Peter Lilienthal zum 90. Geburtstag
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Peter Lilienthal zum 90. Geburtstag Peter Lilienthal ist ein Kino-Zauberer: Er beherrscht das Peter Lilienthal bei den Dreharbeiten zu MALATESTA Kunststück, aus den Banalitäten des Alltags wie den politischen Katastrophen des Jahrhunderts poetische Funken zu schlagen. »Eine Figur halb Gaucho, halb Ahasver«, hat Fritz Rudolf Fries ihn porträtiert. Auf- gewachsen in Montevideo, wohin die Mutter mit dem neunjährigen Jungen 1939 emigrierte, kehrte er Mitte der 1950er Jahre nach Berlin zurück, ohne wirklich heimisch zu werden: In Deutschland blieb er ein Frem- der. Wie kaum ein anderer deutscher Filmemacher ist Lilienthal Weltbürger: Er hat in Lateinamerika, in Israel, in den USA gedreht, kennt das bundesdeutsche Fern- sehen aus dessen Kindertagen und den internationalen Festival-Zirkus in Cannes und Venedig, arbeitete mit Eddie Constantine und Hanna Schygulla, spielte selbst kleine Rollen bei Samuel Fuller, Wim Wenders und Ed- gar Reitz, war als Dozent der Berliner Filmhochschule bereits in die Studentenunruhen 1968 verwickelt und hat noch immer den Kopf voller Träume und Utopien. »Lilienthal is a key figure in the growth of New Ger- man Cinema«, weiß das US-amerikanische Fachblatt Variety. In Deutschland ist dies kaum bekannt. Gewiss, an Anerkennung seitens der Kollegen und Kritiker unsteten und flüchtigen Begriffe, die sich unaufhörlich Peter Lilienthal hat es nicht gefehlt. 1981, auf eine Umfrage von Joe gegenseitig in ihrem flackernden Licht spiegeln, und Hembus, zählte Rainer Werner Fassbinder MALATES- die heißen Land der Geburt und Gelobtes Land.« Große TA zu den zehn besten Werken des Neuen deutschen Worte, die Lilienthals Figuren nie aussprechen würden: Films, Wim Wenders nannte LA VICTORIA. Obwohl er Die kleinen Gesten sind in diesen Filmen wichtiger als unzählige Auszeichnungen erhalten hat, darunter allein verbale Bekenntnisse. siebenmal den Deutschen Filmpreis und den Golde- Mitte der 1950er Jahre kam ein junger Mensch, 25 63 nen Bären der Berlinale, blieb er immer am Rande des Jahre alt, nach Berlin, in die Stadt, die er als kleiner deutschen Filmbetriebs, eine Position, von der sich das Junge verlassen hatte. Uruguay war fern von Europa, geschäftige Treiben mit unbestechlichem Blick und hei- wo die Katastrophe wütete, der man entkommen war. terer Gelassenheit betrachten lässt. Vom Holocaust erfuhr Lilienthal erst jetzt. Unvorstellbar Lilienthals Filme, hat Fritz Rudolf Fries bemerkt, le- und nicht zu verarbeiten erschien ihm das Grauen, ben vom Trauma des Exils und den Erinnerungen an das auch für seine Familie vorbedachte Schicksal. Mit das kleine Hotel seiner Mutter in Montevideo: »In seinen den Tätern zu sprechen (oder sie im Film darzustellen) besten Filmen gibt es diese Magie der Pubertät und war ihm zeitlebens unmöglich. Nach dem Studium an die Mythologie der Herberge.« In seinen Filmen ver- der Hochschule für Bildende Künste (Fächer: Malerei sammelt er eine Familie, Menschen aus aller Herren und Formgestaltung, Experimentelle Foto-Grafik und Länder, Schiffbrüchige und Grenzgänger, Träumer und Film) ging er 1959 nach Baden-Baden zum damali- Schnorrer. Es sind Menschen ohne Reichtümer, ohne gen Südwestfunk. Das Fernsehen steckte noch in den eine sichere Position oder Macht; sie sind Unterdrü- Kinderschuhen: Es gab nur ein Programm, gesendet ckung und Verfolgung ausgesetzt und haben doch Hoff- wurde von 17 bis 22 Uhr, samstags eine Stunde län- nung und Lebenslust nicht aufgegeben. Georges Perec ger, ansonsten strahlte man, eine Konzession an den hat das semantische Feld abgesteckt, das für ihn mit Geräte-Handel, ein Testbild aus. Das Medium erfand dem Wort »Jude« verbunden ist: »die Reise, die Erwar- sich selbst: Fernsehspezifische Programmformen und tung, die Hoffnung, die Unsicherheit, der Unterschied, Genres mussten sich erst noch herausbilden. Man die Erinnerung und diese beiden schwer zu fassenden, produzierte in jenen Jahren ohne Quotendruck und
Konkurrenz; stattdessen waren Kreativität und Impro- mütigen und küssen am Ende die Hand, ziehen die Hüte visation gefragt. über die Ohren und stolpern derart blind wieder hinaus Drei Namen markieren das Terrain, das mit dem in die Freiheit. PICKNICK IM FELDE (nach Arrabal): Die damals gängigen Etikett »Absurdes Theater« nur unzu- Eltern besuchen, als sei es ein normaler Ausflug, ihren länglich benannt ist: Sławomir Mrożek, Fernando Arra- Sohn auf dem Schlachtfeld. Man hört donnernde Flug- bal, Witold Gombrowicz. Geboren in verschiedenen Re- zeuge, folgt dem Blick in den Himmel: Keine Bomber gionen der Welt, beheimatet im inneren oder äußeren sind zu sehen, sondern ein Helikopter mit einer Turnerin Exil. Sie formulierten in Parabeln, die nicht schulmäßig (eine Wochenschauaufnahme, Werbung für die Mos- auflösbar sind, die Verunsicherung, die Brüchigkeit des kauer Turnfestspiele). Die Opfer begreifen nicht, was Friedens: Noch war das Erlebnis des »totalen Krieges« mit ihnen geschieht. »Was mich an Arrabal fasziniert«, gegenwärtig, prägte die gegenseitige atomare Bedro- so Lilienthal in einem Interview, »sind seine stummen, hung der beiden feindlichen Systeme das Bewusstsein. sprachlosen Menschen, die er mit einem schrecklichen Grotesk überzeichnet, spiegeln die surrealen Welten Geschehen konfrontiert, in diesem Fall also mit dem das Dasein der Menschen als Spielball fremder Mächte. Krieg, um ihre Hilflosigkeit zu zeigen.« Avantgardisten spielt man nicht vom Blatt. Lilienthal hat Ein gutes Beispiel für Lilienthals Art der Aneignung Mrożek und Arrabal eigenwillig übersetzt in sein Me- ist SERAPHINE ODER DIE WUNDERSAME GESCHICHTE dium – er hat nicht die Texte inszeniert, sondern sich DER TANTE FLORA. Aus dem Stück »Little Dorrit« des ihnen als Autor genähert. STRIPTEASE (nach Mrożek): englischen Dramatikers David Perry machte Lilienthal Zwei Herren mit Anzug, Hut und Aktentasche werden seine Geschichte. Sie beginnt wie ein Kinderfilm à la durch einen seltsamen Zwang in einen bunkerartigen »Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer«: Ein Zug, kahlen Raum gezwungen. Aus der Wand stößt eine mit viel Dampf und Getöse, zuckelt von Krummbach Hand, ein fordernder Finger zwingt sie, erst die Schuhe, über eine alte Brücke. Auf dem letzten Waggon befin- dann Gürtel bzw. Hosenträger, schließlich die Hose ab- det sich eine riesige Kiste mit verhängten Fenstern: Sie zugeben. Im Gefühl der Ohnmacht lassen sie sich de- beherbergt Seraphine, ein Seeungeheuer, das nur aus Peter Lilienthal 64 © Mara Eggert STRIPTEASE
Kopf und Maul besteht, die Missgeburt einer kaliforni- den Mord nachholen, die Leiche mit dem Rosenkranz schen Seerobbe. Das Ungetüm ist Daniel ans Herz ge- erwürgen. War der Film die kongeniale Umsetzung ei- wachsen, er hat es sieben Jahre in seiner Badewanne ner Novelle von Witold Gombrowicz, nutzte Lilienthal gehegt und gepflegt, doch seine Frau besteht darauf: für HORROR den Roman »How Awful About Allan« von Seraphine muss aus dem Haus, sie soll jetzt ausgesetzt Henry Farrell lediglich als Stoff und eliminierte radikal werden. Die Fahrt endet in einem Seebad, Daniel, Dora die psychoanalytischen Erklärungsmuster. Die Angst- und Seraphine mieten sich in der heruntergekomme- phantasien eines hysterisch Blinden, die ihn in den nen Pension »Zur Nachtigall« ein. Dort füttern Victor Wahnsinn treiben, werden von einer subjektiven Kame- und Betty ein anderes Ungeheuer durch: Tante Flora, ra eingefangen (auch in jenen Momenten, wo der kran- die ihre Umwelt tyrannisiert. Am Ende wird sie von Se- ke Alex selbst ins Bild kommt: Der Zuschauer sieht ihn raphine gefressen, bevor das Seeungeheuer im Meer mit seinen eigenen Augen). Fragmente einer Handlung, verschwindet. Momente aus der Vergangenheit, traumatische Erleb- Es ist ein Märchen mit einer grimmigen Moral. Als nisse, in verzerrten, unscharfen, zerfließenden Bildern, das laut schmatzende Seeungeheuer die Tante ver- die manchmal nur noch einen Hell-Dunkel-Kontrast tilgt, feiert fröhlich die erlöste Verwandtschaft. Daniel erkennen lassen. Der Film ist ein einziger Schrei, 75 hat alles versucht, die Tante zu retten, das gebot der Minuten lang. Die Fernsehverantwortlichen fürchteten, Familiensinn – und nun ist man froh, die gefräßigen ihre Zuschauer zu verstören. Der Spiegel wusste zu be- Monster, Seraphine wie Flora, los zu sein, ohne sich richten: »Regisseur Lilienthal, in der Inszenierung von Vorwürfe machen zu müssen. Die symmetrische Kon- Seelendramen wohlerprobt, hat in seinem bisher bes- struktion der Geschichte, genau austariert, wird sinn- ten und wildesten Film die Schreckensvisionen eines fällig in den szenischen Arrangements, den Tableaus Psychopathen derart bedrückend, grell und drastisch und im Bildaufbau. Eine riesige Suppenterrine domi- dargestellt, dass die ARD ein halbes Jahr zögerte, bevor niert das Bild, während Victor und Betty nur noch als sie das Auftragswerk ins Programm nahm.« Schatten erkennbar sind. Der altmodisch-verschmock- »1968« begann bereits 1967: An der neu gegrün- te Anstrich verbindet sich mit optischen Gags (z.B. ei- deten Berliner Filmhochschule DFFB brodelte es schon ner Sprechblase) und makabrem Humor, Rachephan- im ersten Jahrgang. Man hatte die Akademie gegrün- Peter Lilienthal tasien, die ein Ventil für die jahrelange Unterdrückung det, um für den maroden deutschen Film Nachwuchs sind. Stilistisch fühlt man sich an die Bilderwelt eines auszubilden, doch die Studenten entwickelten keinen Edward Gorey, Jan Lenica oder Max Ernst erinnert. Der Ehrgeiz, sich für die Filmindustrie zu qualifizieren. Die Raum ist prädestiniert für die Schrecken, die kommen Produktionsmittel der Hochschule wurden benutzt, um werden. Genüsslich ausgestellt werden die überfrach- Agitprop-Filme wie EIN WESTERN FÜR DEN SDS zu teten Interieurs, ein »Stück bürgerlichen Pandämoni- drehen. Andersdenkende Kommilitonen wurden von 65 ums«, wie es Walter Benjamin in alten Kriminalroma- den politisierten Studenten als »Kuchenfilmer« denun- nen entdeckt hat: »Auf diesem Sofa kann die Tante nur ziert. Der Dozent Lilienthal war ein liberaler Lehrer, er ermordet werden.« musste zwischen die Fronten geraten, Ende März 1968 Szenenwechsel. Lilienthal war 35 Jahre alt, er hatte demissionierte er. zehn Filme gedreht, diverse Auszeichnungen erhalten, Den Berliner Hochschul-Querelen entflohen, berei- doch nun tauschte er das beschauliche Kurstadt-Kli- tete Lilienthal in London seinen ersten Kinofilm vor. Die ma Baden-Badens gegen das Leben in dem Haupt- realitätsfremden Debatten der APO, die mit Marx- und stadt-Provisorium, dessen kulturelle und literarische Mao-Zitaten den Klassenkampf in der Bundesrepublik Szene, von Bonn subventioniert, weltoffen war wie in beleben wollten, erschienen ihm eine Angelegenheit keiner anderen deutschen Stadt. Lilienthal war offen für des vorherigen Jahrhunderts. Seine Wortmeldung zu die Anregungen, die ihm hier geboten wurden. Bisher den aktuellen Auseinandersetzungen war ein histori- war er meist sein eigener Drehbuchautor, nun nutzte er scher Film: MALATESTA. Der Film ist eine Elegie auf die die Gelegenheit, Kontakte zu Schriftstellern zu knüpfen: Revolution, im Mittelpunkt ein sanfter, weiser Anarchist, DER BEGINN schrieb er zusammen mit Günter Herbur- mehr Philosoph als Politiker, der einst die »Propaganda ger, dessen Erzählung »Waldfriedhof« er im Jahr zuvor durch die Tat« und nun die Gewaltfreiheit predigt, des- unter dem Titel ABSCHIED verfimt hatte. sen enttäuschte Anhänger einen sinnlosen Überfall be- »Das eigentliche Verbrechen vollzieht sich immer in gehen und von der Polizei zusammengeschossen wer- der Seele«, doziert der Untersuchungsrichter in VER- den. Lilienthal, der das Leben Enrico Malatestas vor Ort BRECHEN MIT VORBEDACHT; am Ende wird Anton recherchierte und zusammen mit Heathcote Williams,
pathie den politischen Aufbruch gefördert hatte, den © Mara Eggert Fanatismus und die Verirrungen der radikalisierten Stu- denten aber mit Sorge verfolgte. Adorno, Horkheimer, Habermas, die Lehrer der Frankfurter Schule, erlebten, wie ihre Theorien umschlugen in praktizierte Gewalt. MALATESTA erwies sich als hellsichtiger Kommentar Dreharbeiten zu VERBRECHEN MIT VORBEDACHT zur Zeit, abgehandelt an einem historischen Modell: Die Utopien der Neuen Linken mündeten wenig später in marxistischen Dogmatismus oder in den Terroris- mus. MALATESTA dagegen ist, was den Zeitgenossen suspekt war, ein politischer Film ohne Sendungsbe- wusstsein. Ihm ist Lilienthal, bei allem Engagement, nie verfallen: »Ich liebe mehr die Leute, die ihre Unsicher- heit eingestehen, als die, die glauben, die Welt deuten zu können.« Michael Töteberg Malatesta | BRD 1970 | R: Peter Lilienthal | B: Heath- Darsteller eines der jungen Anarchisten, das Drehbuch cote Williams, Peter Lilienthal | K: Justus Pankau | M: schrieb, gab dem Film die Anmutung eines historischen George Gruntz | D: Eddie Constantine, Christine Noo- Dokuments: Virtuos werden Originalaufnahmen, sech- nan, Vladimir Pucholt, Diana Senior, Heathcote Wil- zig Jahre alt und von entsprechender technischer Qua- liams, Siegfried Graue | 80 min | »Eine sehr moder- lität, bruchlos mit Spielszenen verschmolzen, die wie ne Geschichte: Das Missverständnis zwischen einem vergilbte Filmstreifen wirken. Verblichene Farben, Un- Sozialphilosophen und den Terroristen, die sich seiner schärfen und absichtliche Asynchronität, mangelhafte Parolen bedienen und Revolution mit Mitteln durchfüh- Tonqualität – manche Dialoge sind fast unverständlich, ren wollen, die er nie gepredigt hat.« (Peter Lilienthal) doch geht es Lilienthal auch nicht um politische Lehr- – Shirley Chisholm for President | BRD 1972 | R+B: Peter Lilienthal sätze des anarchistischen Theoretikers. Er porträtiert Peter Lilienthal | K: Horst Zeidler | Mit: Shirley Chisholm, einen Mann, der ahnt, dass seine Utopie nicht realisier- Conrad Chisholm | 51 min | Drei Wochen lang beglei- bar ist, weil die Verwirklichung der Selbstaufhebung der tet Peter Lilienthal in New York, Miami und Kalifornien Idee gleichkommt. Shirley Chisholm, afroamerikanische Demokratin aus Schon die hochartifizielle Machart des Films er- Brooklyn, die einen aussichtslosen Kampf um die Präsi- schien damals als Provokation. »Darf ein Film über dentschaft der USA führt. Das erste weibliche schwarze 66 Anarchismus und Revolution schön sein?« fragte Wolf Mitglied im amerikanischen Kongress wirbt auf Stra- Donner in der Zeit. Alf Brustellin schrieb in der Süd- ßen und Universitäten um Wählerinnen und Wähler und deutschen Zeitung von »einem traurigen, schönen muss sich gegen viele Vorurteile wehren. Poem, das sich kunstvoll extrem künstlich in die größt- Donnerstag, 28. November 2019, 19.00 Uhr (Zu Gast: mögliche Unverbindlichkeit hineinformuliert«. In der Peter Lilienthal) Frankfurter Rundschau wünschte sich der Rezensent, dass Lilienthal »den Ästhetizismus des Geheimnisvollen Picknick im Felde | BRD 1962 | R+B: Peter Lilienthal, zugunsten einer radikalen oder intellektuellen Position nach dem Stück von Fernando Arrabal | K: Ulrich Burtin aufgäbe«. »Ein schönes Museumsstück, mehr nicht«, | D: Friedrich Mertel, Horst-Werner Loos, Annemarie lautete das Fazit der Stuttgarter Zeitung. Schradiek, Ludwig Thiesen | 23 min – Striptease | Die politische Brisanz des Films, der seinerzeit als BRD 1963 | R: Peter Lilienthal | B: Sławomir Mrożek | K: Kunstgewerbe abgetan wurde, ist aus heutiger Distanz Gerd Schäfer, Ulrich Burtin, Immo Rentz, Willi Reisser | kaum zu übersehen. Der Film erschien zu einer Zeit, D: Joachim Wichmann, Max Haufler | 25 min – »Meine da sensible Ästheten sich verleugneten und stattdes- Beziehung zu Arrabal und auch zu Mrożek liegt in der sen grobschlächtigen Agitprop produzierten. Vor Re- anarchistischen Tradition, die nicht einzuordnen ist.« volutionsromantik, der damals viele bundesdeutsche (Peter Lilienthal) – Seraphine oder Die wundersame Intellektuelle verfielen, war Lilienthal nicht zuletzt dank Geschichte der Tante Flora | BRD 1965 | R+B: Peter seiner Biographie gefeit. MALATESTA reflektiert auch Lilienthal, nach der Geschichte »Little Dorrit« von David die Erfahrungen eines Hochschullehrers, der mit Sym- Perry | K: Friedhelm Heyde | D: Heinz Meier, Adolf Rebel,
Else Ehser, Annemarie Schradiek, Käthe Jaenicke | 50 te Freiheit für einen Film, der die nervöse Reizbarkeit min | Eine »subtil-ironische Kleinbürger-Farce über ver- der Ingmar-Bergman-Frauen ebenso zitiert wie etwa rückte Anhänglichkeit an Seeungeheuer und gefräßige das unterkühlte Jazz-Feeling der frühen John-Cassa- Tanten. Die lebendige Kamera, die auf ausgesuchteste vetes-Filme. ABSCHIED erzählt wortkarg und atmo- Bildassoziationen aus ist, schafft eine eigene Welt, die sphärisch dicht von einer namenlosen zerrissenen der realen ebenso wie der Theater-Wirklichkeit entho- Familie, die zur Beerdigung der verstorbenen Mutter ben ist.« (Heinz Ungureit) für einen Tag zusammentrifft. Schauplatz ist das nur Mittwoch, 8. Januar 2020, 18.30 Uhr notdürftig wiederaufgebaute Charlottenburg. Das Auto muss verkauft werden, um die Beerdigung zu bezah- Abschied | BRD 1966 | R: Peter Lilienthal | B: Günter len – eine Szene, in der der Regisseur Will Tremper Herburger, Peter Lilienthal, nach der Erzählung »Wald- als Gebrauchtwagenhändler den ruppigen Typ mit friedhof« von Günter Herburger | K: Michael Ballhaus | Berliner Schnauze gibt. ABSCHIED zeigt die provisori- M: Albert Mangelsdorff | D: Max Haufler, Angelika Hur- schen Lebensmuster ›unbehauster‹ Zeitgenossen, eine wicz, Andrea Grosske, Peter Nestler, Ingrid Mannstaedt, existentielle Fremdheit in einem alles andere als leuch- Jürgen Draeger, Will Tremper | 72 min | »Herburger, tenden Westberlin.« (Claudia Lenssen) Ballhaus und Lilienthal nutzten die vom SFB gewähr- Mittwoch, 15. Januar 2020, 18.30 Uhr © Mara Eggert Peter Lilienthal 67 SERAPHINE oder DIE WUNDERSAME GESCHICHTE DER TANTE FLORA
Der Beginn | BRD 1966 | R: Peter Lilienthal | B: Günter einen Krankheitsfall dargestellt. Ein Junge ist hyste- Herburger, Peter Lilienthal | K: Gérard Vandenberg | D: risch blind. Er sieht hell und dunkel, er erkennt Kon- Kim Parnass, Joachim Wichmann, Eva Brumby, Ursula turen. Vielleicht sieht er manchmal alles. Das Leiden Alexa, Dunja Rajter, Rolf Zacher | 74 min | »Peter Lilien- ist psychisch bedingt. Vermutlich weiß nicht einmal er thal und Gérard Vandenberg zerstören durch Schnitte selbst, wie viel er wirklich sieht. Nach und nach Mosaik- und Perspektiven und Fahrten und Brennweiten die steine einer Handlung. Wenn man wollte, ließen sich gewohnte Ansicht einer Sache, die in der Regel ja nur die Fetzen zusammenfügen. Aber es besteht keine Not- um so falscher wird, wenn sie naiv inszeniert oder mit wendigkeit. HORROR ist nicht nur aus der Perspektive der Kamera naiv abgebildet wird. Die ihnen hier vorge- der Hauptfigur, eines Blinden also, erzählt, der Film ist gebene ›Sache‹ ist Günter Herburgers Geschichte ei- auch mit den Augen eines Blinden gesehen. Aus dem ner Anpassung: mähliche Eingemeindung des Knaben Grau erheben sich dann und wann Konturen, mal ist ein Rick, der eigentlich noch ein bisschen gammeln oder Raum deutlich zu erkennen, meist aber bloß ein Muster Kellner werden möchte in Spanien, Eingemeindung ins von Hell und Dunkel, etwas das da und dort Widerstand sogenannte Berufsleben. Lilienthal und Vandenberg leistet.« (Werner Kließ) zerbrechen alles Konstruierte der Geschichte, alles Me- Mittwoch, 12. Februar 2020, 18.30 Uhr chanistische. Sie lassen sich treiben mit dem Objekt ih- rer Beobachtung, dem Knaben Rick, sie bewerten sein Jakob von Gunten | BRD 1971 | R: Peter Lilienthal | B: unschlüssiges, widerspruchsvolles Verhalten nicht.« Ror Wolf, Peter Lilienthal, nach dem Roman von Robert (Ernst Wendt) Walser | K: Dietrich Lohmann | D: Sebastian Bleisch, Mittwoch, 22. Januar 2020, 18.30 Uhr Hanna Schygulla, Alexander May, Peter Kern, Reinhard Hauff | 97 min | »Lilienthals Film beginnt mit Jonathan Verbrechen mit Vorbedacht | BRD 1967 | R: Peter Li- lienthal | B: Piers Paul Read, Peter Lilienthal, nach einer Erzählung von Witold Gombrowicz | K: Gerd von Bonin | M: David Llywelyn | D: Willy Semmelrogge, Vadim Glow- na, Andrea Grosske, Maria Schanda, Gerhard Sprunkel Peter Lilienthal | 75 min | »Lilienthals Film ist eine Feier, eine Samm- lung kostbarer Augenblicke. Über die Gänge des verlot- terten Schlosses scheint ein Todesengel geschwebt zu sein, der auf dem Dekor unheimlichen Glanz hinterließ. Und auf allen Gesichtern ist zu lesen, dass oben im Schlafzimmer der Herr Katz liegt. Unsichtbare Strahlen 68 gehen von seinem Prunkbett aus. Tod ist für den Un- tersuchungsrichter Hopek, den zufälligen Gast, der am Tage nach dem Verscheiden des Hausherrn ankam, ein Swifts ›Anweisung für Dienstboten‹: ›Thut alles im Fins- bloßes Faktum. Die mysteriösen Wirkungen, die der Tod tern, eurem Herrn das Licht zu ersparen‹. Die folgende hervorbringt, sind für ihn der Gestank von Verbrechen. Einstellung, sekundenlang auf einem Gruppenbild der Nur große Dichter wie Genet und Gombrowicz (dessen Zöglinge verharrend, nimmt die Statik der bis zum Erzählung Lilienthal verfilmte) können sich diesen Mys- Stillstand verlangsamten Zeiterfahrung in der Diener- tizismus leisten, und nur ganz große Regisseure wie schule vorweg. Lilienthal durchsetzt seine Verfilmung Fellini und Buñuel. Und Lilienthal.« (Werner Kließ) mit Bildern von Brandstiftung, bewaffnetem Aufstand, Mittwoch, 5. Februar 2020, 18.30 Uhr und historischen Aufnahmen des Erdbebens von San Francisco im Jahr 1906, allesamt dazu angetan, den Horror | BRD 1968 | R+B: Peter Lilienthal, nach dem Untergang einer dekadenten bürgerlichen Gesellschaft Roman »How Awful About Allan« von Henry Farrell | K: heraufzubeschwören.« (Lucia Ruprecht) Justus Pankau | D: Vadim Glowna, Gerda-Katharina Mittwoch, 19. Februar 2020, 18.30 Uhr Kramer, Else Quecke, Burghardt Naaf, Heinz Meier | 78 min | »HORROR vermittelt einen psychischen Eindruck. Es bleibt mehr als ein Bild, mehr als die Erinnerung an Abläufe, mehr als Fragmente einer Handlung. Fast ist es ein Schmerz. Ungenau genommen, hat Lilienthal
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