Paul Klee: Angelus Novus - Reformierte Kirche Küsnacht

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Paul Klee: Angelus Novus - Reformierte Kirche Küsnacht
Paul Klee: Angelus Novus

Abb. 1: Paul Klee: Angelus novus, 1920, 32, Ölpause und Aquarell auf Papier auf Karton, 31,8
  x 24,2 cm, Israel Museum, Jerusalem, Schenkung John und Paul Herring, Jo Carole und
                        Ronald Lauder, Fania und Gershom Scholem

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Kultur Täglich                           7.6.2020                                          1
Paul Klee: Angelus Novus - Reformierte Kirche Küsnacht
Walter Benjamins letzte Aufzeichnungen „Über den Begriff der Geschichte“, die
auch als „Geschichtsphilosophische Thesen“ bezeichnet werden, waren auf
seinen ausdrücklichen Wunsch nicht zur Veröffentlichung gedacht. Trotzdem
wurden sie nach seinem Tod publiziert und begannen in der Folge eine Karriere,
die ihren Höhepunkt in der Epoche der großen marxistischen Theoriebildungen
der sechziger und siebziger Jahre erreichte. Benjamin erklärte darin den Angelus
novus zum „Engel der Geschichte“ und der Verkörperung seiner
geschichtsphilosophischen Thesen:

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf
dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen,
worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine
Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das
Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns
erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf
Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen,
die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfegen. Aber ein Sturm weht
vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß
der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in
die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum
Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Walther Benjamin (Abb. 2) war selbst Besitzer des Werks, das er auf seiner
Flucht vor den Nationalsozialisten zurücklassen musste, und der posthum
erschienene Text „Über den Begriff der Geschichte“ gilt als sein
„philosophisches Vermächtnis“.

                                                       Abb. 2: Walter Benjamins
                                                       Leserausweis für die
                                                       Bibliothèque nationale de
                                                       France, Paris 1940

Das Klee-Werk übergab Benjamin in Paris dem französischen Schriftsteller und
Philosophen Georges Bataille, der es vor der deutschen Wehrmacht zeitweise in
der Bibliothèque Nationale versteckte und es Anfang 1947 mit dem Nachlass von

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Benjamin an Theodor W. Adorno in die USA überführen ließ. Das Manuskript
vertraute Benjamin, inzwischen nach Marseille geflohen, Hannah Arendt an, um
es seinem Freund Theodore W. Adorno übergeben zu lassen, der seit 1938 in
New York lebte. Walter Benjamin starb im September 1940 auf der Flucht vor
den Nazis im spanischen Grenzort Portbou. Es wird vermutet, dass er seine Lage
für aussichtslos hielt und daher Suizid beging.
Wie der Klee-Forscher Osamu Okuda zurecht bemerkte, setzten sich die meisten
Wissenschaftler mit der Deutung Benjamins auseinander, ohne Klees Werk
unabhängig von Benjamin zu analysieren.
Bezeichnenderweise ist es eine Künstlerin, R. H. Quaytman, die die Basis für
eine neue Sichtweise auf das Bild liefert. Im Zuge ihrer Vorbereitung auf die
Ausstellung im Tel Aviv Museum of Art 2015 entdeckte Quaytman am linken
unteren Rand des Angelus novus oberhalb des Werktitels ein Bildmonogramm,
das sie dem Kupferstecher Johann Friedrich Theodor Müller (1782 – 1816) und
einem spezifischen Werk, Bildnis von Luther, zuordnen konnte (Abb. 3, Abb. 4,
vgl. Pfeil). Der Hinweis stammt von der Kunsthistorikerin Annie Bourneuf.

                                                  Abb. 3: Bildausschnitt aus Paul Klee:
                                                 Angelus novus, 1920, 32, Ölpause und
                                                 Aquarell auf Papier auf Karton, 31,8 x
                                                   24,2 cm, Israel Museum, Jerusalem,
                                                    Schenkung John und Paul Herring,
                                                         Jo Carole und Ronald Lauder,
                                                          Fania und Gershom Scholem

                                             Abb. 4: Friedrich Theodor Müller, Martin
                                             Luther, Hüftbildnis im Talar, Stahlstich,
                                             21,8 × 18,7 cm, Museum im
                                             Melanchthonhaus Bretten

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Folglich hatte Klee das Lutherporträt als Bildträger verwendet. Folgen wir der
Werkrekonstruktion von Johann Konrad Eberlein, dann fertigte Klee „zunächst
eine Bleistiftzeichnung der Figur mit den erhobenen Armen an, den er in seinem
Oeuvrekatalog die Nummer 1920,69 gab (und die erhalten ist, Abb. 5).

    Abb. 5: Paul Klee, Angelus novus, 1920,69, Bleistift auf Papier auf Karton,30 x 22 cm,
                                    Privatbesitz Schweiz

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Diese Vorlage pauste er mittels eines von ihm selbst entwickelten
„Öldruckverfahrens“ durch und schuf so den im Catalogue raisonnée als
„Ölpause und Aquarell auf Papier und Karton“ bezeichneten „Angelus novus“.
[...]
Wie wir jetzt ergänzen können, klebte Klee anschließend die Ölpause auf das
Bildnis von Martin Luther, fügte Titel, Datum und Werknummer hinzu und
signierte das Werk unten rechts mit . Dieses verkaufte er im Mai oder
Anfang Juni 1921 über die Münchner Galerie Goltz für 1000 Reichsmark an
Walter Benjamin.
Vor dem Hintergrund der Rezeptionsgeschichte von Angelus novus und der
Tatsache, dass das Werk zu den Highlights des Nationalmuseum Israels zählt,
kommt dem versteckten Lutherporträt historische Brisanz zu. Luther war ein
Antisemit. Seine judenfeindliche Einstellung nutzte das NS-Regime als
bedeutsame Rechtfertigung für seine Rassenpolitik. Luthers Schrift aus dem Jahr
1543 „Von den Juden und ihren Lügen“ wurde ab 1933 vielfach neu aufgelegt
und diente als wichtige Begründung für die Judenverfolgung im Dritten Reich
(Abb. 6).

                                              Abb. 6: Martin Luther und Martin Sasse,
                                              Martin Luther über die Juden: Weg mit
                                              ihnen!, 60.-100. Tausend, Freiburg im
                                              Breisgau: Sturmhut-Verlag, 1938

                                          Der von den Nationalsozialisten
                                          ermordete evangelisch-lutherische
                                          Theologe Dietrich Bonhoeffer be-
                                          schrieb die damalige Politisierung
                                          Luthers 1937 so: „Überall Luthers
                                          Worte und doch aus der Wahrheit
                                          in Selbstbetrug verkehrt.“
                                          Wäre eine Werkinterpretation von
                                          Angelus novus auf der Basis des
                                          Lutherporträts produktiv, oder
                                          diente das Blatt Papier des Stichs
                                          lediglich      als     rezyklierter
                                          Bildträger?
                                          Zwar ist eine Lutherbibel von 1915
                                          in der Originalbibliothek von Paul
                                          Klee nachweisbar. Eine Kopie
                                         seines Taufscheins vom 8. April
1888 weist ihn jedoch als Mitglied der „Evangelisch-reformierten Kirche des
Kantons Bern“ aus.

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Klee stand der christlichen Religion skeptisch gegenüber, wie entsprechende
religionskritische Aussagen in Briefen und Tagebüchern nahelegen.
Das heißt nicht, dass sich in Klees Oeuvre keine Bilder mit religiösen Motiven
oder mit Anspielungen auf sakrale Themen nachweisen lassen. Dies gelte
ebenfalls für den Angelus novus, wie Eberlein 2006 festhielt. Angelus novus sei
die „Reprise“ des Werkes Angelus descendus, das Klee 1918 während des
Krieges malte. (Abb. 7).

 Abb. 7: Paul Klee, Angelus descendus, 1918,96, Feder und Aquarell auf Papier auf
               Karton, 15,3 x 10,2 cm, Privatbesitz, Großbritannien

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Das Blatt zeigt eine menschenähnliche Figur mit erhobenem gelbem Flügel oder
erhobenen Armen, die in der Bildmitte über eine hügelige Stadtlandschaft
schwebt. Der Kopf der Figur trägt den Buchstaben „ANGELVS“. Darüber fliegt
ein violetter Vogel. Sonne, Mond und Sterne stehen am Firmament. Ein kleiner
Stern, der Bethlehem Stern, wie Eberlein die Szene interpretiert, die hier in der
Lutherbibel wiedergegeben wird: Lukas 2:9 / „Und siehe, des HERRN Engel trat
zu ihnen, und die Klarheit des HERRN leuchtete um sie; und sie fürchteten sich
sehr.“ Lukas 2:10 / „Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! siehe,
ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wir; [...].“
Der direkte Bezug zur Weihnachtsgeschichte fehlt beim Werk Angus novus, da
die Bildmotive mit Ausnahme der Figur weggelassen sind. Entsprechend öffnet
sich der Raum für neue Interpretationen.

                        Walther J. Fuchs

                        Masterstudium der Kunst- und Architekturgeschichte
                        an den Universitäten Bern und Zürich. Promotion in
                        Allgemeiner Geschichte (zum Thema
                        Wissenschaftsgeschichte) an der Universität Zürich.
                        Seit 2011 Leiter des Digiboo Verlag, Publizist und
                        Mitinitiant sowie Mitherausgeber der Zeitschrift »Die
                        Zwitscher-Maschine. Journal on Paul Klee. Zeitschrift
                        für internationale Klee-Studien«.
                        Verfasser verschiedener Buchbeiträge und Aufsätze zu
                        Kunst, Geschichte und Kultur. Mitglied der
                        Kirchenpflege der Reformierten Kirche Küsnacht im
                        Aufgabenbereich »Gottesdienst und Musik«, Basar
                        und Flohmarkt
                        walther-fuchs.com

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