Peter Lilienthal zum 90. Geburtstag

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Peter Lilienthal zum 90. Geburtstag
Peter Lilienthal ist ein Kino-Zauberer: Er beherrscht das

                                                                                                                          Peter Lilienthal bei den Dreharbeiten zu MALATESTA
Kunststück, aus den Banalitäten des Alltags wie den
politischen Katastrophen des Jahrhunderts poetische
Funken zu schlagen. »Eine Figur halb Gaucho, halb
Ahasver«, hat Fritz Rudolf Fries ihn porträtiert. Auf-
gewachsen in Montevideo, wohin die Mutter mit dem
neunjährigen Jungen 1939 emigrierte, kehrte er Mitte
der 1950er Jahre nach Berlin zurück, ohne wirklich
heimisch zu werden: In Deutschland blieb er ein Frem-
der. Wie kaum ein anderer deutscher Filmemacher ist
Lilienthal Weltbürger: Er hat in Lateinamerika, in Israel,
in den USA gedreht, kennt das bundesdeutsche Fern-
sehen aus dessen Kindertagen und den internationalen
Festival-Zirkus in Cannes und Venedig, arbeitete mit
Eddie Constantine und Hanna Schygulla, spielte selbst
kleine Rollen bei Samuel Fuller, Wim Wenders und Ed-
gar Reitz, war als Dozent der Berliner Filmhochschule
bereits in die Studentenunruhen 1968 verwickelt und
hat noch immer den Kopf voller Träume und Utopien.
     »Lilienthal is a key figure in the growth of New Ger-
man Cinema«, weiß das US-amerikanische Fachblatt
Variety. In Deutschland ist dies kaum bekannt. Gewiss,
an Anerkennung seitens der Kollegen und Kritiker              unsteten und flüchtigen Begriffe, die sich unaufhörlich

                                                                                                                                                                               Peter Lilienthal
hat es nicht gefehlt. 1981, auf eine Umfrage von Joe          gegenseitig in ihrem flackernden Licht spiegeln, und
Hembus, zählte Rainer Werner Fassbinder MALATES-              die heißen Land der Geburt und Gelobtes Land.« Große
TA zu den zehn besten Werken des Neuen deutschen              Worte, die Lilienthals Figuren nie aussprechen würden:
Films, Wim Wenders nannte LA VICTORIA. Obwohl er              Die kleinen Gesten sind in diesen Filmen wichtiger als
unzählige Auszeichnungen erhalten hat, darunter allein        verbale Bekenntnisse.
siebenmal den Deutschen Filmpreis und den Golde-                  Mitte der 1950er Jahre kam ein junger Mensch, 25
                                                                                                                                                                                63
nen Bären der Berlinale, blieb er immer am Rande des          Jahre alt, nach Berlin, in die Stadt, die er als kleiner
deutschen Filmbetriebs, eine Position, von der sich das       Junge verlassen hatte. Uruguay war fern von Europa,
geschäftige Treiben mit unbestechlichem Blick und hei-        wo die Katastrophe wütete, der man entkommen war.
terer Gelassenheit betrachten lässt.                          Vom Holocaust erfuhr Lilienthal erst jetzt. Unvorstellbar
     Lilienthals Filme, hat Fritz Rudolf Fries bemerkt, le-   und nicht zu verarbeiten erschien ihm das Grauen,
ben vom Trauma des Exils und den Erinnerungen an              das auch für seine Familie vorbedachte Schicksal. Mit
das kleine Hotel seiner Mutter in Montevideo: »In seinen      den Tätern zu sprechen (oder sie im Film darzustellen)
besten Filmen gibt es diese Magie der Pubertät und            war ihm zeitlebens unmöglich. Nach dem Studium an
die Mythologie der Herberge.« In seinen Filmen ver-           der Hochschule für Bildende Künste (Fächer: Malerei
sammelt er eine Familie, Menschen aus aller Herren            und Formgestaltung, Experimentelle Foto-Grafik und
Länder, Schiffbrüchige und Grenzgänger, Träumer und           Film) ging er 1959 nach Baden-Baden zum damali-
Schnorrer. Es sind Menschen ohne Reichtümer, ohne             gen Südwestfunk. Das Fernsehen steckte noch in den
eine sichere Position oder Macht; sie sind Unterdrü-          Kinderschuhen: Es gab nur ein Programm, gesendet
ckung und Verfolgung ausgesetzt und haben doch Hoff-          wurde von 17 bis 22 Uhr, samstags eine Stunde län-
nung und Lebenslust nicht aufgegeben. Georges Perec           ger, ansonsten strahlte man, eine Konzession an den
hat das semantische Feld abgesteckt, das für ihn mit          Geräte-Handel, ein Testbild aus. Das Medium erfand
dem Wort »Jude« verbunden ist: »die Reise, die Erwar-         sich selbst: Fernsehspezifische Programmformen und
tung, die Hoffnung, die Unsicherheit, der Unterschied,        Genres mussten sich erst noch herausbilden. Man
die Erinnerung und diese beiden schwer zu fassenden,          produzierte in jenen Jahren ohne Quotendruck und
Konkurrenz; stattdessen waren Kreativität und Impro-        mütigen und küssen am Ende die Hand, ziehen die Hüte
                                visation gefragt.                                           über die Ohren und stolpern derart blind wieder hinaus
                                    Drei Namen markieren das Terrain, das mit dem           in die Freiheit. PICKNICK IM FELDE (nach Arrabal): Die
                                damals gängigen Etikett »Absurdes Theater« nur unzu-        Eltern besuchen, als sei es ein normaler Ausflug, ihren
                                länglich benannt ist: Sławomir Mrożek, Fernando Arra-       Sohn auf dem Schlachtfeld. Man hört donnernde Flug-
                                bal, Witold Gombrowicz. Geboren in verschiedenen Re-        zeuge, folgt dem Blick in den Himmel: Keine Bomber
                                gionen der Welt, beheimatet im inneren oder äußeren         sind zu sehen, sondern ein Helikopter mit einer Turnerin
                                Exil. Sie formulierten in Parabeln, die nicht schulmäßig    (eine Wochenschauaufnahme, Werbung für die Mos-
                                auflösbar sind, die Verunsicherung, die Brüchigkeit des     kauer Turnfestspiele). Die Opfer begreifen nicht, was
                                Friedens: Noch war das Erlebnis des »totalen Krieges«       mit ihnen geschieht. »Was mich an Arrabal fasziniert«,
                                gegenwärtig, prägte die gegenseitige atomare Bedro-         so Lilienthal in einem Interview, »sind seine stummen,
                                hung der beiden feindlichen Systeme das Bewusstsein.        sprachlosen Menschen, die er mit einem schrecklichen
                                Grotesk überzeichnet, spiegeln die surrealen Welten         Geschehen konfrontiert, in diesem Fall also mit dem
                                das Dasein der Menschen als Spielball fremder Mächte.       Krieg, um ihre Hilflosigkeit zu zeigen.«
                                Avantgardisten spielt man nicht vom Blatt. Lilienthal hat       Ein gutes Beispiel für Lilienthals Art der Aneignung
                                Mrożek und Arrabal eigenwillig übersetzt in sein Me-        ist SERAPHINE ODER DIE WUNDERSAME GESCHICHTE
                                dium – er hat nicht die Texte inszeniert, sondern sich      DER TANTE FLORA. Aus dem Stück »Little Dorrit« des
                                ihnen als Autor genähert. STRIPTEASE (nach Mrożek):         englischen Dramatikers David Perry machte Lilienthal
                                Zwei Herren mit Anzug, Hut und Aktentasche werden           seine Geschichte. Sie beginnt wie ein Kinderfilm à la
                                durch einen seltsamen Zwang in einen bunkerartigen          »Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer«: Ein Zug,
                                kahlen Raum gezwungen. Aus der Wand stößt eine              mit viel Dampf und Getöse, zuckelt von Krummbach
                                Hand, ein fordernder Finger zwingt sie, erst die Schuhe,    über eine alte Brücke. Auf dem letzten Waggon befin-
                                dann Gürtel bzw. Hosenträger, schließlich die Hose ab-      det sich eine riesige Kiste mit verhängten Fenstern: Sie
                                zugeben. Im Gefühl der Ohnmacht lassen sie sich de-         beherbergt Seraphine, ein Seeungeheuer, das nur aus
Peter Lilienthal

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                                                                                                                                                       © Mara Eggert
                   STRIPTEASE
Kopf und Maul besteht, die Missgeburt einer kaliforni-      den Mord nachholen, die Leiche mit dem Rosenkranz
schen Seerobbe. Das Ungetüm ist Daniel ans Herz ge-         erwürgen. War der Film die kongeniale Umsetzung ei-
wachsen, er hat es sieben Jahre in seiner Badewanne         ner Novelle von Witold Gombrowicz, nutzte Lilienthal
gehegt und gepflegt, doch seine Frau besteht darauf:        für HORROR den Roman »How Awful About Allan« von
Seraphine muss aus dem Haus, sie soll jetzt ausgesetzt      Henry Farrell lediglich als Stoff und eliminierte radikal
werden. Die Fahrt endet in einem Seebad, Daniel, Dora       die psychoanalytischen Erklärungsmuster. Die Angst-
und Seraphine mieten sich in der heruntergekomme-           phantasien eines hysterisch Blinden, die ihn in den
nen Pension »Zur Nachtigall« ein. Dort füttern Victor       Wahnsinn treiben, werden von einer subjektiven Kame-
und Betty ein anderes Ungeheuer durch: Tante Flora,         ra eingefangen (auch in jenen Momenten, wo der kran-
die ihre Umwelt tyrannisiert. Am Ende wird sie von Se-      ke Alex selbst ins Bild kommt: Der Zuschauer sieht ihn
raphine gefressen, bevor das Seeungeheuer im Meer           mit seinen eigenen Augen). Fragmente einer Handlung,
verschwindet.                                               Momente aus der Vergangenheit, traumatische Erleb-
     Es ist ein Märchen mit einer grimmigen Moral. Als      nisse, in verzerrten, unscharfen, zerfließenden Bildern,
das laut schmatzende Seeungeheuer die Tante ver-            die manchmal nur noch einen Hell-Dunkel-Kontrast
tilgt, feiert fröhlich die erlöste Verwandtschaft. Daniel   erkennen lassen. Der Film ist ein einziger Schrei, 75
hat alles versucht, die Tante zu retten, das gebot der      Minuten lang. Die Fernsehverantwortlichen fürchteten,
Familiensinn – und nun ist man froh, die gefräßigen         ihre Zuschauer zu verstören. Der Spiegel wusste zu be-
Monster, Seraphine wie Flora, los zu sein, ohne sich        richten: »Regisseur Lilienthal, in der Inszenierung von
Vorwürfe machen zu müssen. Die symmetrische Kon-            Seelendramen wohlerprobt, hat in seinem bisher bes-
struktion der Geschichte, genau austariert, wird sinn-      ten und wildesten Film die Schreckensvisionen eines
fällig in den szenischen Arrangements, den Tableaus         Psychopathen derart bedrückend, grell und drastisch
und im Bildaufbau. Eine riesige Suppenterrine domi-         dargestellt, dass die ARD ein halbes Jahr zögerte, bevor
niert das Bild, während Victor und Betty nur noch als       sie das Auftragswerk ins Programm nahm.«
Schatten erkennbar sind. Der altmodisch-verschmock-             »1968« begann bereits 1967: An der neu gegrün-
te Anstrich verbindet sich mit optischen Gags (z.B. ei-     deten Berliner Filmhochschule DFFB brodelte es schon
ner Sprechblase) und makabrem Humor, Rachephan-             im ersten Jahrgang. Man hatte die Akademie gegrün-

                                                                                                                        Peter Lilienthal
tasien, die ein Ventil für die jahrelange Unterdrückung     det, um für den maroden deutschen Film Nachwuchs
sind. Stilistisch fühlt man sich an die Bilderwelt eines    auszubilden, doch die Studenten entwickelten keinen
Edward Gorey, Jan Lenica oder Max Ernst erinnert. Der       Ehrgeiz, sich für die Filmindustrie zu qualifizieren. Die
Raum ist prädestiniert für die Schrecken, die kommen        Produktionsmittel der Hochschule wurden benutzt, um
werden. Genüsslich ausgestellt werden die überfrach-        Agitprop-Filme wie EIN WESTERN FÜR DEN SDS zu
teten Interieurs, ein »Stück bürgerlichen Pandämoni-        drehen. Andersdenkende Kommilitonen wurden von
                                                                                                                         65
ums«, wie es Walter Benjamin in alten Kriminalroma-         den politisierten Studenten als »Kuchenfilmer« denun-
nen entdeckt hat: »Auf diesem Sofa kann die Tante nur       ziert. Der Dozent Lilienthal war ein liberaler Lehrer, er
ermordet werden.«                                           musste zwischen die Fronten geraten, Ende März 1968
     Szenenwechsel. Lilienthal war 35 Jahre alt, er hatte   demissionierte er.
zehn Filme gedreht, diverse Auszeichnungen erhalten,            Den Berliner Hochschul-Querelen entflohen, berei-
doch nun tauschte er das beschauliche Kurstadt-Kli-         tete Lilienthal in London seinen ersten Kinofilm vor. Die
ma Baden-Badens gegen das Leben in dem Haupt-               realitätsfremden Debatten der APO, die mit Marx- und
stadt-Provisorium, dessen kulturelle und literarische       Mao-Zitaten den Klassenkampf in der Bundesrepublik
Szene, von Bonn subventioniert, weltoffen war wie in        beleben wollten, erschienen ihm eine Angelegenheit
keiner anderen deutschen Stadt. Lilienthal war offen für    des vorherigen Jahrhunderts. Seine Wortmeldung zu
die Anregungen, die ihm hier geboten wurden. Bisher         den aktuellen Auseinandersetzungen war ein histori-
war er meist sein eigener Drehbuchautor, nun nutzte er      scher Film: MALATESTA. Der Film ist eine Elegie auf die
die Gelegenheit, Kontakte zu Schriftstellern zu knüpfen:    Revolution, im Mittelpunkt ein sanfter, weiser Anarchist,
DER BEGINN schrieb er zusammen mit Günter Herbur-           mehr Philosoph als Politiker, der einst die »Propaganda
ger, dessen Erzählung »Waldfriedhof« er im Jahr zuvor       durch die Tat« und nun die Gewaltfreiheit predigt, des-
unter dem Titel ABSCHIED verfimt hatte.                     sen enttäuschte Anhänger einen sinnlosen Überfall be-
     »Das eigentliche Verbrechen vollzieht sich immer in    gehen und von der Polizei zusammengeschossen wer-
der Seele«, doziert der Untersuchungsrichter in VER-        den. Lilienthal, der das Leben Enrico Malatestas vor Ort
BRECHEN MIT VORBEDACHT; am Ende wird Anton                  recherchierte und zusammen mit Heathcote Williams,
pathie den politischen Aufbruch gefördert hatte, den
                   © Mara Eggert

                                                                                                                             Fanatismus und die Verirrungen der radikalisierten Stu-
                                                                                                                             denten aber mit Sorge verfolgte. Adorno, Horkheimer,
                                                                                                                             Habermas, die Lehrer der Frankfurter Schule, erlebten,
                                                                                                                             wie ihre Theorien umschlugen in praktizierte Gewalt.
                                                                                                                             MALATESTA erwies sich als hellsichtiger Kommentar
                   Dreharbeiten zu VERBRECHEN MIT VORBEDACHT

                                                                                                                             zur Zeit, abgehandelt an einem historischen Modell:
                                                                                                                             Die Utopien der Neuen Linken mündeten wenig später
                                                                                                                             in marxistischen Dogmatismus oder in den Terroris-
                                                                                                                             mus. MALATESTA dagegen ist, was den Zeitgenossen
                                                                                                                             suspekt war, ein politischer Film ohne Sendungsbe-
                                                                                                                             wusstsein. Ihm ist Lilienthal, bei allem Engagement, nie
                                                                                                                             verfallen: »Ich liebe mehr die Leute, die ihre Unsicher-
                                                                                                                             heit eingestehen, als die, die glauben, die Welt deuten
                                                                                                                             zu können.«                              Michael Töteberg

                                                                                                                             Malatesta | BRD 1970 | R: Peter Lilienthal | B: Heath-
                                                               Darsteller eines der jungen Anarchisten, das Drehbuch         cote Williams, Peter Lilienthal | K: Justus Pankau | M:
                                                               schrieb, gab dem Film die Anmutung eines historischen         George Gruntz | D: Eddie Constantine, Christine Noo-
                                                               Dokuments: Virtuos werden Originalaufnahmen, sech-            nan, Vladimir Pucholt, Diana Senior, Heathcote Wil-
                                                               zig Jahre alt und von entsprechender technischer Qua-         liams, Siegfried Graue | 80 min | »Eine sehr moder-
                                                               lität, bruchlos mit Spielszenen verschmolzen, die wie         ne Geschichte: Das Missverständnis zwischen einem
                                                               vergilbte Filmstreifen wirken. Verblichene Farben, Un-        Sozialphilosophen und den Terroristen, die sich seiner
                                                               schärfen und absichtliche Asynchronität, mangelhafte          Parolen bedienen und Revolution mit Mitteln durchfüh-
                                                               Tonqualität – manche Dialoge sind fast unverständlich,        ren wollen, die er nie gepredigt hat.« (Peter Lilienthal)
                                                               doch geht es Lilienthal auch nicht um politische Lehr-        – Shirley Chisholm for President | BRD 1972 | R+B:
Peter Lilienthal

                                                               sätze des anarchistischen Theoretikers. Er porträtiert        Peter Lilienthal | K: Horst Zeidler | Mit: Shirley Chisholm,
                                                               einen Mann, der ahnt, dass seine Utopie nicht realisier-      Conrad Chisholm | 51 min | Drei Wochen lang beglei-
                                                               bar ist, weil die Verwirklichung der Selbstaufhebung der      tet Peter Lilienthal in New York, Miami und Kalifornien
                                                               Idee gleichkommt.                                             Shirley Chisholm, afroamerikanische Demokratin aus
                                                                    Schon die hochartifizielle Machart des Films er-         Brooklyn, die einen aussichtslosen Kampf um die Präsi-
                                                               schien damals als Provokation. »Darf ein Film über            dentschaft der USA führt. Das erste weibliche schwarze
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                                                               Anarchismus und Revolution schön sein?« fragte Wolf           Mitglied im amerikanischen Kongress wirbt auf Stra-
                                                               Donner in der Zeit. Alf Brustellin schrieb in der Süd-        ßen und Universitäten um Wählerinnen und Wähler und
                                                               deutschen Zeitung von »einem traurigen, schönen               muss sich gegen viele Vorurteile wehren.
                                                               Poem, das sich kunstvoll extrem künstlich in die größt-        Donnerstag, 28. November 2019, 19.00 Uhr (Zu Gast:
                                                               mögliche Unverbindlichkeit hineinformuliert«. In der          Peter Lilienthal)
                                                               Frankfurter Rundschau wünschte sich der Rezensent,
                                                               dass Lilienthal »den Ästhetizismus des Geheimnisvollen        Picknick im Felde | BRD 1962 | R+B: Peter Lilienthal,
                                                               zugunsten einer radikalen oder intellektuellen Position       nach dem Stück von Fernando Arrabal | K: Ulrich Burtin
                                                               aufgäbe«. »Ein schönes Museumsstück, mehr nicht«,             | D: Friedrich Mertel, Horst-Werner Loos, Annemarie
                                                               lautete das Fazit der Stuttgarter Zeitung.                    Schradiek, Ludwig Thiesen | 23 min – Striptease |
                                                                    Die politische Brisanz des Films, der seinerzeit als     BRD 1963 | R: Peter Lilienthal | B: Sławomir Mrożek | K:
                                                               Kunstgewerbe abgetan wurde, ist aus heutiger Distanz          Gerd Schäfer, Ulrich Burtin, Immo Rentz, Willi Reisser |
                                                               kaum zu übersehen. Der Film erschien zu einer Zeit,           D: Joachim Wichmann, Max Haufler | 25 min – »Meine
                                                               da sensible Ästheten sich verleugneten und stattdes-          Beziehung zu Arrabal und auch zu Mrożek liegt in der
                                                               sen grobschlächtigen Agitprop produzierten. Vor Re-           anarchistischen Tradition, die nicht einzuordnen ist.«
                                                               volutionsromantik, der damals viele bundesdeutsche            (Peter Lilienthal) – Seraphine oder Die wundersame
                                                               Intellektuelle verfielen, war Lilienthal nicht zuletzt dank   Geschichte der Tante Flora | BRD 1965 | R+B: Peter
                                                               seiner Biographie gefeit. MALATESTA reflektiert auch          Lilienthal, nach der Geschichte »Little Dorrit« von David
                                                               die Erfahrungen eines Hochschullehrers, der mit Sym-          Perry | K: Friedhelm Heyde | D: Heinz Meier, Adolf Rebel,
Else Ehser, Annemarie Schradiek, Käthe Jaenicke | 50       te Freiheit für einen Film, der die nervöse Reizbarkeit
min | Eine »subtil-ironische Kleinbürger-Farce über ver-   der Ingmar-Bergman-Frauen ebenso zitiert wie etwa
rückte Anhänglichkeit an Seeungeheuer und gefräßige        das unterkühlte Jazz-Feeling der frühen John-Cassa-
Tanten. Die lebendige Kamera, die auf ausgesuchteste       vetes-Filme. ABSCHIED erzählt wortkarg und atmo-
Bildassoziationen aus ist, schafft eine eigene Welt, die   sphärisch dicht von einer namenlosen zerrissenen
der realen ebenso wie der Theater-Wirklichkeit entho-      Familie, die zur Beerdigung der verstorbenen Mutter
ben ist.« (Heinz Ungureit)                                 für einen Tag zusammentrifft. Schauplatz ist das nur
 Mittwoch, 8. Januar 2020, 18.30 Uhr                      notdürftig wiederaufgebaute Charlottenburg. Das Auto
                                                           muss verkauft werden, um die Beerdigung zu bezah-
Abschied | BRD 1966 | R: Peter Lilienthal | B: Günter      len – eine Szene, in der der Regisseur Will Tremper
Herburger, Peter Lilienthal, nach der Erzählung »Wald-     als Gebrauchtwagenhändler den ruppigen Typ mit
friedhof« von Günter Herburger | K: Michael Ballhaus |     Berliner Schnauze gibt. ABSCHIED zeigt die provisori-
M: Albert Mangelsdorff | D: Max Haufler, Angelika Hur-     schen Lebensmuster ›unbehauster‹ Zeitgenossen, eine
wicz, Andrea Grosske, Peter Nestler, Ingrid Mannstaedt,    existentielle Fremdheit in einem alles andere als leuch-
Jürgen Draeger, Will Tremper | 72 min | »Herburger,        tenden Westberlin.« (Claudia Lenssen)
Ballhaus und Lilienthal nutzten die vom SFB gewähr-         Mittwoch, 15. Januar 2020, 18.30 Uhr

                                                                                                                      © Mara Eggert

                                                                                                                                                                                  Peter Lilienthal
                                                                                                                                                                                   67

                                                                                                                       SERAPHINE oder DIE WUNDERSAME GESCHICHTE DER TANTE FLORA
Der Beginn | BRD 1966 | R: Peter Lilienthal | B: Günter       einen Krankheitsfall dargestellt. Ein Junge ist hyste-
                   Herburger, Peter Lilienthal | K: Gérard Vandenberg | D:       risch blind. Er sieht hell und dunkel, er erkennt Kon-
                   Kim Parnass, Joachim Wichmann, Eva Brumby, Ursula             turen. Vielleicht sieht er manchmal alles. Das Leiden
                   Alexa, Dunja Rajter, Rolf Zacher | 74 min | »Peter Lilien-    ist psychisch bedingt. Vermutlich weiß nicht einmal er
                   thal und Gérard Vandenberg zerstören durch Schnitte           selbst, wie viel er wirklich sieht. Nach und nach Mosaik-
                   und Perspektiven und Fahrten und Brennweiten die              steine einer Handlung. Wenn man wollte, ließen sich
                   gewohnte Ansicht einer Sache, die in der Regel ja nur         die Fetzen zusammenfügen. Aber es besteht keine Not-
                   um so falscher wird, wenn sie naiv inszeniert oder mit        wendigkeit. HORROR ist nicht nur aus der Perspektive
                   der Kamera naiv abgebildet wird. Die ihnen hier vorge-        der Hauptfigur, eines Blinden also, erzählt, der Film ist
                   gebene ›Sache‹ ist Günter Herburgers Geschichte ei-           auch mit den Augen eines Blinden gesehen. Aus dem
                   ner Anpassung: mähliche Eingemeindung des Knaben              Grau erheben sich dann und wann Konturen, mal ist ein
                   Rick, der eigentlich noch ein bisschen gammeln oder           Raum deutlich zu erkennen, meist aber bloß ein Muster
                   Kellner werden möchte in Spanien, Eingemeindung ins           von Hell und Dunkel, etwas das da und dort Widerstand
                   sogenannte Berufsleben. Lilienthal und Vandenberg             leistet.« (Werner Kließ)
                   zerbrechen alles Konstruierte der Geschichte, alles Me-        Mittwoch, 12. Februar 2020, 18.30 Uhr
                   chanistische. Sie lassen sich treiben mit dem Objekt ih-
                   rer Beobachtung, dem Knaben Rick, sie bewerten sein           Jakob von Gunten | BRD 1971 | R: Peter Lilienthal | B:
                   unschlüssiges, widerspruchsvolles Verhalten nicht.«           Ror Wolf, Peter Lilienthal, nach dem Roman von Robert
                   (Ernst Wendt)                                                 Walser | K: Dietrich Lohmann | D: Sebastian Bleisch,
                    Mittwoch, 22. Januar 2020, 18.30 Uhr                        Hanna Schygulla, Alexander May, Peter Kern, Reinhard
                                                                                 Hauff | 97 min | »Lilienthals Film beginnt mit Jonathan
                   Verbrechen mit Vorbedacht | BRD 1967 | R: Peter Li-
                   lienthal | B: Piers Paul Read, Peter Lilienthal, nach einer
                   Erzählung von Witold Gombrowicz | K: Gerd von Bonin |
                   M: David Llywelyn | D: Willy Semmelrogge, Vadim Glow-
                   na, Andrea Grosske, Maria Schanda, Gerhard Sprunkel
Peter Lilienthal

                   | 75 min | »Lilienthals Film ist eine Feier, eine Samm-
                   lung kostbarer Augenblicke. Über die Gänge des verlot-
                   terten Schlosses scheint ein Todesengel geschwebt zu
                   sein, der auf dem Dekor unheimlichen Glanz hinterließ.
                   Und auf allen Gesichtern ist zu lesen, dass oben im
                   Schlafzimmer der Herr Katz liegt. Unsichtbare Strahlen
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                   gehen von seinem Prunkbett aus. Tod ist für den Un-
                   tersuchungsrichter Hopek, den zufälligen Gast, der am
                   Tage nach dem Verscheiden des Hausherrn ankam, ein            Swifts ›Anweisung für Dienstboten‹: ›Thut alles im Fins-
                   bloßes Faktum. Die mysteriösen Wirkungen, die der Tod         tern, eurem Herrn das Licht zu ersparen‹. Die folgende
                   hervorbringt, sind für ihn der Gestank von Verbrechen.        Einstellung, sekundenlang auf einem Gruppenbild der
                   Nur große Dichter wie Genet und Gombrowicz (dessen            Zöglinge verharrend, nimmt die Statik der bis zum
                   Erzählung Lilienthal verfilmte) können sich diesen Mys-       Stillstand verlangsamten Zeiterfahrung in der Diener-
                   tizismus leisten, und nur ganz große Regisseure wie           schule vorweg. Lilienthal durchsetzt seine Verfilmung
                   Fellini und Buñuel. Und Lilienthal.« (Werner Kließ)           mit Bildern von Brandstiftung, bewaffnetem Aufstand,
                    Mittwoch, 5. Februar 2020, 18.30 Uhr                        und historischen Aufnahmen des Erdbebens von San
                                                                                 Francisco im Jahr 1906, allesamt dazu angetan, den
                   Horror | BRD 1968 | R+B: Peter Lilienthal, nach dem           Untergang einer dekadenten bürgerlichen Gesellschaft
                   Roman »How Awful About Allan« von Henry Farrell | K:          heraufzubeschwören.« (Lucia Ruprecht)
                   Justus Pankau | D: Vadim Glowna, Gerda-Katharina               Mittwoch, 19. Februar 2020, 18.30 Uhr
                   Kramer, Else Quecke, Burghardt Naaf, Heinz Meier | 78
                   min | »HORROR vermittelt einen psychischen Eindruck.
                   Es bleibt mehr als ein Bild, mehr als die Erinnerung an
                   Abläufe, mehr als Fragmente einer Handlung. Fast ist
                   es ein Schmerz. Ungenau genommen, hat Lilienthal
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