Pillen für Schwache oder schwach durch Pillen? - (FAS) NRW
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Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA 21. März 2019, Essen Pillen für Schwache oder schwach durch Pillen? Prof. Dr. Gerd Glaeske SOCIUM, Universität Bremen – Kein Interessenkonflikt im Sinne der Uniform Requirements for Manuscripts submitted to Biomedical Journals der ICMJE – 21.03.2019 1
Worüber möchte ich mit Ihnen diskutieren? • Es geht nicht um ein „reines“ Arzneimittelthema, sondern um die Medikalisierung unseres Lebens in unserer Gesellschaft (Ivan Illich (1926-2002), Nemesis der Medizin, 1995) • Das Thema hat auch mit Sexismus als Ideologie einer patriarchalen Sozialordnung zu tun („Frauen sind von Natur aus fürsorglicher und empathischer“) (Kate Manne, 2019) • Und ebenso mit Misogynie (Frauenfeindlichkeit), die ein abweichendes Verhalten nicht zulässt und mit Herabsetzen und Unterdrückung bestraft – ideologisch mit traditionellen Geschlechterordnungen und „Familien- werten“ verknüpft, die Frauen einen nur begrenzten Platz zulassen • Die medizinische Sozialisation ist auch nach wie vor männlich geprägt und damit Teil einer Sozialordnung, die Geschlechterstereotype verinnerlicht hat: ♂ stark, rational, kompetitiv ♀ schwach, harmoniebeürftig, immer auch hysterisch • Dazu gehört auch: Männer leider an ihrem Körper, Frauen an ihrer Psyche (Cooperstock, 1978): Benzos wie Valium sind Mittel für Schwache, keine „Männermittel“, oder werden Frauen dadurch schwach gemacht? 21.03.2019 2
Worüber möchte ich mit Ihnen diskutieren? • Die Rolle einer eher patriarchal organisierten Me- dizin kann nicht unabhängig von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Sozialisationsformen gesehen werden • Wenn die Achsen (Gereth, 1984, 183) „Macht - Ohnmacht Aktivität - Passivität Unabhängigkeit - Abhängigkeit Männlich - Weiblich“ die psychische und soziale Wirklichkeit charakterisieren, können Rollen-Stereotypen in der Verordnung nicht verwundern…. • „Frauensyndrom“ (Vogt, 1983): Aus Sicht der Medizin psychisch labil, „vegetative Dystonie“ (Schlappheit, Nicht-mehr-Können) • „Nicht Scheinlösungen für Probleme, sondern Lösung für Scheinprobleme“ (frühere Werbung für Tranquilzer) 21.03.2019 3
Fakten zum Arzneimittelmarkt… • Richtig eingesetzt sind Arzneimittel die wichtigsten „Instrumente“ ärztlicher Behandlung und können auch in der Selbstmedikation eine Hilfe sein – auch Benzos sind unverzichtbar! • 2018 wurden 1,55 Mrd. Packungen über Apotheken verkauft, Industrieumsatz 33,5 Mrd. Euro, Umsatz in Apotheken incl. MwSt. ca. 53,4 Mrd. €, Umsatz in der GKV 36,2 Mrd. € • Rund 50% der Packungen sind rezeptpflichtig, 50% können ohne Rezept direkt in der Apotheke gekauft werden, insgesamt etwa 20 Packungen pro Einwohner*in • Alle Arzneimittel müssen zugelassen werden (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)), bei gravierenden unerwünschten Wirkungen (UAW) Marktrücknahme 21.03.2019 4
…aber auch die Ungleichheit nimmt zu Arme sterben früher: Der Ärztetag bezeichnete dies als „Schande“ (SZ 31. Mai 2013) 21.03.2019 6
Arzneiverbrauch und Kosten je Tagesdosis nach Alter und Geschlecht 2017 – für 25% der Versicherten rd. 60% der Menge… (Quelle: Schröder M, Telchow C 2017. Arzneimittelverordnungen nach Alter und Geschlecht In: Schwabe U, Paffrath D, Ludwig W-D, Klauber J (Hrsg), 7 Arzneiverordnungsreport 2017. Springer: Berlin. 789.)
In der Zukunft wird es … …mehr Menschen mit altersassoziierten Erkrankungen geben – Diabetes, Bluthochdruck, Herzinsuffizienz, Koronare Herzerkran- kung, COPD, Arthrose, Arthritis, Depression, Krebserkrankungen und Abhängigkeitserkrankungen…. …und mehr Menschen mit altersbedingten Erkrankungen geben wie z.B. Parkinson und vor allem Demenz Wenn mehr und mehr ältere Menschen behandelt werden müssen, wird auch die Medizin stärker auf diese Gruppe eingehen müssen – Unerwünschte- und Wechselwirkungen steigen durch viele Arzneimittel nebeneinander deutlich an… 21.03.2019 8
Die Abhängigkeiten in D im Überblick (DHS 2017) • Statistiken geben folgende Auskunft: Tabak / Nikotin ca. 5 – 6 Mio Alkohol ca. 1,5 Mio. Illegale Drogen (v.a. Cannabis) ca. 220 Tsd. • Medikamente (v.a. Hypnotika, Tranquilizer, Opioide) ca. 1,5 – 1,9 Mio. • Die Medikamentenabhängigkeit wird aber am wenigsten in der Öffentlichkeit diskutiert und problematisiert – warum? - Experten (ÄrztInnen, ApothekerInnen) sind in den meisten Fällen daran beteiligt - Medikamente haben ein positives und „sauberes“ Image - Wir alle sind an die Einnahme von Medikamenten gewöhnt (verordnet oder selbstgekauft) 21.03.2019 9
Warum kommt es zu diesen Abhängigkeitserkrankungen? • Der überzogene Anspruch an die Arbeits- und Leistungsfähigkeit sowie an Rollenidentifikation/-erwartung) (Talcott Parsons) und Habitus (Pierre Bourdieu) sorgen für Stress, ebenso übrigens wie Unterforderung • Stress selber ist weniger problematisch, es sind die insuffizienten Bewältigungsmechanismen, die uns krankmachen (z.B. abgeleitet aus der Gesundheitsförderung) • Oftmals werden schnell verfügbare Mechanismen zur Bewältigung gesucht (Stresstheorie nach Lazarus): Nikotin, Alkohol, Medikamente, Sex, Kaufen, Spielen, Sport etc. – oft bis zur Abhängigkeit…. • Im Vordergrund: Die Anpassung des Menschen an die gesellschaft- lichen Erwartungen und Bedingungen sowie an die Arbeitsverhält- nisse und Beziehungs-/Familienbedingungen • Die Folge: Selbstausbeutung – körperlich und psychisch 21.03.2019 10
• Bewältigung durch den entindividualisierenden Konsum von psychotropen Mitteln (von Kaffee und Koffein-haltigen (Schmerz)Tabletten bis hin zu Benzodiazepinen (Typ Valium), Antidepressiva (Typ Prozac) und Stimulanzien (Typ Ritalin) • „Der Tag geht und Johnny Walker kommt!“ „Wenn einem Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach Uralt wert.“ • Alkohol und Tabak in Eigenverantwortung, auch bis zum Missbrauch, der zur Abhän- gigkeit werden kann • Arzneimittel sind dagegen expertenlegitimiert – ÄrztInnen verordnen, ApothekerInnen verkaufen – die Mittel sollen indikationsgerecht und bestimmungsgemäß angewendet werden. • Gründe: „Resignative Autogratifikation“ (Karasek, Weiß) – Entwertung durch mangelnde Anerkennung, kaum mögliche Veränderungen, verringerte Kommunikationsmöglichkeiten, Einsamkeit und Armut. 21.03.2019 11
Abhängigkeitserkrankung/Sucht – was heißt das? Drei der folgenden Punkte müssen zutreffen: • sehr starkes Verlangen, eine Substanz zu konsumieren • Kontrollverlust bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Konsums • körperliche Entzugserscheinungen, wenn die Substanz abgesetzt wird • Toleranzentwicklung: Um die ursprünglich durch niedrigere Dosen hervorgerufenen Wirkungen zu erreichen, sind zunehmend höhere Mengen der Substanz erforderlich • Vernachlässigung anderer Neigungen und Interessen, Einengung des Lebensstils auf den Suchtmittelkonsum • Fortführung des Konsums trotz eingetretener körperlicher, psychischer und sozialer Folgeschäden 21.03.2019 12
Jedes Alter hat „seine“ Pillen… 21.03.2019 13
An Schlafstörungen leiden mehr Frauen als Männer… • …und darum bekommen sie auch 5% Schritte häufiger Schlafmittel und Beruhi- gungsmittel (Tranquilizer) vom Benzodiazepin-Typ oder Z-Drugs („Benzos“, Zolpidem und Zopiclon) • Die noch immer häufigen Verord- nungen von Benzos und Z-Drugs haben dazu geführt, dass 1,2 – 1,5 Mio. Menschen allein von diesen Mitteln abhängig sind, insbesondere Frauen, 2/3 davon über 65 Jahre • Die Geschichte dieser Mittel ist von Fehlinformationen der ersten Hersteller begleitet, die dieses Risiko verschwiegen haben, an erster Stelle Hoffmann LaRoche. 21.03.2019 14
Die „Benzos“ – ein kleiner Rückblick… • 1960 kam Librium, 1963 Valium auf den Markt (Hoffmann LaRoche), Mittel dieses Typs sind auch heute noch unverzichtbar (z.B. bei Krämpfen, Angst-/Panikattacken, pre-operativ, akute Schlafprobleme) • Die Firma hatte bereits 1961 Kenntnisse von Absetzerscheinungen und Abhängigkeitspotenzial – diese Information wurden zugunsten von Absatz und Profit verschwiegen (Essig, 1961, ebenso Lader) • Die gute Verträglichkeit der Mittel führte nach den vorher angebote- nen problematischen Barbitursäure-haltigen Mittel (z.B. Veronal) zu einem schnellen Markterfolg. • 1973 wurde diese gravierende unerwünschte Wirkung den Ärzt*innen in den USA mitgeteilt, erst 1984 den deutschen. • Begrenzung/Zulassung der Anwendungsdauer auf 8 – 14 Tage, ansonsten Verordnungen zur Entzugsvermeidung bei low-dose- dependency“ • ….„bei fortgesetzter Einnahme Gefahr der Abhängigkeit (Sucht)“ 21.03.2019 15
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Die 20 meistverkauften Schlafmittel (ohne Reimporte) nach Packungsmengen im Jahre 2018 in Deutschland (OTC = Over The Counter/nicht-rezeptpflichtiges Arzneimittel) (IMS, 2019) Rang Präparat (Hersteller) Wirkstoff / Absatz 2018 in Industrieumsatz Missbrauchs- und Tsd (+/- % gg 2018 in Mio. € Abhängigkeits- 2017) (+/- % gg. 2017) potential 1 Hoggar (Stada, OTC) Doxylamin / eher 3.153,8 (-4%) 15,3 (-4%) nicht 2 Zopiclon-ratiopharm Zopiclon / +++ 1.419,2 (-20%) 4,1 (-21%) 3 Zolpidem AL Zolpidem / +++ 1.412,4 (+10%) 3,5 (+10%) 4 Zopiclon AbZ Zopiclon / +++ 1.176,8 (+78%) 3,7 (+78%) 5 Zolpidem - 1A Pharma Zolpidem/ +++ 938,9 (-2%) 2,4 (-2%) 6 Vivinox Sleep (Mann, OTC) Diphenhydramin / 796,9 (+1%) 3,3 (+3%) eher nicht 7 Schlafsterne RET (OTC) Doxylamin / eher 776,2 (+4%) 2,0 (+4%) nicht 8 Zopiclon AL Zopiclon / +++ 682,8 (-22%) 2,2 (-22%) 9 Zopiclodura (Mylan) Zopiclon / +++ 412,2 (+16%) 1,3 (+17%) 10 21.03.2019Zolpidem-ratiopharm Zolpidem / +++ 407,1 (IMS (-5%) – Institut 1,3Statistik, für medizinische (-5%) 2019)18
Rang Präparat (Hersteller) Wirkstoff/ Absatz 2018 in Industrieumsatz Missbrauchs- und Tsd (+/- % gg 2018 in Mio. € Abhängigkeits- 2017) (+/- % gg. 2017) potential 11 Zopiclon-1A Pharma Zopiclon / +++ 334,8 (+55%) 1,0 (+65%) 12 Lendormin (Boehringer) Brotizolam / +++ 287,3 (-0%) 1,1 (-0%) 13 Zolpidem ABZ Zolpidem / +++ 282,1 (-3%) 0,9 (+18%) 14 Schlaf Tabs ratiopharm (OTC) Doxylamin / eher 255,8 (+11%) 0,7 (+11%) nicht 15 Zopiclon CT Zopiclon / +++ 231,4 (-13%) 0,7 (-13%) 16 Dorm Tabletten (Berco) Diphenhydramin / 233,6 (+10) 0,4 (+11) eher nicht 17 Zopiclon Hexal Zopiclon / +++ 168,7 (-12%) 0,5 (-12%) 18 Zolpidem Stada Zolpidem / +++ 158,8 (-6%) 0,4 (-15%) 19 Temazep CT (AbZ) Temazepam / +++ 156,4 (-5%) 0,4 (-2%) 20 Betadorm D (Recordati, JJH Diphenhydramin / 154,9 (-17%) 0,7 (-4%) OTC) eher nicht Gesamt 26.650,0 (-2%) 144,8 (+1%) 21.03.2019 19
Die 20 meistverkauften Benzodiazepin-Tranquilizer (ohne Reimporte) im Jahre 2018 nach Packungsmengen in Deutschland (alle Rp*) (IMS, 2019) Rang Präparat (Hersteller) Wirkstoff Absatz 2018 in Tsd Missbrauchs-/ (+/- % gg 2017) Abhängigkeits- potenzial 1 Tavor Lorazepam 1887,6 (-8 %) +++ 2 Lorazepam Dura Lorazepam 824,3 (+44 %) +++ 3 Diazepam-ratiopharm Diazepam 792,6 (-3 %) +++ 4 Oxazepam-ratiopharm Oxazepam 448,3 (+5 %) +++ 5 Bromazanil Bromazepam 358,1 (-3 %) +++ 6 Bromazepam-ratiopharm Bromazepam 349,6 (-8 %) +++ 7 Diazepam ABZ Diazepam 322,9 (-1 %) +++ 8 Alprazolam-ratiopharm Alprazolam 252,7 (+10 %) +++ 9 Oxazepam AL Oxazepam 198,3 (+16 %) +++ 10 Adumbran Oxazepam 133,8 (-10 %) +++ 21.03.2019 20
Rang Präparat (Hersteller) Wirkstoff Absatz 2018 in Missbrauchs-/ Tsd (+/- %) gg Abhängigkeits- 2017 potenzial 11 Bromazepam 1A Pharma Bromazepam 125,0 (+6 %) +++ 12 Diazepam DST Diazepam 107,8 (+2 %) +++ 13 Diazepam Stada Diazepam 105,7 (>999 %) +++ 14 Valocordin Diazepam Diazepam 102,7 (+5 %) +++ 15 Tranxilium Dikaliumclorazepat 90,9 (-3 %) +++ 16 Frisium Clobazam 83,8 (+7 %) +++ 17 Lorazepam-ratiopharm Lorazepam 71,8 (-0 %) +++ 18 Normoc Bromazepam 69,5 (-10 %) +++ 19 Rudotel TEV Medazepam 55,3 (-7 %) +++ 20 Tafil Oxazepam 53,5 (-6 %) +++ Gesamtabsatz Tranquilizer 7.072,2 (- 3 %) Gesamtindustrieumsatz Tranquilizer 21.372,0 (-2 %) 21.03.2019 21
Verteilung aller Benzodiazepine und Z-Drugs nach Alter und Geschlecht (Barmer GEK, 2012) Etwa 2% sind …abhängig von diesen Mitteln – rd. 1,5 Mio. in D 21.03.2019 22
Wer verschreibt die Beruhigungs- und Schlafmittel? Quelle: NVI (Insight Health 21.03.2019 23
…und sonstige UAW und UAE Aber: Nicht nur Abhängigkeit als Gefahr…auch Stürze Burkhardt H et al, Z Gerontol Geriat 2007 21.03.2019 24
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Und Schwangerschaft und Stillzeit bei jüngeren Frauen? • Ab 1960 (Librium, Valium) eine größere Anzahl von Studien – die gleichlau- tende Empfehlung: Das Risiko von Fehlbildungen der Neugebore- nen ist bei der Einnahme von Valium und Co. in den ersten sechs Wochen der Schwangerschaft am höchsten. • Beobachtet wurden Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten – allerdings waren die Ergebnisse widersprüchlich (Saxen, 1982; Safra&Oakley, 1975, Hartz et al., 1982) • Diskutiert wurde auch Teratogenität (FDA, 1975) • Am bekanntesten wurden das Floppy-infant syndrome (Speight, 1977; Rowblatt 1978) – das Neugeborene ist schlapp und müde, saugt nicht ausreichend und kann Atemprobleme haben. Daher möglichst nicht in der Stillzeit anwenden. • Es wurden auch Entzugssymptome beim Kind beobachtet 21.03.2019 26
Und Schwangerschaft und Stillzeit bei jüngeren Frauen? Heute und aktuell – Bei Benzos ähnlich wie bei Z-Drugs 1. Trimenon • Die in frühen Studien beschriebenen Lippen-/ Gaumenspalten wurden in nachfolgende Studien mit mehreren Tausend exponierten Schwangerschaften nicht mehr bestätigten. 2.-3. Trimenon / Perinatal • Eine Einnahme im letzten Trimenon oder hohe Dosen kurz vor oder während der Geburt können zu schwerwiegenden Symptomen beim Neugeborenen führen: Sedierung, Hypotonie, Trinkschwäche und postpartale Atemdepression bis hin zum u.U. länger anhaltenden „Floppy-Infant-Syndrom“. Auch Benzodiazepin-Entzugszeichen wie z. B. Krampfanfälle können auftreten (Langsame Verstoffwechslung) 21.03.2019 27
Benzos: Mittel für Frauen im „Gefängnis Haushalt“ und zur Bewältigung von Misogynie in der Gesellschaft? 1966 21.03.2019 28
Warum vor allem Frauen? • Probleme Schlafstörungen, Entwertung im Alter, Einsamkeit, Unzufriedenheit, Ängste und depressive Verstimmungen – aber: „Pharmawatte“ ist keine Bewältigungsstrategie • Frauen im Alter um die 50: „Empty-Nest-Syndrom“, Kinder aus dem Haus, Zweifel an der eigenen Wertigkeit, psychische Belastungen • Frauen äußern viel stärker als Männer solche Gefühle Ärzten gegenüber, die Reaktion ist oft und zu schnell die Verordnung von Benzodiazepinen (oder Antidepressiva) • „Die Tablette ist für mich wie ein Freund.“ Eine Lehrerin, die jeden Tag nach der Schule ein „Benzo“ nimmt, „….mit einem Tee.“ • Stille introvertierte Tablettensucht bei Frauen, laute extrovertierte Alkoholsucht bei Männern 21.03.2019 29
Warum vor allem Frauen? • Das „Immer-funktionieren-müssen“ oder wollen setzt viele Frauen unter Druck • Frauen fühlen sich oft in besonderer Weise zuständig für soziale Beziehungen in Beruf und Familie, eigene Bedürfnisse treten in den Hintergrund • Schlafstörungen, Unruhe, Kopfschmerzen, nicht ausrei- chend bewältigte Lebenskonflikte, Leiden durch gesell- schaftlichen Rahmenbedingungen, früher „vegetative Dystonie“ („Frauensyndrom“, Voigt, 1984) • Abhängiges Verhalten kann Teil einer Lebensstrategie werden – aber gerade dies wird dann noch durch die gesellschaft- liche Diskriminierung verstärkt. 21.03.2019 30
Warum vor allem Frauen? • Der hohe Prozentsatz der Verordnungen von Benzos u.a. für Frauen dürfte auch mit der Vielfachbelastung von Frauen in der Familien- arbeit, im Beruf oder in Beziehungen zu tun haben (Hanzl, 1970) • „Rosarote Brille für die Psyche“ zur Dämpfung der psychischen und physischen Belastungen durch die angstmachenden Unsicherheiten in den Arbeits- und Lebenswelten („Valium rettet Ehen!“) • Benzos u.ä. rechnen sich auch volkswirtschaftlich, da Krankenhauskosten gesenkt und die Arbeitskraft wieder- hergestellt bzw. zuverlässig „abgeliefert“ werden kann • Aber auch: „Wurstigkeitsbonbons“ gegenüber politischen, gesell- schaftlichen und zwischenmenschlichen Missständen (Klöppel, Balz 2010) • Weil: Benzos haben auch immer „zähmenden“ Charakter…. 21.03.2019 31
Quelle: WDR 2019 21.03.2019 32
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Und das Fazit? • Nach wie vor ist die Medikamentenabhängigkeit als UAW v.a. bei Benzo- diazepinen und Z-Drugs das zweit größte Suchtproblem in Deutschland • Betroffen sind etwa 1,2 – 1,5 Mio. Menschen, vor allem über 65Jährige und davon 2/3 Frauen. • Diese lang dauernde Medikalisierung ist fraglos zum Schaden älterer Menschen, nicht zum Nutzen • Ärzt*innen müssen daher bei der Verordnung mehr als bisher das Schadenspotenzial berücksichtigen und sollen sich nicht durch Privat- rezepte auch für GKV-Versicherte der Verantwortung entziehen – solche Strategien sollten sanktioniert werden….. • Aber auch das: Nach einer Entzugsbehandlung von Frauen sagt mir der behandelnde Arzt. „Bei mir haben schon Ehemänner angerufen und klagen, dass ihre Frau plötzlich so rebellisch ist, Sie widerspricht und macht nur noch, was sie will. Können Sie da nichts machen, Herr Doktor?“ (Holzbach, 2017) 21.03.2019 34
Und zum Schluss ein Gedicht zum Thema von Eva Strittmatter (1930 – 2011) Verzweiflung I (1975) Meine Verzweiflung ist mir lieber Als die Verzückung aus der Tablette. Jeder sein eigener Stimmungsverschieber! Wir legen uns chemisch an die Kette Und trachten uns pharmazeutisch zu ändern. Wir suchen Sanftmut bei Radepur (Librium) Und bei Faustan (Valium), den Unglücksabwendern, Den Stützen von Intellekt und Kultur. Gelingt es uns nicht, uns selber zu fassen, So hilft uns ein winziges giftiges Ding, Vorübergehend von uns abzulassen, Und Weltprobleme werden gering. Es ist schwer, sich abseits zu stellen Und sich als Eigenprodukt zu verstehn Und ohne Verzweiflung in sich die Quellen Von Glück und Unglück springen zu sehn. 21.03.2019 35
Patient*innen und Ärzt*innen sollten besser darüber informiert werden, was sie schlucken und verordnen…! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 1997 glaeske@uni-bremen.de X Y 21.03.2019 36
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