Martin Winter Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule1

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Martin Winter Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule1
Martin Winter
                                               Funktionsverschiebungen zwischen Schule und
                                               Hochschule1

Übersicht
                                                                        lich sind. Diese sollen im Folgenden genauer beleuchtet
I. Zwischen Wettbewerb und Mangelverwaltung                             werden.
1. Hochschulen im Wettbewerb um Studierende
2. Mangelverwaltung von Studienplätzen                                  1. Hochschulen im Wettbewerb um Studierende
II. Das Verhältnis von Schule und Hochschule im Wandel                  Auf der einen Seite stehen die Hochschulen vermehrt im
1. Werbung und Selektion                                                Wettbewerb um Studierende, sie richten Marketingstel-
2. Das Verhältnis von Schule und Hochschule                             len ein, werben um Studienanfänger/innen und machen
3. Selektion und Ertüchtigung                                           auf vielfältige Weise Reklame für ihre Studiengänge, sie
4. Das Abitur als Grundrechtszertifikat                                 richten sogenannte Kinder- und Jugendunis aus, präsen-
5. Der Bedeutungsverlust des Abiturs                                    tieren sich auf Bildungsmessen, veranstalten Informati-
6. Studierendenvorbereitung und Studierendenauswahl                     onstage für Studieninteressierte, verteilen Werbe- und
III. Diagnose und Ausblick
                                                                        Info-Broschüren und rüsten ihre Internetauftritte auf;
                                                                        sie fahnden gar mit Hilfe von „Talent-Scouts“ nach hoch-
1. Beabsichtigte Planung oder ungesteuerte Entwicklung?
                                                                        schulgeeigneten Schülerinnen und Schülern mit bil-
2. Prognosen
                                                                        dungsfernem familiären Hintergrund.3 Und wenn es den
3. Auswirkungen auf die Institution Hochschule
                                                                        Studieninteressierten nicht an Talent, sondern an not-
                                                                        wendigen Fähigkeiten und Wissensbeständen mangelt,
I. Zwischen Wettbewerb und Mangelverwaltung                             dann kümmern sich die Hochschulen um die Beseiti-
                                                                        gung dieser Defizite – sei es im Vorfeld des Studiums
Nach erfolgreichem Schulabschluss2 wechselt ein junger                  oder studienbegleitend. Die Hochschulen selbst sorgen
Mensch an die Hochschule. Das ist nach wie vor der                      somit für die Hochschulreife – zumindest für den „letz-
Normalfall einer akademischen Biografie, auch wenn                      ten Schliff “ zur Studierfähigkeit. Studienvorbereitung
sich neue Wege in die Hochschulbildung eröffnet haben,                  wird in diesem Zusammenhang auch als ein wichtiger
wissenschaftliche Weiterbildung eine immer wichtigere                   Faktor der Studierendengewinnung begriffen.
Rolle spielt und sich immer mehr erfahrene und ältere                   Die grundlegende Voraussetzung für den Einsatz von
Menschen an den Hochschulen einschreiben. Obgleich                      Studienwerbung und Marketing an einer Hochschule ist,
der (fast) bruchlose Übergang von Schule zur Hoch-                      dass diese sich als – mehr oder weniger – eigenständiger
schule in der Post-Adoleszenz nach wie vor die Regel ist,               korporativer Akteur und damit als handlungsfähige
ist das Verhältnis von Schule zu Hochschule gravieren-                  Organisation definiert. Dazu wurden in den letzten 30
den Veränderungen unterworfen. Weitgehend von der                       Jahren mit dem Transfer von Elementen aus dem New
Öffentlichkeit unbeachtet kommt es zu einer allmähli-                   Public Management in den Hochschulbereich die Vor-
chen Umstrukturierung, die am Ende auf eine folgenrei-                  aussetzungen geschaffen: starke Leitungspositionen, die
che Neuordnung im Bildungsbereich hinausläuft. Und                      Verantwortung der Hochschule über einen Globalhaus-
damit ändern sich auch die Bildungsinstitutionen Schu-                  halt (und damit zumeist einhergehend: eine formelba-
le und Hochschule. Insbesondere auf Seiten der Hoch-                    sierte Mittelzuweisung), relativ eigenständige Steue-
schulen sind – langfristig betrachtet – bemerkenswerte                  rungskompetenzen in verschiedenen Bereichen (Studi-
Entwicklungen eingetreten, die allerdings widersprüch-                  engänge, Personal, Liegenschaften etc.), damit

1 Der Artikel ist in einer erheblich kürzeren Version unter dem Titel     hochschulreife (Fachabitur) oder der fachgebundenen Hochschul-
  „Zwischen Wettbewerb um Studierende und Mangelverwaltung                reife.
  von Studienplätzen“ in dem Sammelband von Driesen und Ittel           3 So das Talent-Scouting-Programm der Landesregierung in
  auf den Seiten 77-90 erschienen: Driesen, Cornelia / Ittel, Angela      Nordrhein-Westfalen: https://www.mkw.nrw/hochschule-und-for
  (Hg.) (2019): Der Übergang in die Hochschule. Strategien, Organi-       schung/studium-und-lehre/talentscouting, https://nrw-talentzen
  sationsstrukturen und Best Practices an deutschen Hochschulen.          trum.de/. Auf alle in den Fußnoten angegebenen Internetadressen
  Münster: Waxmann.                                                       wurde das letzte Mal am 7. Juni 2019 zugegriffen.
2 Genauer: nach dem Erwerb der Hochschulreife (Abitur), Fach-

                                                Ordnung der Wissenschaft 2019, ISSN 2197-9197
184                 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 1 9 ) , 1 8 3 - 1 9 4

zusammenhängend die Möglichkeit zum Abschluss von                    Ministerien – an die Hochschulen herangetragen und
Zielvereinbarungen mit der Regierung, aber auch mit                  auch finanziell – insbesondere im Rahmen des Hoch-
hochschulinternen Akteuren (Kontraktmanagement),                     schulpakts 2020 – gefördert.
und last but not least: Wettbewerbsmechanismen. Wett-
bewerbsverfahren simulieren einen (Bildungs-)Markt,                  2. Mangelverwaltung von Studienplätzen
auf dem sich die „unternehmerischen Hochschulen“4                    Auf der anderen Seite zeugt die Studierendenstatistik,
tummeln. Wettbewerb zwischen Hochschulen wird also                   insbesondere die Zahlen zu den Zulassungsbeschrän-
nicht mehr rein wissenschaftlich als „Wettbewerb der                 kungen, von einem Mangel an Studienplätzen, der von
Ideen“, sondern auch ökonomisch als „Wettbewerb um                   den Hochschulen offenbar nur notdürftig verwaltet
Ressourcen“ praktiziert.5                                            wird. Blickt man auf die Zeitreihen der Studierendensta-
    Wettbewerb um Ressourcen impliziert nicht nur                    tistik, so ist festzustellen, dass die Zahlen in den letzten
Konkurrenz um Drittmittel zu Forschungszwecken, son-                 Jahren deutlich gestiegen sind. Die Anzahl der Studien-
dern auch einen Wettbewerb um Studierende. Auch                      anfänger/innen hat sich in zwanzig Jahren fast verdop-
wenn Studierende derzeit in der Regel keine Gebühren                 pelt. Lag deren Anzahl 1995/96 bei etwas mehr als einer
für ihr Studium zahlen, so ist deren Anzahl für die Fi-              viertel Million Personen pro Studienjahr, so sind es seit
nanzierung der Hochschulen durchaus relevant, sei es                 gut fünf Jahren rund eine halbe Million Erstsemester.7
im Kontext von formelgebundenen Mittelzuweisungs-                    Entsprechend mehr geworden sind auch insgesamt die
modellen der Länder oder auch im Anreizmodell des                    Studierenden; um rund ein Drittel hat deren Anzahl
von Bund und Länder gemeinsam finanzierten Hoch-                     innerhalb der letzten zehn Jahre zugenommen. Die
schulpakts 2020.6 Vereinfacht gesagt bestimmt hier die               Erklärung für diese nicht so vorhergesagte Entwicklung
Anzahl der Studienanfänger/innen den Umfang der Mit-                 liegt insbesondere im Wachstum der Studienanfänger-
telzuweisung. Sollten allerdings wieder Studiengebühren              quote.8 Diese Quote ist in zehn Jahren um rund 20 Pro-
eingeführt werden und diese maßgeblich zur Hoch-                     zentpunkte gestiegen, von rund 36 auf 57 Prozent (2006–
schulfinanzierung beitragen, so dürfte dies weitere An-              2016). Dazu kommt noch, dass die Anzahl der (Fach-)
strengungen zur Studienwerbung anspornen und damit                   Abiturient/innen von 415.267 im Jahr 2006 auf 453.622
den Wettbewerb um Studierende anfachen.                              im Jahr 2016 gestiegen ist.9 Immer mehr Angehörige
Weil sich die Hochschulen im Rahmen des neuen Steue-                 eines Jahrgangs streben ein Studium an. Der Quoten-
rungsmodells immer stärker als eigenständige Organisa-               sprung hat die Diskussion darüber angefacht, wie viele
tionen wahrnehmen oder gar im Selbst- wie auch im                    Menschen einer Alterskohorte tatsächlich für ein Hoch-
Fremdverständnis unternehmerisch auftreten, gilt Wer-                schulstudium geeignet sind, ob es so etwas wie eine
bung um Studierende für lohnend oder zumindest legiti-               natürliche Quote der Begabungsverteilung gebe und ob
mationsförderlich. Der Anspruch, für sich zu werben,                 nicht diese Akademisierung zur Abwertung der berufli-
wird insbesondere von außen – von der Politik und den                chen Ausbildung führe – eine These, die unter dem

4 Bekannt wurde der Begriff der unternehmerischen Hochschule           pdf. Siehe auch die Internetseite der Gemeinsamen Wissenschafts-
  („entrepreneurial university“) mit einer Studie des amerikani-       konferenz: https://www.gwk-bonn.de/themen/foerderung-von-
  schen Hochschulforschers Burton R. Clark über fünf Universitäten     hochschulen/hochschulpakt/.
  in Europa: Clark, Burton R. (1998): Creating Entrepreneurial       7 Quelle der genannten hochschulstatistischen Zahlen: Statistisches
  Universities. Organizational Pathways of Transformation. Surrey:     Bundesamt (Destatis), Fachserie 11, Reihe 4.1 (Studierende), 4.4.
  Pergamon Press. Vgl. Maasen, Sabine / Weingart, Peter (2006):        (Personal) und 4.3.1. (nichtmonetäre hochschulstatistische Kenn-
  Unternehmerische Universität und neue Wissenschaftskultur.           zahlen). Die Tabellenbände sind auf der Internetseite von Destatis
  S. 19-45 in: Krücken, Georg (Hg.): Universitäre Forschung im         verfügbar: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-
  Wandel. die hochschule, Vol. 15, Heft 1.                             Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen/_inhalt.html.
5 Zur bundesdeutschen Historie des Wettbewerbs im Hochschul-         8 Vgl. Christensen, Björn / Christensen, Sören (2017): Falsche
  bereich siehe: Winter, Martin (2012): Wettbewerb im Hochschul-       Prognosen. Wo kommen all die Studierenden her? Spiegel-Online.
  bereich, S. 17-45 in: Winter, Martin / Würmann, Carsten (Hg.):       URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/falsche-progno
  Wettbewerb und Hochschulen. die hochschule, Vol. 21, Heft 2.         sen-wo-kommen-all-die-studierenden-her-a-1126487.html.
6 Zum Hochschulpakt 2020 siehe: Gemeinsame Wissenschaftskon-         9 Gehrke, Birgit / Kerst, Christian (2018): Bildung und Qualifikation
  ferenz (2017): Hochschulpakt 2020: Umsetzung in der zweiten          als Grundlage der technologischen Leistungsfähigkeit Deutsch-
  Programmphase 2011-2015. Bonn: Heft 54. URL: https://www.            lands 2018 (Kurzstudie): Studien zum deutschen Innovationssys-
  gwk-bonn.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Papers/GWK-                tem. Berlin: EFI, S. 8. URL: https://www.e-fi.de/fileadmin/Innova
  Heft-54-Hochschulpakt-Umsetzung-Programmphase-2011-2015.             tionsstudien_2018/StuDIS_01_2018.pdf.
Winter · Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule                                                    185

Schlagwort „Akademisierungswahn“ Eingang in die                         44,2% aller grundständigen und 38,8% aller Master-Stu-
Massenmedien gefunden hat und insbesondere von Juli-                    diengänge zulassungsbeschränkt.14
an Nida-Rümelin10 nachhaltig vertreten wird.                                 Die Zulassungsbeschränkung ist das eine, die Vertei-
    Angesichts der genannten Zahlen kann ohne Über-                     lung der Studieninteressenten auf die knappen Studien-
treibung von einer neuerlichen Welle der Hochschulex-                   plätze das andere Problem. Ab Ende der 1960er Jahre
pansion in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-                   wurden die zulassungsbeschränkten Studiengänge in der
land gesprochen werden. Das Wachstum um ein Drittel                     Regel zentral vergeben, der Numerus Clausus einge-
in den letzten zehn Jahren wurde insbesondere durch die                 führt. Dazu wurde eine große behördenähnliche Ein-
Mittel des Hochschulpakts 2020 finanziert. Zwar be-                     richtung – in Form einer Anstalt des öffentlichen Rechts15
wirkte das Bund-Länder-Programm einen massiven                          – geschaffen, die Zentrale Vergabestelle für Studienplät-
Ausbau der Lehrkapazitäten;11 die zeitliche Befristung                  ze ZVS in Dortmund.16 Mit der Bologna-Studienreform
dieser Paktmittel führte jedoch zwangsläufig zur befris-                ist ihre Bedeutung gesunken. Denn in den Verteilmecha-
teten Einstellung von Lehrpersonal.12 Dennoch wurden                    nismus der Dortmunder „Behörde“ werden keine Studi-
auch von Jahr zu Jahr weitere Professor/innen einge-                    engänge mit Bachelor oder Master-Abschluss aufgenom-
stellt, wobei darunter auch befristete Anstellungen fal-                men, sondern nur Studiengänge mit Abschluss Staatsex-
len. Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der Professu-               amen und Diplom (die im Laufe der Jahre immer weni-
ren um rund ein Viertel von 37.694 im Jahr 2006 auf                     ger wurden). Nach ihrer Stufung in Bachelor und Master
rund 46.835 im Jahr 2016 gestiegen. Die Betreuungsrela-                 fielen deshalb immer mehr Studiengänge aus dem zent-
tion, das Verhältnis von Studierenden zu wissenschaftli-                ralen Vergabemechanismus und wurden lokal (das heißt
chem Hochschulpersonal, ist an den Universitäten zwi-                   von den Hochschulen vor Ort) zulassungsbeschränkt.
schen 2005 und 2015 leicht gestiegen – sprich: etwas                    Mittlerweile unterliegt nur noch ein knappes Prozent
schlechter geworden –, an den Fachhochschulen hinge-                    der grundständigen Studiengänge in Deutschland einem
gen leicht gesunken – sprich: etwas besser geworden.13                  zentralen Vergabeverfahren.17 Dieser so nicht vorherge-
Ein deutlicher Hinweis auf den Mangel an Studienplät-                   sehene Effekt der Bologna-Reform hatte zur Folge, dass
zen ist die Anzahl bzw. Quote der zulassungsbeschränk-                  sich Studieninteressenten an vielen Hochschulen bewer-
ten Studiengänge. Die Zulassung zum Studium darf nach                   ben, was wiederum den Verwaltungsaufwand der Hoch-
rechtlichen Maßgaben nur dann beschränkt werden,                        schulen erhöhte. Hinzu kam die aus Hochschulsicht gro-
wenn die Nachfrage nach Studienplätzen absehbar hö-                     ße Herausforderung, dass sich nun viele Studieninteres-
her ist als das Angebot an vorhandenen Studienplätzen.                  senten vorsorglich an mehreren Standorten bewerben
Um eine Überfüllung zu vermeiden, kann ein Numerus                      und dann wieder absagen, weil sie einen Studienplatz
clausus (NC) eingeführt, die Zulassung also quantitativ                 andernorts vorziehen. Aber auch für die Studierenden
beschränkt werden. Dies geschieht bei rund zwei Fünftel                 ist mit der Verlagerung der Vergabe von zentraler Stelle
der Studiengänge: Im Wintersemester 2017/18 waren                       auf die vielen lokalen Hochschulen mit zum Teil unter-

10 Nida-Rümelin, Julian (2014): Der Akademisierungswahn. Zur            14 Hochschulrektorenkonferenz (2017): Statistische Daten zu
   Krise beruflicher und akademischer Bildung. In: Profil, Heft 9.         Studienangeboten an Hochschulen in Deutschland. Studiengänge,
   S. 18-27. URL: https://hsg-eberbach.de/wp-content/up                    Studierende, Absolventinnen und Absolventen. Wintersemester
   loads/2015/11/Akademisierungswahn.pdf.                                  2017/2018. Statistiken zur Hochschulpolitik 2/2017. Berlin,
11 Mit einer Laufzeit von 2007 bis 2020 und einer Auslauffinanzie-         S. 19 f. URL: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-
   rung bis 2023 wird der Pakt ein Gesamtvolumen von 38,5 Mrd.             Dokumente/02-02-PM/HRK_Statistik_BA_MA_UEbri
   Euro aufweisen. Siehe: https://www.bundesbericht-forschung-             ge_WiSe_2017_18_Internet.pdf. Das Centrum für Hochschulent-
   innovation.de/de/Hochschulpakt-2020-1792.html.                          wicklung (CHE) hat die Zahlen der Hochschulrektorenkonferenz
12 Ein Vergleich der Verwendung von Grundmitteln und HSP-Mit-              nochmals weiter aufgeschlüsselt: Gehlke, Anna / Hachmeister,
   teln in den Jahren 2011 bis 2015 durch das Institut für Innovation      Cort-Denis / Hüning, Lars (2018): Der CHE Numerus Clausus-
   und Technik (iit) in Berlin ergab: 80 % des hauptberuflichen            Check 2018/19. Eine Analyse des Anteils von NC-Studiengängen
   wissenschaftlichen und künstlerischen Hochschulpersonals, das           in den einzelnen Bundesländern. Gütersloh: CHE-Arbeitspapier
   über HSP-Mittel finanziert wurde, ist befristet beschäftigt; beim       211. URL: http://www.che.de/downloads/CHE_AP_211_Nume
   Hochschulpersonal, das über Grundmittel finanziert wird, sind           rus_Clausus_Check_2018_19.pdf.
   es demgegenüber nur 55 %. Siehe: Winterhager, Nicolas (2018):        15 Siehe Artikel 1 des Staatsvertrags über die Vergabe von Studien-
   Auswirkungen des Hochschulpakts 2020. Vortrag auf dem Forum             plätzen von 20. Oktober 1972.
   Hochschulsteuerung des HIS-Instituts für Hochschulentwicklung        16 Zur Geschichte des Hochschulzugangs in Deutschland einschließ-
   am 09. und 10. April 2018, Hannover. URL: https://his-he.de/            lich Zahlen zu ZVS-Studiengängen siehe Wissenschaftsrat (2004):
   fileadmin/user_upload/Veranstaltungen_Vortraege/2018/Forum_             Empfehlungen zur Reform des Hochschulzugangs. Drs. 5920-04.
   HS-Steuerung_2018/HIS-HE_09-04-2014_Winterhager_final.                  Berlin, 30. Januar 2004, S. 64 ff. sowie S. 140 ff. URL: http://www.
   pdf.                                                                    wissenschaftsrat.de/download/archiv/5920-04.pdf.
13 Gemeinsame Wissenschaftskonferenz, S. 18, siehe Fußnote 6.           17 Hochschulrektorenkonferenz, S. 20, siehe Fußnote 14.
186                 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 1 9 ) , 1 8 3 - 1 9 4

schiedlichen Fristen und Voraussetzungen der Bewer-                  Quoten, also des Ausmaßes der Selektivität. Zweitens gibt
bungsaufwand gewachsen.                                              es die Dimension der Qualität des Übergangs. Dahinter
    Um die Studienplatzverteilung zu reorganisieren,                 verbirgt sich die Frage, wie der Übergang gestaltet wird,
sollte die ZVS zu einer Informations- und Verteilbörse               welche Institution welche Bildungsaufgaben übernimmt
umgebaut werden. 2008 löste die Stiftung für Hoch-                   und schließlich: wer, wann und wie selektiert. Insbeson-
schulzulassung (SfH) die ZVS ab.18 Andauernde techni-                dere mit Blick auf die Auswahlprozesse zeigt sich, dass
sche Probleme, insbesondere die schwierige Synchroni-                sich Qualitätsaspekte auf die quantitative Dimension des
sierung der speziellen hochschuleigenen Studien- und                 Übergangs auswirken: Je nachdem wie selektiert wird,
Zulassungssoftware (und der damit verbundenen spezi-                 welche Kriterien angewandt werden, wird sich dies auch
ellen hochschuleigenen Zulassungsverfahren und -kon-                 auf die Anzahl der Auserwählten auswirken.
ditionen) haben über viele Jahre die Verbreitung eines
neuen elektronisch gesteuerten Verteilverfahrens – das               2. Das Verhältnis von Schule und Hochschule
sogenannte Dialogorientierte Serviceverfahren (DoSV)                 Die qualitative Dimension des Übergangs thematisiert
– erschwert. Zusammenfassend kann festgestellt wer-                  die folgende Grafik. Der einfache Gedanke, der diesem
den, dass die Mangelverwaltung auch organisatorisch                  Schaubild zugrunde liegt, ist: Auf einem Kontinuum
und technisch an ihre Grenzen stößt – auch deshalb, weil             zwischen den beiden idealtypischen Polen der Bildungs-
die lokalen Zulassungsbeschränkungen der Hochschu-                   welt „Schule“ und der Bildungswelt „Hochschule“ mit
len so zahlreich und vielfältig sind.                                ihren spezifischen Aufgaben und Funktionen, Arbeits-
                                                                     und Denkweisen bewegen sich die historisch konkreten
II. Das Verhältnis von Schule und Hochschule im                      Institutionen Schule und Hochschule bzw. ihre jeweili-
Wandel                                                               gen Unterrichtsformen.19 Je nach Ausrichtung bzw. Kom-
                                                                     petenzen der Bildungseinrichtungen20 sowie der vorge-
1. Werbung und Selektion                                             sehenen Aufenthaltszeit (Schulzeit, Studiendauer)21
Um beide Tendenzen – Wettbewerb und Mangelverwal-                    decken sie realiter einen Teil des Kontinuums ab oder
tung – deuten zu können, muss das Verhältnis zwischen                eben nicht (dies entspricht der Länge des hellgrauen und
Schule und Hochschule genauer beleuchtet werden. Eine                des dunkelgrauen Balkens). Mit Hilfe dieses Modells
sich autonom wähnende Hochschule möchte nicht nur                    kann man sich den verschiedenen Möglichkeiten heuris-
um neue Studierende werben, sondern auch selbst ihre                 tisch nähern.
Studierenden auswählen. Es geht nicht nur darum, mög-
lichst viele Studierende zu rekrutieren, sondern dass sich
möglichst gute bzw. geeignete Abiturient/innen für die
Hochschule interessieren.
    Mehr noch als die gesteigerten Aktivitäten zur Studi-
enwerbung wirkt sich das Ansinnen, Studierende auszu-
wählen, auf das Verhältnis von Schule und Hochschule
aus. Dieses Ansinnen berührt direkt die Schnittstelle
zwischen den beiden Bildungsinstitutionen. Um diese
Zusammenhänge zu erläutern, muss etwas weiter ausge-
holt und ein Modell zur Veranschaulichung vorstellt
werden.
    Grundsätzlich lässt sich die Schnittstellenproblema-             Abbildung: Idealtypische Bildungswelten und reale Formen des
tik in zwei Dimensionen unterteilen, die sich wechselsei-            Unterrichts22
tig beeinflussen: Erstens hat der Übergang von der Schu-
le zur Hochschule eine quantitative Dimension. Diese ist             Die Abbildung gibt das komplexe Gefüge von Schule und
vorrangig eine Frage von Nachfrage, Kapazitäten und                  Hochschule freilich nur eindimensional wieder. Sie soll

18 Ratifiziert im Staatsvertrag zur Errichtung einer gemeinsamen        tem in der gymnasialen Oberstufe diskutiert.
   Einrichtung für Hochschulzulassung vom 5. Juni 2008. Zur Inter-   21 Thema auf Schulseite war in den letzten Jahren die Dauer der
   netseite der Einrichtung: https://hochschulstart.de/.                Gymnasialzeit zwischen acht und neun Jahren.
19 Selbstverständlich müsste hier genauer zwischen den Hochschul-    22 Leicht modifizierte Darstellung aus: Winter, Martin (2008):
   arten – Universität, Fachhochschule etc. – und auch zwischen         Die neuen Studienstrukturen und der Übergang von Schule zu
   den verschiedenen Fächern (mit ihren spezifischen Fachkulturen)      Universität. Sieben Thesen und eine Frage. S. 149-155 in: Das
   differenziert werden.                                                Hochschulwesen, Vol. 56, Heft 5, S. 153.
20 In diesem Zusammenhang wird beispielsweise auch das Kurssys-
Winter · Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule                                                 187

lediglich dazu einladen, mit der Länge der Balken zu expe-           aus werden auch erfolgreich bestandene Testverfahren
rimentieren und so mögliche Szenarien durchzuspielen.                oder vor dem Studium absolvierte Praktika zu Vorbedin-
    Letztlich ist es eine empirische Frage, wie lang die             gungen der Studienaufnahme gemacht. Warum diese
einzelnen Balken ausfallen, das heißt: wie groß die quali-           Praxis an den Hochschulen einen Bruch in der bundes-
tative Lücke zwischen den beiden Bildungseinrichtun-                 deutschen Übergangslogik darstellt, wird unten erläu-
gen ist bzw. wie eng Schulunterricht und Hochschulleh-               tert. Erstaunlich ist, dass diese Entwicklung nicht weiter
re inhaltlich aufeinander abgestimmt sind. Der Abstand               öffentlich diskutiert wird.24 Offenbar reicht den Hoch-
zwischen den beiden Balken weist darauf hin, wie die                 schulen das Abitur nicht mehr als Qualifikationsausweis
Statuspassage institutionell gerahmt ist. Innerhalb dieses           und damit als Nachweis für die Studierfähigkeit aus –
Rahmens findet die individuelle „Bewältigung des Über-               und dies wird stillschweigend so akzeptiert.
gangs“ statt, die einen Abschnitt im Lebenslauf eines                     Im Übrigen teilt das Bundesverfassungsgericht die
Menschen markiert. Je größer der Abstand ausfällt, des-              Einschätzung offenbar, dass neben dem Abitur weitere
to gravierender dürften die Übergangs- bzw. Schnittstel-             Auswahlkriterien benötigt werden, wenn es – wie in sei-
lenprobleme im Verhältnis von Schule und Hochschule                  nem aktuellen Urteil zum Mediziner-NC25 – neben dem
ausfallen.                                                           Abitur weitere Eignungskriterien nicht nur für Medizin-
                                                                     Studiengänge, sondern für alle zulassungsbeschränkten
3. Selektion und Ertüchtigung                                        Studiengänge verlangt. Zwar beschränkt sich dieser Sin-
Die These ist, dass sich das Verhältnis von Schule und               neswandel des Gerichts auf die zulassungsbeschränkten
Hochschule – genauer: von Schulbildung und Hoch-                     Studiengänge. Dennoch kann das Urteil des BVerfG
schulbildung – derzeit grundlegend ändert. Der dunkel-               durchaus als eine Neuakzentuierung in seiner bisherigen
graue Balken „Hochschullehre“ in der oben abgebildeten               Rechtsprechung interpretiert werden, die erstaunlich
Grafik wird länger. Die Kompetenzbereiche der Instituti-             wenig in der Öffentlichkeit diskutiert wird (dazu später
onen haben sich soweit verschoben (und werden sich                   mehr).
wohl noch weiter verschieben), dass von einem Funkti-                     Zweitens ergreifen die Hochschulen Maßnahmen,
onswandel gesprochen werden kann. Diese Veränderun-                  um die Schulabgänger/innen besser auf ein Hochschul-
gen betreffen insbesondere die Hochschulen, die auf                  studium vorzubereiten (siehe unten). Auch dahinter
(vermeintliche) Niveauabsenkungen bzw. (vermeintli-                  steckt die Einschätzung bzw. die Erfahrung, dass mit
che) Fehlpassungen der Schulabgänger/innen reagieren.                dem Abitur keine hinreichende Studierfähigkeit gegeben
    Aus Sicht der Hochschulen sind Defizite der Schul-               ist.
bildung auszugleichen. Dies geschieht auf zwei Wegen:                     Infolge dieser Veränderungen wandelt sich seit ein
Erstens, indem nicht alle, sondern nur ausgewählte                   paar Jahren das Verhältnis von Schule und Hochschule
Schulabgänger/innen zum Studium zugelassen werden.                   grundlegend. Diese Entwicklung verdient mehr Auf-
Es gibt sogar aus rechtlicher Sicht – um es vorsichtig aus-          merksamkeit, als ihr bislang zuteilwurde. Im Kern geht es
zudrücken – eine erstaunliche Tendenz, die Erfüllung                 insbesondere um die Schnittstelle zwischen beiden Insti-
gewisser Kriterien für die Zulassung vorauszusetzen, ob-             tutionen und damit auch die Frage, wie der Übergang
wohl gar keine kapazitären Engpässe und damit auch                   von Schulabsolvent/innen zur Hochschule gestaltet ist.
keine kapazitär bedingte Zugangsbeschränkung bei den                 Letztendlich läuft es auf eine Abwertung des Abiturs als
Studienplätzen vorliegen. Bei unseren Untersuchungen                 Berechtigungsausweis zum Hochschulzugang und auf ei-
an 20 Hochschulen im Jahr 2012 war es jeder fünfte Ba-               nen Bedeutungsgewinn der Hochschule im Bildungssys-
chelor-Studiengang, für den – obgleich nicht vollständig             tem hinaus. Der zentrale Punkt in dieser Funktionsver-
ausgelastet und daher nicht mit einem NC versehen –                  schiebung im deutschen Bildungswesen ist der sinkende
besondere Zulassungsvoraussetzungen verlangt wur-                    Wert des Abiturs. Um dies näher zu erläutern, muss erst
den.23 Besonders häufig werden für das Studium ein-                  das deutsche Modell des Übergangs von Schule zu Hoch-
schlägige Sprachkenntnisse vorausgesetzt. Darüber hin-               schule, wie es bislang vorherrschte, beschrieben werden.

23 Winter, Martin / Rathmann, Annika / Trümpler, Doreen / Fal-          ihre Folgen. Beitrag für die Internetseite der Bundeszentrale für
   kenhagen, Teresa (2012): Entwicklungen im deutschen Studi-           politische Bildung zum Thema „Zukunft Bildung“. URL: http://
   ensystem. Analysen zu Studienangebot, Studienplatzvergabe,           www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/204075/bolo
   Studienkapazität, Studienwerbung und Marketing. Wittenberg:          gna-folgen.
   HoF-Arbeitsbericht 7/2012. URL: http://www.hof.uni-halle.de/      25 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Dezember 2017
   dateien/ab_7_2012.pdf.                                               – 1 BvL 3/14 – Rn. (1-253), URL: http://www.bverfg.de/e/
24 Vgl. Winter, Martin (2015): Bologna – die ungeliebte Reform und      ls20171219_1bvl000314.html.
188                 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 1 9 ) , 1 8 3 - 1 9 4

4. Das Abitur als Grundrechtszertifikat                                Hochschule ausgeschöpft sind, verstößt eine Beschrän-
                                                                       kung der Zulassung zum Studium nicht gegen dieses
Aufnahmeprüfungen vor Studienbeginn sind die prinzi-                   Grundrecht. Die Zulassung wird beschränkt, indem
pielle Alternative zur „Reifeprüfung“ am Ende der Schul-               man nur diejenigen Abiturient/innen aufnimmt, die ein
zeit. Grundsätzlich bzw. verfassungsrechtlich sind beide               gewisses Niveau der Abiturnote aufweisen. Damit erhält
Wege zur Hochschule möglich: das Schulabitur als Ein-                  nur eine beschränkte Anzahl an Bewerber/innen einen
trittskarte in die Hochschulwelt oder hochschuleigene                  Studienplatz – das ist der sogenannte Numerus clausus
Eingangstests. Das Grundgesetz gebietet nicht zwingend                 (NC).29 Für die Fächer, in denen die Kapazitäten der
die „Koppelung von Abitur und Hochschulzugangsbe-                      Hochschule ausreichen, ist lediglich ein Abiturzeugnis
rechtigung“, wie Kay Hailbronner26 betont. Grundsätz-                  erforderlich, die Note ist irrelevant.30 Deshalb wider-
lich schreibt Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz (Ausbil-                 spricht – wie bereits oben angemerkt – die Praxis in eini-
dungs- und Berufswahlfreiheit) nicht vor, wie die Anfor-               gen Ländern, weitere Zulassungsvoraussetzungen für
derungen an die Qualifikation zum Eintritt ins Studium                 nicht zulassungsbeschränkte Studiengänge zu verlangen,
zu definieren sind. Das Bundesverfassungsgericht hat –                 dem Ausschöpfungsgebot des Bundesverfassungsge-
in seinem NC-Urteil vom 18. Juli 197227 – ausdrücklich                 richts – auch wenn diese Praxis hochschulgesetzlich
die Reformbedürftigkeit des Erwerbs der Hochschulreife                 ermöglicht wurde.
offengelassen.                                                             Verfassungsrechtlich tatsächlich möglich ist eine Be-
    Der Streit um die beiden Alternativen ist so alt wie               schränkung der Zulassung ohne „Not“ (einer zu starken
das Abitur selbst.28 1834 wurden die bestehenden univer-               Nachfrage) eigentlich allein in den Fächern, für deren
sitären Eingangsprüfungen durch das schulische Abitur                  Studium ein besonderes Talent, eine besondere Bega-
ersetzt – wohl auch zur Aufwertung der Gymnasien und                   bung jenseits der Hochschulreife vonnöten ist: in der Re-
zur Entlastung der Universitäten. Seit nun fast 200 Jah-               gel also Musik, Kunst und Sport. Dort ist die Eignung
ren bereitet das Gymnasium auf die Universität vor; der                der Bewerber/innen zu prüfen, sie müssen vorspielen
Auftrag an die Gymnasien lautet: die jungen Menschen                   bzw. vorsingen, ihre Kunstwerke präsentieren oder
sollen studierfähig „gemacht“ werden; die Schüler/innen                sportliche Leistungen vollbringen. In diesen Fächern
erhalten dann ein Zeugnis, das ihnen Hochschulreife be-                können auch Bewerber/innen mit diagnostiziertem Ta-
scheinigt und das gleichzeitig als Berechtigungsschein                 lentmangel abgelehnt werden, obwohl die Kapazitäten
fungiert, einen Studienplatz zu erhalten.                              der Hochschule noch nicht ausgeschöpft sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem NC-Urteil                       Die Aufgabenaufteilung zwischen Schule und Hoch-
von 1972 diesen Berechtigungsschein zu einem Papier                    schule ist in diesem Modell klar geregelt: Das Abitur be-
gewordenen Grundrecht auf einen Studienplatz aufge-                    zeugt die Studierfähigkeit, die Universität knüpft mehr
wertet und zugleich die Modalitäten des Hochschulzu-                   oder weniger nahtlos daran an. Die Hochschulen neh-
gangs geregelt. Das Prinzip lautet: Die Hochschulen                    men jede/n auf – solange es keine kapazitätsbedingte Zu-
müssen – solange sie die Kapazitäten in der Lehre auf-                 lassungsbeschränkung gibt. Klagen seitens der Hoch-
weisen – Interessenten mit zertifizierter Studierfähigkeit             schulen über minderkompetente Abiturient/innen mag
aufnehmen. Hierauf haben die Abiturient/innen einen                    es indes seit jeher gegeben haben. Die Annahme einer
Anspruch, der auf dem Grundrecht auf Ausbildungs-                      generellen Studierfähigkeit nach erfolgreichem Schulab-
und Berufswahlfreiheit gründet (in Verbindung mit dem                  schluss ist allerdings schon immer unterlaufen worden.
Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip). Erst wenn                Statt vorab in Aufnahmetests die passenden oder geeig-
diese studiengangsspezifischen Kapazitäten an der                      neten Studierenden auszuwählen, werden (vermeint-

26 Hailbronner, Kay (1995): Verfassungsrechtliche Grenzen einer           uni-oldenburg.de/1193/ sowie: Wolter, Andrä (2016): Gymnasium
   Neuregelung des Rechts auf Zugang zu den Hochschulen. Gut-             und Abitur als „Königsweg“ des Hochschulzugangs: Historische
   achten für das Centrum für Hochschulentwicklung. Gütersloh,            Entwicklungslinien und institutionelle Transformationen. S. 1-27
   CHE-Arbeitspapier Nr. 7, S. 33.                                        in: Kramer, Jochen / Neumann, Marko / Trautwein, Ulrich (Hg.):
27 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 1972 - 1 BvL 32/70,      Abitur und Matura im Wandel. Historische Entwicklungslinien,
   BVerfGE 33, 303. URL: http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv033303.         aktuelle Reformen und ihre Effekte. Berlin: Springer.
   html.                                                               29 Umgangssprachlich bezeichnet der NC die Abiturgesamtnote, die
28 Vgl. Oelkers, Jürgen (2009): Hochschulreife und Studierfähigkeit.      erreicht sein muss, um einen Studienplatz zu bekommen.
   Bemerkungen zur Entwicklung des Gymnasiums. Vortrag in              30 Ausführlich dargestellt ist die Logik von Studienplatzvergabe und
   der Kantonsschule Wettingen am 11. Juni 2009. URL: https://            Kapazitätsermittlung in: Winter, Martin (2013): Studienplatzver-
   www.ife.uzh.ch/dam/jcr:00000000-4a53-efb4-ffff-ffffae788661/           gabe und Kapazitätsermittlung. Berechnungs- und Verteilungs-
   Wettingen.pdf sowie Wolter, Andrä (1989): Von der Elitenbildung        logiken sowie föderale Unterschiede im Kontext der Studien-
   zur Bildungsexpansion. Zweihundert Jahre Abitur (1788-1988).           strukturreform. S. 241-273 in: Wissenschaftsrecht, Vol. 46, Heft 3,
   Oldenburg: Oldenburger Universitätsreden. URL: http://oops.            S. 245 ff.
Winter · Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule                                               189

lich) leistungsschwächere Studierende in Zwischenprü-                  tungen sind allerdings noch nicht in den Fokus der Dis-
fungen in den ersten Semestern „ausgesiebt“.                           kussion gerückt. Die oben vorgestellte Abbildung könn-
                                                                       te hierzu vielleicht eine kleine Hilfe sein.
5. Der Bedeutungsverlust des Abiturs
Das Erstaunliche an dem Wandel ist, dass er nicht offen                6. Studierendenvorbereitung und Studierendenauswahl
programmatisch erklärt wird, sondern dass vielmehr                     Die Entwicklung ist bereits fortgeschritten, der Wandel
schleichend Fakten geschaffen werden. Diese Formulie-                  ist schon eingetreten. Insgesamt stellen sich die Verände-
rung unterstellt allerdings, es gebe identifizierbare                  rungen allerdings widersprüchlich dar:
absichtsvoll handelnde Urheber dieser Veränderungen.                        Auf der einen Seite finden studienvorbereitende Kur-
Wurde die Entwicklung tatsächlich gewollt vorangetrie-                 se, zum Teil vor dem Studium, zum Teil in der ersten
ben oder handelt es sich dabei lediglich um eine Reakti-               Studienphase statt. Die Hochschulen übernehmen nicht
on ohne dahinterliegende absichts- oder gar interessen-                nur die Schulabgänger/innen und spulen ihr Studien-
geleitete Strategie? Eine grundsätzliche politische Debat-             programm ab, sondern holen sie dort ab, wo sie hinsicht-
te über das Verhältnis von Hochschule und Schule sowie                 lich ihrer Kompetenzen gerade stehen. An vielen Hoch-
über die Funktion des Abiturs hat nicht stattgefunden,                 schulen wird eine Art Nachhilfeunterricht angeboten,
wohl aber eine Diskussion über die Qualität des Abiturs                insbesondere im Fach Mathematik. Eigentlich überneh-
– sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Fachkreisen.                men die Hochschulen damit Aufgaben der Studienvor-
Denn kritische Fragen gibt es viele:                                   bereitung, die bislang von der Schule erfüllt werden soll-
    Ist das Leistungsniveau des Abiturs tatsächlich ge-                ten, die dies aber offenbar nicht mehr leistet bzw. nicht
sunken? Werden im Abitur zu viele Fächer belegt (und                   leisten kann. Mit der Studienvorbereitung für vermeint-
diese damit zu oberflächlich gelernt) oder sind es gar die             lich noch nicht hochschulreife Studienbewerber/innen
„falschen“ Fächer? Geben die Abiturnoten belastbare                    gewinnt die Propädeutik an der Hochschule wieder an
Hinweise auf die Leistungsfähigkeit der Schulabgäng-                   Bedeutung. Was in der mittelalterlichen Universität die
er/innen? Weshalb ist die Anzahl sehr guter Abiturnoten                Artistenfakultät und später die Philosophische Fakultät,
in den letzten Jahren gestiegen?31 Warum ist eine Erhö-                zu DDR-Zeiten die Arbeiter- und Bauernfakultät war,
hung der Abiturquote bzw. der Studierquote politisch                   sind heute Zentren für Studienvorbereitung, wie sie bei-
wünschenswert? Ist die (vermeintlich) mangelnde Hoch-                  spielsweise an der Brandenburgischen Technischen Uni-
schulreife das Ergebnis einer Schulpolitik, die kaum                   versität Cottbus34 eingerichtet worden sind. Mit be-
noch Schüler/innen auf dem Weg zum Abitur scheitern                    trächtlichem Ressourceneinsatz werden derartige Pro-
lassen, sondern möglichst viele Jugendliche zum Abitur                 jekte im Rahmen des aus Bundesmitteln finanzierten
führen will?32 Oder mangelt es schlicht an der Abstim-                 Qualitätspakts Lehre gefördert.35
mung der Lerninhalte zwischen Schule und Hochschule?                        Zudem werden die Hochschulen geöffnet für Men-
    Zwar wird über die Studierfähigkeit von Abituri-                   schen ohne Abitur, indem ihnen andere bereits erbrach-
ent/innen und den Übergang von Schule zu Hochschule                    te Leistungen angerechnet werden.36 So verfügen „nicht-
geforscht,33 die Gestaltung des Übergangs und die Neu-                 traditionelle“ Studierende zwar über berufliche Qualifi-
ordnung der Aufgaben der beteiligten Bildungseinrich-                  kationen, aber kein Abitur. Gerade für diese Studieren-

31 Zahlen zu den Abiturnoten in den Bundesländern sind der                Ittel, Angela (Hg.) (2019): Der Übergang in die Hochschule. Stra-
   Internetseite der Kultusministerkonferenz zu entnehmen: https://       tegien, Organisationsstrukturen und Best Practices an deutschen
   www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/          Hochschulen. Münster: Waxmann.
   abiturnoten.html.                                                   35 In der Projektdatenbank des Qualitätspakts Lehre finden sich
32 Letzte Frage unterstellt, Intelligenz und andere relevante Kompe-      mehr als 110 Projekte zur Studieneingangsphase, die sowohl in
   tenzen seien in einem bestimmten Ausmaß unter den (jungen)             der ersten (2011/12-2016) als auch in der zweiten Förderphase
   Leuten verteilt.                                                       (2016/17-2020) finanziert wurden. Siehe: https://www.qualitaet
33 Siehe beispielsweise: Asdonk, Jupp / Kuhnen Sebastian. U. /            spakt-lehre.de/de/projekte-im-qualitatspakt-lehre-suchen-und-
   Bornkessel, Philipp (Hg.) (2013): Von der Schule zur Hochschu-         finden.php. Vorgestellt werden einige Beispiele in der Broschüre
   le. Analysen, Konzeptionen und Gestaltungsperspektiven des             des Projekts „nexus“ der HRK: Hochschulrektorenkonferenz,
   Übergangs. Münster: Waxmann sowie Asdonk, Jupp / Fiedler-              Projekt nexus (2018): Übergänge gestalten, Studienerfolg verbes-
   Ebke, Wiebke / Glässing, Gabriele (Hg.) (2009): Übergang Schule        sern. Berlin. URL: https://www.hrk-nexus.de/fileadmin/redakti
   – Hochschule. TriOS, Vol. 4, Heft 1.                                   on/hrk-nexus/07-Downloads/2018_nexus_Broschuere_UEberga
34 Zum Zentrum für Studierendengewinnung und Studienvorberei-             enge_gestalten__Studienerfolg_verbessern_WEB.pdf.
   tung „College+“ an der BTU Cottbus siehe: Erdmann, Kathrin /        36 Insbesondere gefördert durch das Bund-Länder-Programm
   Koziol, Matthias / Meißner, Marlen (2019): Collegestrukturen für       „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ (2011-2020). Siehe:
   den erfolgreichen Übergang. S. 213-224 in: Driesen, Cornelia /         https://www.wettbewerb-offene-hochschulen-bmbf.de/.
190                 O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 1 9 ) , 1 8 3 - 1 9 4

den bzw. Studieninteressenten sind die genannten                      den Hochschulen ein eigenes Kriterienerfindungsrecht
studienvorbereitenden bzw. studienbegleitenden Maß-                   zu überlassen.“ (1 BvL 3/14, Rn. 119) Das Gericht verlangt
nahmen sinnvoll.                                                      vom Gesetzgeber eine Standardisierung und Strukturie-
    Auf der anderen Seite reicht das Abitur nicht mehr                rung hochschuleigener Eignungsprüfungsverfahren; die
aus, um einen Studienplatz zu bekommen. Es sind weite-                Hochschulen dürfen diese Verfahren nur insofern kon-
re Voraussetzungen zu erfüllen, um zum Studium zuge-                  kretisieren, indem sie die Verfahren fachspezifisch aus-
lassen zu werden. Dieser Trend wird durch das Urteil des              gestalten und Schwerpunkte unter Einbeziehung hoch-
Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Hoch-                 schulspezifischer Profilbildungen setzen. Folglich haben
schulzulassung vom 19. Dezember 2017 (1 BvL 3/14, 1 BvL               die Hochschulen hinsichtlich dieser Konkretisierungsbe-
4/14) nochmals angeschoben. Das Bundesverfassungsge-                  fugnis einen gewissen Gestaltungs- und Entscheidungs-
richt verlangt nun neben der Abiturnote weitere Zulas-                spielraum.
sungskriterien für zulassungsbeschränkte Studiengänge.                    Obgleich das Urteil den Wert des Abiturs relativiert,
Umgekehrt heißt dies: Bei Studiengängen, die nicht zu-                sollte es nicht als Plädoyer für seine Abwertung gelesen
lassungsbeschränkt sind, sollte nach wie vor das Abitur               werden. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, das Abi-
reichen. Grundsätzlich – so das Gericht – müsse sich die              tur und sein Leistungsmaßstab, die Abiturnote, böten
Vergabe knapper Studienplätze an dem Kriterium der                    aus Sicht des Gerichts durchaus den richtigen Verteil-
Eignung (!) orientieren. Diese Maßgabe gilt nicht nur für             schlüssel an, nur leider könne das Abitur – so wie es sich
zulassungsbeschränkte Medizin-Studiengänge, sondern                   derzeit darstellt – diese Aufgabe nicht erfüllen. So kriti-
grundsätzlich für alle zulassungsbeschränkten Studien-                siert das Gericht die eingeschränkte länderübergreifende
gänge, also auch für Studiengänge mit ortsgebundenem                  Vergleichbarkeit des Abiturs. Da also das Abitur nicht
Numerus clausus. Dies bedeutet, dass aus Sicht des Bun-               das leistet, was es eigentlich leisten könnte, ist verfas-
desverfassungsgerichts die Abiturnote als alleiniges Zu-              sungsrechtlich ein Mechanismus gefordert, der zwischen
lassungskriterium nicht mehr ausreicht:37                             den verschiedenen Länderstandards ausgleicht. Gesucht
„Geboten ist insoweit, dass der Gesetzgeber die Hoch-                 wird ein anderes eignungsrelevantes Kriterium, das
schulen dazu verpflichtet, die Studienplätze nicht allein             nicht auf Schulnoten basiert.
und auch nicht ganz überwiegend nach dem Kriterium                        Ansonsten bleibt das Bundesverfassungsgericht
der Abiturnoten zu vergeben, sondern zumindest ergän-                 grundsätzlich bei seiner Argumentation aus seinem NC-
zend ein nicht schulnotenbasiertes, anderes eignungsre-               Urteil von 1972, nach der das Grundrecht der Berufsfrei-
levantes Kriterium einzubeziehen.“ (1 BvL 3/14, Rn. 209)              heit in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz
    Begründet wird dies – angesichts der Inflation sehr               und dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf Zulassung
guter Noten und der mangelnden Vergleichbarkeit der                   zum Hochschulstudium gewährleistet.38 Nur eben, dass
Abiturnoten zwischen den Ländern – mit der beein-                     aktuell das Abitur nicht die alleinige Eintrittskarte in die
trächtigten Aussagekraft des Abiturs hinsichtlich der                 Hochschulwelt sein kann. In den vielen nicht-zulas-
Studieneignung. Dem Bundesverfassungsgericht fehlt                    sungsbeschränkten, offenen Studiengängen hat das Abi-
offenbar der Glaube, das Abitur – so wie es derzeit durch-            tur hingegen nach wie vor seine Funktion als „zertifizier-
geführt werde – könne die Studierfähigkeit bezeugen. Im               tes Hochschulbildungsrecht“ inne. In den zulassungs-
Endeffekt wird mit diesem Urteil die Abwertung des Ab-                beschränkten Studiengängen dagegen muss nun ein
iturs höchstrichterlich betrieben.                                    alternatives Auswahlkriterium vorliegen, das hochschul-
    Einerseits wird damit die Rolle der Hochschule beim               übergreifend gilt.
Übergang von Schule zu Hochschule gestärkt. Anderer-                      Die Öffnung der Hochschulen für nicht-traditionelle
seits begrenzt das Gericht zugleich den Einfluss der                  Studierende, die Ausweitung der hochschulischen Studi-
Hochschulen auf das Auswahlverfahren. Denn die Defi-                  envorbereitung und Studierendenauswahl – all diese Ent-
nition von Eignungskriterien dürfe nicht allein den                   wicklungen laufen auf die besagte Relativierung der
Hochschulen überlassen werden, so das Gericht:                        Funktion des Abiturs als Zugangsberechtigungsschein
„Grundsätzlich ist es verfassungsrechtlich unzulässig,                für die Hochschule hinaus.

37 Einschränkend dazu – formuliert das Bundesverfassungsgericht –        19.12.2017 aus grundrechtsdogmatischer Sicht. S. 275-280 in:
   solle aber bei einem hinreichenden Teil der Studienplätze neben       Ordnung der Wissenschaft, Vol. 5, Heft 4, S. 276. URL:
   der Abiturdurchschnittsnote keine weiteren Auswahlkriterien           http://www.ordnungderwissenschaft.de/2018-4/ge
   verlangt werden.                                                      samt/35_2018_04_lindner_nc_urteil_odw.pdf.
38 Siehe: Lindner, Josef Franz (2018): Das NC-Urteil des BVerfG vom
Winter · Funktionsverschiebungen zwischen Schule und Hochschule                                               191

III. Diagnose und Ausblick                                            stützt, die beim Studieneinstieg helfen. Hohe Studieren-
                                                                      denzahlen sind politisch erwünscht: zum einen, weil seit
1. Beabsichtigte Planung oder ungesteuerte Entwick-                   Jahren von der Organisation für wirtschaftliche Zusam-
lung?                                                                 menarbeit und Entwicklung (OECD) mit vergleichen-
Das Abitur gilt zwar nach wie vor als die Eintrittskarte in           dem Blick auf andere Länder angemahnt; zum anderen,
die Hochschulwelt, jedoch nur (noch) mit gewissen Ein-                und dies ist wohl das gewichtigere Argument, weil eine
schränkungen. Die Hochschulen wählen selbst ihre Stu-                 Auslastung der Hochschulen als politisch notwendig
dierenden für kapazitär beschränkte Studiengänge aus,                 erachtet wird. Dies ist insbesondere im Interesse des
allerdings unter der Vorgabe der Vergleichbarkeit bzw.                jeweils zuständigen Wissenschaftsministeriums. Gene-
Standardisierung der Eignungskriterien. Immerhin dür-                 rell konkurrieren die Ministerien einer Landesregierung
fen die Hochschulen diese Verfahren fach- und hoch-                   um die knappen Finanzmittel des Landeshaushalts.
schulspezifisch ausgestalten, erhalten folglich einen                 Nicht ausgelastete Hochschulen schaffen wiederum
nicht unerheblichen Spielraum.                                        Begehrlichkeiten anderer Ressorts. Eine mangelnde Aus-
    Generell werden die Hochschulen dafür verantwort-                 lastung kann kritische Nachfragen – z.B. des Finanzmi-
lich gemacht, dass ihre Kapazitäten in Studium und Leh-               nisteriums – zur Folge haben oder gar Mittelverschie-
re genutzt werden. Zum einen müssen sie bei erhöhter                  bungen zwischen den Ressorts begründen helfen. Dies
Nachfrage ihre Kapazitäten ausschöpfen; zum anderen                   gilt es aus Sicht der Wissenschaftsressorts zu vermeiden.
ist es politisch erwünscht, dass auch in Studiengängen                Daher werden über die Formeln der Mittelzuweisung für
mit geringerer Nachfrage eine ausreichende Anzahl Ein-                die Hochschulen zusätzlich Anreize geschaffen, mehr
schreibungen vorliegt. Nicht zuletzt deshalb stehen die               Studienanfänger/innen bzw. Studierende aufzunehmen.
Hochschulen im Wettbewerb zueinander und werben                       Insbesondere über die Studierendenzahlen rechtfertigen
um Studierende bzw. um die besten bzw. „passenden“                    die Hochschulen politisch ihre Existenz. Sinken die Zah-
Studierenden. Gleichwohl stellen die Hochschulen selbst               len, reagieren die Wissenschaftsministerien schnell alar-
– auch wenn dies der Nachfrage nicht dienlich sein                    miert, da sie ihre Hochschuletats gegenüber ihrem
könnte – bei nicht zulassungsbeschränkten Studiengän-                 Finanzministerium verteidigen müssen. In diesem Sinne
gen neben dem Abitur eigene Auswahlkriterien auf.                     agieren die Wissenschaftsministerien auch als regie-
Kurz, es handelt sich um eine komplexe Mischung aus                   rungsinterne Lobby für Wissenschaft und Hochschulen.
staatlichen Reglements und Ansprüchen sowie (hoch-                    Die Hochschulen sind daher gehalten, ihre vorhandenen
schul-)unternehmerischem Organisationsinteresse und                   Studienplätze zu vergeben. Auch deshalb konkurrieren
Engagement.                                                           sie um Studierende, richten Marketing-Stellen ein und
    Wie ist es zu dem Bedeutungsverlust des Abiturs und               werben mit viel Aufwand um Schulabgänger/innen. Im
dem Bedeutungsgewinn der Hochschulbildung gekom-                      Rahmen einer Vollerhebung (Internetrecherche plus
men? Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts                   Nachfragen) hat das Institut für Hochschulforschung
vom 19. Dezember 2017 einmal ausgeklammert: Steckt                    HoF in Wittenberg alle staatlichen Hochschulen in der
dahinter tatsächlich ein langfristiger Plan? Oder handelt             Bundesrepublik – ausgenommen die Kunst- und Musik-
es sich um das Ergebnis unbeabsichtigter Nebeneffekte                 hochschulen sowie die Verwaltungshochschulen – dar-
hochschulpolitischer Absichten?                                       aufhin untersucht, ob sie Marketing-Stellen bzw. Stellen
    Für letztere Erklärung spricht: Programmatisch wird               aufweisen, die Marketingaufgaben übernehmen.
nicht von einer beabsichtigten Abwertung des Abiturs                      An nur 15 der 188 Hochschulen gab es – im Jahr 2012
gesprochen. Dies würde wohl auch einen Affront gegen-                 – keine derartigen Stellen; das sind weniger als acht
über der Schulseite erzeugen. Eher handelt es sich um                 Prozent.39
eine Reaktion auf eine negative (bzw. negativ wahrge-                     Schließlich passen diese Handlungsmuster zu einer
nommene) Entwicklung des Abiturs. Aktiv hingegen                      hochschulpolitischen Rhetorik, die Hochschulen als Un-
wird eine Öffnung der Hochschulen proklamiert und ge-                 ternehmen begreift, die im Wettbewerb zueinander ste-
fördert. Zudem werden Projekte massiv finanziell unter                hen. Die Vorstellung von der Hochschule als korporati-

39 Siehe: Winter, Martin / Falkenhagen, Teresa (2013): Marketing an      Hochschulmitarbeitenden basieren. Siehe: Brüser, Rene (2003):
   Hochschulen. Zur organisatorischen Verortung von Marketing-           Perspektiven des Hochschulmarketing. Eine theoretische und
   stellen an Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen           empirische Bestandsaufnahme des deutschen Hochschulsystems.
   Hochschulen. S. 8-16 in: Hochschulmanagement, Vol. 8, Heft            Halberstadt, Hochschule Harz, Fachbereich Verwaltungswis-
   1. Von Brüser (aus dem Jahr 2003) sowie von Schwetje, Hauser          senschaft. URL: http://hsdbs.hof.uni-halle.de/documents/t1370.
   & Leßmöllmann (aus dem Jahr 2017) liegen ebenfalls empiri-            pdf sowie Schwetje, Thorsten / Hauser, Christiane / Leßmöllmann,
   sche Studien vor, die auf Befragungen von Hochschulen bzw.            Annette (2017): Hochschulkommunikation erforschen. Hoch-
192                  O R D N U N G D E R WI S S E N S C H A F T 3 ( 2 0 1 9 ) , 1 8 3 - 1 9 4

vem Akteur steckt im politischen Programm der unter-                      2. Prognosen
nehmerischen Hochschule.40 Sie ist eine Ableitung aus
der Ideenwelt des New Public Management. Dies wirkt                       Wie könnte die Entwicklung weitergehen? Die Antwort
sich wiederum auf die Hochschulen aus – und zwar                          hängt wohl auch von verschiedenen Faktoren ab. Die
nicht nur auf die Gestaltung der rechtlichen und finanzi-                 Studierendenzahlen sowie die Studierquote sind in den
ellen Rahmenbedingungen „hochschulischen Unterneh-                        letzten Jahren deutlich gestiegen. Allerdings fällt der
mens“, sondern auch auf die Mentalität der beteiligten                    Andrang der Studierenden räumlich und fächerspezi-
Akteure, was wiederum diesen Wandel befördert. Offen-                     fisch sehr unterschiedlich aus. Obgleich das Hochschul-
bar bestätigt sich auch hier das bekannte Thomas-                         wesen in Deutschland generell als überlastet und unter-
Theorem:41 Die Hochschulen wähnen sich im Wettbe-                         finanziert gilt, sind an manchen Orten und in manchen
werb, also befinden sie sich im Wettbewerb; infolgedes-                   Fächern Studienbewerber/innen „Mangelware“ und
sen gibt es Gewinner und Verlierer. Die Hochschulen –                     werden Lehrkapazitäten nicht ausgeschöpft. Wie stark
ihre Mitglieder und insbesondere ihre Leitungen – glauben                 die Hochschulen im Wettbewerb stehen bzw. wie inten-
daran, auch weil es von ihnen so verlangt wird bzw. sie                   siv sie mit der Mangelverwaltung beschäftigt sind, ist
kritisiert werden, wenn sie nicht entsprechend agieren.                   demnach von Region zu Region sowie von den unter-
Weil sie als korporative Akteure auftreten (sollen), glau-                schiedlichen Studienfächern abhängig. In manchen
ben sie unternehmerisch, also wettbewerblich handeln                      Regionen und in manchen Fächern wird es in erster
zu müssen.                                                                Linie darum gehen, die Studienplätze überhaupt zu
    Ob hinter den langfristigen Entwicklungen im Ver-                     besetzen; in anderen dagegen wird sich der Wettbewerb
hältnis von Schule und Hochschule ein planerisches                        darauf konzentrieren, die „besten“ oder zumindest die
Vorgehen steckt, kann bezweifelt werden. Wenn es sich                     „passenden“ Studierenden zu gewinnen.42 Neben den
um unbeabsichtigte Folgen absichtsgeleiteten Handelns                     quantitativen Aspekten (Anzahl der Studienplätze,
handelt, dann ist zu fragen, welche politischen Absichten                 Anzahl der potenziellen Studieninteressierten) spielt
dahinterstehen. Zum einen dürften der Wunsch nach                         demnach das Leistungsniveau der Abiturient/innen bei
hohen Studierendenzahlen und einer hohen Studierquo-                      der Studienplatzverteilung eine zentrale Rolle. Beson-
te und zum anderen die erwünschte Ausrichtung der                         ders im Master-Bereich werden sich Angebot und Nach-
Hochschulen als unternehmerisch agierende Organisati-                     frage erheblich unterscheiden: In manchen Fächern und
onen diese Entwicklung gefördert haben.                                   an manchen Standorten werden die Hochschulen Prob-
    Auf schulpolitischer Seite bemüht man sich ange-                      leme haben, überhaupt genügend Studierende zu finden;
sichts steigender Abiturientenquoten und der Inflation                    an anderen führt die große Anzahl von Bewerber/innen
guter Noten um eine Wieder-Aufwertung des Abiturs.                        zu hochselektiven Auswahl- und Zulassungsverfahren.
Das geschieht bereits, indem die Länder gemeinsame                        Hinsichtlich der Anwendung von Zulassungs- und Aus-
Abituraufgabenpools schaffen. Zudem soll dazu eine ge-                    wahlverfahren ist folglich zu erwarten, dass sich die Stu-
wisse Vergleichbarkeit der Abiturnoten über ein Prozen-                   dienplatzvergabe in den Fächern und an den Hochschul-
trangverfahren, das Aussagen über die Notenverteilung                     standorten unterschiedlich entwickeln wird. Dies gilt es
in einem Bundesland erlaubt, hergestellt werden. Der ra-                  genauer empirisch zu untersuchen.
dikalste Schritt zur Aufwertung des Abiturs wäre indes                        Angesichts des aktuellen Rekordhochs der Studieren-
die Schaffung eines nationalen Zentralabiturs und eine                    denzahlen und der Not mancher Hochschulen, die vie-
Notenvergabe, die sich an der Normalverteilung der                        len Studierwilligen aufzunehmen, mag die Prognose43
Gaußschen Glockenkurve orientiert (wenige sehr gute,                      erstaunlich klingen, dass es mittel- bis langfristig mehr
viele durchschnittliche und wenige sehr schlechte No-                     Wettbewerb um Studierende zwischen den Hochschulen
ten). Ersterem steht allerdings der Bildungsföderalis-                    geben wird. Doch aller Voraussicht nach wird sich in den
mus in Deutschland entgegen; letzteres ist generell um-                   Regionen mit sinkenden Abiturientenzahlen der Trend
stritten.                                                                 der letzten Jahrzehnte umdrehen: Nicht mehr die Studi-

   schulkommunikatoren als Akteure. Karlsruhe: Karlsruher Institut        42 Vgl. Winter, S. 37 f., siehe Fußnote 5.
   für Technologie KIT. URL: http://www.geistsoz.kit.edu/germ             43 Allerdings kann man mit Prognosen auch ziemlich falsch liegen,
   anstik/downloads/Projektbericht-Hochschulkommunikation-                   wie Björn Christensen und Sören Christensen mit Blick auf die
   erforschen-2.Welle-Schwetje-Hauser-Lessmoellmann.pdf.                     bisherigen KMK- und CHE-Prognosen zu den Studienanfänger-
40 Vgl. Winter, Fußnote 5.                                                   zahlen feststellen. Siehe: Christensen, Björn / Christensen, Sören
41 „If men define situations as real, they are real in their consequen-      (2017): Falsche Prognosen. Wo kommen all die Studierenden
   ces.“ aus: Thomas, William I. / Thomas, Dorothy Swaine (1928):            her? Spiegel-Online. URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/
   The Child in America: Behavior Problems and Programs. New                 mensch/falsche-prognosen-wo-kommen-all-die-studierenden-
   York: Knopf, S. 572.                                                      her-a-1126487.html.
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