POLITIK UND GESELLSCHAFT IN ZEITEN DER CORONA-KRISE
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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft 81–2021 POLITIK UND GESELLSCHAFT IN ZEITEN DER CORONA-KRISE www.lpb-bw.de due81_cover.indd 2 08.06.21 10:07
Heft 81-2021, 2. Quartal, 38. Jahrgang Thema im Folgeheft (November 2021) »Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Politik der Baden-Württemberg herausgegeben. Chancengleichheit Chefredaktion Ralf Engel, ralf.engel@lpb.bwl.de Redaktionsassistenz Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de Beirat Günter Gerstberger, im Ruhestand, Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart Renzo Costantino, Ministerialrat, ZSL, Leiter der Regionalstelle Schwäbisch Gmünd Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt Lothar Schaechterle, Professor i. R., Staatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen Prof. Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studienhaus Wiesneck Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium Wertheim Im Kölner Stadtteil Chorweiler war, im Gegensatz zu Vierteln mit hohen Einkom- Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale men, eine sehr hohe Inzidenz zu verzeichnen © picture alliance/dpa | Oliver Berg für politische Bildung Baden-Württemberg Jürgen Kalb, Studiendirektor i.R., Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg POLITIK UND GESELLSCHAFT Anschrift der Redaktion Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart IN ZEITEN DER CORONA-KRISE Telefon: 07 11/16 40 99-45 Fax: 07 11/16 40 99-77 Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Gestaltung Titel Geleitwort der Ministerin für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg . . . . . . . 1 VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart / Jürgen 1. Folgen der Corona-Krise – Verzeihen allein wird nicht reichen Ralf Engel . . . . . . 2 Kalb 2. Corona-Krise als Herausforderung für den Rechtsstaat Hans-Jürgen Papier . . . 6 Gestaltung Innenteil Schwabenverlag AG 3. Demokratie in unsicheren Zeiten: Ausnahmezustand als Dauerzustand? Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Tamara Ehs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 79 4. Die Corona-Krise – eine Chance für die EU? Dirk Leuffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Druck Neue Süddeutsche Verlagsdruckerei, Ulm 5. Die Pandemie als große Verschwörung 89079 Ulm Tim Schatto-Eckrodt, Svenja Boberg & Thorsten Quandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 »Deutschland & Europa« erscheint 6. Das Corona-Virus als der große Gleichmacher? Oder doch zweimal im Jahr. ein „Ungleichheitsvirus“? Stefan Sell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Preis der Einzelnummer: 3,00 EUR 7. Coronabedingte Schulschließungen und Bildungsgerechtigkeit Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht Ludger Wößmann und Larissa Zierow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 die Meinung des Herausgebers und der Redak- tion wieder. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN Haftung. D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 81 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek- tronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der MOODLE-RAUM Redaktion. Begleitmaterialien zu allen Heften finden Sie in dem Moodle-Raum „Deutschland Titelfoto: © picture alliance/dpa | Oliver Berg & Europa – Begleitmaterialien“ der Landeszentrale für politische Bildung. Falls noch nicht erfolgt, ist eine Anmeldung erforderlich: Auflage dieses Heftes: 15.000 Exemplare 1. Anmeldung bei der Moodle-Plattform der LpB: https://www.elearning-politik. Redaktionsschluss: 20.05.2021 net/moodle39/ 2. Senden Sie eine Mail an Ralf.Engel@lpb.bwl.de mit dem Betreff „Aufnahme in ISSN 1864-2942 Moodle" und bitten Sie unter Nennung Ihres Namens und der Institution/Schule, an der Sie tätig sind, um Aufnahme in den Kursraum „Deutschland & Europa – Begleitmaterialien“. 3. Innerhalb weniger Tage werden Sie in den Raum aufgenommen. Eine gesonderte Bestätigung ergeht nicht. Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.deutschlandundeuropa.de due81_cover.indd 3 08.06.21 10:07
Vorwort Geleitwort der der Herausgeber Ministerin für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg „Dieses Virus ist eine Zumutung für unsere Demokratie“, das hat Die nun schon seit über einem Jahr andauernde Corona-Pande- Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits zu Beginn der Pandemie mie bleibt nicht nur für Politik und Wirtschaft eine der größten erkannt. Eine Zumutung, wenn man sich die Einschränkung der Herausforderungen unserer Zeit, vielmehr stellt sie auch den Grund- und Bürgerrechte zum Schutz der Bürgerinnen und Bür- gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt auf die Probe. Popu- ger vor Augen führt, die sich in der Schließung von Geschäften, listische, extremistische und antisemitische Tendenzen treten in Gaststätten, Theatern, Schulen oder Kitas manifestiert. Eine Zu- Teilen unserer Gesellschaft offen zutage und bedrohen unsere mutung aber auch für die politische Beteiligung, denn all diese freiheitlich-demokratische Grundordnung. Maßnahmen zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens wurden, wenn auch selbstverständlich auf rechtstaatlichem Wege, durch Die vorliegende Ausgabe von „Deutschland & Europa“ nimmt die Rechtsverordnungen der Exekutive durchgesetzt. Legislative und Corona-Krise als Anlass, um, über die tageaktuellen Ereignisse Judikative griffen erst mit Verzögerung ein. Und ist nicht erst hinaus, nach den tieferliegenden Ursachen für verschiedene recht die scheinbar überlegene Problemlösungskompetenz auto- Problemlagen zu fragen, die sich unter dem Brennglas der Pande- ritärer Regime wie in China oder Singapur in Sachen COVID-19 mie noch schneller und deutlicher Bahn brechen. Die Autorinnen eine Zumutung für unsere Demokratie? Dies alles begleitet von und Autoren dringen in ihren Beiträgen zum Kern von Politik und einem sich radikalisierenden gesellschaftlichen Klima, dies alles den im Bildungsplan 2016 für das Fach Gemeinschaftskunde ver- begleitet auch von Diskussionen in den Blasen der „sozialen“ Me- ankerten Basiskonzepten vor. Thematisiert werden dabei u. a. die dien und angereichert von diversen Verschwörungsmythen, die erheblichen Einschränkungen der Grundrechte, die auch in einem auch in der realen Welt immer stärker um sich greifen und die ge- demokratisch verfassten Staat nicht absolut gelten und zum sellschaftlichen Gräben weiter vertiefen, die es ohnehin schon Schutz ranghöherer Rechtsgüter begrenzt werden können. gab. Wie unter einem Brennglas hat die Pandemie die Bruchstel- Ebenso angesprochen werden die Auswirkungen des Virus auf be- len unserer Demokratie sichtbar gemacht, die es zu kitten gilt. reits bestehende soziale Disparitäten und deren Effekte auf Zwar lebt Demokratie essentiell vom Streit, doch um einen Streit Schule und Unterricht. Empirische Studien verdeutlichen, dass produktiv austragen zu können, muss auf gesellschaftlicher gerade leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler während Ebene ein gemeinsames Fundament verfügbar sein. Nicht minder des Fernunterrichts überdurchschnittlich oft abschweifen und wichtig ist auf individueller Ebene die Einsicht, dass auch der durch andere Tätigkeiten am Computer abgelenkt sind. Aber Standpunkt des Gegenübers richtig sein könnte. nicht nur für den Lernerfolg, sondern auch für die sozio-emotio- 1 nale Entwicklung von Schülerinnen und Schülern, die gerade von Dies alles stellt die politische Bildung vor eine Herkulesaufgabe, den persönlichen Kontakten abhängt, zeigt sich einmal mehr, gilt es doch Formate anzubieten, um die Bürgerinnen und Bürger dass der Präsenzunterricht nicht zu ersetzen ist. für das gemeinsame Fundament der Demokratie (neu) zu gewin- nen, ja zu begeistern. Hierzu macht die Landeszentrale für politi- Indes birgt jedoch nahezu jede Krise auch Chancen, die es zu er- sche Bildung Baden-Württemberg ein breitgefächertes Angebot greifen gilt. So wird auch die Schule nach Corona nicht mehr gemäß dem „Leitfaden Demokratiebildung“ des Kultusministeri- dieselbe sein wie vorher. Deshalb wird es in den Schulen des Lan- ums, an dem die LpB mitgewirkt hat und der seit dem Schuljahr des u. a. darauf ankommen, die Potentiale der Digitalisierung in 2019/2020 verpflichtend für alle Schulen gilt. Diese Ausgabe der Schule und Unterricht fruchtbar zu machen. Profitieren werden Zeitschrift Deutschland & Europa ergänzt das Angebot der LpB, davon alle am Schulleben Beteiligten: Schulleitungen, Lehrkräfte, indem es die gesellschaftlichen und politischen Strukturen unter Eltern und natürlich ganz besonders unsere Schülerinnen und der Oberfläche der Corona-Aktualität freizulegen versucht. Es Schüler. geht darum, diese komplexen Strukturen durchschaubar zu ma- chen. Dies stärkt den mündigen Bürger, die mündige Bürgerin – auf diese Weise kann aus der Zumutung für unsere Demokratie der notwendige Mut entstehen, um Demokratie zu leben. Lothar Frick und Sibylle Thelen Ralf Engel Theresa Schopper Direktion, Landeszentrale für politische Chefredakteur von Ministerin für Kultus, Jugend und Sport Bildung Baden-Württemberg „Deutschland & Europa“ des Landes Baden-Württemberg D&E Heft 81 · 2021 Vorwort und Geleit wort due81_inhalt.indd 1 08.06.21 10:24
POLITIK UND GESELLSCHAFT IN ZEITEN DER CORONA-KRISE 1. Folgen der Corona-Krise – Verzeihen allein wird nicht reichen RALF ENGEL D ie Pandemie hält uns nach wie vor in Atmen: Stand Anfang Mai 2021 haben sich in Deutschland insgesamt mehr als 3,4 Mil- lionen Menschen infiziert, über 80.000 sind im Zu- sammenhang mit einer CO- VID-19-Infektion gestorben, das ist ungefähr einer von 1.000 Bundesbürgern. Glo- bal sind über 153 Millionen Infizierte und 3,2 Millionen Todesfälle zu beklagen. An- gesichts dieses Leids muten die Einschränkungen des Berufs- und Alltagslebens in der langen „Corona-Zeit“ Abb. 1 „Durchschnittliche 7-Tage Inzidenz in Kölner Stadtteilen im Vergleich mit sozio-ökonomischen Faktoren“ beinahe nebensächlich an, © Fraunhofer IAIS, 2021, https://www.iais.fraunhofer.de/de/geschaeftsfelder/healthcare-analytics/fraunhofer-projekte-corasiv-und- dennoch sind durch die viel- coperimoplus.html (03.05.2021) fältigen Maßnahmen zur Einhegung des Infektions- geschehens unbestritten viele Härten und Ungerechtigkeiten Zwischen Gesundheitsschutz und Freiheit: 2 entstanden. Man denke nur an die Schließungen im Einzelhan- Herausforderungen für den demokratischen del, der Museen und Theater, aber auch der Schulen und Kitas, Rechtsstaat um nur einige Beispiele zu nennen. Manche Betroffene tun ihren Unmut mit lautstarkem Protest kund, auf Demonstrati- „Mehr Diktatur wagen“ fordert der Schriftsteller Thomas Brussig onen werden häufig weder der medizinisch gebotene noch der in seinem vielbeachteten, provokanten Gastbeitrag in der SZ Abstand zu radikalen Gruppierungen eingehalten. Ver treter- (Brussig, 2021), in dem er das Spannungsfeld zwischen Sicherheit *innen aus Politik, Medien und Wissenschaft werden in Sträf- und Freiheit hin zu dem Pol „Sicherheit“ auflöst. Da „der effektive lingskleidung dargestellt, der Ton wird immer rauer, Bruchli- Pandemiebekämpfer […] auf der Höhe der Forschung sein“, der nien, die schon vorher in der Gesellschaft angelegt waren, „demokratische Pandemiebekämpfer hingegen […] eine Mehr- vertiefen sich und werden durch ein neues, emotional hoch heit gewinnen, einen Konsens bilden und einen Kompromiss fin- aufgeladenes Polarisierungsthema ergänzt. Eine inklusive Öf- den“ müsse, wähnt er die westlichen Demokratien aufgrund man- fentlichkeit scheint nicht mehr zu existieren, sie zerfällt in gelnder Effizienz in einem Wettbewerbsnachteil. Für ihn zählt in mehr oder minder lautstarke Echokammern. In diesem Kon- der Pandemie nur die Wissenschaft, die Menschenleben rette. text ist der vielzitierte Satz von Gesundheitsminister Jens Deshalb müssten die Grundrechte vorübergehend eingeschränkt Spahn bereits aus dem April 2020 zu verstehen: „Wir werden in werden, da der Schutz des Lebens an oberster Stelle stehe. Dies ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müs- ermögliche dann eine umso raschere Rückkehr zur Normalität sen.“ „mit ihren Freiheiten und Grundrechten.“ Die Herausforderung des neuen Heftes von Deutschland & Eu- Dem widerspricht der Historiker René Schlott ebenfalls in der SZ ropa zum Thema: Politik und Gesellschaft in Zeiten der Corona-Krise („Der Freiheit eine Gasse“) vehement (Schlott, 2021), indem er mit bestand nun darin, hinter dieser alles beherrschenden Aktua- Blick auf das Grundgesetz darauf verweist, dass nicht der Schutz lität die tieferen Ursachen und Strukturen der Verwerfungen, des Lebens, sondern die durch die Ewigkeitsklausel geschützte die durch das Virus teilweise erst virulent geworden sind, her- Würde des Menschen als fundamental zu erachten sei. Deshalb auszuarbeiten und Folgen zu beleuchten, die uns noch lange gebe es mit Blick auf die Pandemie auch nicht DIE Wissenschaft, beschäftigen werden. Es geht also um nichts weniger als um die schon allein aufgrund ihrer unterschiedlichsten Disziplinen das Zusammenleben in unserer Gesellschaft, das Spannungs- keine Eindeutigkeit liefern könne. Es existierten also Alternativen, verhältnis von Freiheit und Sicherheit im demokratischen weshalb der demokratische Prozess seine zentrale Rolle behalten Rechtsstaat, mögliche Bedrohungslagen für die parlamenta- müsse. rische Demokratie sowie die Frage nach sozialer Gerechtig- In beiden Texten geht es letztlich um das Verhältnis von Demo- keit – gerade auch mit Blick auf die globalen Entwicklungen. kratie und Wissenschaft, das uns nicht nur im Kontext der Pande- mie, sondern auch mit Blick auf den Klimawandel vor Herausfor- derungen stellt. Die Position Brussigs ist angesichts der dramati- schen Zahlen zwar nachvollziehbar, doch die Forderung, die Grund- und Bürgerrechte rigoros einzuschränken, ist in Anbe- tracht angeborener Rechte, aber auch künftiger Krisen, die eben- Folgen der Corona-Krise – Ver zeihen allein wird nicht reichen D&E Heft 81 · 2021 due81_inhalt.indd 2 08.06.21 10:24
falls nach Beschränkungen rufen werden, nicht ohne Risiko. Denn Auf diesem Weg der „Weiterentwicklung der Demokratie“ nimmt die Gefahr, dass sich Menschen an die Einschränkungen der Baden-Württemberg mit seinem Beteiligungsportal (https://beteili- Grund- und Bürgerrechte gewöhnen, dass diese somit ein stück- gungsportal.baden-wuerttemberg.de) eine Vorreiterrolle in Deutsch- weit verhandelbar werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Ge- land ein. So diskutiert beispielsweise das „Bürgerforum Corona“ boten ist demgegenüber die Berücksichtigung vielfältiger Pers- mit rund vierzig zufällig ausgewählten Bürger*innen Probleme, pektiven und somit ein differenziertes Austarieren zwischen den die diese rund um die Pandemie bedrücken, und entwickelt Vor- Polen Freiheit und Sicherheit. schläge, die von der Politik dann erörtert werden. Während die Immer wieder wird auch die Exekutivlastigkeit der politischen einen darin ein Mittel sehen, die Repräsentationslücke zu schlie- Entscheidungsfindung im Kontext der Pandemie kritisiert, bei ßen und auch politikferne Bürger*innen einzubinden, kritisieren dem die von den Bürger*innen direkt legitimierten Parlamente andere „eine durchaus demokratiegefährdende Substanz“, wenn nahezu bedeutungslos würden. So wurden viele Entscheidungen davon ausgegangen werde, „einfache Bürger würden gute Lösun- auf Ebene der Exekutive, also zwischen Bundeskanzlerin und den gen finden, zu denen die immer abgehobeneren Politiker nicht Ministerpräsident*innen getroffen und das Ergebnis dann im mehr in der Lage sind.“ (Fliedner, 2021). Parlament vorgestellt. Genau mit diesen Fragen befasst sich Prof. Hans-Jürgen Papier in seinem Beitrag „Die Corona-Krise als Herausforderung für den Rechts- Corona und soziale Ungleichheit staat“. Er sieht in den „massiven und intensiven Freiheitsbe- schränkungen […] eine Zumutung für die rechtsstaatliche Ord- Soziale Ungleichheit wird durch die Corona-Krise in vielfältigen nung eines liberalen Verfassungsstaates“, wodurch aber noch Dimensionen sichtbar. So befürchtet die Soziologin Jutta Allmen- „keine Aussage über ihre Rechtsmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit dinger durch verstärktes Arbeiten im Home-Office in Verbindung getroffen“ sei. Die vielfältigen Verbote seien durch exekutivische mit geschlossenen Kitas und Schulen einen Rückfall in tradierte Rechtsverordnungen geregelt, die wiederum auf einer gesetzli- Rollenbilder (Vgl. M 6, S. 66 ff). Mit Blick auf die Generationen chen Ermächtigung durch das Parlament beruhten. Diese sei kann festgestellt werden, dass sich vor allem die Jüngeren sowohl durch § 28a des Infektionsschutzgesetzes zwar grundsätzlich ge- durch geschlossene Kitas, Schulen und Hochschulen als auch in geben, zumal Grundrechte aus Gründen des Gemeinwohls ja ihrem Freizeitverhalten sehr stark einschränken mussten, nicht durchaus eingeschränkt werden könnten. Dennoch betont Pa- zuletzt um die besonders vulnerablen Kohorten zu schützen, pier, dass derart weitreichende Freiheitsbeschränkungen „zu Las- während von den Lockerungen zuerst die Geimpften, das heißt ten der gesamten Bevölkerung“ vom Gesetzgeber zu treffen seien vor allem die Älteren profitieren. und bezweifelt, ob „den Anforderungen des Parlamentsvorbe- Die Situation der Schüler*innen nehmen Prof. Ludger Wößmann halts hinreichend Rechnung getragen“ wurde. Denn die „uner- und Dr. Larissa Zierow in ihrem Beitrag „Coronabedingte Schulschlie- lässlichen Abwägungsentscheidungen zwischen den divergieren- ßungen und Bildungsgerechtigkeit“ in den Blick, indem sie der Frage den Schutzgütern von Gesundheit und Leben der Bevölkerung ei- nachgehen, welche Auswirkungen die Zeit der Schulschließungen nerseits und den Freiheits- und Grundrechten der Bürgerinnen auf die Schüler*innen hatte. Dabei stellen sie angesichts empiri- und Bürger“ andererseits seien dem vom Volk gewählten Parla- scher Belege fest, dass die „eklatante Ungleichheit in den Bil- ment vorbehalten. Dabei dürfe die Gesundheit nicht allein auf dungschancen von Kindern durch die Corona-Krise weiter ver- den körperlichen Aspekt reduziert werden, sondern müsse auch schärft“ wurde, was sich auch langfristig in verschärfter sozialer 3 das geistige und soziokulturelle Wohlergehen miteinschließen. Ungleichheit niederschlagen werde. Während leistungsstärkere Dr. Tamara Ehs weist in ihrem Aufsatz „Demokratie in unsicheren Zei- Schüler*innen in der oft langen Phase der Schulschließungen ten: Ausnahmezustand als Dauerzustand?“ darauf hin, dass es in der auch selbstreguliert lernen konnten, sei dies bei vielen leistungs- Pandemie eine extreme Ausnahmesituation gegeben habe, ohne schwächeren Schüler*innen nicht der Fall gewesen. Dies zeige dass der verfassungsrechtliche Ausnahmezustand, in dem die sich z. B. darin, dass der Rückgang der Lernzeit „für leistungs- Verfassung teilweise aufgehoben werde, eingetreten sei. So hät- schwächere Schüler*innen deutlich größer ausfiel als für leis- ten „alle unsere demokratischen und freiheitlichen Grundrechte tungsstärkere Schüler*innen“, die die vermehrte freie Zeit zudem […] auch in der Corona-Krise Bestand gehabt, selbst wenn sie ein- deutlich weniger für passive Tätigkeiten wie „Fernsehen, Compu- geschränkt waren.“ In ihrem Aufsatz konzentriert sie sich in Anbe- terspielen und Handy“ verwendeten. Da „einmal ausgefallene tracht des erwähnten Zielkonflikts v. a. auf die politischen Freiheitsrechte, „die […] für die Teilnahme an der Demokratie […] wesent- lich“ sind. Nach Überprüfung dreier Merk- male einer rechtsstaatlich „eingebetteten Demokratie“ (Wahlen, Freiheitsrechte, Ge- waltenteilung, Merkel, 2016) kommt sie zu dem Schluss, dass die Demokratie in Deutschland, im Gegensatz zu anderen Staa- ten wie beispielsweise Ungarn, „das erste Jahr der Corona-Krise weitgehend unbescha- det überstanden“ hat. Eine große Gefahr sieht sie jedoch in der „Verschärfung gesell- schaftlicher Ungleichheiten“ durch die Pan- demie, die die „Voraussetzungen zur Partizi- pation“ am politischen Prozess noch unglei- cher verteile. Deshalb bedeute eine „demokratiekonforme Krisenpolitik“ nicht zuletzt, soziale Ungleichheiten abzubauen, aber auch „eine kluge Weiterentwicklung der Demokratie“ voranzutreiben. Dabei führt sie als Beispiel den „Einbezug der Bürgergesell- schaft“ in Form von Bürgerräten an. Abb. 2 Am 25. März 2021 kam die erste Lieferung Impfstoff im Rahmen von COVAX in Juba (Südsudan) an. © picture alliance / Xinhua News Agency | Denis Elamu D&E Heft 81 · 2021 Folgen der Corona-Krise – Ver zeihen allein wird nicht reichen due81_inhalt.indd 3 08.06.21 10:24
RALF ENGEL dingte Verschärfung erkennbar wird.“ Dabei seien nicht nur die gesundheitlichen, son- dern auch die „ökonomischen und sozialen Lasten der Corona-Krise auf die Bevölke- rung“ höchst ungleich verteilt, ebenso wie die Wirkung der pandemiepolitischen Maß- nahmen. Diese Ungleichheit sei jedoch nicht dem Virus, sondern vielmehr politischen Ent- scheidungen anzulasten. Noch weit dramatischer ist die Lage, wenn man die globale Dimension und dabei exem- plarisch die Verfügbarkeit von Impfstoff be- trachtet: Während die westlichen Länder für die kommenden Monate weit mehr Impfstoff erworben haben, als sie selbst brauchen, ist die Situation in vielen ärmeren Ländern mehr als prekär. Sollten die Vakzine dort Mangel- ware bleiben, hätte dies bedrohliche Auswir- kungen auf die dortige Bevölkerung und durch Mutanten wiederum auch auf die west- Abb. 3 „Konsensgesellschaft“ © Gerhard Mester, 2020 lichen Industrieländer. So ist es nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch der Schule nicht leicht wieder aufgeholt werden kann“, gehen Wöß- politischen und medizinischen Vernunft, die globale Impfinitia- mann und Zierow davon aus, dass vor allem die ohnehin schon tive COVAX mit den entsprechenden finanziellen Ressourcen aus- benachteiligten Kinder und Jugendlichen während des späteren zustatten. Berufslebens weniger Einkommen erzielen könnten, sodass „sich die Ungleichheit in Deutschland langfristig noch weiter verstär- ken“ könnte. Dies hätte wiederum Konsequenzen für das politi- Die Pandemie als Verschwörung sche System, auf die Dr. Tamara Ehs, wie beschrieben, abhebt. Besondere Bedeutung kommt der sozioökonomischen Ungleich- Dass in diesen Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit einige heit zu, die die genannten Dimensionen überlagert und ver- Bürger*innen auf der Suche nach Sicherheit auf Verschwörungs- schärft, die zu Beginn der Pandemie jedoch kaum thematisiert theorien stoßen, ist wenig überraschend. Auf diesen Aspekt ge- wurde, geschweige denn bei den vielfältigen staatlichen Maßnah- hen Tim Schatto-Eckrodt, Svenja Boberg und Prof. Thorsten Quandt in men wie Überbrückungshilfen oder Kurzarbeitergeld im Fokus ihrem Aufsatz „Die Pandemie als große Verschwörung“ ein. Die stand. Es ist schon erstaunlich, dass Alter und Vorerkrankungen Autor*innen, die in ihrem Aufsatz auch eine ganz konkrete Anlei- 4 zwar von Beginn an als Risikofaktoren erfasst wurden, die tung anbieten, wie auf Verschwörungstheorien zu reagieren ist, sozioökonomische Lage jedoch erst nach einem Jahr Krise in den betonen, dass „Angst, Ungewissheit und Kontrollverlust […] Fokus rückte, denn die Zusammenhänge liegen ja auf der Hand: Menschen zu verschwörungstheoretischen Erklärungen“ treiben. Wer in beengten Wohnverhältnissen in einem sogenannten Prob- So sei die „Corona-Pandemie ein fast idealer Nährboden für Ver- lemviertel mit schlechterem Zugang zu medizinischer Versorgung schwörungstheorien.“ Diese würden auch als „politisches Werk- lebt, sowohl im Job als auch bei der Fahrt zur Arbeit in öffentli- zeug“ gegen politisch-gesellschaftliche Eliten eingesetzt, was chen Verkehrsmitteln ständig der Infektionsgefahr ausgesetzt ist, deren Nähe zum Populismus und den Hass auf Vertreter von „Po- der wird nicht nur häufiger infiziert, sondern infiziert auch ver- litik, […] Journalismus oder der Wissenschaft“ erklärt. Während mehrt sein Umfeld. Da Armut ganz unabhängig von Corona mit die faktenbasierte Wissenschaft Komplexität abbildet, geben deutlich verringerter Lebenserwartung einhergeht, kann es nicht Verschwörungstheorien, die klar zwischen Gut und Böse unter- verwundern, dass aufgrund von Vorerkrankungen sich nicht nur scheiden, für manche eine bessere, weil einfache Orientierung, überdurchschnittlich viele Menschen aus är- meren Bevölkerungsschichten infizieren, sondern diese auch einen schwereren Verlauf haben und bei den Todesfällen deutlich über- repräsentiert sind. Inzwischen kann man auch in Deutschland anhand von Daten bele- gen, dass das Infektionsgeschehen in sozia- len Brennpunkten signifikant höher liegt (Fraunhofer, 2021). Diese Zusammenhänge hat Prof. Stefan Sell immer wieder in die Öffentlichkeit getragen und auch für „Deutschland & Europa“ in sei- nem Aufsatz „Das Corona-Virus als der große Gleichmacher? Oder doch ein „Ungleichheitsvi- rus“?“ herausgestellt. Er konstatiert, dass man zu Beginn der Pandemie den Eindruck gewinnen konnte, dass es sich bei dem Virus um einen Gleichmacher handle, der „arm und reich gleichermaßen trifft“, dass im wei- teren Verlauf des Infektionsgeschehens je- doch „vorhandene Ungleichheiten in unserer Gesellschaft […] besonders sichtbar gewor- den sind, zugleich aber auch eine coronabe- Abb. 4 „Nach dem Lockdown…“ © Klaus Stuttmann, 2021 Folgen der Corona-Krise – Ver zeihen allein wird nicht reichen D&E Heft 81 · 2021 due81_inhalt.indd 4 08.06.21 10:24
die dann gleichzeitig mit Kritik an der Elite, von der man sich nicht Zeitgeschichte (40–42/2016), https://www.bpb.de/apuz/234695/krise-der- mehr repräsentiert fühlt, verquickt werden kann. demokratie-anmerkungen-zu-einem-schwierigen-begriff (03.05.2021) Schlott, René (2021): Der Freiheit eine Gasse, Süddeutsche Zeitung, 10.02.2021, https://www.sueddeutsche.de/kultur/brussig-corona- Die Krise als Chance? diktatur-rki-mutante-1.5202051 (03.05.2021) Wie jede Krise hat Corona vieles auf den Kopf gestellt, aber auch Entwicklungen forciert. Wer hätte im Januar 2020 gedacht, dass viele Meetings nun völlig selbstverständlich online stattfinden, wodurch Zeit gespart und auch die Umweltbelastung reduziert werden kann. Man denke auch an neue Formen der Demokratie, wie die schon erwähnten Bürgerräte, die in der Pandemie Auf- An der didaktischen Aufbereitung der Inhalte haben in diesem Heft mit- trieb bekamen. Prof. Dirk Leuffen nimmt in seinem Beitrag „Die gewirkt: Corona-Krise – eine Chance für die EU?“ mögliche Chancen der Krise auf europäischer Ebene in den Blick. Dabei erläutert er den Um- gang der EU mit der Pandemie, die „nach anfänglichem Zurück- fallen in nationalstaatliche Reflexe“, wie z. B. den Grenzschlie- ßungen, mit dem Pandemie-Wiederaufbauplan (Next Generation EU) in Höhe von 750 Mrd. Euro „integrationspolitisches Neuland betreten“ und Solidarität gezeigt habe. Diese komme auch darin zum Ausdruck, dass der Wiederaufbauplan erstmalig eine Kredit- aufnahme der EU an den Kapitalmärkten vorsehe – eine Maß- nahme, „die deutlich mit der vorherigen Europapolitik“ breche. All dies sei möglich geworden, da das Virus die Interdependenz der Mitgliedsstaaten bewusstgemacht habe, sodass auch die Bundeskanzlerin, trotz einer kritischen deutschen Öffentlichkeit, auf die Linie des französischen Staatspräsidenten Macron einge- Abb. 1 Dr. Gerhard Altmann, Abb. 2 Jana Deiß, Studien- schwenkt sei. Somit sei es durchaus möglich, dass bei einer er- Studiendirektor, Fachberater für direktorin, Abteilungsleiterin am folgreichen Umsetzung des Programms die „Corona-Krise als Gemeinschaftskunde, Wirtschaft/WBS Gymnasium Friedrich II., Lorch Beschleuniger von Integration“ wirke, da man durch die Steige- am Regierungspräsidium Stuttgart, rung der (Output-)Legitimation auch die öffentliche Meinung ge- Gymnasium Friedrich II., Lorch winnen, was wiederum „weitere Integrationsentwicklungen be- günstigen“ könne. Schlussbemerkung 5 Vor dem Hintergrund der in dieser Ausgabe von Deutschland & Europa ausgeführten tiefgreifenden Konsequenzen der Corona- Krise auf Politik und Gesellschaft kann es „nach Corona“ folglich nicht nur darum gehen, einander zu verzeihen, sondern politische und zivilgesellschaftliche Akteure müssen gemeinsam tätig wer- den, um die offengelegten Bruchstellen zu beseitigen. Dies wird dadurch erschwert, dass es immer schwieriger zu werden scheint, ein gemeinsames Fundament, basierend auf allgemein anerkann- ten Fakten, zu finden, was einen rationalen öffentlichen Diskurs Abb.3 Ralf Engel, Studiendirektor, Abb. 4 Andrea Rall, Studienrätin, erschwert. Trotz alledem muss Verzeihen, das sich auf die persön- Chefredakteur D&E, Fachberater für Lehrbeauftragte für Wirtschaft/WBS liche Ebene erstreckt, dringend von Anstrengungen hin zu mehr Gemeinschaftskunde, Wirtschaft/ am Seminar für Ausbildung und Fort- Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit sowie zu mehr Partizipa- WBS am ZSL, Mörike-Gymnasium bildung der Lehrkräfte (Gymnasium) tion und Repräsentation im politischen Prozess flankiert werden, Göppingen Esslingen, Gymnasium Plochingen um die in diesem Heft thematisierten Gräben wieder ein Stück weit zu schließen. Literaturhinweise Brussig, Thomas (2021): Mehr Diktatur wagen, Süddeutsche Zeitung, 09.02.2021, https://www.sueddeutsche.de/kultur/corona-diktatur- thomas-brussig-1.5199495?reduced=true (03.05.2021) Fliedner, Ortlieb (2021): Alle Macht den Räten?, Cicero, 10.05.2021, https:// www.cicero.de/innenpolitik/buergerraete-gutachten-macht-demokratie- schaeuble (11.05.2021) Fraunhofer IAIS (2021): Fraunhofer IAIS vs. Corona: Projekt CorASiV, https:// www.iais.fraunhofer.de/de/geschaeftsfelder/healthcare-analytics/fraunhofer- Abb. 5 Dr. Inan Yesilgül, projekte-corasiv-und-coperimoplus.html (03.05.2021) Studiendirektor, Fachberater für Gemeinschaftskunde, Wirtschaft/WBS Merkel, Wolfgang (2016): Krise der Demokratie? Anmerkungen zu einem am Regierungspräsidium Freiburg, schwierigen Begriff, aus: Repräsentation in der Krise?, in: Aus Politik und Gymnasium Achern D&E Heft 81 · 2021 Folgen der Corona-Krise – Ver zeihen allein wird nicht reichen due81_inhalt.indd 5 08.06.21 10:24
POLITIK UND GESELLSCHAFT IN ZEITEN DER CORONA-KRISE 2. Corona-Krise als Herausforderung für den Rechtsstaat HANS-JÜRGEN PAPIER D ie Corona-Pandemie stellt alle Staaten dieser Welt vor Herausforderungen, die sie allesamt noch nie erlebt haben. Besonders herausgefordert, ja in ihren Grundfesten tangiert sind die liberalen Rechtsstaaten, die sich seit März 2020 veranlasst sehen, ihren Bürgerinnen und Bürgern Frei- heitsbeschränkungen aufzuerlegen, die in ihrem Umfang und in ihrem Ausmaß ohne Weiteres als einmalig und erstmalig bezeichnet werden können. Auch die Bundeskanzlerin spricht von einer großen Zumutung für die Demokratie, die von dem Coronavirus ausgehe. In juristischer Hinsicht ist das in der Weise zu präzisieren, dass vor allem die massiven und intensi- ven Freiheitsbeschränkungen, die seit dem März 2020 im Laufe der Zeit in unterschiedlicher Schärfe staatlicherseits angeordnet worden sind, eine Zumutung für die rechtsstaatli- che Ordnung eines liberalen Verfassungsstaates darstellen. Damit ist allerdings noch keine Aussage über ihre Rechtsmä- ßigkeit oder Rechtswidrigkeit getroffen. Erhebliche Grundrechtsbeschränkungen In Deutschland sind die diversen Kontakt-, Ausgangs- und Betäti- gungsverbote, die Beschränkungen der Religions- und Versamm- 6 lungsfreiheit, der unternehmerischen, beruflichen und künstleri- schen Betätigung usw. durch Rechtsverordnungen der Landesre- Abb. 1 „Corona: Eingriff in die Grundrechte“ © https://www.facebook.com/ gierungen geregelt. Nach der verfassungsrechtlichen Ordnung monitor.wdr/photos/a.326683260703954/2914971571875097 (23.02.2021) der Bundesrepublik sind solche Rechtsverordnungen der Exeku- tive nur dann zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Ermächti- tersagungen oder Beschränkungen des Betretens oder des Be- gung beruhen (Art. 80 Abs. 1 GG). Die maßgebliche gesetzliche suchs von Einrichtungen des Gesundheits- und des Sozialwesens Ermächtigung war zunächst der § 28 Abs. 1 des Infektionsschutz- und Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen, Hochschulen gesetzes des Bundes in Verbindung mit § 32 des besagten Geset- und so weiter. Auf dieser Grundlage werden durch exekutivische zes1. Dieser § 28 IfSG ist als Generalermächtigung formuliert, in- Rechtsverordnungen sogenannte „Shutdowns“ in unterschiedli- dem er die zuständigen Behörden ermächtigt, „die notwendigen chem Ausmaß angeordnet, so hat man zeitweilig einen „Shut- Schutzmaßnahmen“ zu treffen, „soweit und solange es zur Ver- down light“, dann einen „mittelschweren Shutdown“ und später hinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforder- einen „härteren“ oder einen „noch härteren“ Shutdown verfügt. lich ist“. Die im § 28a IfSG genannten diversen Beschränkungen, die im Mit dem Dritten Bevölkerungsschutzgesetz (Drittes Gesetz zum Übrigen in unterschiedlichem Ausmaß auch tatsächlich einge- Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Trag- führt worden sind, stellen erhebliche Eingriffe in die vom Grund- weite in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. November 2020, gesetz und den Landesverfassungen verbürgten Grundrechte BGBl. I S. 2397.) hat der Bundesgesetzgeber auf entsprechende dar. Das reicht von Beschränkungen der allgemeinen Handlungs- Kritik insbesondere von Staatsrechtlern an der Tragfähigkeit ei- freiheit nach Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes über die im Art. 2 ner solchen Generalermächtigung eine speziellere Ermächti- Abs. 2 GG verbürgte Freiheit der Person im Sinne einer Bewe- gungsgrundlage für den Erlass von Rechtsverordnungen gere- gungsfreiheit, über die Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4 gelt. Gemäß dem neuen § 28a IfSG sind spezielle Ge- und Verbote Abs. 1 und Abs. 2 GG, über die Freiheit von Wissenschaft und formuliert worden, die im Verordnungswege – auch kumulativ – Lehre sowie der Kunst und der künstlerischen Betätigung gemäß angeordnet werden können. Das reicht von der Anordnung eines Art. 5 Abs. 3 GG, den Schutz des ehelichen und familiären Zusam- Abstandsgebotes im öffentlichen Raum, über die Verpflichtung menlebens, der von Art. 6 Abs. 1 GG verbürgt ist, die Versamm- zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, Ausgangs- und Kon- lungsfreiheit gemäß Art. 8 GG, die Freizügigkeit nach Art. 11 GG, taktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum, die Un- die Berufs- und Gewerbefreiheit sowie schließlich die Eigentums- tersagung oder Beschränkung von Freizeit-, Kultur- und ähnlichen freiheit gemäß den Artikeln 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG. Veranstaltungen, Untersagung von Sportveranstaltungen und Rechtliche Ge- und Verbote zum Zwecke des Infektionsschutzes Sportausübung, des Abhaltens von Veranstaltungen, Ansamm- gehören an sich seit jeher zum Arsenal auch eines freiheitlichen lungen, Aufzügen, Versammlungen sowie von religiösen und Rechtsstaats. Die hier erwähnten Grundrechte des Grundgeset- weltanschaulichen Zusammenkünften, Untersagung von Reisen, zes sind von der Verfassung auch nicht grenzenlos gewährleistet. von Übernachtungsangeboten, Untersagung oder Beschränkung Unter im Einzelnen im Grundgesetz unterschiedlich geregelten des Betriebes von gastronomischen Einrichtungen, Schließung Voraussetzungen können sie aus legitimen Gründen des Gemein- von Betrieben, Gewerben, Einzel- oder Großhandel bis hin zu Un- wohls und vor allem unter Wahrung des Grundsatzes der Verhält- Coron a- K rise al s Her ausf orderung für den Rechtss ta at D&E Heft 81 · 2021 due81_inhalt.indd 6 08.06.21 10:24
nismäßigkeit durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Die Besonderheit im Falle der gegenwärtigen Pandemie ist allerdings sehr auffällig. Die bisherigen gesetzlichen Grundlagen für in- fektionsschutzrechtliche Beschränkungs- maßnahmen gingen oder gehen von lokal, personell und zeitlich begrenzten Schutz- maßnahmen und Grundrechtseingriffen ge- genüber erkrankten, krankheits- und anste- ckungsverdächtigen Personen aus. Bei einer epidemischen Lage oder bei einem epidemi- schen Notstand nationalen Ausmaßes geht es aber um Freiheitsbeschränkungen mehr oder weniger zu Lasten der gesamten Bevöl- kerung, gerade auch gegenüber Personen, die (noch) nicht zum Kreis der erkrankten, krankheits- und ansteckungsverdächtigen Personen gehören. Von den Schutzmaßnah- men im Rahmen eines „Shutdowns“ oder ei- nes „Shutdowns-light“ und einer staatlichen Vorsorge durch ein generelles und flächen- deckendes Verbotsregiment werden mit an- deren Worten gleichermaßen auch „ver- Abb. 2 „Regierung und Opposition“ © Gerhard Mester, 2020 dachtlose“ Personen betroffen, weil die In- fektionslage mit dem klassischen infektionsschutzrechtlichen wie insbesondere einem nationalen „Shutdown“. Auch die Ent- Instrumentarium einer gezielten Unterbrechung der Infektions- scheidungen über das Gesamtkonzept, die spezifischen Ziele und kette nicht mehr beherrschbar ist. die grundlegende Strategie der Eindämmungspolitik werden nicht vom Parlament selbst, sondern von den untergesetzlichen Verordnungsgebern getroffen. Parlamentsvorbehalt Dem Sinn und Zweck des Parlamentsvorbehalts mit seinem vom Bundesverfassungsgericht wiederholt geforderten Wesentlich- Unter verfassungsrechtlichen Aspekten, insbesondere im Hin- keitsprinzip, nach dem die wesentlichen Entscheidungen vor al- blick auf die grundgesetzlichen Entscheidungen für Demokratie lem im Bereich der Grundrechtsverwirklichung vom Gesetzgeber und Rechtsstaatlichkeit, stellen sich allerdings einige grundsätzli- selbst zu treffen sind, dürfte damit weiterhin nicht entsprochen che Fragen. So war von Anfang an fraglich, ob es mit der demokra- sein. Die gegenwärtige Staatspraxis berücksichtigt meines Er- 7 tischen und rechtsstaatlichen Verfassungsstruktur vereinbar sein achtens nicht hinreichend, dass dieses Wesentlichkeitsprinzip kann, dass so weitreichende Entscheidungen wie die Verhängung und der besagte Parlamentsvorbehalt mehr als eine formale ge- eines „Shutdown“ allein durch exekutivische Rechtsverordnun- setzliche Ermächtigung verlangen, die weiterhin alle wesentli- gen der Bundesländer angeordnet werden können (Pautsch, Haug, chen Schutz- und Beschränkungsmaßnahmen bis hin zur Anord- 2020, S. 281 ff.). In einer rechtsstaatlichen, parlamentarischen De- nung eines bundesweiten Shutdowns den Exekutiven in Bund und mokratie gilt an sich der Grundsatz, dass alle wesentlichen Ent- Ländern überantwortet. Das vom Volke mandatierte und legiti- scheidungen, vor allem im Zusammenhang mit der Grundrechts- mierte Parlament hätte von Anfang an bei so grundlegenden Ent- verwirklichung, der Grundrechtsausübung und den Grundrechts- scheidungen mehr Eigenverantwortung übernehmen müssen, grenzen, vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst zu treffen etwa durch Erlass von Maßnahmegesetzen oder zumindest durch sind und dass dies nicht dem Ermessen untergesetzlicher norm- Erteilung von Regelungsermächtigungen an die Regierungen un- setzender Organe überlassen werden darf2. Es ist also zu fragen, ter dem Vorbehalt der Zustimmung des Parlaments oder durch ob die gegenwärtige Staatspraxis mit diesem verfassungsrecht- Einräumung exekutivischer Eilkompetenzen mit nachfolgender lich verbürgten Parlamentsvorbehalt zu vereinbaren ist. parlamentarischer Bestätigung. Der Bundesgesetzgeber hat zwar mit dem vor einigen Wochen Dem Einwand eines „Flickenteppichs“ im Regelungssystem der verabschiedeten sogenannten Dritten Bevölkerungsschutzgesetz sechzehn Landesregierungen hat man bekanntlich dadurch zu die bisher herangezogene tradierte Generalermächtigung im § 28 begegnen versucht, dass man ein informelles Gremium etab- IfSG durch den bereits erwähnten neuen § 28a IfSG ergänzt, der lierte, das aus den Ministerpräsidenten der Bundesländer und der für den Fall einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite Bundeskanzlerin besteht und das sich immer wieder bemühte, spezifiziertere Verordnungsermächtigungen regelt. Gleichwohl einheitliche Regelungen zur Pandemiebekämpfung im gesamten erscheint es unter staatsrechtlichen Aspekten nach wie vor zwei- Bundesgebiet zu erzielen bzw. zu initiieren. Das konnte allerdings felhaft, ob damit den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts von vornherein nicht uneingeschränkt funktionieren, da dieses hinreichend Rechnung getragen ist. Zwar bestimmt der Gesetz- Gremium in der Verfassung gar nicht vorgesehen ist und von geber nun ausdrücklich in siebzehn Einzelregelungen die denkba- Rechts wegen über keinerlei Kompetenzen verfügt. Das geltende ren Schutzmaßnahmen, die zum großen Teil zuvor bereits, ge- Infektionsschutzgesetz des Bundes überantwortet – wie gesagt stützt auf die Generalermächtigung des § 28 Abs. 1 IfSG, als „not- – auch nach seiner Ergänzung durch den neuen § 28a die Rege- wendige Schutzmaßnahmen“ verfügt worden sind. Auf der lung der Schutzmaßnahmen, ihre Festlegung und inhaltliche Aus- anderen Seite werden die eigentlichen und unerlässlichen Abwä- gestaltung nach wie vor der Exekutive, im Wesentlichen also den gungsentscheidungen zwischen den divergierenden Schutzgü- Landesregierungen mit ihren Rechtsverordnungen. Das geht im tern von Gesundheit und Leben der Bevölkerung einerseits und Übrigen nicht nur zu Lasten des Bundestages, sondern vor allem den Freiheits- und Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger an- auch zu Lasten der Landesparlamente, die nun in zusätzlichem dererseits nicht dem Parlament oder der parlamentarischen Zu- Maße einer weiteren Kompetenzaushöhlung ausgesetzt sind. stimmung vorbehalten, und dies selbst bei schwerwiegenden, flächendeckenden und nicht nur kurzzeitigen Schutzmaßnahmen D&E Heft 81 · 2021 Corona-Krise al s Her ausf orderung für den Rechtss ta at due81_inhalt.indd 7 08.06.21 10:24
HANS-JÜRGEN PAPIER Verfassungs wegen sind also unmittelbar geltende und justiziable Abwehr- und Frei- heitsrechte der Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat gewährleistet. Darüber hin- aus begründen die Grund- rechtsgewährleistungen ob- jektive Wertentscheidungen des Verfassungsgebers, aus denen wiederum staatliche Schutzpflichten folgen, wenn die grundrechtlich geschütz- ten Rechtsgüter des Einzel- nen von dritter Seite oder durch objektive Umstände wie Epidemien, Naturkatast- Abb. 3 „Bundeskanzlerin Angela Merkel (M, CDU), Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (l, SPD) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) nehmen an einer Pressekonferenz im Kanzleramt nach den Beratungen von Bund und rophen oder schwere Un- Ländern teil.“ (©) picture alliance/dpa/dpa-pool | Michael Kappeler glücksfälle bedroht werden. Die Pandemie gefährdet die grundrechtlich geschützten Priorisierung bei Impfungen Güter wie Leben und körperliche Integrität (Art. 2 Abs. 2 GG). Auf- grund dieser Wertentscheidung der Verfassung hat der Staat un- Aus Gründen des Parlamentsvorbehalts müssen auch die grund- zweifelhaft die rechtliche Verpflichtung, sich schützend vor die sätzlichen Entscheidungen darüber, ob und nach welchen allge- durch die Pandemie bedrohten Schutzgüter Leben und Gesund- meinen Kriterien Personengruppen bevorzugt oder nachrangig heit des Einzelnen zu stellen. Daraus folgt allerdings kein grund- bei der möglicherweise lebensrettenden oder eine schwere Er- rechtlich fundierter Anspruch eines jeden Einzelnen auf Vor- krankung abwehrenden Impfung behandelt werden, durch den nahme bestimmter Schutzmaßnahmen. Wie der Staat seinen parlamentarischen Gesetzgeber selbst und nicht – wie geschehen grundrechtlich begründeten Schutzpflichten für Leben und Ge- – durch eine Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeri- sundheit des Einzelnen nachkommt, ist grundsätzlich von ihm ums getroffen werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn und soweit und seinen dafür zuständigen Organen in eigener Verantwortung Impfungen für eine erhebliche Zeit nicht allen impfwilligen Perso- zu entscheiden (Vgl. BVerfGE 125, 39 (77 f.)). Allerdings darf in ei- nen zur Verfügung stehen. Im Wege einer Ministerverordnung nem freiheitlichen Rechtsstaat der Staat bei der Wahl der Mittel dürfen sicherlich die Abgrenzungen der Personengruppen im De- zur Erfüllung seiner Schutzpflichten für Leben und Gesundheit der tail sowie die Bestimmungen des Verfahrens und der Zuständig- Bevölkerung nur auf die Mittel zurückgreifen, deren Einsatz mit 8 keiten geregelt werden. Die grundsätzliche Entscheidung, nach den rechtsstaatlichen Verbürgungen des Grundgesetzes, insbe- welchen Kriterien die für den Schutz des Lebens und der Gesund- sondere mit den Freiheitsrechten, im Einklang stehen. heit zurzeit nur begrenzt zur Verfügung stehenden Behandlungen Das bedeutet, dass der Staat und seine zuständigen Organe vor ermöglicht werden, ist so wesentlich für den verfassungsrechtlich der schwierigen Aufgabe stehen, einen angemessenen Ausgleich geforderten Schutz des Lebens und der Gesundheit gleichberech- zwischen Freiheits- und Gesundheitsschutz herzustellen. Sie sind tigt für jedermann, dass diese nicht dem alleinigen Ermessen der auf der einen Seite im Grundsatz verpflichtet, für den Sicherheits- Regierung oder des Ministers überantwortet sein kann. Nur das und Gesundheitsschutz der Bevölkerung hinreichend Sorge zu vom Volk unmittelbar gewählte Parlament verfügt über die für tragen. Andererseits haben sie bei der Erfüllung dieser Verpflich- solch schicksalhafte Entscheidungen notwendige demokratische tung die unmittelbar geltenden Freiheitsrechte der Bürgerinnen Legitimation (Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundesta- und Bürger und das aus ihnen folgende Übermaßverbot zu ach- ges, 2020). Allein das parlamentarische Verfahren gewährleistet ten. Es dürfen mit anderen Worten keine unverhältnismäßigen auch die notwendige öffentliche Debatte, Transparenz und eine Grundrechtseingriffe vorgenommen werden, auch wenn diese erhöhte Rechtssicherheit, weil ein Gesetz, anders als eine Minis- dem durchaus verfassungslegitimen Zweck des Gesundheits- terverordnung, eine besondere Bestands- kraft hat und nur vom Verfassungsgericht verworfen werden könnte. Ausgleich zwischen Freiheit und Gesundheitsschutz In einem freiheitlichen Rechtsstaat kann auch bei epidemischen Notlagen nicht der Satz gelten, der (gute) Zweck heilige alle Mittel. Die zweifelsohne legitime Ziel- setzung, dem Schutz von Leben und Gesund- heit der Bevölkerung zu dienen, rechtfertigt nicht jeden Grundrechtseingriff jedweder Schwere, Tragweite und Dauer. Die Grund- rechte sind verfassungsrechtliche Gewähr- leistungen von Freiheit und Selbstbestim- mung des Einzelnen und schützen in erster Linie vor ungerechtfertigten und unver- hältnismäßigen Eingriffen des Staates. Von Abb. 4 „Gutsdamenart“ © Janson-Karikatur, 2021 Coron a- K rise al s Her ausf orderung für den Rechtss ta at D&E Heft 81 · 2021 due81_inhalt.indd 8 08.06.21 10:24
schutzes dienen (Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 10. 4. 2020–1 BvQ 28/20 Rn. 14). Die zum Schutz von Leben und Gesundheit zu ergrei- fenden Maßnahmen müssen mit anderen Worten hinreichend ge- eignet und erforderlich sein, den bezweckten Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu erreichen oder diesem Ziel zumindest erkennbar näher zu kommen. Vor allem muss der er- reichbare Schutz in einem angemessenen Verhältnis zu dem Scha- den stehen, der den Trägern der eingeschränkten Freiheitsrechte in Folge der Schutzmaßnahmen drohen. Jede Grundrechtsbe- schränkung muss mithin dahingehend überprüft werden, ob ein verfassungsrechtlich legitimer, zur Infektionsbekämpfung geeig- neter, erforderlicher und auch verhältnismäßiger Eingriff vorliegt. Sind im Hinblick auf den angestrebten Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung Beschränkungsmaßnahmen unge- eignet, nicht erforderlich oder erfolgen sie im Übermaß, so sind sie rechtswidrig und müssen von den Gerichten kassiert werden. In der Vergangenheit haben deswegen verschiedene Verwaltungs- gerichte und Oberverwaltungsgerichte Schutzmaßnahmen, wie etwa Beherbergungsverbote, Sperrstundenregelungen, Quaran- täneanordnungen, Versammlungsverbote, Gottesdienstverbote, Betriebseinschränkungen etc. in sogenannten Eilrechtsschutz- verfahren beanstandet, weil die Grundrechtsbeschränkungen Tä- tigkeiten betrafen, die kein nachweislich erhöhtes Infektionsri- siko beinhalteten oder durch weniger einschneidende Maßnah- men ein gleichwertiger Schutz erreichbar gewesen wäre3. Je gefährlicher die aktuelle Infektionslage für Leben und Gesundheit der Bevölkerung ist, desto weitergehende Grundrechtsbeschrän- kungen sind den Betroffenen zumutbar. Die Verhältnismäßig- keitsprüfung erfolgt also nach der „Je-desto-Formel“ und kann je nach der aktuellen Infektionslage unterschiedlich ausfallen. Das verfassungslegitime Ziel, Leben und Gesundheit der Bevölke- rung zu schützen, rechtfertigt mithin nicht jeden Grundrechtsein- griff jedweder Art, Schwere und Dauer. Es ist stets ein angemesse- ner Ausgleich zwischen widerstreitenden Schutzgütern anzustre- Abb. 5 „Deutschland krempelt die #Ärmelhoch“ ben, wobei hier aber nicht nur die Freiheitsrechte, die durch © https://www.zusammengegencorona.de/infos-zum-impfen/ (23.03.2021) diverse Schutzmaßnahmen massive Einschränkungen erfahren, 9 zu berücksichtigen sind. Auch objektive Verfassungsgüter, die chen Beurteilung von Schutzmaßnahmen nicht ohne Folgen blei- etwa in Staatszielbestimmungen zum Ausdruck kommen, wie das ben. Zu beklagen ist auch, dass eine intensivere Sequenzierung Sozialstaatsprinzip, aber auch die unzweifelhaft zu den Staats- zur Aufklärung der Mutationen in Deutschland erst kürzlich ange- zwecken gehörenden Aufgaben der Sicherung und Förderung der laufen ist, gleichwohl aber wegen dieser Mutationen die Fort- ökonomischen und kulturellen Lebensgrundlagen des Volkes dauer von Schutzmaßnahmen und gar ihre Verschärfung gefor- durch den Staat haben in diese Abwägungsentscheidungen einzu- dert werden. fließen. Der anzustrebende Gesundheitsschutz darf auch nicht allein auf körperlich-sanitäre Aspekte begrenzt sein. Der Schutz der menschlichen Gesundheit sollte nicht nur den rein sanitären Ausgleichs- und Entschädigungsansprüche und virologischen Aspekt im Auge haben, also das Vermeiden von Krankheit im körperlichen Sinne, sondern den umfassenderen Zu- Eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung kann im Übrigen auch stand des körperlichen, geistigen und soziokulturellen Wohlerge- ergeben, dass Eingriffe nur dann für die Betroffenen zumutbar hens des Menschen, vor allem auch der Kinder. Bei ihren Abwä- sein können, wenn sie durch gesetzliche Ausgleichs- oder Ent- gungsentscheidungen hat die Politik diese erweiterte Spannungs- schädigungsansprüche abgefedert werden, dass diese Eingriffe lage gegebenenfalls widerstreitender Schutzgüter stets zu also ohne solche Kompensationsleistungen unverhältnismäßig berücksichtigen. Diese Abwägungen sind defizitär, wenn einseitig und zum Teil gleichheitswidrig sind. Das betrifft vor allem Schutz- auf das Ziel einer Unterschreitung des Inzidenzwertes von 50 oder maßnahmen gegenüber Unternehmen, etwa im Gastgewerbe, in 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner abgestellt wird. der Reisewirtschaft sowie in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Die rechtliche Beurteilung weitreichender Freiheitsbeschränkun- Die hier tätigen Selbstständigen sind empfindlichen, nicht selte- gen erweist sich so lange als schwierig, wie ein hinreichendes nen existenzbedrohenden oder gar existenzvernichtenden wirt- Maß an Gewissheit über Inhalt und Umfang der Gefahren sowie schaftlichen Verlusten ausgesetzt. Die Unternehmensinhaber, die Eignung und Erforderlichkeit der jeweiligen Schutzmaßnah- Freiberufler oder Selbstständigen werden in diesen Fällen nicht men im Hinblick auf die Eindämmung des Infektionsgeschehens deswegen in ihren Grundrechten belastend tangiert, weil sie oder und die Proportionalität zwischen Eingriffsnutzen und Eingriffs- ihr Personal erkrankt oder krankheits- und ansteckungsverdäch- schaden nicht besteht. Das Anforderungsprofil an die Rechtferti- tig sind. Ihnen wird vielmehr durch Betriebsschließungen und Be- gung des Eingriffs wächst allerdings mit zunehmender Dauer. In rufsausübungsverbote ein Sonderopfer zum Wohle der Allgemein- diesem Zusammenhang ist unter rechtlichen Aspekten zu bean- heit abverlangt. Es geht hier also um von Verfassungs wegen „aus- standen, dass offenbar immer noch eine „evidenzbasierte“ Aus- gleichspflichtige Sozialbindungen“4, für die jedoch nach dem wertung einzelner Maßnahmen weitgehend fehlt und damit eine geltenden Infektionsschutzgesetz keine Entschädigungsregelun- zuverlässige und präzise Beurteilung, welche Maßnahmen wie gen vorgesehen sind (Shirvani, 2020). Auch dies ist ein rechtsstaat- wirksam und damit welche Einschränkungen wirklich notwendig lich bedenklicher Mangel. Die vom Staat bislang gewährten För- sind, noch immer nicht in hinreichendem Maße erfolgt ist. Sollten derungen basieren bekanntlich auf Verteilungen aus Billigkeits- hier vermeidbare Lücken zutage treten, wird das bei der rechtli- gründen und nach exekutivischem Ermessen von Haushaltsmitteln, D&E Heft 81 · 2021 Corona-Krise al s Her ausf orderung für den Rechtss ta at due81_inhalt.indd 9 08.06.21 10:24
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