahme 17/3423, S. 2 ff., https:// geführt werden, wobei aber die „Schlussabstimmung www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokum ent/MMST17-3423.pdf, abgerufen am 16.02.2021. 10 13 VG Münster, Beschluss vom 23.07.2020 – 1 L 598/20, juris BT-Drs 19/25816 (Antrag), http://dipbt.bundestag.de/dip21/ Rn. 22, 24. btd/19/258/1925816.pdf. 11 14 https://www.im.nrw/system/files/media/document/file/200520 COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung, BGBl. I _2coronaerlass.pdf, abgerufen am 11.02.2021. 2021 Nr. 4, S. 115 f. doi:10.24338/mip-202167-79 69
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung Bäcker – Chancengleichheit MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 geführt werden, dies allerdings selbst dann, wenn dies geben hätten, oder stattdessen auf eine Stimmabgabe nach der Satzung der Partei nicht vorgesehen ist. zu verzichten und damit auch den von ihnen ge- wünschten Kandidaten ihre Zustimmung zu entzie- Den Erläuterungen des Bundeswahlleiters zufolge hen, gerät dies in Konflikt mit den Wahlrechtsgrund- dient die Regelung zur Schlussabstimmung „der Ein- sätzen der Freiheit und Gleichheit der Wahl18. haltung der Wahlgrundsätze im Verfahren der Wahl- bewerberaufstellung. Der Wahlgrundsatz der Öffent- Auch der Bundeswahlleiter geht in seinen aktuellen lichkeit der Wahl aus Artikel 38 in Verbindung mit Hinweisen vom 3. Februar 2021 zur Durchführung Artikel 20 Absatz 1 und 2 Grundgesetz gebietet nach von Aufstellungsversammlungen für Bundestags- der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wahlen von der Unzulässigkeit der strikten Block- dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher wahl aus19, und zwar ohne die nach der COVID-19- Überprüfbarkeit unterliegen. Elektronische Abstim- Wahlbewerberaufstellungsverordnung offenbar vor- mungsverfahren sind darum im Verfahren der Wahl- gesehene Ausnahme zu erwähnen. Zwar wurden die bewerberaufstellung nicht für die Schlussabstimmung Hinweise augenscheinlich in erster Linie für die über die Wahlbewerber und die Vertreter zugelassen. nach wie vor möglichen Präsenzversammlungen er- Bei der Wahlbewerberaufstellung können elektroni- stellt. Für die daneben möglichen weiteren Verfah- sche Verfahren nur zur Vorermittlung, Sammlung ren der Kandidatenaufstellung wird explizit auf die und Vorauswahl der Bewerbungen benutzt werden. Hinweise zur Anwendung der COVID-19-Wahlbe- Sie sind also nur im Vorfeld und als Vorverfahren werberaufstellungsverordnung verwiesen. Dort aller- zur eigentlichen, schriftlich mit Stimmzetteln ge- dings findet sich zu dieser Frage nichts. heim durchzuführenden Abstimmung der Stimmbe- Zugegebenermaßen hätte es dazu auch nicht viel zu rechtigten zulässig“15. Als Schlussabstimmung soll sagen gegeben, außer, dass – sofern eine Partei die- dabei nur die endgültige Abstimmung über einen ses Verfahren der Kandidatenaufstellung zur An- Wahlvorschlag zu verstehen sein und damit „die ver- wendung bringt – der in der strikten Blockwahl lie- bindliche Abstimmung über denjenigen Kandidaten, gende Verstoß gegen die Freiheit und Gleichheit der den die Mehrheit im elektronischen Abstimmungs- Wahl durch Verkürzung der aktiven Statusrechte der verfahren als Wahlkreisbewerber gewählt hat, oder Parteimitglieder20 per Verordnung (!) für hinnehm- über die im elektronischen Abstimmungsverfahren bar erklärt wurde. In der Beschlussempfehlung des durch die Mehrheit aufgestellte Landesliste mit Ausschusses für Inneres und Heimat zur COVID-19- sämtlichen Bewerbern und deren Reihenfolge“16. Wahlbewerberaufstellungsverordnung heißt es dazu Eine so verstandene Schlussabstimmung birgt je- auch lediglich, dass es organisatorisch und zeitlich doch ein Problem: Darf die Schlussabstimmung „en nur schwer durchführbar sei, den in der elektronischen bloc“ über die Landesliste im Ganzen („mit sämtli- Abstimmung unterlegenen Bewerbern die Möglich- chen Bewerbern und deren Reihenfolge“) erfolgen17, keit der Teilnahme an der Schlussabstimmung zu er- stößt ein solches Verfahren durchaus auf Bedenken: möglichen. „Die Aufstellung der Landesliste einer Sofern die Abstimmungsberechtigten gezwungen Partei gemäß § 27 BWahlG mit streitigen Abstim- sind, entweder auch Kandidaten „mit“ zu wählen, mungen für einzelne Listenplätze und der Möglich- denen sie bei einer Einzelwahl ihre Stimme nicht ge- keit der Bewerbung für mehrere Listenplätze ist als Briefwahl oder einer Kombination aus Brief- und Bundeswahlleiter, Hinweise zur Anwendung der COVID-19- Urnenwahl aus praktischen Gründen unmöglich.“ 21 15 Wahlbewerberaufstellungsverordnung vom 08.02.2021, S. 25, 18 https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/3798f833-2590-484 Johann Hahlen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 21 3-9a7d-6e17de63c0f2/btw21_hinweise-covid-19-wahlbewerb Rn. 41 § 27 Rn. 21b. 19 eraufstellungs-vo.pdf, abgerufen am 12.02.2021. Bundeswahlleiter, Hinweise zur Durchführung von Aufstel- 16 Bundeswahlleiter, Hinweise zur Anwendung der COVID-19- lungsversammlungen für Bundestagswahlen vom 03.02.2021, Wahlbewerberaufstellungsverordnung vom 08.02.2021, S. 24, S. 34, https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/42eac9e4-85 https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/3798f833-2590-484 6c-42f6-94c1-4503e8d5f878/btw_leitfaden_aufstellungsversa 3-9a7d-6e17de63c0f2/btw21_hinweise-covid-19-wahlbewerb mmlung.pdf, abgerufen am 12.02.2021. 20 eraufstellungs-vo.pdf, abgerufen am 12.02.2021. So schon Jürgen Seifert, „Blockwahlsystem“ und innerparteili- 17 Dass die Regelung in dieser Weise zu verstehen sein soll, er- che Demokratie, in: Kritische Justiz 1969, 284 (287 ff.), https:// gibt sich aus einem Redebeitrag des Abgeordneten Friedrich doi.org/10.5771/0023-4834-1969-3-184; ähnlich Sophie- Straetmanns im Rahmen der Beratung der Beschlussempfeh- Charlotte Lenski, Parteiengesetz und Recht der Kandidaten- lung und des Berichts des Ausschusses für Inneres und Hei- aufstellung, 2011, § 15 PartG Rn. 9, § 21 BWahlG Rn. 82. 21 mat zur COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsverordnung, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inne- Plenarprotokoll des Bundestages 19/206 vom 28.02.2021, res und Heimat zur COVID-19-Wahlbewerberaufstellungsver- 26026, https://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19206.pdf. ordnung, BT-Drs 19/26244, S. 6. 70 doi:10.24338/mip-202167-79
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Bäcker – Chancengleichheit Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung In der Tat: So denn Kandidatenaufstellungsver- chen, bleibt abzuwarten24. Dringend anzuraten ist je- sammlungen in Präsenz verzichtbar sein sollen bzw. doch, die Schlussabstimmung dann nicht als Ja- müssen, lässt das vorherrschende Verständnis von Nein-Abstimmung über die Liste „mit sämtlichen einer dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ge- Bewerbern und deren Reihenfolge“ auszugestalten. nügenden Wahlhandlung, deren wesentlichen Schrit- Wenn in der Schlussabstimmung aus tatsächlichen te öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen müssen, Gründen wegen der bei einer Briefwahl gegebenen wohl tatsächlich keine andere Wahl: Danach sind zeitlichen Restriktionen schon kein Einfluss auf die Brief- und/oder Urnenwahl derzeit „alternativlos“. Zusammensetzung der Liste genommen werden Die Einbuße der Möglichkeit, den bei der – wenn- kann, muss die Stimmabgabe wenigstens die Rei- gleich „unverbindlichen“ – Vorauswahl unterlege- hung der Kandidaten auf der Liste zumindest poten- nen Kandidatinnen und Kandidaten eine Teilnahme tiell verändern können. Auch damit wäre aber das an der schriftlichen Schlussabstimmung zu ermögli- Risiko nicht ausgeräumt, dass schon in der Voraus- chen, ist aufgrund der limitierenden Wirkung des wahl unterlegene und damit unzufriedene Bewerber Faktors Zeit bei der Organisation und Durchführung gerichtlich erfolgreich gegen die Kandidatenaufstel- des Massenverfahrens Wahl unvermeidbar. lung vorgehen, nachgängig im Wege der Wahlprü- fung, aber unter Umständen auch schon vor der Unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung elementa- Wahl mit einer Verfassungsbeschwerde25. Verfas- rer Verfahrensgrundsätze einer demokratischen sungsrechtlich weist die Beschneidung der Geltung Wahl ist das Verfahren der (strikten) Blockwahl al- der Wahlgrundsätze durch den Verordnungsgeber je- lerdings verfassungsrechtlich bedenklich, weil die denfalls reichlich Konfliktpotential auf. freie Auswahlmöglichkeit der wahlberechtigten Par- teimitglieder unter den Bewerbern und damit der Letztlich darf diese demokratiewesentliche Entschei- dem demokratischen Prinzip innewohnende Minder- dung über das Verfahren der Kandidatenaufstellung heitenschutz beschnitten wird22. Eine „Wahl en auch nicht dem Verordnungsgeber überlassen blei- bloc“, die den Wahlberechtigten keinerlei Einfluss ben. Das Berufen auf die eine Notfalllösung erfor- auf die konkrete Zusammensetzung und Reihenfolge dernden besonderen Bedingungen der Corona-Pan- der Listenkandidaten belässt, ist keine Wahl, son- demie verliert immer mehr an Rechtfertigungspoten- dern eine Akklamation und genügt nicht dem Gebot tial und kann den parlamentarischen Gesetzgeber innerparteilicher Demokratie23. nicht auf Dauer aus seiner Verantwortung entlassen, die aktuell entwickelten Notfallmechanismen verfas- Letztlich entspräche also weder die „unverbindliche sungskonform gesetzlich nachzuzeichnen. Vorauswahl“ unter den Bewerbern – die wegen der Verwendung elektronischer Abstimmungsverfahren Deutlich geworden ist zudem, dass der Gesetzgeber dem Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit der Wahl sich verstärkt um die Entwicklung elektronischer nicht genügt – noch eine als strikte Blockwahl Wahlverfahren bemühen sollte, die „ein auf Nach- durchgeführte Schlussabstimmung – die mit den vollziehbarkeit gegründetes Vertrauen des Wahl- Wahlgrundsätzen der Freiheit und Gleichheit der volks in die Korrektheit des Verfahrens bei der Er- Wahl kollidiert – dem Demokratieprinzip. Die Kan- mittlung des Wahlergebnisses ermöglichen und da- didatenaufstellung wird auch nicht dadurch demo- mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ge- kratisch, dass sie in zwei unzulänglichen Verfahren nügen“26. Wahlen sind Massenverfahren, die in ei- erfolgt, die nur „zusammengerechnet“ möglicher- nem überschaubaren Zeitraum ein verbindliches le- weise allen Wahlgrundsätzen gerecht werden. Auch soweit dadurch den besonderen Bedingungen in Pan- 24 Innerhalb der FDP besteht offensichtlich kein Bedarf, so der demie-Zeiten gegenständlich und zeitlich begrenzt Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle im Rahmen der Be- Rechnung getragen wird, wäre eine strikte Block- ratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- schusses für Inneres und Heimat zur COVID-19-Wahlbewer- wahl, die nach der Verordnung aber zulässig sein beraufstellungsverordnung, Plenarprotokoll des Bundestages soll, wohl nicht hinnehmbar. 19/206 vom 28.02.2021, 26025, https://dip21.bundestag.de/ dip21/btp/ 9/19206.pdf. Ob überhaupt Parteien von den durch die Verord- 25 nung eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch ma- Den Weg dazu bereitet hat der VerfGH Sachsen, Urteil vom 25.07.2019 – Vf. 77-IV-19 (e.A.), Vf. 82-IV-19 (e.A.), juris, 22 der im Falle der teilweisen Nichtzulassung der AfD-Landes- BVerfGE 89, 243 (264). liste zur Landtagswahl ausnahmsweise keinen Vorrang der 23 So ausdrücklich das Bundesparteigericht der CDU, Beschluss nachgängigen Wahlprüfung vor der Verfassungsbeschwerde vom 06.03.1992 – BPG 3/91, im Volltext abrufbar unter https:// annahm und so Rechtsschutz auch schon vor der Wahl ermög- docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate- lichte; kritisch und mit anderer Auffassung Alexander Brade, 34178/CDU91-03.pdf, abgerufen am 15.02.2021. Präventive Wahlprüfung?, in: NVwZ 2019, 1814 ff. doi:10.24338/mip-202167-79 71
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung Bäcker – Chancengleichheit MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 gitimationsverschaffendes Ergebnis hervorbringen dingt mehrfacher Verschiebung28 des eigentlich ge- müssen. Die Corona-Pandemie hat die limitierende planten Parteitages die CDU, um so den vakanten Wirkung des Faktors Zeit hierfür noch einmal unter- Posten des Vorsitzenden neu zu besetzen und turnus- strichen. Auch Demokratie muss mit dem vielbe- mäßig den Bundesvorstand neu zu wählen29. Die schworenen Aufbruch einer Gesellschaft in die digi- AfD hielt demgegenüber, unbeeindruckt von der tale Zukunft Schritt halten können. Entwicklung des Infektionsgeschehens, an der Über- zeugung von auch unter Pandemiebedingungen reali- Dies gilt nicht nur für die dem staatlichen Wahlver- sierbaren Präsenzparteitagen fest und versuchte fahren zugehörige Kandidatenaufstellung, sondern mehrfach, sich dafür gerichtlich Zugang zu öffentli- auch die „rein“ innerparteiliche Willensbildung, der chen Einrichtungen zu erstreiten. So ersuchte die die Parteitage dienen. Auch diese sind nach den par- bayerische AfD vor dem VG Ansbach30 und in teiengesetzlichen Regelungen als Präsenzveranstal- tungen gedacht und auch für diese hat der Gesetzge- zweiter Instanz vor dem VGH Bayern31 jeweils er- ber anlässlich der Corona-Pandemie inzwischen folglos um Eilrechtsschutz, um einen mit 751 Teil- Ausnahmeregelungen geschaffen, die aber bestimm- nehmern am 21. November 2020 geplanten Landes- te Gegenstände der Willensbildung von der grund- parteitag durchführen zu können. Die ursprünglich sätzlich eingeräumten Möglichkeit zur Entscheidung auf Grundlage der zu diesem Zeitpunkt gültigen per elektronischem Abstimmungsverfahren ausneh- Sechsten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmen- men. Dies betrifft generell die Beschlussfassung verordnung erteilte Ausnahmegenehmigung hatte über die Satzung und – wie bei den Ausnahmereg- das Landratsamt Roth widerrufen und gleichzeitig lungen zur Kandidatenaufstellung – die Schlussab- die Neuerteilung einer Ausnahmegenehmigung auf stimmung bei allen innerparteilichen Wahlen nach der Grundlage der nunmehr geltenden Achten Baye- § 9 Abs. 4 PartG27. Alternativ zur Präsenzveranstal- rischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ver- tung sind hier lediglich die Abstimmung oder Wahl sagt. Bei der im Rahmen des Eilrechtsschutzes vor- per Brief- und/oder (auch zeitlich versetzter) Urnen- zunehmenden Interessenabwägung kamen die Ge- wahl an verschiedenen Orten erlaubt. Da aber die richte zu dem Schluss, dass die Erfolgsaussichten Parteien nach dem Parteiengesetz verpflichtet sind, der gegen den angegriffenen Bescheid gerichteten in regelmäßigen Abständen, mindestens in jedem Klage in der Hauptsache zwar als offen anzusehen zweiten Kalenderjahr, Parteitage abzuhalten (§ 9 28 Zu den Problemen pandemiebedingter Verschiebungen partei- Abs. 1 S. 3 PartG), Vorstände (§ 11 Abs. 1 PartG), engesetzlich geforderter innerparteilicher Wahlen Jendrik Delegierte (§ 8 Abs. 1 PartG) und Mitglieder von Wüstenberg, „Verschieberitis“: Verstoß gegen das innerpar- teiliche Demokratieprinzip?, JuWissBlog Nr. 128/2020 vom allgemeinen Parteiausschüssen und ähnlichen Ein- 04.11.2020, https://www.juwiss.de/128-2020/, abgerufen am richtungen (§ 12 Abs. 3 PartG) zu wählen, stellen 17.02.2021. die in Pandemie-Zeiten geltenden Kontaktverbote 29 Die praktischen Probleme der auf Grundlage der neuen ge- auch für diesen Bereich der innerparteilichen Wil- setzlichen Regelung durchgeführten Briefwahl nach einem di- lensbildung eine große Herausforderung dar. Die gitalen Parteitag löste die CDU zwar einfallsreich, aber an- Parteien sind in zentralen Fragen der innerparteili- greifbar: Bei ihrem Parteitag auf elektronischem Wege wur- den zwar nur unverbindliche „Probeabstimmungen“ durchge- chen Demokratie wie der Besetzung von Wahläm- führt. Das so ermittelte „Stimmungsbild“ setzte sich bei der tern und gegebenenfalls notwendiger Anpassungen formal gesetzeskonform als Briefwahl durchgeführten Schluss- der in der Satzung niedergelegten Organisations- abstimmung allerdings insofern durch, als dass die Kandida- und Entscheidungsregeln gezwungen, entweder das ten sich vor der „Probeabstimmung“ dazu verpflichten ließen, bei Unterliegen in der Probeabstimmung für die eigentliche langwierige und begrenzt praktikable Verfahren der Abstimmung im Wege der Briefwahl nicht mehr anzutreten. (auch kombinierbaren) Brief- und/oder Urnenwahl Dass darin ein Verstoß gegen das passive Wahlrecht der Be- zu wählen oder zu versuchen, der Pandemie zum werber und eine bewusste Umgehung von Sinn und Zweck Trotz Präsenzparteitage abzuhalten. Zu ersterem ent- der gesetzlichen Regelung zu sehen ist, moniert zu Recht So- schloss sich nach langem Ringen und pandemiebe- phie Schönberger, Stellungnahme zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Landeswahlgesetzes, LT NRW, Stellungnahme 17/3423, S. 2 ff., https://www.landtag.nrw.de/ portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST17-3423.pdf, 26 Nicht mehr, aber auch nicht weniger verlangt das BVerfG in abgerufen am 16.02.2021; dies., Zwischen Parteitag und seiner Wahlcomputer-Entscheidung, BVerfGE 123, 39 (74). Fernsehshow – Parteienrecht in Zeiten der Corona- Pandemie, 27 in diesem Heft, S. 16 (21). Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Geset- 30 zes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, VG Ansbach, Beschluss vom 19.11.2020 – AN 18 S Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Be- 20.02484, juris. 31 kämpfung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie vom VGH Bayern, Beschluss vom 20.11.2020 – 20 CS 20.2729, 28.10.2020, BGBl. I 2020 Nr. 49, S. 2264 f. juris. 72 doi:10.24338/mip-202167-79
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Bäcker – Chancengleichheit Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung sind, aber die Belange der AfD bei der danach im gen der Betätigungsfreiheit der Parteien für verhält- Eilrechtsschutz allein gebotenen Abwägung der je- nismäßig: „Dabei verstößt es nicht gegen Art. 3 weils berührten Interessen hier zurücktreten müs- Abs. 1 GG, dass die Aufstellung von Kandidat*in- sen32. Das veränderte Infektionsgeschehen in Bayern nen als Kernbereich der politischen Betätigungsfrei- erfülle tatbestandlich die Voraussetzungen des in der heit privilegiert wird, während der Landesparteitag ursprünglich erteilten Ausnahmegenehmigung ent- an dieser Privilegierung nicht teilnimmt und nur mit haltenen Widerrufsvorbehalts für den Fall einer Ver- einer beschränkten Personenzahl stattfinden kann. schärfung des COVID-19-Pandemiegeschehens und Es handelt sich mit Blick auf die verfassungsrechtli- verhindere zugleich die Neuerteilung einer Geneh- che Relevanz beider Veranstaltungen bereits nicht migung. Vor dem Hintergrund des tatsächlichen In- um gleiche Sachverhalte, denn Aufstellungsveran- fektionsgeschehens und der damaligen Lagebeurtei- staltungen von Bewerber*innen für anstehende lung des Robert-Koch-Instituts erschien die Gefahr, Wahlen sichern die in Art. 20 Abs. 2 und Art. 38 GG einen Infektionsherd zu schaffen, der zu einer räum- verankerte Souveränität des Volkes im Rahmen der lichen Verbreitung von Infektionen im gesamten Ge- repräsentativen Demokratie durch die uneinge- biet Bayerns führen könnte, besonders groß: Ange- schränkte Ermöglichung und Abhaltung freier Wah- sichts einer auf eine etwa neunstündige gleichzeitige len. Im Rahmen dessen sind die Parteien für Wahlen Anwesenheit von bis zu 751 Personen eines bayern- und die politische Willensbildung unabdingbar. Dem weiten Teilnehmerkreises in geschlossenen Räum- trägt Art. 21 GG Rechnung. Der Landesparteitag lichkeiten ausgelegten Tagesordnung, sei dem Ge- dient hingegen vornehmlich der inneren Parteiorga- sundheitsschutz der Bevölkerung der Vorrang vor nisation, vgl. § 9 Abs. 3 bis 5 PartG. Es ist auch den Interessen des AfD-Landesverbandes einzuräu- nicht ersichtlich, dass die Aufgaben nach § 9 men, zumal auch das Infektionsschutzkonzept der Abs. 3 ff. PartG nicht durch ein kleineres Mitglieder- AfD für den geplanten Parteitag Mängel aufwies. gremium oder unter Verzicht auf eine Präsenzveran- staltung wahrgenommen werden können. Es wäre Auch das VG Schleswig-Holstein33 entschied im denkbar, dass ein Landesparteitag mit den anwesen- Eilverfahren, dass die Stadt Neumünster der AfD den Mitgliedern online live übertragen und den übri- Schleswig-Holstein eine Ausnahmegenehmigung für gen Mitgliedern Beteiligungsmöglichkeiten einge- die Abhaltung ihres Landesparteitags mit über 100 räumt werden. Selbst wenn Wahlen von Vorstands- Teilnehmern verweigern durfte. Während die Corona- mitgliedern [...] aufgrund des [...] Grundsatzes der Verordnung der Landesregierung für die am Folge- Öffentlichkeit der Wahl [...] nicht per Computer tag geplante und auch genehmigte Kandidatenauf- stattfinden könnten, könnte eine dem Landespartei- stellungsversammlung eine Ausnahme vom Verbot tag nachfolgende Abstimmung grundsätzlich per für Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmern Briefwahl erfolgen“34. vorsah, war dies für Parteitage nicht der Fall. Bei an- deren als den nach der Corona-Verordnung privile- Mit Wahlen untrennbar verbunden ist der Wahl- gierten Veranstaltungen bestand zwar die Möglich- kampf, der bei innerparteilichen Wahlen auf inner- keit, in besonderen Härtefällen eine Ausnahmege- parteilichen Kommunikationswegen gezielt an die nehmigung zu erteilen, wenn die Belange des Infek- jeweiligen Mitglieder gerichtet werden kann. Bei tionsschutzes nicht überwiegen. Die Stadt Neumüns- staatlichen Wahlen müssen sich die Parteien jedoch ter lehnte die Erteilung einer solchen Ausnahmege- an die gesamte Bevölkerung richten. Die Wahlsicht- nehmigung für den AfD-Landesparteitag jedoch ab. werbung im öffentlichen Straßenraum ist, trotz zu- Wegen der nach wie vor bestehenden Möglichkeit, nehmender Nutzung auch digitaler Wahlkampfmit- Kandidaten für bevorstehende Wahlen bei Veran- tel, dafür nach wie vor von großer Bedeutung35. Dies staltungen ohne Beschränkung der Teilnehmerzahl gilt gerade auch in Pandemie-Zeiten, in denen die aufzustellen, hielt das VG die mit der Versagung der Wahlkampfaktivitäten der Parteien weitgehend auf Ausnahmegenehmigung verbundenen Beschränkun- kontaktlose Werbung für die eigenen Ziele be- schränkt sind. Dabei ist die Wahlsichtwerbung poli- 32 „Dabei können allerdings – eben wegen des summarischen 34 Charakters des Eilverfahrens und seiner nur begrenzten Er- VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.11.2020 – 1 B kenntnismöglichkeiten – weder schwierige Rechtsfragen ver- 152/20, juris Rn. 27. tieft oder abschließend geklärt, noch komplizierte Tatsachen- 35 Dazu etwa Eva-Maria Lessinger/Christina Holtz-Bacha, feststellungen getroffen werden“, so zu Recht das VG Ansbach, Nicht von gestern – Die Parteienplakate im Bundestagswahl- Beschluss vom 19.11.2020 – AN 18 S 20.02484, juris Rn. 20. kampf 2017, in: Holtz-Bacha (Hrsg.), Die (Massen-)Medien 33 VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.11.2020 – 1 B im Wahlkampf, 2019, S. 125 ff., https://doi.org/10.1007/978- 152/20, juris. 3-658-24824-6_6. doi:10.24338/mip-202167-79 73
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung Bäcker – Chancengleichheit MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 tischer Parteien im öffentlichen Straßenraum nach erkundigt, ob für das Anbringen von Plakaten an La- einhelliger Rechtsprechung eine erlaubnispflichtige ternen eine Sondernutzungserlaubnis benötigt werde Sondernutzung. Es entspricht gefestigter Rechtspre- und welche sonstigen Vorschriften/Satzungen etc. chung, dass in Wahlkampfzeiten das den zuständi- für die Wahlwerbung zu beachten seien. Die Wäh- gen Gemeindebehörden eingeräumte Ermessen bei lergruppe erhielt hierauf die Antwort, dass „für das der Entscheidung über Anträge auf Erteilung von Anbringen von DIN A1-Plakaten im Stadtgebiet das Sondernutzungserlaubnissen für Wahlsichtwerbung beigefügte Formular“ zu verwenden sei. Das beige- hinsichtlich des „Ob“ auf Null reduziert ist, weshalb fügte Formular führte jedoch unter „Art der Plakatie- dann ein Anspruch besteht, in angemessener Weise rung“ auch das Format DIN A2 auf. Zudem über- Wahlsichtwerbung auf öffentlichen Straßen zu er- sandte die Stadt Passau die Plakatierungsverordnung möglichen. Dies gilt auch für Wählervereinigungen und eine Übersicht, in der ein „Sperrgebiet“ für auf kommunaler Ebene, da ihr Wahlvorschlagsrecht Wahlplakate eingezeichnet war. Ein Hinweis darauf, und die Chancengleichheit ihrer Kandidaten eben- dass ausschließlich DIN A1-Plakate verwendet wer- falls gewährleistet sein müssen, so jetzt auch das VG den dürfen, erfolgte nicht. Die Wählergruppe stellte Regensburg36. Bezogen auf das „Wie“, also darauf, daraufhin einen Antrag auf Erteilung einer Sonder- in welcher Weise dieser Anspruch zu erfüllen ist, ha- nutzungserlaubnis für die Plakatierung von Wahl- ben die Gemeinden allerdings durchaus einen Ge- sichtwerbung im Format DIN A2 und gab den Druck staltungsspielraum, bei dem sie aber an den Grund- ihrer Wahlplakate in Auftrag. Erst danach wies die satz der Chancengleichheit gebunden sind37 und ihr Stadt Passau erstmalig ausdrücklich darauf hin, dass Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächti- Plakate nur im Format DIN A1 zugelassen seien und gung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des erteilte letztlich auch nur eine insoweit beschränkte Ermessens einzuhalten haben (s. z.B. § 40 VwVfG Sondernutzerlaubnis. Dabei hat die Stadt Passau im NRW, Art. 40 BayVwVfG). Es ist den Gemeinden Rahmen der Ausübung des ihr zustehenden Ermes- dabei grundsätzlich unbenommen, Wahlsichtwer- sen aber die in der Verweigerung einer Sondernut- bung z.B. aus Gründen der Verkehrssicherheit oder zungserlaubnis für das Format DIN A2 liegende Er- zur Bewahrung des Stadtbildes vor Verschandelung schwernis der Teilnahme am Wahlkampf nicht hin- und Verschmutzung nur unter Auflagen zu erlauben reichend berücksichtigt. Die der Wählergruppe ent- und dies auch in allgemeinen Richtlinien oder Sat- stehenden zusätzlichen Kosten und der zusätzliche zungen festzulegen. Derlei Auflagen für die Plakat- Aufwand hätte insbesondere im Hinblick auf die werbung müssen aber erstens rechtsverbindlich an- Kürze der noch zur Verfügung stehenden Zeit zu ei- geordnet werden und sich zweitens innerhalb der ge- ner mit dem Chancengleichheitsgrundsatz nicht zu setzlichen Grenzen der Ermessensausübung halten. vereinbarenden Benachteiligung geführt, die sich An beidem fehlte es im Fall der seitens der Stadt auch nicht mit dem Schutz des Stadtbildes vor einer Passau zwar „gewollten“, aber nicht kommunizierten Vielzahl unterschiedlicher Formate von Wahlplaka- Beschränkung der Wahlsichtwerbung auf Plakate im ten rechtfertigen lässt. Die von der Stadt Passau be- Format DIN A1. Das VG Regensburg gab deshalb zweckte Einheitlichkeit der Plakatformate für Wahl- der Stadt Passau im Wege der einstweiligen Anord- werbung war nach Ansicht des VG Regensburg für nung auf, der erstmals zur bayerischen Kommunal- sich genommen nicht geeignet, einer Beeinträchti- wahl antretenden Wählergruppe „Zukunft Passau“ gung des Stadtbildes entgegenzuwirken, wenn ande- die beantragte Aufstellung von Plakaten im DIN A2- re Plakate, die nicht der Wahlwerbung dienen, auch Format zu genehmigen. Die Vorgabe, dass Wahlpla- in anderen Formaten zugelassen werden und zudem kate nur im DIN A1-Format zugelassen werden, war auf das Stadtbild nicht nur die Plakate auf gewidme- nicht ausdrücklich in der Plakatierungsverordnung ten Flächen einwirken, sondern auch Plakate auf pri- enthalten, sondern entsprach lediglich der geübten vaten Flächen, die jedoch ebenfalls auch in anderen Verwaltungspraxis, die allerdings der Wählergruppe Formaten als DIN A1 möglich sind. „Damit ist, auch im Vorfeld der Antragstellung nicht mit der notwen- wenn man die besondere Massivität der Plakatierung digen Klarheit mitgeteilt wurde. Vor der Beantra- im Wahlkampf berücksichtigt, nicht nachvollzieh- gung der Sondernutzungserlaubnis hatte sich die bar, wie mit dem Verbot kleinerer Wahlplakate noch Wählergruppe „Zukunft Passau“ per E-Mail danach eine weitere Beeinträchtigung des Stadtbildes ver- hindert werden soll“38. 36 VG Regensburg, Beschluss vom 20.02.2020 – RN 2 E 20.209, juris. 37 38 Karl-Ludwig Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, VG Regensburg, Beschluss vom 20.02.2020 – RN 2 E § 1 Rn. 79. 20.209, juris Rn. 33. 74 doi:10.24338/mip-202167-79
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 Bäcker – Chancengleichheit Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung Der Ideenreichtum der Gemeinden, wie einer aus ih- Konkurrent nur die jeweils sechste Straßenlaterne rer Sicht übermäßigen Plakatierung durch Limitie- nutzen darf“42. Zweitens ist das von der Stadt Ahaus rung der Plakatierungsmöglichkeiten mit Hilfe von der Ordnungsverfügung und vom VG Münster seiner Nebenbestimmungen zu Sondernutzungserlaubnissen Entscheidung zugrunde gelegte Verständnis der Auf- entgegengewirkt werden könnte, scheint allerdings lage rechtswidrig: „In dem Fall, dass sechs Parteien fast unerschöpflich. Dass auch die Stadt Ahaus dabei jeweils ein Sechstel der zur Verfügung stehenden La- die Grenzen des Rechts überschritten hat, hat das ternen für ihre Wahlplakate nutzten, bliebe – unab- OVG NRW39 in zweiter Instanz entschieden. Die hängig von der Anzahl der Straßenlaternen – kein Stadt hatte die Partei „BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN“ Platz mehr, um auch nur je ein Mindestmaß von 5% per Ordnungsverfügung aufgefordert, ihre Wahlpla- der für Parteiwerbung zur Verfügung stehenden Stra- kate an Laternen, an denen sich jeweils bereits ein ßenlaternen den übrigen Parteien für ihre Wahlwer- Wahlplakat anderer Parteien (AFD und Linke) befin- bung zu überlassen. Auch würde ein solches Szenario, det, abzuhängen und sich dabei auf eine Auflage in das die in Frage stehende Auflage ermöglichte, dazu der Sondernutzungserlaubnis bezogen, derzufolge führen, dass sechs Parteien in völlig gleichwertigem eine Plakatierung an nur jeder sechsten Straßenlater- Umfang am Straßenwahlkampf durch Plakatieren ne zugelassen ist, wobei zwischen zwei Plakaten ei- von Straßenlaternen teilnehmen könnten, ohne dass ner Partei mindestens fünf Straßenlaternen für ande- ihre Bedeutung und Größe berücksichtigt würde, re Parteien freizuhalten sind. Das VG Münster hatte was aber einen Verstoß gegen den Grundsatz der ab- in erster Instanz die Auflage ihrem „Wortlaut nach“ gestuften Chancengleichheit bedeuten würde“43. in dem Sinne verstanden, dass „innerorts an einer Dass eine strikt formale Gleichbehandlung aller Par- Straßenlaterne nur ein Wahlplakat angebracht wer- teien bei der Zuteilung von Plakatierungsmöglich- den darf“40 und die Nutzung bereits „belegter“ Stra- keiten für Wahlsichtwerbung eine Verfälschung des ßenlaternen als Verstoß gegen die Auflage und die Parteienwettbewerbs mit sich bringt, weil damit der Ordnungsverfügung daher als „offensichtlich recht- Anschein des gleichen Gewichts der verschiedenen mäßig“41 gewertet. Einem solchen Verständnis er- Parteien und Wählergruppen erweckt und der Wäh- teilte das OVG NRW zu Recht gleich in zweifacher ler über die wahre Bedeutung der einzelnen Parteien Hinsicht eine Absage. Erstens enthielt die Auflage und Wählergruppen getäuscht wird, hat auch das VG nach dem maßgeblichen Empfängerhorizont ein ent- Köln44 zu Recht betont. Ein Anspruch auf die im sprechendes Verbot nicht: „Die Auflage führt in dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bean- erläuternden Klammerzusatz den Abstand zwischen tragte Zuteilung weiterer Wahlwerbeflächen bestand zwei eigenen Plakaten und nicht den Abstand zu Pla- gleichwohl nicht, da die bislang im Stadtrat noch katen von anderen Parteien an; damit regelt sie bei nicht vertretene Wählergruppe auf Grundlage der ihr verständiger Betrachtung lediglich eine die verschie- bereits erteilten Sondernutzungserlaubnis Wahlsicht- denen Parteien und Wählergruppierungen treffende werbung im öffentlichen Straßenraum betreiben Verknappung von Werbeträgern, wohl um möglichst durfte, die das ihr zustehende Maß der Selbstdarstel- jeden Wahlbewerber mit Wahlplakaten zum Zuge lung im Verhältnis zu den anderen wahlwerbenden kommen zu lassen. Von einem Verbot der Doppel- Parteien und Wählergruppen bereits überschritt45. oder ‚Vollplakatierung‘ ist hingegen in der Auflage Der Chancengleichheitsgrundsatz schützt vor Be- nicht die Rede. Sie lässt sich auch nicht sinnvoll da- nachteiligungen im Wettbewerb, rechtfertigt aber hin verstehen. Die Auslegung der Auflage in der von keine Bevorzugung. der Antragsgegnerin und dem Verwaltungsgericht vorgenommenen Weise führte dazu, dass von dem Für eine erlaubnispflichtige Sondernutzung des öf- Antragsteller etwas Unmögliches verlangt würde. fentlichen Straßenraums kann auch von politischen Denn es ist angesichts der neun Parteien bzw. Parteien eine Sondernutzungsgebühr erhoben wer- Wählergruppierungen, die in Ahaus zur Kommunal- den, sofern sich die Gebühr innerhalb eines vertret- wahl am 13. September 2020 antreten, schon nach den Gesetzen der Mathematik nicht möglich, Doppel- 42 OVG NRW, Beschluss vom 10.09.2020 – 11 B 1353/20, juris belegungen von Laternen zu vermeiden, wenn jeder Rn. 15. 43 OVG NRW, Beschluss vom 10.09.2020 – 11 B 1353/20, juris 39 OVG NRW, Beschluss vom 10.09.2020 – 11 B 1353/20, juris. Rn. 24. 40 44 VG Münster, Beschluss vom 07.09.2020 – 8 L 746/20, juris VG Köln, Beschluss vom 28.08.2020 – 18 L 1510/20, juris, Rn. 7. Rn. 29. 41 45 VG Münster, Beschluss vom 07.09.2020 – 8 L 746/20, juris VG Köln, Beschluss vom 28.08.2020 – 18 L 1510/20, juris, Rn. 5. Rn. 31. doi:10.24338/mip-202167-79 75
Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung Bäcker – Chancengleichheit MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 1 baren Gebührenrahmens hält, so dass die beabsich- der zeitlich begrenzte Wahlkampf. Dies macht die tigte Meinungskundgabe dadurch nicht wesentlich sonstigen von Art. 21 Abs. 1 GG garantierten und in erschwert oder gar unmöglich gemacht wird46. Dass § 1 PartG näher umschriebenen ständigen öffentli- dies insbesondere auch für das dauerhafte Aufstellen chen Aufgaben der Parteien, dauernd an der öffentli- von Schaukästen im öffentlichen Straßenraum gilt, chen Meinungsbildung und Willensbildung mitzu- hat das VG Berlin47 entschieden und gab dem Berli- wirken, weniger gewichtig. Es ist auch einsichtig, ner Bezirksamt Reinickendorf Recht, das von einem dass das Recht der politischen Parteien, ihre Tätig- Kreisverband einer politischen Partei – anders als in keit werbewirksam zu erfüllen, zwischen den Wah- der Vergangenheit gehandhabt – Sondernutzungsge- len weniger vordringlich ist als im Wahlkampf, der bühren in Höhe von 4.988,16 Euro für den Zeitraum den Höhepunkt parteipolitischer Tätigkeit bildet und von einem Jahr forderte. An 27 Standorten im Kreis- alle Parteien gleichzeitig zum gesteigerten Wettbe- gebiet nutzte die Partei seit mehreren Jahrzehnten werb um die Wählerstimmen zwingt“48. Auch han- fest mit dem Boden verbundene Metall-Schaukästen delte es sich bei den fest im Boden verankerten, dau- im öffentlichen Straßenraum ganzjährig für Informa- erhaft aufgestellten Schaukästen nicht um gebühren- tionen der Partei. Dabei handelte es sich nach dem freie (mobile) Informationsstände, die begrifflich Berliner Straßengesetz (BerlStrG) um eine erlaub- nur für begrenzte Zeit eingerichtete Werbeanlagen nispflichtige Sondernutzung, für die auch keine Ge- (z.B. einen Tisch) erfassen49. Unter der Vorausset- bührenbefreiung oder -ermäßigung nach der Sonder- zung, dass die Sondernutzung im besonderen öffent- nutzungsgebührenverordnung vorgesehen war. Zwar lichen Interesse liegt oder die Gebührenerhebung auf sieht das BerlStrG vor, dass Werbeanlagen auf der Grund der Besonderheit des Einzelfalls zu einer Här- Straße in unmittelbarem Zusammenhang mit Wahlen te führen würde, hätte das Bezirksamt die Sonder- gebührenfrei sind. Dauerhafte und unabhängig von nutzungsgebühren auch ermäßigen oder sogar erlas- Wahlkampfzeiten für parteipolitische Werbung ein- sen können. Nach Ansicht des VG Berlin war der gesetzte Schaukästen sind davon jedoch nicht er- Anwendungsbereich dieser Ausnahmeregelung der fasst, auch wenn diese in Wahlkampfzeiten Wahl- Sondernutzungsgebührenverordnung aber nicht er- werbung enthalten mögen. Diese gebührenrechtliche öffnet, da es weder Anhaltspunkte für eine besonde- „Differenzierung zwischen Wahlkampf- und sonsti- re Härte gab, noch die Sondernutzung im besonderen gen Zeiten – wie sie der Sondernutzungsgebühren- öffentlichen Interesse liegt. Dafür genüge es nicht, verordnung zugrunde liegt – [ist] zulässig. ‚Gipfel‘ dass ein besonderes öffentliches Interesse an der bzw. ‚Kernstück‘ der parteipolitischen Betätigung ist Mitwirkung von Parteien bei der politischen Wil- lensbildung des Volkes besteht. Nicht jede Sonder- 46 So schon BVerfG, Beschluss vom 22.12.1976 – 1 BvR 306/76, nutzung, die in irgendeiner Form auch der Allge- in: NJW 1977, 671; BVerwGE 56, 63 (68 ff.); ebenso Karl- meinheit dient, eröffne den Anwendungsbereich der Ludwig Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 10. Aufl. 2017, § 1 Vorschrift, sondern gerade die Sondernutzung selbst Rn. 79 a.E.; Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufla- müsse im öffentlichen Interesse liegen. Trotz der ho- ge 2015, Art. 21 Rn. 62 Fn. 214; s. auch das Gutachten von Marc Lechleitner, Straßenrechtliche Sondernutzungsgebühren hen Bedeutung der Mitwirkung von Parteien an der für Wahlsichtwerbung, LT Brandenburg (Wahlperiode 6/37), politischen Willensbildung des Volkes sei jedoch Parlamentarischer Beratungsdienst, https://nbn-resolving.org nicht erkennbar, dass die Inanspruchnahme öffentli- /urn:nbn:de:0168-ssoar-54356-8; a.A. Matthias Friehe, Stra- cher Straßen mit Schaukästen, die zur Information ßenrechtliche Wahlkampflenkung?, in: NVwZ 2016, 887 über Veranstaltungen und politische Initiativen so- (891), demzufolge Sondernutzungserlaubnisse für Wahlwer- bemöglichkeiten politischer Parteien im öffentlichen Raum wie Einladungen zu Mitgliederversammlungen ge- gebührenfrei zu erteilen sind; das VG Dresden, Urteil vom nutzt werden, diese Voraussetzung erfüllt. Politische 19.12.2001 – 12 K 149/00, juris Rn. 14, geht von einem „ge- Parteien seien für diese Tätigkeiten nicht in besonde- bührenrechtlichen Parteienprivileg“ aus, das sich in einer Er- rem Maße auf Schaukästen angewiesen, sondern es mäßigung der Sondernutzungsnutzungebühr für Plakatwer- bung politischer Parteien auch außerhalb von Wahlkampfzei- „stehen diverse andere Informationskanäle – etwa in ten niederschlagen soll; in der Ausarbeitung der Wissen- Gestalt der Nutzung sozialer Medien – offen“50. schaftlichen Dienste des Bundestages zur Gebührenpflichtig- Letztlich habe das Bezirksamt Reinickendorf sein keit einer Plakatiergenehmigung für Parteien im Wahlkampf, Recht zur Gebührenerhebung auch nicht verwirkt, WD 3 – 3000 – 041/13, S. 9 (online verfügbar unter https:// obwohl es aufgrund der bereits im Jahr 2006 in Kraft www.bundestag.de/resource/blob/412536/b50dffa59c4f452e4 f626b0ec3a1d960/WD-3-041-13-pdf-data.pdf), wird unter getretenen Sondernutzungsgebührenverordnung be- Bezugnahme auf das VG Dresden ein solches „gebührenrecht- 48 liches Parteienprivileg“ zumindest für den Bereich der Wahl- VG Berlin, Urteil vom 24.08.2020 – 1 K 11.18, juris Rn. 25. 49 werbung politischer Parteien angenommen. VG Berlin, Urteil vom 24.08.2020 – 1 K 11.18, juris Rn. 19. 47 50 VG Berlin, Urteil vom 24.08.2020 – 1 K 11.18, juris. VG Berlin, Urteil vom 24.08.2020 – 1 K 11.18, juris Rn. 23. 76 doi:10.24338/mip-202167-79
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