Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen

 
WEITER LESEN
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
September 2011                                             Jahrgang 53

                 Personalisierte Medizin –
                 heute schon die
                 Medizin von morgen

                               In Zusammenarbeit mit

                                                  Zeitbild Wissen      1
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
Inhalt
Ein Wirkstoff wandert durch den Körper              4          Fotostory: „Kommt ein Mann zum Arzt ...“   18

Entwicklungszyklus eines Medikaments:                          Interview: Die Zukunft der
Von der Idee zur Therapie                           6          personalisierten Medizin                   20

Die Wirksamkeit von Arzneimitteln                   8          Der gläserne Mensch:
                                                               Durchsichtig für alle und jeden?           22
Keine Wirkung ohne Nebenwirkung?                    9
                                                               Arbeitsblätter                             24
Was macht einen Menschen medizinisch
zu einem Individuum?                               10          Lösungshinweise                            29

                                                               Literatur und Links                        30
Individueller behandeln mit
personalisierter Medizin                           13          Personalisierte Medizin von A – Z          31

Wo personalisierte Medizin helfen kann             16          Impressum                                  32

         Didaktische Empfehlungen für Lehrkräfte
Hinweise zum Einsatz der Materialien im Unterricht

         Warum reagieren Menschen mit den          Genetik können darüber hinaus-
         gleichen Krankheiten so verschieden       gehend aktuelle Trends in der
         auf eine identische Behandlung?           Erforschung von Wirksamkeit und
         Diese Leitfrage ist Kern der persona-     Verträglichkeit von Arzneimitteln
         lisierten Medizin, die das vorliegende    in den Unterricht integriert werden.
         Unterrichtsmagazin mit Beispielen         Die Schülerinnen und Schüler
         aus der Praxis behandelt.                 erfahren, wie genetische Diagnose-
                                                   verfahren helfen, individuelle
         Obwohl die personalisierte Medizin
                                                   Therapiekonzepte zu erstellen.
         in der medizinischen Forschung
         seit einigen Jahren im Fokus steht,       Fünf Arbeitsblätter am Ende des
         wurde dieses Thema bislang kaum           Magazins vertiefen die behandelten
         für den Biologieunterricht aufbereitet.   Themen und bieten zielgerichtet
         Das vorliegende Zeitbild Wissen           Zugänge, die das Verständnis
         „Personalisierte Medizin – heute          der personalisierten Medizin
         schon die Medizin von morgen“             ermöglichen. Zahlreiche Abbildungen
         richtet sich vor allem an Schülerinnen    und unterschiedliche Aufgaben
         und Schüler in den Grund- und             regen die Schülerinnen und Schüler
         Leistungskursen der Oberstufe.            zu einer selbstständigen und diffe-
         Anknüpfend an die Lehrplaninhalte         renzierten Auseinandersetzung mit
         in den Bereichen Stoffwechsel und         dem Thema an.

2    Zeitbild Wissen
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
Personalisierte
Medizin – was ist das?
Personalisierte oder individualisierte Medizin ist derzeit in aller Munde
und steht für einen gegenwärtigen Trend in der Medizin. Personalisierte
Medizin weckt bei Wissenschaftlern, Ärzten, Krankenkassen sowie bei
Patienten gleichermaßen hohe Erwartungen. Selbst die Politik verspricht
sich von der personalisierten Medizin Einsparungen im Gesundheits-
wesen. Patientenverbände setzen ihre Hoffnungen auf die kürzlich ins
Leben gerufene Gesellschaft für Personalisierte Medizin in Europa
(EPEMED, European PErsonalised MEDicine).

Ein wesentliches Schwerpunktthema der personalisierten Medizin ist
die Pharmakogenomik. Darunter wird verstanden, dass individuelle
Erbanlagen für die Entstehung einer Krankheit wichtig sein können
(sog. Suszeptibilitätsfaktoren) sowie das Ansprechen einer Arzneimittel-
therapie und/oder unerwünschte Arzneimittelnebenwirkungen infolge
einer Therapie durch genetische Faktoren beeinflusst werden. Insgesamt
erhofft man sich so durch pharmakogenomische Forschung wesentliche
Impulse für eine innovative zukünftige Arzneimittelentwicklung und
für eine verbesserte Anwendung von Medikamenten. Damit soll erreicht
werden, dass Patienten in Zukunft eine individuelle, maßgeschneiderte
Therapie erhalten bzw. individualisierte Therapieansätze erarbeitet
werden und der Leitsatz „Das richtige Medikament für den richtigen
Patienten in der richtigen Dosierung“ Realität wird. Engstens mit
diesen Zielen verbunden ist ein besseres Verständnis von molekularen
und biologischen Abläufen, die ein Grundwissen in den unterschiedlichs-
ten Bereichen von Wissenschaft und klinischer Medizin voraussetzen.

Das vorliegende Zeitbild Wissen soll einen ersten Beitrag dazu leisten,
verschiedene Aspekte aus Molekular- und Zellbiologie, Stoffwechsel sowie
Genetik in gut verständlicher Weise aufzubereiten und in das übergeord-
nete Konzept der personalisierten Medizin einzuordnen. Dies ist wichtig,
da in Zukunft personalisierte Medizin und damit medizinische Genom-
forschung auch in Deutschland eine noch größere Bedeutung finden wird,
da auch von politischer Seite für die kommenden Jahre Fördermaßnah-
men geplant sind, um neue Forschungsstrategien zur individualisierten
Medizin zu entwickeln und eine leistungsstarke Versorgungsforschung
aufzubauen. Dabei stehen Gesundheitsforschung sowie die Biotechno-
logie im Fokus dieser Hightech-Strategie (www.hightech-strategie.de).

Prof. Dr. Matthias Schwab
Leiter des Instituts für Klinische Pharmakologie in Stuttgart,
Forschungsschwerpunkt Pharmakogenomik

                                                                            Zeitbild Wissen      3
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
Ein Wirkstoff wandert
durch den Körper
Wirkstoffe durchlaufen verschiedene Stationen im Körper, bis sie die
beabsichtigte Wirkung erzielen und schließlich wieder ausgeschieden
werden. Individuelle Unterschiede bei Verteilung und Metabolisierung
der Wirkstoffe spielen eine wichtige Rolle bei der Therapieplanung im
Rahmen der personalisierten Medizin.

Besonders viele Stationen durchlau-     rende zum Cytochrom-P450-System           Ein radioaktiver Wirkstoff
fen Wirkstoffe aus Medikamenten         (CYP) gehören, während andere             zirkuliert im Blut (0 min)
                                                                                  und wird in der Folgezeit
zum Schlucken, wie etwa Tabletten,      Enzyme z. B. Glucuronsäure an die         über Niere und Blase
Kapseln oder Trinklösungen. Das soll    Wirkstoffe koppeln (was ihre Wasser-      ausgeschieden. Der Vor-
hier anschaulich werden am Beispiel     löslichkeit steigert).                    gang wurde mit einem
einer Tablette.                                                                   PET-Ganzkörperscanner
                                        Nach der ersten Leberpassage werden       aufgezeichnet. Viele
Nach dem Schlucken erreicht die         die Wirkstoffmoleküle mit dem Blut        Wirkstoffe verlassen den
                                                                                  Körper auf gleiche Art.
Tablette zunächst den Magen, wo sie     nach Passieren von großer Hohlvene,
sich auflöst und den Wirkstoff frei-    rechtem Herz, Lunge, linkem Herz und
setzt. Dieser wird in den Dünndarm      Aorta über den Blutstrom im ganzen                                     0–5 min
transportiert, passiert die Darm-       Körper verteilt. Sind sie nicht gut
schleimhaut und gelangt in deren        wasserlöslich, lassen sie sich von den
Blutkapillaren. Über die Pfortader,     Bluteiweißen wie Plasmaalbumin            Organ vorkommen und die eine Rolle
in die alle Venen des Dünndarms         tragen. Sie reichern sich dann auch       im Krankheitsgeschehen haben. Sie
münden, wird der Wirkstoff sodann       bevorzugt in fettreichen Geweben an       können aber auch im Blutplasma
zur Leber transportiert. Dort haben     und stehen außerhalb davon nur in         vorliegen (wie beispielsweise die
die Leberzellen erstmals Gelegenheit,   verminderten Konzentrationen zur          Gerinnungsfaktoren).
ihn zu metabolisieren, also chemisch    Verfügung. Gelangen Wirkstoff-
                                                                                  Sobald die Wirkstoffmoleküle in der
zu verändern. Wird hierdurch der        moleküle auf diese Weise erneut in
                                                                                  Blutbahn sind, beginnt auch schon
größte Teil der Wirkstoffmoleküle       die Leber, sind sie wieder der Meta-
                                                                                  ihre Ausscheidung. Gut wasserlösliche
inaktiviert, spricht man von einem      bolisierung ausgesetzt. Aber auch
                                                                                  Wirkstoffe (oder ihre Metaboliten)
„ausgeprägten First-Pass-Effekt“;       Enzyme in der Lunge oder im Blutplas-
                                                                                  verlassen den Körper bevorzugt über
er muss bei der Medikamenten-           ma können Wirkstoffe metabolisieren.
                                                                                  die Nieren und die Harnwege. Eher
Dosierung berücksichtigt werden.
                                        Aus dem Blut können die Wirkstoffe        fettlösliche werden von der Leber dem
Metabolisiert werden können Wirk-       auch allerorts in die Interstitial-       Blutplasma entzogen und in die Galle
stoffe von verschiedenen Leber-         flüssigkeit wechseln und so alle Zellen   überführt, die über den Darm und den
enzymen, von denen einige oxidie-       erreichen. Nur in Gehirn, Rückenmark      Kot den Körper verlässt.
                                        und Hoden gibt es besonders abge-
                                                                                  Bei der Entwicklung eines Medika-
                                        dichtete Gefäßwände, die die meisten
                                                                                  ments müssen alle genannten Pro-
                                        Wirkstoffe nicht durchlassen. Man
                                                                                  zesse bedacht werden. Und darüber
Hinweis Arbeitsblatt 1                  spricht von Blut-Hirn-Schranke bzw.
                                                                                  hinaus ist zu berücksichtigen, dass
                                        Blut-Hoden-Schranke.
Die Schülerinnen und Schüler                                                      jeder Transport-, Verteilungs- und
vertiefen die Metabolisierer-           Wo die Wirkstoffmoleküle schließlich      Verstoffwechslungsprozess individuell
Phänotypen und kommen                   einen Effekt erzielen, hängt allein       unterschiedlich schnell abläuft bzw.
auf die Spur der individuell            davon ab, wo sie auf passende mole-       unterschiedlich stark ausgeprägt ist.
unterschiedlichen Wirksamkeit           kulare Bindungspartner treffen – ihre     Dazu tragen genetische Unterschiede
von Medikamenten, eines                 Targets: Meist sind das Moleküle einer    bei den Metabolisierungsenzymen
zentralen Aspekts der perso-            bestimmten Enzym- oder Rezeptoren-        ebenso bei wie beispielsweise der
nalisierten Medizin.                    art, die nur in dem zu behandelnden       Körperfett-Anteil.

4    Zeitbild Wissen
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
20–25 min                           45–50 min                                                                    120–125 min                                    240–245 min

 Die vier Metabolisierer-Phänotypen
                                                                   willkürlich am Maximum beim PM kalibriert.

                                                                                                                100
                                                                   relative Einheiten. Die 100 % wurden dabei
                                                                   Wirkstoffkonzentration im Blutplasma /

                                                                                                                                                   Starke Nebenwirkungen
 Die Unterschiede in der Konzentration und Verweildauer eines                                                    75
 Wirkstoffs im Körper eines Patienten sind abhängig von der
 individuellen Enzymausstattung. Eine wichtige Rolle spielen                                                     50
                                                                                                                                                                                         PM

 dabei u. a. die Cytochrom-P450-Enzyme, die den Abbau vieler                                                                                       Therapeutisches Fenster
 Wirkstoffe katalysieren. Sind sie oder andere Abbauenzyme
                                                                                                                 25                                                                      IM
 verändert oder nur geringgradig exprimiert, kann das erheb-
                                                                                                                                                   Unwirksam                             EM
 liche Auswirkungen auf die Wirksamkeit von Medikamenten
                                                                                                                                                                                         UM
 haben. Vier Metabolisierungstypen werden unterschieden:                                                          0
                                                                                                                      0		                    4           8                          12
                                                                                                                      Zeit/Stunden nach Einnahme
 Normaler Metabolisierer
 (Extensive Metabolizer, EM)
 Angaben zur Dosierung und Einnahmehäufigkeit von Wirk-                 Langsamer Metabolisierer
 stoffen sind in der Regel auf Patienten mit normaler bis leicht        (Poor Metabolizer, PM)
 schneller Enzymtätigkeit abgestimmt. Mit einer normalen                Wirkstoffe werden nur langsam metabolisiert. Deshalb können
 Dosis wird bei ihnen eine Konzentration im Blutplasma                  bei normaler Dosierung verstärkt Nebenwirkungen bis hin
 (Spiegel) erreicht, die sich längere Zeit innerhalb des „thera-        zu Vergiftungen auftreten, da es ab der zweiten Einnahme zu
 peutischen Fensters“ bewegt (also hoch genug für die                   überhöhten Wirkspiegeln kommt.
 Wirkung, aber nicht hoch genug für inakzeptable Neben-
                                                                        Ultraschneller Metabolisierer
 wirkungen ist), ehe sie unter die Wirksamkeitsschwelle fällt.
                                                                        (Ultra Rapid Metabolizer, UM)
 Eingeschränkter Metabolisierer                                         Wirkstoffe werden sehr schnell abgebaut. Hier besteht die
 (Intermediate Metabolizer, IM)                                         Gefahr, dass sie deshalb nur eine sehr kurzfristige, eine geringe
 Wirkstoffe werden verlangsamt verstoffwechselt. Bei normaler           oder gar keine therapeutische Wirkung erzielen.
 Dosierung ist die Wirkdauer verlängert, Nebenwirkungen
 sind wahrscheinlicher. Ab der zweiten Einnahme drohen                  Ein Patient kann für den einen Wirkstoff ein normaler Metabolisie-
 dauerhaft Wirkspiegel oberhalb des therapeutischen Fensters.           rer und für einen anderen z. B. ein langsamer Metabolisierer sein.

                                                                                                                                                       Zeitbild Wissen          5
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
Entwicklungszyklus eines Medikaments

Von der Idee zur Therapie
Bei welchen Krankheiten besteht Bedarf für ein neues Medikament? Haben sich durch neue Forschungserkenntnisse
die Chancen auf ein wirksameres Medikament verbessert? Oder lässt sich ein Medikament finden, das weniger
Nebenwirkungen aufweist als die bisherigen? Erst wenn diese und andere Fragen geklärt sind, beginnt die Forschung
für ein neues Arzneimittel. Die Entwicklung eines Medikaments läuft in verschiedenen Phasen ab und dauert
im Schnitt mehr als dreizehn Jahre. Sie wird von den zuständigen Behörden überwacht und muss strengen Regularien
genügen, um eine größtmögliche Arzneimittelsicherheit zu gewährleisten.

Gesucht: Ein neues Medikament                                 Eine Art Partnersuche
Bei vielen Krankheiten gibt es noch keine oder keine          Kennt man das Target, wird ein Profil des potenziellen
wirklich hilfreiche Therapie. Dies ist für Forscher eine      Wirkstoffs erstellt. Beim sogenannten Screening werden
große Herausforderung, um ein wirksames Medikament            ein bis zwei Millionen Substanzen versuchsweise mit
zu entwickeln: Die Arbeit beginnt.                            den Targetmolekülen zusammengebracht. Kommt
                                                              zwischen einer Substanz und dem Target eine Bindung
                                                              zustande, spricht das für eine mögliche Wirkung. Dieses
                                                              erfreuliche Ergebnis nennt man Hit.

Wo ansetzen?
Zunächst müssen Pharmaforscher herausfinden, an
welcher Stelle das Krankheitsgeschehen beeinflusst werden     Von der Möglichkeit zum Wirkstoffkandidaten
kann. Man sucht dabei einen Ansatzpunkt (Target):             Diese Hits geben Forschern wichtige Hinweise darauf,
Dies ist ein körpereigenes Molekül, das durch den Wirkstoff   wie eine Substanz beschaffen sein muss, um an ein Target
so beeinflusst werden könnte, dass hierdurch die Erkran-      zu binden. Auf Basis dieser Kenntnisse werden dann neue
kung geheilt, ihr Fortschreiten hinausgezögert wird oder      Substanzen synthetisiert und ihre Wirkung getestet.
damit einhergehende Beschwerden gelindert werden.
Bei einer Infektions­krankheit wiederum sucht man nach
Targets im Erreger selbst, um z. B. Bakterien abzutöten.

6    Zeitbild Wissen
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
Thema mit vielen Variationen                                  Phase-II-Studien: Studien mit wenigen Kranken
Zeigen erste Substanzen ansatzweise Wirkung, werden           Nun wird ein potenzielles Arzneimittel mit Patienten
von ihnen – auch gestützt auf Einsichten aus Computer-        untersucht: Etwa 100 bis 500 von einer bestimmten
simulation – Varianten hergestellt und getestet. Die besten   Erkrankung Betroffene nehmen freiwillig nach umfassen-
Substanzen werden wiederum modifiziert und getestet,          der Aufklärung an den Studien teil. Damit man Wirksam-
modifiziert und getestet ... bis es ein paar Substanzen       keit und Verträglichkeit gut bewerten kann, erhält ein Teil
mit so guten Testergebnissen gibt, dass sie als Wirkstoff     der Patienten eine schon zugelassene Vergleichsbehand-
verwendet werden könnten.                                     lung oder ein Scheinmedikament ohne Wirkung (Placebo).

Tests auf Wirkung und Verträglichkeit                         Phase-III-Studien: Studien mit vielen Kranken
Die wirksamste Substanz nützt nichts, wenn sie nicht          Schließlich wird das Medikament – wieder vergleichend –
auch verträglich ist. Deshalb werden aussichtsreiche          mit mehreren tausend Patienten in vielen Ländern erprobt.
Wirkstoff-Kandidaten zunächst in Zellkulturen und dann        Dabei werden Wirksamkeit, Verträglichkeit und Wechsel-
im Tierversuch auf ihre Giftigkeit (Toxizität) untersucht.    wirkungen mit anderen Medikamenten untersucht.
Nur was auch hier die Proben bestanden hat, wird weiter
untersucht.

Phase-I-Studien: Vom Reagenzglas in den Körper                Prüfung der Zulassungsstellen
In dieser Studienphase wird der Wirkstoff mit freiwilligen    Die Zulassungsbehörden prüfen nun die Ergebnisse der
Probanden – also gesunden Menschen – untersucht. Man          durchgeführten Labor-, Tier- und Human-Studien zu
prüft, wie der Wirkstoff durch den Körper wandert, wie sich   Wirksamkeit, Verträglichkeit und zur technischen Qualität
geringe Mengen des Wirkstoffs auf den Körper auswirken        (z. B. Reinheit) des Medikaments. Wird dies alles für gut
und ab welcher Dosierung sie unerwünschte Wirkungen           befunden, erhält das Medikament die Zulassung und der
(Nebenwirkungen) verursachen.                                 Hersteller bringt es auf den Markt.

                                                              Immer unter Kontrolle
Geleitschutz und Türöffner                                    Ärzte können ihren Patienten das Medikament nun
Der Wirkstoff muss noch in eine bestimmte Darreichungs-       verordnen. Die Packungsbeilage wird vom Hersteller
form eingebettet werden, um als Arzneimittel eingesetzt       laufend aktualisiert, um z. B. auf neu entdeckte Neben-
werden zu können. Sie gibt ihm Geleitschutz (z. B. gegen      oder Wechselwirkungen hinzuweisen. Die Studien und das
die Magensäure) oder öffnet ihm Türen (macht z. B. die        Zulassungsverfahren zur Anwendung des Medikaments
Haut wirkstoffdurchlässig). Gängige Darreichungsformen        bei Kindern und Jugendlichen erfolgen in der Regel etwas
sind Tabletten, Kapseln, Salben, Trink- und Injektions-       zeitversetzt. Könnte das Medikament bei weiteren Erkran-
lösungen, Sprays und Wirkstoffpflaster.                       kungen helfen, werden neue klinische Studien begonnen.

                                                                                                        Zeitbild Wissen      7
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
Das Enzym Thrombin (hier grün/braun dargestellt) ist ein
Gerinnungsfaktor im menschlichen Blut: Es erzeugt Fibrinfäden.
Hier hat sich ein Wirkstoff (weiß/rot/blau) ins aktive Zentrum
gebunden. Auf diese Weise wird die Aktivität des Thrombins
gehemmt und die Gerinnungsneigung des Blutes herabgesetzt.

Die Wirksamkeit von Arzneimitteln
Ein Arzneimittel soll eine Krankheit verhindern, heilen oder ihre Symptome lindern. Und das möglichst zuverlässig.
Dazu muss es im Körper eine gezielte Wirkung auf der Ebene der Moleküle entfalten.

Fast immer erzielt der Wirkstoff eines                      Diese Bindung erfolgt in der Regel        ergibt, hängt von all den Prozessen
Medikaments seine Wirkung, indem                            nicht-kovalent (durch Ladungsan-          ab, denen ein Wirkstoff im Körper
er sich an ein bestimmtes biologi-                          ziehung und hydrophobe Wechsel-           ausgesetzt ist (der Pharmakokinetik).
sches Zielmolekül bindet; meist ein                         wirkungen) und reversibel, aber sehr      Die Konzentration ändert sich auch im
bestimmtes Enzym oder ein Rezeptor.                         spezifisch. Der Wirkstoff bindet sich     Zeitverlauf, und mit ihr die Wirksam-
                                                            also nur in geringem Maße auch an         keit (siehe Diagramm links).
                                                            andere Moleküle.
                                                                                                      All dies kann von Mensch zu Mensch
                                                            Der Wirkstoff ist dabei so gebaut, dass   variieren. Glücklicherweise lässt sich
Hypoglykämische
Aktivität
                                                            er entweder an die funktionswichtigs-     aber meistens ein „therapeutisches
                                   Kurzwirksames Insulin
                                   (modifizierte Sequenz)
                                                            te Stelle des Zielmoleküls andockt        Fenster“ angeben: eine Einnahmedo-
                                   Human-Insulin            – etwa an das aktive Zentrum eines        sis, die bei den meisten Patienten zu
                                                            Enzyms (s. Abbildung oben) oder die       ausreichender Wirkung bei akzeptab-
                                                            Hormonbindungsstelle eines Rezep-         len Nebenwirkungen führt.
                                                            tors – oder aber das Zielmolekül allos-
                                                            terisch beeinflusst. Die Aktivität des
                                                            Zielmoleküls erlischt daraufhin oder
                                                            wird gedämpft; in manchen Fällen
                                                            wird sie auch gesteigert.
                  Zeit (Stunden)                            Die Wirksamkeit ist abhängig von der             Hinweis Arbeitsblatt 2
                                                            Beschaffenheit der Zielmoleküle: Sind            Das Arbeitsblatt sensibilisiert
Die Grafik zeigt den typischen Wirkungs-                    diese mutiert, kann das die Bindung              die Schülerinnen und Schüler
verlauf nach einer subkutanen Insulin-                      erschweren oder erleichtern. Die Wirk-           für die dosis-abhängige
injektion auf den Glukosestoffwechsel.
                                                            samkeit hängt ferner von der Wirk-               Wirksamkeit und Verträg-
Dazu wird die relative Glukosemenge, die
notwendig ist, um den Blutglukosespiegel                    stoffkonzentration am Ort der Ziel-              lichkeit von Substanzen.
im Organismus nahe den Nüchternwerten                       moleküle ab. Pharmaforscher streben
zu halten, in Relation zur Zeit gesetzt.                    an, dass mikro- oder sogar nanomola-
                                                            re Konzentrationen genügen. Welche
                                                            Konzentration sich tatsächlich vor Ort

8    Zeitbild Wissen
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
Keine Wirkung
ohne Nebenwirkung?
„Wenn behauptet wird, dass eine Substanz keine Nebenwirkung zeigt, so besteht der dringende Verdacht, dass sie
auch keine Hauptwirkung hat“, wusste schon der 1946 bis 1972 in Mainz tätige Pharmakologe Gustav Kuschinsky.
Nebenwirkungen, auch Begleiterscheinungen oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen genannt, lassen sich fast
nie vermeiden, aber sie werden nicht immer spürbar. Durch die richtige Anwendung können sie zudem minimiert
werden und bestimmen dann eine weitere Arzneimitteleigenschaft: seine Verträglichkeit.

Was der Anwender über ein Arznei-       lich sein können. Deshalb wird in der      von Abbauenzymen oder ein ineffi-
mittel wissen muss, wird vom Her-       Packungsbeilage zu allen Medika-           zienter Ausscheidungsprozess.
steller in enger Abstimmung mit den     menten mit einer Häufigkeitsskala auf
                                                                                   Auch können durch mangelnde Spe-
zuständigen Behörden in der Packungs-   möglicherweise auftretende Neben-
                                                                                   zifität eines Wirkstoffs andere pharma-
beilage nach definierten Kriterien      wirkungen hingewiesen.
                                                                                   kologische Vorgänge beeinflusst und
zusammengefasst. Er beschreibt
                                        Nebenwirkungen – nämlich aller-            so Nebenwirkungen hervorgerufen
neben der Anwendung des Arznei-
                                        gische Reaktionen – können in einer        werden. Dies tritt beispielsweise auf,
mittels und seinen Gegenanzeigen
                                        individuell erhöhten Empfindlichkeit       wenn Rezeptoren, an die ein Wirkstoff
(also Faktoren wie Alter oder Vorer-
                                        des Immunsystems gegenüber einer           bindet, in mehreren Organen vorhan-
krankungen, bei denen ein bestimm-
                                        Substanz begründet liegen.                 den sind oder der Wirkstoff an mehr
tes Medikament nicht angewendet
                                                                                   als einen Rezeptor-Subtyp bindet. Wei-
werden sollte) auch die bekannten
                                        Nebenwirkungen können durch eine           tere Nebenwirkungen können durch
Nebenwirkungen in Art und Häufigkeit.
                                        Überdosierung bedingt sein. Dazu           Interaktionen, also Wechselwirkungen,
Die meisten Nebenwirkungen treten       kann es nicht nur durch übermäßige         zustande kommen: Wechselwir-
jedoch nicht bei jedem auf, sondern     Einnahme kommen, sondern auch              kungen mit anderen Medikamenten,
nur bei einem kleinen Teil der          dadurch, dass individuelle physiolo-       Alkohol oder Nahrungsmitteln. So sind
Patienten. Fallen Nebenwirkungen        gische Besonderheiten des Patienten        bei mehr als 300 Arzneistoffen Wech-
nur schwach aus, bleiben sie sogar      zu einer höheren Plasmakonzentra-          selwirkungen mit Nahrungs- und
oft unbemerkt. Sie können aber auch     tion des Wirkstoffs führen als             Genussmitteln bekannt: Selbst Milch
überaus starke Symptome hervor-         erwartet. Ursache dafür ist meist          oder Grapefruitsaft setzen die Wirk-
rufen, die manchmal lebensbedroh-       eine geringe Aktivität (oder ein Fehlen)   samkeit mancher Medikamente herab.

                                                                                                       Zeitbild Wissen      9
Personalisierte Medizin - heute schon die Medizin von morgen
Was macht einen Menschen
medizinisch zu einem Individuum?
Vieles hat Einfluss darauf, ob ein Mensch gesund ist und bleibt oder erkrankt. Die meisten wichtigen Volkskrankheiten
beruhen auf einem sehr komplexen Zusammenspiel genetischer, umweltbedingter und auf den Lebensstil zurück-
zuführender Faktoren. Im Falle einer Erkrankung werden für eine optimale medizinische Behandlung die Lebensweise
sowie altersbedingte, geschlechtsspezifische und zunehmend genetische Besonderheiten berücksichtigt.

                                        Lebensalter                             altersgemäßen Stoffwechsel ange-
                                        Krankheiten verlaufen bei jüngeren      passt sein. Säuglinge und Klein-
                                        und älteren Patienten oft unter-        kinder können auch keine Tabletten
                                        schiedlich: So leiden Erwachsene        schlucken und benötigen deshalb
                                        weit schwerer unter Windpocken als      andere Darreichungsformen.
                                        Kinder; eine Gürtelrose hinterlässt
                                        bei Senioren, anders als bei Jünge-     Geschlecht
                                        ren, meist monatelange Schmerzen.       Dem „kleinen Unterschied“ wird
                                        Keuchhusten ist für Erwachsene          zunehmend große Aufmerksamkeit
                                        lästig, für Neugeborene aber lebens-    gewidmet. Genetisch und physio-
                                        gefährlich. Maligne Tumore –            logisch ist er aber – abgesehen vom
                                        wiewohl im Alter immer häufiger         Offensichtlichen – über weite Strecken
                                        – wachsen bei alten Patienten lang-     gering. So lassen sich auch die
                                        samer als bei jungen.                   meisten Medikamente in gleicher

                                        Medikamente müssen zum Erzielen
                                        gleicher Wirkspiegel bei Senioren
                                        oft niedriger dosiert werden als bei
                                        Jüngeren. Denn im Alter lassen
                                        Metabolisierung und Ausscheidung
                                        durch Leber und Nieren nach.

                                        Bei Kindern muss die Arzneimittel-
                                        dosis nicht nur an die geringere
                                        Körpergröße, sondern auch an den

10    Zeitbild Wissen
Weise bei beiden Geschlechtern
anwenden; nur wenige erfordern eine
Dosisanpassung. Beim Verordnen
müssen Ärzte aber berücksichtigen,
dass es zu Wechselwirkungen
zwischen der „Pille“ und anderen
Medikamenten kommen kann.

Manche Krankheiten betreffen weit
häufiger Frauen als Männer. Im
Falle der Osteoporose lässt sich das
auf Unterschiede im Sexualhormon-
system zurückführen, bei Auto-
immunkrankheiten wie rheuma-
toider Arthritis oder multipler Sklerose
sind die Gründe noch ungeklärt.
Umgekehrt haben Männer ein
höheres Risiko für Herzinfarkt.
                                           30 bis 60 Millionen Basen, was ein bis
Lebensweise                                zwei Prozent des gesamten Erbguts
Nicht ohne Grund hat die Lebens-           entspricht. Diese Varianzen betreffen
stilforschung einen festen Platz           in der Mehrzahl nur einzelne Basen;
in der Medizin! Falsche Ernährung          sie werden als SNPs (Single Nucleo-
kann Adipositas und Diabetes zur           tide Polymorphisms, sprich „Snips“)
Folge haben, Tabak- und Alkohol-           bezeichnet. SNPs finden sich mehr
konsum können Lunge und Leber              oder weniger zufällig über das Genom
schädigen, Bewegungsmangel und             verteilt alle 500 bis 1000 Basenpaare.
Stress fördern die Entstehung von          Daneben gibt es in manchen Geno-
Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zu            men auch Duplikationen von Sequenz-
viel ungeschützter Aufenthalt in           abschnitten (und darin enthaltenen
der Sonne führt durch irreversible         Genen), die andere Genome nicht
DNA-Schäden zu Hautkrebs.                  aufweisen. Man spricht von Copy
Die Beispiele zeigen, wie in Gesund-       Number Variants (CNV).
heitsdingen der Lebensstil die gene-       Ein Großteil dieser Variationen sind
tische Grundausstattung völlig über-       medizinisch ohne Belang. Einige kön-
lagern kann. Spannende Antworten           nen allerdings Ursache für – teilweise
auf die Frage nach dem Beitrag von         sehr komplexe – Krankheitsbilder sein
Genen und Lebensweise liefert              oder zumindest die Anfälligkeit für
übrigens die Zwillingsforschung.           bestimmte Krankheiten erhöhen. So
                                           ist das Risiko für Brustkrebs bei be-
Individuelle                               stimmten Varianten der Gene BRCA1
genetische Konstitution                    oder BRCA2 erhöht – nicht weil diese
Bis auf den Sonderfall der eineiigen       Varianten Krebs auslösen, sondern
Zwillinge hat jeder Mensch eine indi-      weil dadurch bestimmte krebshem-
viduelle Zusammensetzung an Gen-           mende Mechanismen im Körper nicht
varianten. Es gibt also kein fest defi-    richtig funktionieren.
niertes menschliches Genom, sondern
                                           Andere Variationen in Genen haben
nur so etwas wie ein „Konsens­genom“.
                                           Einfluss darauf, ob ein bestimmtes
Das Genom zweier beliebiger Per-           Medikament wirken kann oder ver-
sonen unterscheidet sich an etwa           tragen wird, weil die Genprodukte

                                                                                    Zeitbild Wissen      11
Targets oder Abbauenzyme für den            Erworbene Mutationen                         Mutationen neutral sind oder nur
Wirkstoff dieses Medikaments sind.                                                       Funktionseinbußen der betroffenen
                                            Weil die DNA-Replikation nicht
Ein Test auf die Beschaffenheit der                                                      Zellen bewirken, führen Mutationen
                                            ganz perfekt abläuft, bleibt es nicht
beiden Allele eines Patienten im                                                         in einigen die Zellvermehrung
                                            bei den 60 Mutationen: Weitere
Rahmen der personalisierten Medizin                                                      regulierenden Genen (darunter Punkt-
                                            Mutationen erwerben einzelne
erlaubt dann eine Vorhersage über                                                        mutationen und Amplifikationen)
                                            Zellen und daraus hervorgehende
den Therapieerfolg.                                                                      zu Krebs. Eine einzelne Mutation
                                            Zellklone im Laufe des Lebens.
                                                                                         ist für die Entstehung von Krebs jedoch
Das Erbgut jedes Menschen setzt sich        Betreffen sie Körperzellen und nicht
                                                                                         nicht ausreichend; vielmehr müssen
im Prinzip aus Teilen des Erbguts           Keimbahnzellen, spricht man von
                                                                                         dazu mehrere Mutationen zusammen-
seiner Eltern zusammen. Doch weist          somatischen Mutationen. Diese
                                                                                         kommen. Die Zahl der Mutationen
es einige Mutationen gegenüber              werden an die nächste Generation
                                                                                         in den Krebszellen nimmt mit dem
dem auf, das jemand bei fehlerfreier        nicht weitervererbt.
                                                                                         Fortschreiten der Krankheit zu. Eine
DNA-Replikation eigentlich von seinen       Anschauliche Beispiele für solche            Ursache dafür ist, dass bei Krebszellen
Eltern geerbt haben sollte. Einer           somatischen Mutationen bieten                der Mechanismus des programmier-
Untersuchung der Universität Utah           nicht bräunende Stellen der Haut,            ten Selbstmords (Apoptose) verloren
von 2011 zufolge sind es im Schnitt         wie sie manche Menschen aufweisen            geht, mit dem sich normalerweise
rund 60 Mutationen – 30 im mütter-          (Vitiligo). Alle hellen Hautzellen sind      genetisch schwer defekte Zellen selbst
lichen, 30 im väterlichen Erbe. Darin       Nachfahren einer Stammzelle, die             eliminieren. Einige dieser Mutationen
drückt sich aus, dass die DNA-Repli-        durch eine Mutation die Fähigkeit            können Zellen gegen die Wirkung
kation vor einer Zellteilung eben nicht     zur Pigmentbildung verloren hatte.           bestimmter Krebsmedikamente un-
völlig fehlerfrei abläuft.                  Während die meisten somatischen              empfindlich machen.

SNPs: Kleiner Unterschied – große Bedeutung

SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms) sind Stellen im Genom,      Erbgut Schülerin                              Erbgut Schüler
an denen sich die DNA eines Teils der Menschheit vom Rest
in einem einzelnen Basenpaar unterscheidet. Solche Stellen         ... GCCATTGC ...       Single Nucleotide      ... GCCTTTGC ...
finden sich rund alle 500 bis 1 000 Basenpaare, quer über
                                                                   ... CGGTAACG ...     Polymorphism (SNP)       ... CGGAAACG ...
das Genom verteilt. Meist wirken sie sich im Phänotyp nicht
aus. Manchmal sorgen sie jedoch für eine Abweichung in der
Aktivität oder im Expressionslevel eines Proteins; so auch im                  DNA wird abgelesen, ein Protein entsteht;
nebenstehenden Beispiel.                                             bei der Schülerin das Protein A1, beim Schüler das Protein A2.

                                                                        Beide werden mit dem Medikament Ixin® behandelt.

                                                                  Protein A1 baut den Wirk-          Protein A2 baut den Wirk-
                                                                  stoff sehr rasch ab. Deshalb       stoff durchschnittlich schnell
                                                                  schlägt die Behandlung bei         ab. Er kann vorher noch
                                                                  der Schülerin nicht an.            wirken. Bei diesem Schüler
                                                                                                     schlägt die Behandlung an.

12    Zeitbild Wissen
Individueller behandeln
mit personalisierter Medizin
So effektiv und so schonend wie        Ärzte haben zu allen Zeiten versucht,   Kernspintomographie. Darauf auf-
möglich behandeln – das ist das Ziel   Therapien passend zu den indivi-        bauend wurde die Therapie nach-
jedes Arztes. Mit personalisierter     duellen Gegebenheiten des Patienten     justiert, etwa die gewählte Dosis
Medizin, die immer mehr individuelle   zu verordnen. Im Ergebnis beschränk-    erhöht oder die Therapiedauer
Eigenheiten jedes Menschen             te sich das allerdings häufig darauf,   verlängert. Stellte der Arzt keinerlei
berücksichtigt, kann er sich ein       eine möglichst genaue Diagnose          Wirksamkeit fest, war eine Therapie-
Stück auf dieses Ziel zubewegen.       der Krankheit zu stellen, dann ein      umstellung die Konsequenz.
Personalisierte Medizin ist heute      für diese Krankheit zugelassenes
noch mehr Konzept als Alltag, aber     Medikament zu verordnen und             Personalisierte Medizin bedeutet
es gibt Beispiele, wo Arzneimittel     anschließend dessen Wirksamkeit         demgegenüber, über die genaue
bereits erfolgreich „personalisiert“   und Verträglichkeit zu erfassen – im    Diagnose hinaus möglichst viele der
eingesetzt werden.                     einfachsten Fall anhand von Berichten   individuellen Gegebenheiten eines
                                       des Patienten, aber auch aufwendiger    Patienten von vornherein zu erfassen
                                       mit Blut- und anderen Laborunter-       und in die persönliche Therapiepla-
                                       suchungen oder Bildgebung mittels       nung einzubeziehen, sodass man hin-
                                       Röntgenstrahlen, Ultraschall oder       sichtlich Wirksamkeit, Verträglichkeit

                                                                                      Definition
                                                                                      „Personalisierte
                                                                                      Medizin“ bedeutet,
                                                                                      über die genaue
                                                                                      Krankheitsdiagnose
                                                                                      hinaus möglichst
                                                                                      viele individuelle
                                                                                      Gegebenheiten
                                                                                      eines Patienten in
                                                                                      die persönliche
                                                                                      Therapieplanung
                                                                                      einzubeziehen. Zu
                                                                                      diesen Gegeben-
                                                                                      heiten zählen ins-
                                                                                      besondere die Gene
                                                                                      des Patienten.

                                                                                                  Zeitbild Wissen      13
und passender Dosierung nicht länger
auf Versuch und Irrtum angewiesen
ist. Dazu nutzt die personalisierte
Medizin die Fortschritte in der mole-
kularen Medizin, insbesondere was
Gene und deren Expression betrifft.

Biomarker und
diagnostische Tests
Voraussetzung hierfür sind diagnos-
tisch erfassbare Eigenschaften
(Biomarker), von denen bekannt ist,
dass sie Hinweise auf die Wirksamkeit
oder Verträglichkeit eines Wirkstoffs
geben. In der Krebsmedizin sind das
meist bestimmte Gensequenzen
oder Oberflächenproteine der
Tumorzellen; sonst meist spezielle
Proteine, deren Konzentration im
Blutserum relevant ist, oder Gen-
sequenzen, für die der Patient homo-
oder heterozygot sein kann.

Für die Patienten mit unterschied-
lichen Biomarker-Resultaten sind
dann jeweils dazu passende Medika-
mente vorzuziehen oder unterschied-
liche Dosierungen des gleichen
                                         als Gensequenzen in Betracht, etwa         Der Impfstoff dient also nicht der
Medikaments zu verwenden.
                                         aus menschlichem Blut bestimmbare          Krebsvorbeugung, sondern ist ein
Identifiziert werden geeignete           Laborwerte wie die seit Jahrzehnten        Therapiebaustein. Studien zufolge
genbasierte Biomarker vor allem in       medizinisch genutzten Leberwerte.          lässt sich so das Leben vieler Patienten
sogenannten pharmakogenetischen                                                     mit fortgeschrittenem Prostatakrebs
Studien. Inzwischen finden bei           Persönliche Medikamente?                   verlängern.
mindestens einem Fünftel aller           Denkbar – und in einigen wenigen           Viele Unternehmen und Forschungs-
Arzneimittel-Entwicklungsprojekte        Fällen ebenfalls schon Realität – ist es   einrichtungen arbeiten derzeit an
solche Studien statt. Vorrangig wird     darüber hinaus, nicht nur die Medi-        ähnlichen therapeutischen Krebsimpf-
untersucht, ob sich „Non-Responder“      kamentenauswahl, sondern sogar die         stoffen. In einem Projekt werden die
– d. h. Patienten, die auf das Medi-     Medikamente selbst so individuell zu       nötigen, für den individuellen Tumor
kament nicht ansprechen – und            machen wie eine Eigenblutspende.           charakteristischen Proteine nicht
Patienten, bei denen das Medikament                                                 aus dem Tumorgewebe extrahiert,
                                         So ist in den USA seit 2010 ein thera-
schwere Nebenwirkungen hervor-                                                      sondern im Labor gentechnisch nach-
                                         peutischer Impfstoff zugelassen, der
ruft, durch genetische Eigenheiten                                                  produziert (in Tabakblättern!).
                                         maßgeschneidert für jeden Prosta-
auszeichnen. Sind diese gefunden,
                                         takrebspatienten einzeln hergestellt       Nicht nur der Herstellungsaufwand
kann ein diagnostischer Test ent-
                                         wird. Er enthält Proteine aus den          für individuelle Medikamente ist
wickelt werden, der diese Eigen-
                                         Tumorzellen des Patienten, die in          enorm und ihr Einsatz dementspre-
heit(en) nachweist. Er kann bzw.
                                         einer Zubereitung mit geeigneten           chend zwangsläufig kostspielig. Auch
muss dann vor der Arzneimittel-
                                         Hilfsstoffen das Immunsystem des           hinsichtlich der Arzneimittelsicherheit
verordnung eingesetzt werden.
                                         Patienten zum Angriff gegen im             sind solche Medikamente Ausnahme-
Als Biomarker für die Personalisierung   Körper nach einer Operation verblie-       fälle: Denn normalerweise sind Medi-
kommen aber auch andere Faktoren         bene Krebszellen mobilisieren können.      kamente nur dann zulassungsfähig,

14    Zeitbild Wissen
Derzeit
                                                                               20 Medikamente

                                                                               Vom „personalisierten
                                                                               Einsatz“ von Medikamenten
                                                                               spricht man heute, wenn
                                                                               vor deren Verordnung ein
                                                                               Vortest auf bestimmte
                                                                               Patienten-Eigenschaften
                                                                               durchgeführt werden muss
                                                                               oder dies von medizinischen
                                                                               Fachgesellschaften
                                                                               empfohlen wird; und das
                                                                               Ergebnis dieses Vortests
                                                                               gibt den Ausschlag, ob das
                                                                               Medikament überhaupt
                                                                               verordnet wird oder wie
                                                                               es dosiert wird. In Deutsch-
                                                                               land ist dies derzeit bei
                                                                               20 Medikamenten der Fall
                                                                               (siehe www.vfa.de/perso-
                                          Mithilfe eines Genchips lässt sich   nalisiert). Weitere
                                          im Labor feststellen, mit welchen    Medikamente im Tandem
                                          Varianten der für den Medika-
                                                                               mit korrespondierenden
                                          mentenstoffwechsel relevanten
                                          Gene ein Patient ausgestattet ist.   Vortests dürften in Kürze
                                                                               dazukommen.

wenn der Hersteller zeigen kann, dass                                          Ein negatives Vortest-
er die Zusammensetzung in engen                                                Ergebnis („Medikament nicht
Grenzen konstant hält, und wenn sich                                           geeignet“) bedeutet natür-
Medikamente mit genau dieser defi-                                             lich nicht, dass der Patient
nierten Zusammensetzung in Studien                                             gar nicht behandelt wird,
mit Hunderten oder Tausenden von                                               sondern veranlasst den
Patienten bewährt haben. Das zu zei-                                           Arzt, für den Patienten ein
gen ist jedoch bei diesen individuellen                                        anderes Medikament oder
Medikamenten schlicht unmöglich.                                               eine andere Behandlungs-
                                                                               möglichkeit auszuwählen.
Letztlich ist davon auszugehen, dass                                           „Personalisiert“ ist also
individuelle Medikamente zwar ihren               Hinweis Arbeitsblatt 3
                                                                               eigentlich nicht das konkrete
Platz in der Medizin einnehmen,                   Ein Schaubild erläutert      Medikament (viele andere
aber immer ein Sonderfall bleiben                 den Zusammenhang             Patienten erhalten es ja
werden. Es ist wie beim Kleiderkauf:              zwischen genetischen         ebenfalls), sondern die
Ein maßgeschneidertes Designerteil                Polymorphismen (SNPs)        Therapieentscheidung.
kommt nur für die wenigsten Anlässe               und der Anwendung
infrage, aber fast immer genügt es                pharmakogenomischer
ja auch, unter den vorproduzierten                Untersuchungen in der
Kleidungsstücken in Standardgröße                 medizinischen Diagnostik.
eins mit der individuell passenden                Dazu finden sich Arbeits-
Konfektionsgröße auszuwählen. Das                 aufträge.
zweite Vorgehen entspricht dem der
personalisierten Medizin.

                                                                                                      Wissen   
                                                                                              ZeitbildWissen
                                                                                             Zeitbild            15
                                                                                                                15
Wo personalisierte
Medizin helfen kann
                        HIV
                        HIV-Infektionen werden mit einer Kombination
                        mehrerer Wirkstoffe behandelt. Oft ist
                        Abacavir einer davon. Er hemmt das virus-
                        eigene Enzym Reverse Transkriptase und somit
                        die Virenvermehrung. Fünf bis acht Prozent
                        aller Patienten reagieren aber auf Abacavir
                        mit einer schweren allergischen Reaktion.
                        Der Grund dafür liegt in einer genetischen
                        Variante des für Immunreaktionen relevanten
                        Gens HLA-B, und zwar ganz genau im Allel
                        HLA-B*5701. Seit 2008 wird daher anhand eines
                        Gentests vor einer Behandlung mit Abacavir
                        das Vorhandensein dieses Genmarkers aus-
                        geschlossen. Nur dann darf das Medikament
                        verabreicht werden.

                                         Brustkrebs            Ein Viertel aller Brustkrebspatientinnen hat ein
                                                               HER2-positives Mammakarzinom, eine besonders
                                                               aggressive Form der Erkrankung. Mit einem diag-
                                                               nostischen Test kann der für diese Erkrankung
                                                               spezifische Biomarker, eine übermäßige Bildung des
                                                               Wachstumsfaktor-Rezeptorproteins HER2, nach-
                                                               gewiesen werden. Diese ist die Folge einer somati-
                                                               schen Mutation in den Tumorzellen, nämlich einer
                                                               Duplikation des HER2-Gens. Medikamente, die an
                                                               HER2 ansetzen wie der Antikörper Trastuzumab oder
                                                               das chemisch-synthetische Lapatinib, bremsen die
                                                               Vermehrung der HER2-überexprimierenden Zellen
                                                               und damit Tumorwachstum und Metastasenbildung.

           Hepatitis C                          Auch bei Hepatitis C kann die personalisierte
                                                Medizin möglicherweise künftig zur Verbesserung
                                                der Therapiechancen beitragen. Die genaue Sequenz
                                                der beiden Allele des Gens IL28B beim Patienten gibt
                                                Auskunft darüber, wie groß die Heilungschancen
                                                bei einer Standard-Kombinationstherapie mit dem
                                                Immunmodulator PEG-Interferon und dem Virus-
                                                tatikum Ribavirin sind. Derzeit wird untersucht, was
                                                sich daraus für die individuell optimale Behandlungs-
                                                dauer und Wirkstoffdosierung ableiten lässt.

16    Zeitbild Wissen
Organ-
transplantationen

                                                 Lungenkrebs              Auch bei der häufigsten Lungenkrebs-
                                                                          form, dem nicht-kleinzelligen Bronchial-
                                                                          karzinom (NSCLC), hilft die personalisierte
                                                                          Krebstherapie. Bei 10 bis 15 Prozent aller
                                                                          NSCLC-Patienten in der westlichen Welt
                                                                          weisen die Tumorzellen eine Mutation im
                                                                          Gen für einen bestimmten Wachstums-
                                                                          faktor-Rezeptor (EGFR) auf. Von diesen
Mit Azathioprin lassen sich Absto-                                        Patienten sprechen drei Viertel auf die
ßungsreaktionen nach einer Organ-                                         Therapie mit dem chemischen Wirkstoff
transplantation unterdrücken. Dabei                                       Gefitinib an – verglichen mit nur einem
spielt das Enzym Thiopurinmethyltrans-                                    Prozent aller Erkrankten ohne diese
ferase (TPMT) eine Rolle: Bei einer nied-                                 Mutation. Vor Therapiebeginn mit
rigen TPMT-Aktivität (wie sie bei Teilen                                  Gefitinib muss diese Mutation daher
unserer Bevölkerung gegeben ist) wird                                     nachgewiesen werden.
Azathioprin langsamer abgebaut, was
bei voller Dosis das Risiko einer Kno-
chenmarkschädigung erhöht. Deshalb
geben Ärzte das Azathioprin entweder
einschleichend und achten auf Neben-
wirkungen oder führen vor der Thera-
pie einen TPMT-Aktivitätstest durch.
Deutet der Test auf eine unverminderte
Aktivität, kann das Azathioprin normal
dosiert werden, andernfalls wird es sehr
niedrig dosiert oder eine alternative
Therapie eingeleitet.

                                            Chronisch myeloische Leukämie (CML)
                                            Die meisten CML-Patienten haben in ihrem Knochenmark und
                                            im Blut Leukozyten bzw. Vorläuferzellen von ihnen mit einem
                                            anomalen Chromosom, das durch eine Translokation entstan-
                                            den ist: das Philadelphia-Chromosom. Ein an der Fusionsstelle
                                            neu formiertes Gen bildet ein Protein (im Bild grün), das die
                                            unkontrollierte Teilung der Zelle auslöst. Im Verlauf der Erkran-
                                            kung kann es zum vollständigen Versagen der Immunabwehr
                                            kommen. Die daraus resultierende ungebremste Vermehrung
                                            der Leukämiezellen lässt sich mit Imatinib (im Bild rot), Nilo-
                                            tinib oder Dasatinib blockieren. Auch hier liefern eine Chro-
                                            mosomenanalyse oder ein Gentest wichtige Informationen:
                                            90 Prozent der Patienten, bei denen sich diese folgenschwere
                                            Translokation nachweisen lässt, sprechen auf Imatinib an und
                                            haben eine sehr viel bessere Überlebensrate. Nilotinib und
                                            Dasatinib sind darüber hinaus auch dann wirksam, wenn das
                                            Fusionsgen bestimmte Mutationen aufweist.

                                                                                                  Zeitbild Wissen      17
„Kommt ein Mann zum Arzt ...“
                                                            Personalisierte Medizin in der Praxis

                                                                                     Der Arzt untersucht
                                                                                     ihn gründlich ...

                                                                                              ... und nimmt
                                                                                              ihm auch Blut
                                                                                              ab.

                        Ein Mann kommt zum Arzt und
                        schildert seine Beschwerden.

„Gegen Ihre Krankheit gibt es mehrere Medika­mente“, erklärt der Arzt.
„Das wirksamste davon wird leider nicht von jedem vertragen. Aber ein
                                                                         Im Labor wird aus der Blutprobe des
Gentest wird zeigen, ob es für Sie in Betracht kommt.“
                                                                         Patienten die DNA gewonnen und
                                                                         darin insbesondere ein einzelnes, für
                                                                         die Verträglichkeit des Medikaments
                                                                         relevantes Gen analysiert.

18    Zeitbild Wissen
Eine Elektrophorse zeigt schließlich die Gen-
beschaffenheit: Für den Patienten (Spur 1)
ergibt sich das gleiche Bandenmuster wie bei
anderen Menschen, die das Medikament gut            Dieses Ergebnis erhält anderntags auch der Arzt.
vertragen (Spur +), und nicht wie bei solchen,
die es schlecht vertragen (Spur -). Bei M ist ein
Molekulargewichtsmarker zu sehen.

                         „Der Test zeigt,                                              „Wenn Sie
                         dass Sie das                                                  einverstanden
                         Medikament ver-                                               sind, werde ich
                         tragen können!“,                                              es Ihnen jetzt
                         berichtet der Arzt                                            verschreiben.“
                         dem erleichter-
                         ten Patienten.

                                                     Zu Hause beginnt der Patient,
                                                     das Medikament einzunehmen.

                                                     Einige Tage später geht es ihm schon wieder
                                                     besser. Unangenehme oder gar problematische
                                                     Nebenwirkungen sind ausgeblieben.

                                                                                     Zeitbild Wissen      19
Die Zukunft der
personalisierten Medizin
Zeitbild Wissen sprach mit Dr. Wolfgang Plischke, dem Vorsitzenden des Verbands
der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) und Forschungsvorstand Bayer AG

                                       Wird die personalisierte Medizin           soll. Da sind Gentests längst allgemein
                                       den Medikamentenmarkt revolu-              anerkannt und gutgeheißen! In der
                                       tionieren oder eher ein kleiner, feiner    personalisierten Medizin benutzt
                                       Bereich sein, der viel Forschungs-         man Gentests, um zu prüfen, ob ein
                                       aufwand erfordert und überaus              Medikament für einen Patienten
                                       kostspielig ist? Und wer legt fest,        besonders gut geeignet ist. Auch das
                                       was prioritär für die personalisierte      ist etwas Positives, nützt dem Pa-
                                       Medizin entwickelt wird?                   tienten und natürlich dem, der diese
                                       Personalisierte Medizin ist darauf         spezielle Therapie bezahlen muss. Ich
                                       angelegt, das richtige Medikament für      glaube also, dass die personalisierte
                                       den einzelnen Patienten auszusuchen.       Medizin dazu beitragen kann, die
                                       Es ist ja etwas Gutes, wenn man weiß,      Akzeptanz von Gentests zu erhöhen.
                                       dass das Medikament wirkt und dem
                                       Patienten helfen wird!                     Krebstherapien sind derzeit immer
                                       Allerdings: Der Forschungsaufwand          wieder im Gespräch, weil eher wenig
                                       für personalisierte Medizin ist hoch.      Menschen von eher kostspieligen
                                       Früher musste man ja „nur“ ein             Therapien profitieren. Häufig liegt
                                       Arzneimittel entwickeln – heute            der Vorteil darin, ein paar Wochen
                                       dazu auch noch die Testsysteme. Das        länger zu leben bei gleichzeitig vielen
                                       kostet natürlich viel Geld. Im Augen-      Nebenwirkungen. Was kann die
                                       blick findet die personalisierte Medizin   personalisierte Medizin heute schon
                                       vor allem in der Krebstherapie statt.      zu einer erfolgreichen Krebstherapie
                                       Aber ich bin zuversichtlich, dass          beitragen? Und in Zukunft?
                                       sich das in den nächsten fünf oder         Ich glaube, dass wir in der Krebsthera-
                                       zehn Jahren auf andere Krankheits-         pie eine Verlängerung der Lebenszeit
                                       bilder ausweiten wird. Priorität hat       sehen werden, die über die heutigen
                                       dabei, welchen Schweregrad eine            Erfahrungen hinausgeht. Mithilfe der
                                       Krankheit hat. Aber in den Labors der      personalisierten Medizin wird man in
                                       Firmen und in den klinischen Prüfun-       Zukunft Patienten mit einem für sie
                                       gen bemühen wir uns heute, für fast        ausgesuchten Cocktail von Arznei-
                                       jedes Arzneimittel personalisierte         mitteln behandeln wie z. B. in der
                                       Medizin mitzuentwickeln.                   HIV-Therapie. Das ist unsere Vision
                                                                                  für die Krebstherapie, dass Krebs quasi
                                       Gendiagnostik stößt nicht immer auf        zu einer chronischen Erkrankung wird,
                                       Akzeptanz. Könnte die personalisierte      mit der man lange leben kann.
                                       Medizin, sofern Gentests erforderlich
                                       sind, dazu beitragen, dass sich die        Was sind die größten Heraus-
                                       Haltung in dieser Frage ändert?            forderungen, vor die uns die
                                       Sie wissen ja, dass Gentests heute         personalisierte Medizin stellt?
                                       schon eingesetzt werden, wenn ein          Das Problem liegt in der Komplexität
                                       Tatverdächtiger überführt werden           der Wissenschaft, die ihr zugrunde

20    Zeitbild Wissen
liegt. Wir wissen schon lange, dass     Wäre die personalisierte Medizin       Was wünschen Sie sich ganz
manche Patienten auf ein bestimm-       auch geeignet, Vorsorge zu treffen     persönlich in Sachen personalisierte
tes Arzneimittel positiv reagieren,     bzw. im Rahmen einer gesunden          Medizin? Was könnte man in Zukunft
während es bei anderen Patienten        Lebensführung eingesetzt zu werden?    von der personalisierten Medizin
nicht hilft. Aber deshalb wissen wir    Wie gesunde Lebensführung geht,        erwarten? In welchem Zeitraum?
noch lange nicht, warum das so ist.     das weiß man: Man muss gesund          Die Erfahrung in der Erforschung und
Da ist noch viel Forschungsarbeit in    essen und sich bewegen. Dazu           Entwicklung von Arzneimitteln sagt
den nächsten fünf, zehn, 15 Jahren      braucht man keinen Gentest. Sicher     mir, dass wir meistens viel zu opti-
notwendig, um das für viele einzelne    kann man eine Assoziation herstellen   mistisch sind, was die Geschwindig-
Krankheiten aufzuklären.                zwischen bestimmten Genen und –        keit von neuen Entwicklungen anbe-
                                        sagen wir mal – der Empfindlich-       langt. Aber sagen wir mal die näch-
Wer sich heute für personalisierte      keit einer Person auf bestimmte        sten zehn, 20 Jahre – das ist ein Zeit-
Medizin interessiert, was sollte er     Umweltreize.                           raum, den man sich sicher vornehmen
morgen studieren, um übermorgen         Aber Krankheiten sind bis auf weni-    kann. Da würde ich mir wünschen,
in diesem Bereich tätig sein zu         ge Ausnahmen nicht nur von einem       dass wir in der Krebstherapie einen
können?                                 einzelnen Gen abhängig, sondern        richtigen Schritt nach vorne machen;
Da kann man vieles studieren:           von einem ganzen Gen-Cluster. In       bei manchen Krebsarten vielleicht
Chemie, Biochemie, Biologie, Medizin,   diesen Fällen weiß man heute noch      wirklich zu einer chronischen
Ingenieurswesen, Physik. Man muss       viel zu wenig, um daraus Vorsorge-     Therapie kommen. Das wäre ein
sich nur passend spezialisieren.        empfehlungen ableiten zu können.       wahnsinniger Schritt nach vorne!

                                                                                                  Zeitbild Wissen      21
Der gläserne Mensch:
Durchsichtig für alle und jeden?
                                                    „Muss ich meine Gene
                                                    kennen?“
                                                    Die Frage nach einem Gentest stellt
                                                    sich meist im Rahmen der medizi-
                                                    nischen Diagnostik, aber auch in
                                                    der Forensik oder bei der privaten
                                                    Genanalyse (Vaterschaftstest). Wenn
                                                    in der eigenen Familie schon eine Erb-
                                                    krankheit oder Krebs mit genetischem
                                                    Hintergrund aufgetreten ist – etwa
                                                    Brustkrebs –, kann es hilfreich sein,
                                                    Risiken zu kennen, um vorzubeugen.
                                                    Pharmakogenetische Tests untersu-
                                                    chen genetische Unterschiede, die die
                                                    Wirksamkeit und Verträglichkeit von
                                                    Medikamenten bestimmen. So wird
                                                    die Auswahl der richtigen Therapie
                                                    mit möglichst wenig Nebenwirkungen
                                                    erleichtert. Auch wer sich entschlos-
                                                    sen hat, im Bedarfsfall Blutstamm-
                                                    zellen für einen Leukämiekranken zu
                                                    spenden, muss einem Gentest zustim-
                                                    men. Denn damit wird festgestellt, für
                                                    welche Empfänger die Stammzellen
                                                    überhaupt zureichend verträglich
                                                    sind, dass es nicht zu lebensgefährli-
                                                    chen Immunreaktionen kommt.

                                                    Aber für jeden Menschen gilt auch
                                                    hier das Recht auf Nicht-Wissen:
                                                    Niemand darf zu einem Gentest
                                                    gezwungen werden. Schon deshalb
                                                    dürfen weder Arbeitgeber von ihren
                                                    Mitarbeitern noch Versicherungen
                                                    von ihren Kunden Gentests verlangen.
                                                    Auch heimlich oder ohne Zustim-
                                                    mung beider Eltern durchgeführte
                                                    Vaterschaftstests sind in Deutschland
                                                    verboten.

                        Hinweis Arbeitsblatt 4      „Ich will nicht, dass man
                        Anhand der Diskussion um    mein Genom kennt.“
                        Gentests aus dem Internet   Das muss man auch nicht. Vor einer
                        erschließen sich den        genetischen Untersuchung muss in
                        Schülerinnen und Schülern   jedem Fall eine freiwillige schriftliche
                        ethische Aspekte gendiag-   Einwilligung gegeben werden.
                        nostischer Verfahren.       Ein Gentest bezieht sich auch immer

22    Zeitbild Wissen
ausschließlich auf das spezielle Unter-
suchungsinteresse, d. h. es wird
grundsätzlich nie das komplette
Genom sequenziert. Bei einem
medizinisch-diagnostischen Test zum
Beispiel auf die Verträglichkeit des
Medikaments Abacavir wird nur der
dafür relevante Genmarker HLA-B*5701
betrachtet. Aus diesem Test lassen
sich keine weiteren Rückschlüsse auf
Krankheitsrisiken (etwa ein erhöhtes
Diabetes-Risiko) ziehen, und auch
eine Vaterschaft könnte mithilfe
dieses Tests allein nicht ausge-
schlossen und schon gar nicht als         Auch für polizeiliche Ermittlungen kommen Gentests zum Einsatz.
wahrscheinlich bestätigt werden.

Wer einen Gentest machen möchte,
kann sich zudem auf die ärztliche         Die Tests dürfen nur von Ärzten             Euro geahndet werden können), aber
Schweigepflicht verlassen – und           angeordnet werden, die die Ergeb-           natürlich Informationen „in die Welt
auf das deutsche Datenschutzgesetz.       nisse auch übermitteln und die              setzen“, die sich nicht mehr zurück-
Selbst wenn es um eine Straftat           getesteten Personen auch vor und            nehmen lassen und das Verhältnis der
geht und zur Identifikation des           nach dem Test beraten müssen.               Betroffenen zueinander irreversibel
Täters gleich zahlreiche Personen         Es ist übers Internet dennoch jedem         verändern können.
zum Gentest gebeten werden, ist die       möglich, ausländische Anbieter für
Teilnahme freiwillig.                     Direct-to-Consumer-Tests zu nutzen          Gentests und Kinderwunsch:
                                          – auch wenn Experten hierzulande            Designerbaby
                                          davor warnen.                               oder gesundes Kind?
„Gentests auf Bestellung –
geht das?“                                                                            Die Diskussionen um die soge-
                                          Wann sind Vaterschaftstests                 nannte Präimplantationsdiagnostik
Nicht nur Pizzas, sondern auch
                                          erlaubt?                                    (PID) erhitzen die Gemüter immer
Geninformationen kommen auf
                                          Auch Vaterschaftstests werden               wieder aufs Neue. Für Paare mit
Bestellung direkt ins Haus. In den
                                          mittlerweile von Dienstleistern im          Kinderwunsch wären Gentests eine
USA sind sogenannte Direct-to-Con-
                                          Internet angeboten; und in diesem           Möglichkeit, nach einer künstlichen
sumer-Gentests im Internet erhältlich:
                                          Falle dürfen auch deutsche Anbieter         Befruchtung und vor dem Einsetzen
Einfach die gewünschte Untersu-
                                          dabei sein, wenn sie sicherstellen, dass    des Embryos (meist eines Sechs- oder
chung anklicken, Proben wie Haare
                                          sie ausschließlich Tests durchführen,       Achtzellers) in die Gebärmutter
oder ein paar Mundschleimhaut-
                                          für die die Einwilligung aller Sorgebe-     festzustellen, ob dieser das Risiko für
zellen auf Wattestäbchen ein-
                                          rechtigten vorliegt. Für diese müssen       eine schwere Erbkrankheit in den
schicken – und schon kommt das
                                          natürlich biologische Proben vom            Genen trägt. Wie Mediziner berichten,
Ergebnis per Post oder via Webportal!
                                          (potenziellen) Vater und vom Kind           spielen bei den Eltern Fragen nach
Mit einem möglicherweise belasten-                                                    der Lebensfähigkeit und möglichen
                                          eingesandt und analysiert werden.
den Testergebnis und den daraus                                                       Schwerstbehinderungen eine weitaus
resultierenden Konsequenzen ist           Problematisch ist, dass ohne Einver-        größere Rolle als der Wunsch nach
man dann jedoch allein, da oft keine      ständnis (z. B. im Ausland) durch-          einem Kind mit blauen Augen. Auch
Erläuterungen angeboten werden.           geführte Tests zwar vor deutschen           die Befürworter von PID sehen sie
Deutschen Firmen sind solche              Gerichten keinen Bestand haben              ausschließlich als Hilfe im Kontext
Angebote im Internet untersagt.           (und sogar mit Geldbußen bis 5 000          solcher existenzieller Risiken an.

                                                                                                            Zeitbild Wissen      23
Sie können auch lesen