Praktiken der Personenreferenz in chinesischen und deutschen Chat-Interaktionen: Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität - De Gruyter
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Interkult. Forum dtsch.-chin. Kommun. 2021; 1(1): 1–21 Susanne Günthner* Praktiken der Personenreferenz in chinesischen und deutschen Chat-Interaktionen: Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität Practices of Person Reference in Chinese and German Chat-Interactions: The Communicative Construction of Culturality https://doi.org/10.1515/ifdck-2021-2003 Zusammenfassung: Dieser sprach- und kulturkontrastiv ausgerichtete Beitrag untersucht kommunikative Praktiken der Personenreferenz in chinesischen und deutschen Chat-Dialogen (SMS-, WeChat- und WhatsApp-Nachrichten). Im Gegensatz zur gängigen Präferenz des Gebrauchs minimaler Referenzfor- men (u. a. mittels deiktischer Pronomen wie „ich“ und „du“ bzw. „wo“ [我] und „ni“ [你] sowie zero pronouns im Chinesischen) verwenden chinesische wie auch deutsche TeilnehmerInnen in diesen translokalen, computer-vermittelten Inter- aktionen oftmals Verwandtschaftsnamen zur Referenz auf sich selbst sowie auf ihre RezipientInnen. Auf der Basis einer interaktional ausgerichteten Studie sollen am Beispiel von Geschwisterrollennamen (wie „Schwester“ und „Bruder“ bzw. „Jiejie“ [姐姐 ältere Schwester], „Meimei“ [妹妹 jüngere Schwester] und „Gege“ [哥哥 älterer Bruder], „Didi“[弟弟 jüngerer Bruder]) sowohl Parallelen als auch Unterschiede in der Verwendung dieser kinship terms zur Selbst- und Fremdreferenz in den chinesischen und deutschen Daten aufgezeigt werden. Hierbei wird erkenntlich, dass Praktiken der Personenreferenz eng mit sprach- und kulturspezifischen Tra- ditionen sozialer Beziehungsformationen verwoben sind. Stichwörter: Personenreferenz, Kommunikative Praktiken, Chat-Interaktionen/ Chat-Dialoge, Verwandtschaftsnamen *Korrespondenzautorin: Prof. Prof. h.c. Dr. Susanne Günthner, WWU Münster, Germanistisches Institut, Schlossplatz 34, 48134 Münster, Germany. E-Mail: susanne.guenthner@uni-muenster.de Open Access. © 2021 Susanne Günthner, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
2 Susanne Günthner Abstract: This article focuses on linguistic parallels as well as differences in com- municative practices of person reference in Chinese and German chat communi- cation (SMS, WeChat, and WhatsApp messages). In contrast to the preference for using a minimal form when referring to speaker and recipient (by use of deictic pronouns “ich” and “du” in German and “wo” [我] and “ni” [你] as well as zero pronouns in Chinese) German and Chinese speakers frequently mobilize kinship names for self and other reference in these translocal, computer-mediated interactions. Based on an interactionally oriented analysis, this study shows that both German and Chinese speakers deploy “sibling role names” (such as “Schwester” and “Bruder” or “Jiejie” [姐姐 older sister], “Meimei” [妹妹 younger sister] and “Gege” [哥哥 older brother], “Didi” [弟弟 younger brother]) to refer to self as well as to their co-participants. In addition to finding parallels in speakers’ use of these kinship terms, we also detect differences in the Chinese and German data. The paper argues that practices of person reference are closely interwoven with language- and culture-specific traditions of social relationship formations. Keywords: person reference, communicative practices, chat interactions/chat dialogue, kinship terms 1 E inleitung: Zur kommunikativen Konstruktion von Kulturalität Auf die enge Verwobenheit von Sprache und Kultur haben sowohl Anthropolo- gInnen als auch SprachwissenschaftlerInnen immer wieder verwiesen: Sprache und Kultur sind keine voneinander getrennten Einheiten, sondern Kultur ist integraler Bestandteil jeder menschlichen Interaktion (Gumperz 1982; Günthner 1993; Gumperz/Levinson 1996; Silverstein/Urban 1996; Günthner/Linke 2006). Kulturelle Konventionen, Prozesse aber auch Veränderungen manifestieren sich sowohl in der Art, wie wir mit anderen kommunizieren, wie wir soziale Hand- lungen durchführen, wie wir die Äußerungen unseres Gegenübers interpretieren, als auch in der Art, wie wir soziale Ereignisse, Beziehungen, Wertvorstellungen usw. konzeptualisieren. Geht man in Anlehnung an Berger/Luckmann (2016 [1966]) davon aus, dass die Alltagskommunikation das zentrale Mittel zur Konstruktion sozialer und kul- tureller Wirklichkeiten darstellt, so ist es nur konsequent, diese als Grundlage für Untersuchungen kultureller Konventionen zu nutzen. So argumentiert auch Levinson (2006: 55):
Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität 3 Interaction is shot through and through with culture. It had better be, because it is the vehicle of culture – without it, there would not be any. Even though culture conditions and shapes private acts – the way we urinate or defecate for example, even the way we walk – it is through public, and especially interactive, acts that culture propagates itself. And every anthropologist, indeed every traveler, has been impressed with differences in interactional mores. Allerdings erweist sich – wie Arbeiten der Anthropologischen Linguistik und Interkulturellen Kommunikationsforschung zeigen – der Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur als deutlich komplexer und weniger additiv als eine bloße Nebeneinanderstellung von Sprache und Kultur andeuten könnte (Günthner/Linke 2006). Sprachliche Interaktion und Kultur bilden eine reflexive Beziehung: Auf der einen Seite durchdringen kulturelle Konventionen jede zwi- schenmenschliche Interaktion, auf der anderen Seite werden kulturelle Werte, Normen und Interpretationsweisen primär in der zwischenmenschlichen Inter- aktion bestätigt, verfestigt, aber auch modifiziert (Knoblauch 2005; Günthner 2015, 2017). Für die Analyse des Zusammenwirkens von Sprache, Kommunikation und Kultur stellen sich somit folgende Fragen: Wie manifestieren sich kulturelle Kon- ventionen, kulturelle Zugehörigkeiten bzw. kulturspezifische Interpretationen sozialer Handlungen in alltäglichen Interaktionsvorgängen? Wie wird Kulturali- tät mittels kommunikativer Praktiken bestätigt, konstruiert und modifiziert? 2 K ommunikative Praktiken und ihre Relevanz für kulturvergleichende Analysen Das in der Soziologie bzw. in der Linguistischen Anthropologie entwickelte Konzept der kommunikativen Praktiken (Bourdieu 1979; Hanks 1996; Fiehler et al. 2004; Deppermann et al. 2016; Günthner 2019, im Druck a) liefert eine wichtige Grundlage für empirische Analysen zur Vernetzung kultureller Konventionen und kommunikativer Aktivitäten. So verweist das Konzept der kommunikativen Praktiken auf die enge Verwobenheit von sprachlich-kommunikativen Verfahren zur Durchführung sozialer Handlungen und den soziokulturellen Prozessen, die diese Handlungen wiederum begleiten: Kommunikative Praktiken repräsentieren diejenigen Aktivitäten, durch die kulturelle Traditionen als gelebte Konventionen im Prozess zwischenmenschlicher Interaktionen re-aktualisiert und bestätigt bzw. modifiziert werden (Günthner 2013a, 2013b, 2019, im Druck a; Deppermann et al. 2016).
4 Susanne Günthner Auf der Grundlage empirischer Untersuchungen zu kommunikativen Prak- tiken der Personenreferenz in chinesischen und deutschen Chat-Interaktionen werde ich im Folgenden die Verwobenheit von lokal durchgeführten Aktivitäten der Personenreferenz und größeren soziokulturellen Kontexten skizzieren. 3 P raktiken der Personenreferenz: Der Gebrauch von Verwandtschaftsbezeichnungen (Geschwisterrollennamen) zur Selbst- und Fremdreferenz Die folgende kontrastive Studie zu Personenreferenzen in SMS-, WeChat- und WhatsApp-Interaktionen soll veranschaulichen, wie SprecherInnen bzw. Schrei- berInnen mittels Praktiken der Referenz auf sich selbst (d. h. auf die/den Spreche- rIn) sowie auf ihr Gegenüber (d. h. auf die/den RezipientIn) kulturell verfestigte Konzepte sozialer Beziehungen aktualisieren (Enfield 2007; Günthner im Druck a, b; Günthner/Zhu 2016, 2017). Bei den der Untersuchung zugrunde liegenden insgesamt 898 Chat-Dialogen handelt es sich primär um Interaktionen zwischen Studierenden, FreundInnen und Verwandten, die in den letzten elf Jahren erhoben wurden (2010–2021). Die interagierenden Personen sind zwischen 11 und 78 Jahre alt und weisen einen unterschiedlichen Bildungsgrad auf. Die überwiegende Mehrzahl (88 %) der Interaktionen findet unter jungen Leuten zwischen 20 und 30 Jahren statt. Die chinesischen Daten stammen fast durchweg aus den nordchinesischen Provin- zen (Shaanxi, Shandong, Jilin und das Autonome Gebiet Innere Mongolei). Die deutschen Daten entstammen unterschiedlichen Regionen Deutschlands (Nord- rhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Niedersachsen). 91 % der Interaktio- nen sind dyadisch ausgerichtet, 9 % beinhalten Gruppenchats.1 Neben zahlreicher Parallelen zwischen den chinesischen und deutschen Praktiken der Personenreferenz zeichnen sich in den vorliegenden Daten auch systematische Unterschiede ab, die sich als eng verwoben mit kulturellen Kon- 1 Die folgende Darlegung ist Teil eines größeren Forschungsprojektes zur chinesisch-deutschen Hochschulkommunikation, das im Rahmen der von Prof. Dr. Wen Renbai, Prof. Dr. Zhu Qiang und mir geleiteten Germanistischen Institutspartnerschaft (GIP) zwischen der WWU Münster und der Xi’an International Studies University verortet ist. Weitere Informationen: https://www. uni-muenster.de/Germanistik/Internationales/Kooperationen/gip/index.html (zuletzt aufgeru- fen am 30.04.2021).
Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität 5 ventionen der Personenkategorisierung, der Indizierung sozialer Nähe und der Markierung von Status bzw. Respekt erweisen. Für die Präsentation in diesem Artikel wurde ein Set an illustrativen Beispielen ausgewählt, in denen Interagie- rende Verwandtschaftsrollennamen2 (und zwar Geschwisterbezeichnungen) als Formen der Personenreferenz einsetzen. Mit dem Fokus auf jenen Referenzformen, mit denen SprecherInnen bzw. SchreiberInnen auf sich selbst (Ego) und ihre RezipientInnen (Alter-Ego) ver- weisen, konzentriert sich die Analyse auf die gebräuchlichsten Referenzierungs- praktiken in der zwischenmenschlichen Kommunikation (Schegloff 1996: 441). So führt Schegloff (1996: 442) seiner Studie zur Personenreferenz in Alltagsinter- aktionen aus: „the ‚simple‘ solution to the problem of reference for speaker and recipient is the provision of ‚dedicated terms‘, namely the pronouns ‚I‘ and ‚you‘“. Doch in den vorliegenden Chat-Dialogen verwenden sowohl chinesische als auch deutsche SchreiberInnen immer wieder Referenzformen, die über den Gebrauch der deiktischen Pronomina zur Selbst- („ich“ im Deutschen und „wo“ [ 我 ich] im Chinesischen) und Rezipientenreferenz („du“ bzw. „Sie“ im Deutschen und „ni“ [你 du] bzw. „nin“ [您 Sie] im Chinesischen) hinausgehen: Schreibe- rInnen machen in den vorliegenden computervermittelten translokalen Dialogen immer wieder Gebrauch von nominalen Referenzformen, die prototypisch zur vokativen Anrede bzw. zur Bezugnahme auf abwesende dritte Personen einge- setzt werden. D.h. obgleich den SchreiberInnen die deiktischen Pronomina „wo“ (我) bzw. „ich“ und „ni“ (你) bzw. „du“ (sowie zero-pronoun im Chinesischen) zur Verfügung stehen, greifen diese in den Chat-Interaktionen immer wieder auf kinship terms – wie „Brüderlein“, „Bruderherz“ bzw. „Schwesterlein“ etc. oder auf „Jiejie“ (姐姐 ältere Schwester), „Meimei“ (妹妹 jüngere Schwester) bzw. „Gege“ (哥哥 älterer Bruder) und „Didi“ (弟弟 jüngerer Bruder) – zurück, um auf sich wie auch auf ihr Gegenüber zu referieren. Mit diesen Familienrollennamen weichen die SchreiberInnen somit von der Präferenz der Verwendung einer Minimalform („preference for using a minimal form“, Sacks/Schegloff 1979: 15) ab. Diese Praktik der Personenreferenz wirft folgende Fragen auf: – Welche kommunikativen Funktionen haben diese Referenzierungspraktiken der 3. Person? – Welche zusätzliche Bedeutung wird durch diese Abweichungen von der default-Verwendung mittels Deiktika bzw. zero pronoun kontextualisiert? – Welche Parallelen bzw. Unterschiede zeigen sich im Gebrauch dieser kom- munikativen Praktiken in den chinesischen und deutschen Chat-Dialogen? 2 Siehe Nübling/Fahlbusch/Heuser (2012) zur Klassifikation von Namen.
6 Susanne Günthner 3.1 Z ur Verwendung von Geschwisterbezeichnungen unter Verwandten Im folgenden SMS-Dialog adressiert Malte seine Schwester Melanie, die an der Grippe erkrankt ist, mit der Diminutivform „Schwesterlein“. Nach der durch die Vokativanrede eingeleiteten Anfrage, wie es der Schwester geht, mobilisiert Malte die reziproke Diminutivform „Brüderlein“ zur Selbstreferenz (#1):3 GRIPPE (DEUTSCHLAND 2011) Schwesterlein, geht’s dir besser? Brüderlein macht sich Sorgen. Melde dich! SMS #1 (Malte) (15.12.2011, 18:37) Bruderherz, ja, bin fast fieberfrei. Mach dir kein Sorgen Genieße die Berge und fahr ne Runde für mich mit. Drücke dich feste, Melanie SMS #2 (Melanie) (15.12.2011, 18:47) Durch die Geschwisterrollennamen, die Malte sowohl zur vokativen Anrede als auch zur Selbstreferenz einsetzt, indiziert er die gemeinsame Familienzuge- hörigkeit im Sinne eines doing family identity. Die gewählten Diminutivformen („Schwesterlein“ und „Brüderlein“) tragen darüber hinaus zur Indizierung einer kosenden Interaktionsmodalität bei. In ihrer Replik (#2) greift Melanie diese familienbezogenen Referenzierungsformen auf, indem sie nun ihren Bruder hypokoristisch mit „Bruderherz“ adressiert und damit das von Malte initiierte doing family identity wie auch die von ihm evozierte kosende Modalität bestätigt (Günthner/Zhu 2016, 2017; Günthner im Druck a, b). Auch wenn der Gebrauch von Verwandtschaftsnamen zur Anrede unter Geschwistern im deutschsprachigen Raum in den letzten 100 Jahren stark zurück- gegangen ist und mittlerweile sogar als „obsolet“ bzw. „veraltet“ gilt (Macha 1997: 214; Christen 2006), werden diese Anredeformen in den vorliegenden SMS- und 3 Die Darstellung der SMS-, WhatsApp- und WeChat-Dialoge orientiert sich an den Konventio- nen des Centrums für Sprache und Interaktion (CeSI) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster: Die einzelnen Dialog-Züge werden in Kolumnen geordnet und chronologisch unter- einander versetzt präsentiert (https://centrum.sprache-interaktion.de/). Die Anordnung der Mitteilungskästchen unterscheiden die verschiedenen InteraktionsteilnehmerInnen.
Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität 7 WhatsApp-Dialogen durchaus aktiviert – und zwar vor allem zur Kontextualisie- rung einer kosenden bzw. scherzhaften, frotzelnden oder ironischen Modalität. Dabei stehen diese familienbezogenen Referenzierungspraktiken in engem Bezug zur jeweils aktualisierten Handlung: Man findet sie unter anderem in Sprech- handlungen wie Danksagungen, Glückwünschen, Komplimenten, beim Trösten etc. bzw. zur Abschwächung potenziell gesichtsbedrohender Handlungen wie bei Entschuldigungen, Bitten, Frotzeleien etc.4 Auch im vorliegenden Dialog GRIPPE trägt die Verwendung der Verwandt- schaftsrollennamen („Schwesterlein“, „Brüderlein“ und „Bruderherz“), neben der Kontextualisierung einer kosenden Interaktionsmodalität, aktiv zur Konstitution der betreffenden sozialen Handlungen bei: Die hypokoristisch affizierten Refe- renzformen sind nicht nur in die fürsorgliche Anfrage des Bruders (#1) und in die dankbar-freudige Replik der Schwester (#2) eingebettet, sondern sie konstituie- ren diese Handlungen und Modalitäten aktiv mit. In den chinesischen Daten finden sich nur wenige Dialoge unter Geschwis- tern. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass die heutige Generation der Studie- renden häufig keine Geschwister hat.5 Ferner existieren im Chinesischen (im Unterschied zum Deutschen) keine altersneutralen Bezeichnungen für Bruder und Schwester. SprecherInnen müssen somit stets differenzieren, ob es sich um einen jüngeren Bruder (弟弟 Didi) bzw. eine jüngere Schwester (妹妹 Meimei) oder um einen älteren Bruder (哥哥 Gege) bzw. eine ältere Schwester (姐姐 Jiejie) handelt. Der folgende Ausschnitt entstammt einem WeChat-Dialog zwischen zwei Schwestern: Zhang, die ältere Schwester, möchte ihre jüngere Schwester Liu besuchen. In WeChat #1 fordert sie deshalb Liu auf, sie an der U-Bahn-Haltestelle abzuholen. Wenige Minuten, nachdem Liu mit „okay“ reagiert hat (#2), schickt diese eine weitere Mitteilung und kündigt an, dass sie bereits an der U-Bahn- Haltestelle angekommen ist (#3): ABHOLEN (CHINA 2021) 妹妹来接我 妹妹 [jüngere Schwester kommt mich abholen] WeChat #1 (Zhang) (06.01.2021, 19:20) 4 Hierzu ausführlicher Günthner/Zhu (2017) sowie Günthner (im Druck a). 5 Siehe auch Fang/Heng (1983) zu Veränderungen von Verwandtschaftsbezeichnungen in China seit der Gründung der Volksrepublik.
8 Susanne Günthner 好滴 [okay] WeChat #2 (Liu) (06.01.2021, 19:21) 我到了 [ich bin schon da] WeChat #3 (Liu) (06.01.2021, 19:29) In ihrer Aufforderung an Liu, sie abzuholen (#1), verweist Zhang auf ihre jüngere Schwester mit der Verwandtschaftskategorie Meimei (妹妹 jüngere Schwester) und positioniert diese somit in ihrer Funktion als Familienmitglied. Mit dieser Fremdpositionierung geht zugleich eine implizite Selbstpositionierung der Schreiberin Zhang in ihrer Rolle als ältere und damit statushöhere Schwester herein, die die jüngere um einen Gefallen bittet. CHATTEN (CHINA 2019) 姐姐是不是该睡觉了 姐姐 [Möchte ältere Schwester vielleicht bald ins Bett gehen] WeChat #11 (Dong) (07.06.2019, 17:57) In den vorliegenden Chat-Dialogen verwenden chinesische SprecherInnen (wie in Ostasien üblich) die Bezeichnungen „Schwester“ oder „Bruder“ auch zur Refe- renz auf Cousinen und Cousins. Zwei Cousinen (Dong und Yang) haben sich bereits eine Weile per WeChat unterhalten, als Dong, die in Deutschland studiert, plötzlich bemerkt, dass es in China bereits Mitternacht ist: In ihrer besorgten Nachfrage, ob Yang vielleicht bald ins Bett gehen möchte, referiert Dong in der 3. Person mittels des Verwandt- schaftsnamen „Jiejie“ (姐姐 ältere Schwester) auf ihre Cousine. Diese Referenz- form indiziert nicht nur eine enge familiäre Affiliation, sondern zugleich Yangs Status als ältere Cousine. Auch hier wird mit der Fremdzuschreibung „Jiejie“ (姐姐 ältere Schwester) eine Selbstpositionierung mit-markiert; d. h. Dong indi- ziert zugleich ihre eigene Position in der hierarchischen Struktur der Familien- formation als Meimei (妹妹 jüngere Schwester).6 6 Siehe auch Blum (1997: 361) und Gao (2013: 193) zur sprachlichen Kodierung von Hierarchiere- lationen durch Verwandtschaftsrollennamen im Chinesischen.
Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität 9 Mit den Gebrauchsweisen nominaler Referenzformen (wie den vorliegenden Geschwisterrollennamen) für Ego (den/die SchreiberIn) und Alter-Ego (den/die RezipientIn) geht eine Transposition vom „Zeigfeld“ des Interaktionsereignis- ses zum „Symbolfeld“ (Bühler 1982 [1934]: 89) einher. Im vorliegenden Dialog konfiguriert die Schreiberin Dong ihr Gegenüber quasi „von außen“ (Tugendhat 2006: 22–23; Schwitalla 2010) als Figur der 3. Person, wodurch ihre soziale Rolle als ältere Schwester und damit die Verwandtschaftsrelation zwischen den Inter- agierenden relevant gesetzt wird. Wie der folgende Ausschnitt, der ebenfalls einem WeChat-Dialog zwischen Cousin und Cousine entstammt, zeigt, führt die Verwendung eines Geschwis- terrollennamens durch eine erste Schreiberin oftmals zur Bestätigung des doing being family durch den Rezipienten in seinem Folgezug; d. h. der Gesprächs- partner bestätigt die von der vorausgehenden Schreiberin initiierte soziale Bezie- hungszuweisung, indem er in seinen Folgehandlungen mit den entsprechenden komplementären Familienrollenbezeichnungen reagiert. Die ältere Cousine Hua schreibt im folgenden WeChat-Dialog an ihren jün- geren Cousin Li, der aktuell ein Auslandsjahr an einer deutschen Universität verbringt, und erkundigt sich bei ihm, wie es ihm in Deutschland während der Pandemiezeit geht. Sie initiiert den Dialog (WeChat #1) mit der vokativen Anrede des Cousins als „Didi“ (弟弟 jüngerer Bruder), bevor sie sich im Folgezug nach seinem Befinden erkundigt: KEINE LEBENSMITTEL (CHINA 2020) 弟弟 [kleiner Bruder ] WeChat #1 (Hua) (25.04.2020, 11:05) 你还好吧在德国 [Geht’s dir gut in Deutschland] WeChat #2 (Hua) (25.04.2020, 11:05) 还好啊 [Ja, alles gut] WeChat #3 (Li) (25.04.2020, 12:32)
10 Susanne Günthner 你妈说你饭都吃不上了 [Deine Mutter sagte, dass du nichts zu Essen hast] WeChat #4 (Hua) (25.04.2020, 11:37) 你想吃啥姐姐 姐姐给你寄点 [Was willst du essen, ältere Schwester schickt es dir] WeChat #5 (Hua) (25.04.2020, 11:37) 我妈怎么说的我像乞丐 [Warum betrachtet mich meine Mutter als Bettler] WeChat #6 (Li) (25.04.2020, 12:37) 谢谢姐姐姐姐 [Danke, ältere Schwester ] WeChat #7 (Li) (25.04.2020, 12:38) 姐姐 姐姐最好了 [ältere Schwester ist die Beste] WeChat #8 (Li) (25.04.2020, 12:38) Nachdem Li in WeChat #3 seiner Cousine mitteilt, dass es ihm gut geht, infor- miert diese ihn, dass seine Mutter ihr berichtet hat, dass er Probleme hat, Essen zu bekommen (#4) und bietet ihm anschließend an, dass sie ihm Essen nach Deutschland schicken kann (#5). In diesem Angebot referiert sie auf sich selbst in ihrer Familienrolle als Jiejie (姐姐 ältere Schwester) und setzt damit die in WeChat #1 bereits initiierte familienbezogene Identitätsausrichtung der Inter- agierenden fort. Mit ihrer Selbstkategorisierung als Jiejie (姐姐 ältere Schwester) rahmt sie ihre vorliegende Handlung: Als älteres Familienmitglied sorgt sie sich um das Wohl des jüngeren Bruders. Nachdem Li in WeChat #6 das Verhalten seiner Mutter kritisiert, bedankt er sich bei Hua, wobei er nun Huas Selbstkate gorisierung als Jiejie (姐姐 ältere Schwester) aufgreift und in die Danksagung
Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität 11 einbezieht. Im unmittelbar folgenden Dialogzug (#8) lobt er seine Cousine („姐姐最好了“ [ältere Schwester ist die Beste]) und aktiviert auch hier – statt des Pronomens „ni“ (你 du) – die Geschwisterrollenbezeichnung „Jiejie“ (姐姐 ältere Schwester) zur Referenz auf sein Gegenüber. Wie dieser Ausschnitt veranschaulicht, führt die Initiierung eines Verwandt- schaftsrollennamen durch eine/n erste/n SchreiberIn immer wieder dazu, dass der/die RezipientIn diese im weiteren Verlauf der Interaktion aufgreift und mit dieser kollaborativ ausgerichteten Praktik der Personenreferenz zur Bestätigung der sozialen Beziehungsformation beiträgt. Während im Deutschen die Anrede bzw. Referenz auf Geschwister mit den entsprechenden Verwandtschaftsnamen „Bruder“ bzw. „Schwester“ als markiert und veraltet gilt (Macha 1997; Christen 2006) und diese Referenzierungspraktik – oftmals in Kombination mit Diminutiv- bzw. Koseformen – eine bestimmte Inter- aktionsmodalität kontextualisiert, sind Anreden mit Verwandtschaftsnamen unter Geschwistern bzw. Cousinen und Cousins im Chinesischen durchaus ver- breitet und gelten als unmarkiert – ja sogar teilweise als erwartbar (Chao 1956; Blum 1997; Cao 2005; Gao 2013; Günthner/Zhu 2016, 2017). In den vorliegenden Daten werden Familienrollennamen – wie im Dialog CHATTEN – insbesondere von jüngeren Teilnehmenden gegenüber den älteren Verwandten verwendet und auf diese Weise nicht nur der höhere Status der älteren Verwandten, sondern zugleich auch die Respektbekundung auf Seiten der jüngeren indiziert. Ältere Verwandte referieren auf ihre jüngeren Kommuni- kationspartnerInnen dagegen oftmals mit Ruf- oder Kosenamen bzw. Pronomina (oder zero pronoun). Der Gebrauch geschwisterbezogener Referenzformen stellt also sowohl im Deutschen als auch im Chinesischen eine kommunikative Ressource dar, die sich insofern vom Gebrauch deiktischer Pronomen unterscheidet, als sie jenseits der reinen Bezugnahme weitere soziale Informationen mit-kodiert: Sie indiziert soziale Aspekte wie Geschlechts- bzw. Generationszugehörigkeit, aber auch Familienzugehörigkeit und soziale Nähe. Im Chinesischen liefern diese Referen- zierungspraktiken aufgrund der Markierung des relativen Alters darüber hinaus Informationen bezüglich der sozialen Positionierung der Interagierenden. 3.2 Z ur Verwendung von Verwandtschaftsbezeichnungen unter nicht-verwandten Personen Chinesische SprecherInnen setzen Verwandtschaftsrollennamen jedoch nicht nur zur Referenz auf verwandte Personen ein, sondern sie verwenden diese Praktiken auch metaphorisch zum Verweis auf nicht-verwandte Personen (Wu
12 Susanne Günthner 1990; Günthner/Zhu 2017; Günthner 2017, 2018; Ren/Chen 2019).7 Auch in den vorliegenden chinesischen Chat-Dialogen aktivieren SchreiberInnen Geschwis- terbezeichnungen zur Adressierung von bzw. Referenz auf nicht-verwandte Kom- militonInnen, FreundInnen und Bekannte.8 Im folgenden längeren Dialog zwischen dem Studenten Han, der aktuell in Deutschland studiert, und Xia, einer Freundin, die in einer Shanghaier Firma als Praktikantin arbeitet, setzen beide Teilnehmenden projektive Geschwisterrol- lennamen ein. Nachdem die beiden Interagierenden bereits 12 Dialogzüge aus- getauscht haben und Xia u. a. erwähnt hat, dass sie soeben von der Sauna nach Hause gekommen ist, fragt Han nach, ob sie sich nun ausruhen wird: SAUNA (CHINA 2020) 姐姐休息了? 姐姐 [ruht ältere Schwester sich aus?] WeChat #13 (Han) (17:26) 姐姐 姐姐准备休息中 [ältere Schwester ist bereit sich auszuruhen] WeChat #14 (Xia) (17:27) 姐姐 姐姐是该睡觉了 [ältere Schwester sollte sich jetzt ins Bett legen] WeChat #15 (Han) (17:28) 7 Vgl. Wu (1990) zu einem systematischen Überblick über chinesische Verwandtschaftsnamen für nicht-verwandte Personen. Siehe auch Günthner (2017; im Druck a, b) sowie Hentschel (2012). 8 Im deutschsprachigen Kontext wurden bis in die 1970er Jahre ebenfalls projektive Verwandt- schaftsnamen für nicht-verwandte Personen verwendet – vor allem zur Adressierung von Freun- dInnen der Familie oder NachbarInnen wie „Tante Christa“ für die Nachbarin oder „Onkel Hein- rich“ für den Freund der Familie (Linke 2001: 381; Hentschel 2012). Heutzutage gelten projektive Verwandtschaftsrollennamen für Nicht-Verwandte als „obsolet“ (Macha 1997; Christen 2006). Allerdings trifft man in WhatsApp-Dialogen unter Jugendlichen gelegentlich auf die aus der Hip- hop-Kultur stammenden englischen Anredeformen „bro“ bzw. „brother“.
Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität 13 对呢 [genau] WeChat #16 (Xia) (17:28) 姐姐 姐姐刚才买了个被套 [ältere Schwester hat sich einen Bettbezug gekauft] WeChat #17 (Xia) (17:28) 给弟弟弟弟看看 [lass kleinen Bruder sehen] WeChat #18 (Han) (17:29) Obwohl den beiden DialogpartnerInnen die deiktischen Pronomen „wo“ (我 ich) und „ni“ (你 du) durchaus zur Verfügung stehen, aktivieren sie sowohl zur Selbst- als auch Fremdreferenz kinship-Bezeichnungen. In WeChat #13 fragt Han nach, ob Xia sich nun ausruhen möchte, wobei er auf sie mit dem projektiven Geschwisterrollennamen „Jiejie“ (姐姐 ältere Schwester) referiert und damit nicht nur soziale Nähe indiziert, sondern sich zugleich relational als „kleinen Bruder“ positioniert. Wie die sequenziell folgenden Dialogzüge von Xia (#14 und #17) zeigen, greift Xia diese Praktik zur Selbstreferenz auf und bestätigt damit die von Han kon- stituierte Beziehungsformation. Auf ihre Mitteilung hin, dass sie (d. h. die ältere Schwester) einen neuen Bettbezug gekauft hat (#17), aktiviert nun auch Han in seiner folgenden Replik (#18) die komplementäre Familienrolle des Didi (弟弟 kleiner Bruder) zur Selbstreferenz: „Gei Didi kan kan“ (给弟弟看看 [Zeig ihn dem kleinen Bruder]).9 Wie der vorliegende Ausschnitt veranschaulicht, ratifizieren die Interagie- renden in den vorliegenden Daten die ihnen vom Gegenüber zugewiesene Rolle, indem sie im sequenziell folgenden Dialogzug diese Bezeichnung zur Selbstrefe- 9 Im vorliegenden WeChat-Dialog verwendet Han den Begriff „Didi“ (弟弟 jüngerer/kleiner Bru- der) zur Selbstreferenz. Im Chinesischen wird teilweise zwischen „Didi“ (弟弟 jüngerer Bruder) und „Xiaodi“ (小弟 kleiner Bruder) unterschieden. Während „Didi“ (弟弟 jüngerer Bruder) Nähe und Zugehörigkeit markiert, indiziert die Selbstreferenzform „Xiaodi“ (小弟 kleiner Bruder) eher eine Form der Selbsterniedrigung. Diesen Hinweis verdanke ich Zhao Jie.
14 Susanne Günthner renz einsetzen. Auf diese Weise tragen sie zu einer kollaborativen Konstruktion gemeinsamer Beziehungsformationen bei. Anzumerken ist ferner, dass die das Alter indizierenden Geschwisterrollen- namen „Gege“ (哥哥 älterer Bruder) und „Meimei“ (妹妹 jüngere Schwester) in den vorliegenden Daten auch in Gesprächen unter Paaren verwendet werden, wobei auf den Mann – teilweise unabhängig davon, ob er tatsächlich älter als die Frau ist – mit „Gege“ (哥哥 älterer Bruder) referiert wird, während die Freundin zur „Meimei“ (妹妹 jüngere Schwester) transformiert.10 Neben den skizzierten Geschwisterrollennamen mobilisieren Interagierende in den vorliegenden Chat-Daten auch die Formen „ältere/jüngere Studienschwes- ter“ bzw. „älterer/jüngerer Studienbruder“ als kommunikative Praktiken der Selbst- und Adressatenreferenz. Im Unterschied zu den reinen Geschwisterrollen- namen – wie „Gege“ (哥哥 älterer Bruder), „Jiejie“ (姐姐 ältere Schwester), „Didi“ (弟弟 kleiner Bruder) und „Meimei“ (妹妹 jüngere Schwester), die eine enge freundschaftliche (und gelegentlich Paar-bezogene) Beziehung indizieren, mar- kieren die Kompositaformen „Xuejie“(学姐 ältere Studienschwester) bzw. „Xuez- hang“ (学长 älterer Studienbruder) eine größere Distanz, zumal die Referenz- kategorie durch das Morphem „xue“ (学 Lernen/Studieren) einen klaren (Hoch-) Schulbezug aufweist. Im folgenden WeChat-Dialog zwischen zwei KommilitonInnen initiiert der Student Bao seinen ersten Dialogzug mit der Rezipientenanrede „Xuejie“(学姐 ältere Studienschwester), bevor er seine Anfrage formuliert (#1). Zugleich ver- weist Bao mit dem analogen Begriff des „Xuezhang“ (学长 älterer Studienbruder) auf einen potenziellen (abwesenden) Kommilitonen: FUßBALLEXPERTE (CHINA 2019) 学姐 咱们学校研究生学长有没有懂足球的 [ältere Studienschwester gibt es einen älteren Studienbruder im Masterstudium an unserer Hochschule, der Fußball versteht] WeChat #1 (Bao) (13.04.2019, 19:41) 10 Laut meiner InformantInnen liegt diese altersbezogene Zuschreibung daran, dass „sich junge Frauen meist einen älteren, größeren und stärkeren Mann wünschen“, da sie „sich geborgen fühlen wollen“. Zugleich „möchten sie jung, schön und niedlich bleiben“ und damit die „jüngere Schwester“ sein (selbst wenn sie ein paar Monate oder gar Jahre älter als ihr Freund sind). Hierzu auch Günthner/Zhu (2017).
Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität 15 你指的是看足球的还是踢足球的 [meinst du Fußballgucken oder Fußballspielen] WeChat #2 (Wu) (13.04.2019, 19:45) 看足球就行 [es reicht, wenn er Fußball guckt] WeChat #3 (Bao) (13.04.2019, 19:45) Im Anschluss an die kurze Zwischensequenz (WeChat #2-#3) zur Abklärung und Verständnissicherung nennt die ältere Studentin Wu dem jüngeren Bao einen potenziellen Kandidaten mit Namen (# 4), woraufhin Bao eine erneute Anfrage an Wu sendet und diese nun um die Kontaktdaten des genannten „älteren Studi- enbruders“ („Xuezhang“ 学长) bittet. In dieser Bitte referiert Bao erneut in der 3. Person auf seine Rezipientin („Xuejie“ 学姐 ältere Studienschwester) und bestä- tigt somit wiederum seine Position, aus der er die ältere Studienschwester um einen Gefallen bittet: 研一的王磊应该是挺懂的 [Wang Lei im 1. Masterstudienjahr sollte viel davon wissen] WeChat #4 (Wu) (13.04.2019, 19:46) 那学姐学姐有没有他的联系方式啊 [hat ältere Studienschwester vielleicht auch seine Kontaktdaten] WeChat #5 (Bao) (13.04.2019, 19:47) 我有他微信,我问问他能不能把他的微信 推给你~ [ich habe sein WeChat, ich frag ihn mal, ob ich dir sein WeChat geben kann~] WeChat #6 (Wu) (13.04.2019, 19:47)
16 Susanne Günthner Während der jüngere Kommilitone in diesem Chat-Dialog immer wieder mit der statusindizierenden Referenzform „Xuejie“ (学姐 ältere Studienschwester) auf die ältere Kommilitonin verweist und so der Rezipientin seiner Bitte Respekt bezeugt, setzt diese in ihren Repliken (WeChat #2 und #4) lediglich das deiktische Pronomen „ni“(你 du) zur Adressatenreferenz ein. Im vorliegenden Datenkorpus findet sich die Anwendung projektiver Ver- wandtschaftsnamen oftmals (wie im vorliegenden Dialog FUßBALLEXPERTE) in Kontexten, in denen eine jüngere Person eine/n ältere/n KommilitonIn um einen Gefallen bittet bzw. eine Information oder Hilfeleistungen benötigt. Bezeichnend für diese Tendenz zur „Aufwärts“-Markierung ist, dass die älteren Dialogpartne- rInnen ihre jüngeren RezipientInnen dagegen mit Ruf- bzw. Kosenamen adressie- ren bzw. mit Pronomen oder zero pronoun auf sie verweisen. Ältere Studierende aktivieren Geschwisterrollennamen gegenüber jüngeren KommilitonInnen dann, wenn sie diese um einen Gefallen bitten bzw. Fürsorglichkeit indizieren oder aber in Kontexten, in denen sie eine humoristisch-scherzhafte oder ironische Modali- tät konstruieren. In den letzten Jahren zeichnet sich unter Studierenden in China eine gewisse Tendenz in den Praktiken der Personenreferenz zu den altersneutralen Anrede- und Referenzformen „Jiemei“ (姐妹 ältere-jüngere Schwester) bzw. „Xiongdi“ (兄 弟 älterer-jüngerer Bruder) ab, um so den Alters- und Statusunterschied zwischen den Interagierenden zu nivellieren.11 4 Fazit Die präsentierte Analyse zu Praktiken der Personenreferenz in computervermit- telten Chat-Interaktionen verdeutlicht, dass das Konzept der kommunikativen Praktiken ein wichtiges methodisches Werkzeug liefert, um sprachliche Phäno- mene und interaktionale Strategien mit Aspekten des soziokulturellen Kontexts zu verbinden. So zeigen die Ergebnisse sowohl Parallelen als auch Differenzen in der chinesischen und deutschen Handhabung der Personenreferenz durch Geschwisterbezeichnungen: 11 Im Netzjargon wird für „Jiemei“ (姐妹 ältere-jüngere Schwester) häufig auch „Ji-mei“ (集美) verwendet, das 2020 zu den Top 10 der chinesischen Internet-Schlüsselwörter zählte. Die Aussprache dieses Begriffs ähnelt der von „Jiemei“ (姐妹 ältere-jüngere Schwester) und hat die Bedeutung von ji (集 Sammlung) und mei (美 Schönheit), wodurch die Rezipientin als eine schöne bzw. nette Person kategorisiert wird. Diese Information verdanke ich Zhao Jie.
Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität 17 – Sowohl chinesische als auch deutsche TeilnehmerInnen setzen in der com- puterübermittelten translokalen Chat-Kommunikation oftmals Geschwister- bezeichnungen als Praktiken der Selbst- und Fremdreferenz ein. – In beiden Sprachen haben diese verwandtschaftsindizierenden Praktiken Funktionen inne, die über die reine Referenz hinausreichen: Sie werden als „social indices“ (Silverstein 1976: 37) eingesetzt, die weitaus mehr Infor- mationen als die deiktischen Pronomen „wo“ (我), bzw. „ich“ und „ni“ (你), „nin“ (您) bzw. „du/Sie“ liefern: Neben dem Anzeigen von doing being family indizieren sie weitere soziale Aspekte wie das Geschlecht, die Generations- zugehörigkeit und die Art der Verwandtschaftsrelation. Im Chinesischen markieren die Geschwisterbezeichnungen darüber hinaus altersbezogene Statusrelationen und Respektbekundungen unter den Interagierenden (Günthner/Zhu 2016, 2017). – Obgleich im Deutschen die Selbst- und Rezipientenreferenz mittels „Bruder“ oder „Schwester“ als obsolet gilt, verwenden Chat-SchreiberInnen dennoch diese nominalen Formen – allerdings meist in den hypokoristischen Varian- ten „Schwesterlein“, „Bruderherz“, „Brüderlein“ etc. Auf diese Weise wird eine kosende, scherzhafte oder ironische Modalität kontextualisiert, die wie- derum in engem Bezug zur betreffenden kommunikativen Handlung steht. – Im Unterschied zum Deutschen gelten Referenzierungspraktiken mit Geschwisterrollennamen im Chinesischen keineswegs als obsolet. Vielmehr werden sie auch jenseits scherzhafter, ironischer und hypokoristisch indi- zierter Modalitäten verwendet. Ferner zeichnen sich in den chinesischen Chat-Daten auch Verwendungen von Geschwisterbezeichnungen unter Cou- sinen und Cousins ab. – Im Unterschied zum Deutschen werden Verwandtschaftsnamen in den chine- sischen Daten auch projektiv für nicht-verwandte Personen eingesetzt. Diese metaphorischen Referenzierungspraktiken finden in Interaktionen zwischen KommilitonInnen, FreundInnen und Bekannten sowohl zur Selbst- als auch Fremdreferenz Anwendung. Dabei kommt – vergleichbar mit der Ver- wendung von Geschwisterbezeichnungen unter Verwandten – oftmals eine aufwärtsgerichtete Mobilisierung zum Tragen, d. h. jüngere Interagierende adressieren bzw. referieren auf ihre älteren GesprächspartnerInnen eher mit projektiven Geschwisterbezeichnungen als umgekehrt.12 12 Diese vertikale Ausrichtung der Adressierung mit Verwandtschaftsnamen „nach Oben“ wird in der Literatur der Forschungsliteratur oftmals mit konfuzianistischen Prinzipien der Respekt- bekundung gegenüber Älteren begründet: „Thus it falls to the junior to name the relationship and assent to the hierarchy“ (Blum 1997: 361). Allerdings zeigt sich diese aufwärtsgerichtete
18 Susanne Günthner – Sowohl die deutschen als auch die chinesischen Daten verweisen darüber hinaus auf die sequenzielle Organisation dieser nominalen Personenrefe- renzen: Die Initiierung eines Verwandtschaftsrollennamens zur Selbst- bzw. Fremdreferenz führt immer wieder dazu, dass der/die RezipientIn diese in den sequenziell folgenden Dialogzüge aufgreift und sie (bzw. die entspre- chenden reziproken Formen) nun ebenfalls zur Selbst- bzw. Fremdreferenz einsetzt. Auf diese Weise bestätigen sich die DialogpartnerInnen ihre Kolla- boration bei der Konstruktion sozialer Beziehungen, Zusammengehörigkeit wie auch bei der Konstitution von Interaktionsmodalitäten und kommunika- tiven Handlungen. Die Daten verdeutlichen demnach, wie Interagierende kulturelle Vorstellungen sozialer Beziehungen im Prozess der Kommunikation re-aktualisieren und wech- selseitig bestätigen. Personenreferenzen repräsentieren eine kommunikative Praktik, die an der Schnittstelle von kulturellen Konventionen und sprachlich- kommunikativen Mustern verankert ist (Levinson 2005: 433; Enfield 2007: 97): Mittels Personenreferenzen aktivieren SprecherInnen bzw. SchreiberInnen kul- turspezifische Traditionen sozialer Beziehungsformationen (Enfield 2007). Acknowledgement: Ich danke Zhao Jie für ihre hilfreichen Kommentare sowie ihre Mithilfe bei der Übersetzung der chinesischen Daten. Mein Dank geht auch an die HerausgeberInnen und das Redaktionsteam der Zeit- schrift für ihre Hinweise. Literaturverzeichnis Berger, Peter/Luckmann, Thomas. 2016 [1966]. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt: Fischer. Blum, Susan D. 1997. Naming Practices and the Power of Words in China. In: Language in Society 26 (3). S. 357–379. Bourdieu, Pierre. 1979. Die feinen Unterschiede. Frankfurt: Suhrkamp. Bühler, Karl. 1982 [1934]. Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion von Sprache. Stuttgart: Lucius & Lucius. Cao, Wie. 2005. Appellation and Addressing Terms in Modern Chinese. In: Journal of Jiangsu University 7 (2). S. 62–69. Chao, Yuen Ren. 1956. Chinese Terms of Address. In: Language 32 (1). S. 217–241. Adressierungsorientierung auch in deutschen Daten – und zwar von Kindern gegenüber ihren Eltern bzw. EnkelInnen gegenüber Großeltern (Günthner/Zhu 2016, 2017).
Die kommunikative Konstruktion von Kulturalität 19 Christen, Helen. 2006. Comutter, Papi und Lebensabschnittsgefährte. Untersuchungen zum Sprachgebrauch im Kontext heutiger Formen des Zusammenlebens. Hildesheim: Georg Olms Verlag. Deppermann, Arnulf/Feilke, Helmuth/Linke, Angelika (Hrsg.). 2016. Sprachliche und kommunikative Praktiken. Berlin/Boston: De Gruyter. Enfield, Nick. 2007. Meanings of the Unmarked: How ‚default‘ Person Reference Does More Than Just Refer. In: Enfield, Nick/Stivers, Tanya (Eds.): Person Reference in Interaction: Linguistic, Cultural and Social Perspectives. Cambridge: Cambridge University Press. S. 97–120. Fang, Hanqian/Heng, J. H. 1983. Social Changes and Changing Address Norms in China. In: Language and Society 12 (4). S. 495–507. Fiehler, Reinhard/Barden, Birgit/Elstermann, Mechthild/Kraft, Barbara. 2004. Eigenschaften gesprochener Sprache. Tübingen: Narr. Gao, Chunmin. 2013. A Contrastive Study of Chinese and English Address Forms. In: Theory and Practice in Language Studies 3 (1). S. 190–194. Gumperz, John J. 1982. Discourse Strategies. Cambridge: Cambridge University Press. Gumperz, John J./Levinson, Stephen C. (Eds.). 1996. Rethinking Linguistic Relativity. Cambridge: Cambridge University Press. Günthner, Susanne. 1993. Diskursstrategien in der Interkulturellen Kommunikation. Analysen deutsch-chinesischer Gespräche. Tübingen: Max Niemeyer. Günthner, Susanne. 2013a. Sprache und Kultur. In: Auer, Peter (Hrsg.): Sprachwissenschaft: Grammatik – Interaktion – Kognition. Stuttgart: Metzler. S. 347–369. Günthner, Susanne. 2013b. Doing Culture – Kulturspezifische Selbst- und Fremdpositio- nierungen im Gespräch. In: Bogner, Andrea/Ehlich, Konrad/Eichinger, Ludwig M./Kelletat, Andreas F./Krumm, Hans-Jürgen/Michel, Willy/Reuter, Ewald/Wierlacher, Alois (Hrsg.). Literarisches Übersetzen (Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache – Intercultural German Studies 38/2012). München: Iudicium. S. 30–48. Günthner, Susanne. 2015. Zur Verwobenheit von Sprache und Kultur – Ansätze einer Anthropo- logischen Linguistik. In: Dobstadt, Michael/Fandrych, Christian/Riedner, Renate (Hrsg.): Linguistik und Kulturwissenschaft. Zu ihrem Verhältnis aus der Perspektive des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und anderer Disziplinen. Frankfurt a.M.: Peter Lang. S. 37–64. Günthner, Susanne. 2017. Die kommunikative Konstruktion von Kultur: Chinesische und deutsche Anredepraktiken im Gebrauch. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 66. S. 1–29. Günthner, Susanne. 2018. Perspektiven einer sprach- und kulturvergleichenden Interak- tionsforschung: Chinesische und deutsche Praktiken nominaler Selbstreferenz in SMS-, WhatsApp- und WeChat-Interaktionen. In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 19. S. 478–514. http://www.gespraechsforschung-ozs.de/ (zuletzt aufgerufen am 30.04.2021). Günthner, Susanne. 2019. ‚Kultur-in-kommunikativen-Praktiken‘, Kommunikative Praktiken zur Übermittlung schlechter Nachrichten in onkologischen Aufklärungsgesprächen. In: Schröter, Juliane/Tienken, Susanne/Ilg, Yvonne/Scharloth, Joachim/Bubenhofer, Noah (Hrsg.): Linguistische Kulturanalyse. Berlin/Boston: De Gruyter. S. 269–292. Günthner, Susanne. Im Druck a. Practices of Person Reference in Chinese and German Interactions: A Contrastive Analysis of ‘Third Person Reference Forms’ in SMS, WhatsApp, and WeChat communication. In: Baumgarten, Nicole/Vismans, Roel Vismans (Eds.): Forms of Address in Contrastive Contexts. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins.
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