Professor Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann Die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS- und SED-Diktatur in Sachsen-Anhalt seit 1989

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Professor Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann
           Die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS- und SED-Diktatur
                           in Sachsen-Anhalt seit 1989

Kann man Diktaturen eigentlich „aufarbeiten“? Tatsächlich ist das, was die histori-
sche Forschung (und im Idealfalle ihr dann folgend die öffentliche gesellschaftliche
Debatte) leisten kann, eigentlich eher ein „Abarbeiten“ an der Diktaturerfahrung, d.h.
an den politischen, moralischen, ökonomischen und rechtlichen Folgen diktatorischer
Herrschaft, und damit an den individuellen wie gesellschaftlichen Wunden, die dikta-
torische Willkür hinterlassen hat. Jede nachdiktatorische Gesellschaft befindet sich
bei diesem schmerzhaften Prozess in einer spannungsreichen Situation, denn alle
Akteursgruppen der diktatorischen Gesellschaft – die alten Machteliten und die
ausführenden Mittäter, die willigen Mitläufer und die uninteressierten „Zuschauer“1
wie auch die Oppositionellen und die Opfer – definieren sich, bewusst oder
unbewusst, mindestens partiell auch in Relation zur erlebten Diktatur. Dabei
verschränkt sich die Diktaturerfahrung der gesamten Bevölkerung und die
Widerstandserfahrung einer meist kleinen Minderheit in vielfältiger Weise, denn – wie
Peter Steinbach formuliert hat – der von Einzelnen gegenüber einer diktatorischen
Staatsmacht geleistete Widerstand bezeugt, „dass es Alternativen zur Anpassung,
zum Gehorsam, zur Folgebereitschaft und zum Mitläufertum gibt.“2

Wenn in der heutigen Zeit vielfach sehr kurzschlüssig nach Sinn und Zweck von Ge-
schichte als Wissenschaft oder als Studienfach gefragt wird, da diese keine unmittel-
bare Verwertbarkeit aufweise und keine schnelle Rendite erbringe, dann zeigt sich
auf dem hier betrachteten Gebiet der Diktaturgeschichte besonders nachdrücklich,
dass eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung gerade auch mit problema-
tischen historischen Erfahrungen eine unabdingbare Voraussetzung ist, um in einer
freiheitlichen Gesellschaft die Zukunft zu gestalten. Daher ist festzuhalten, dass es
sich bei der so genannten „wissenschaftlichen Aufarbeitung“ von Diktaturen um einen
notwendigen Akt der kollektiven Selbstvergewisserung handelt, der im Folgenden in
zwei großen Abschnitten – zunächst zum NS-Staat, danach zur DDR – und zwar un-
ter einem auf Sachsen-Anhalt bezogenen regionalgeschichtlichen Blickwinkel be-
trachtet wird. Dabei wird für die NS-Zeit von einer Überblicksskizze zur allgemeinen
1
  Vgl. diese Charakterisierung bei Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden
1933-1945, Frankfurt am Main 1992, 3. Aufl.
2
  Peter Steinbach, Diktaturerfahrung und Widerstand, in: Klaus-Dietmar Henke/Peter Steinbach/ Jo-
hannes Tuchel (Hg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln u.a. 1999, S. 57-84, hier S. 79.

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Forschungsgeschichte ausgegangen, um dann im zweiten Schritt das spezifische
Profil Sachsen-Anhalts in diesen Kontext einzuordnen.

1. Grundlinien der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in
der alten Bundesrepublik
Die westdeutsche NS-Forschung hat seit 1945 verschiedene Phasen durchlaufen.
Sie begann vor allem mit dem Blick auf die großen Haupttäter, auf spektakuläre In-
strumente der NS-Herrschaft wie Gestapo und SS oder den Volksgerichtshof sowie
auf besonders ins Auge stechende Verbrechen, für die vor allem Dachau, Buchen-
wald, Bergen-Belsen und in ganz besonderer Weise Auschwitz symbolhaft stehen.
Das im Laufe der 1950er Jahre immer stärker ins öffentliche Bewusstsein gehobene
Gegenbild zum nationalsozialistischen Terror konstituierte sich aus dem Widerstand
– präziser formuliert: aus ausgewählten Teilen des deutschen Widerstandes gegen
Hitler, wobei vor allem der von Offizieren getragenen Verschwörung des 20. Juli
1944 und den humanistischen Idealen folgenden Studenten der Münchener „Weißen
Rose“ zentrale Bedeutung zukam. Die erste Etappe westdeutscher NS-Forschung
dauerte in etwa bis zum großen gesellschaftlichen und kulturgeschichtlichen
Epochenbruch in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, für den gemeinhin
gern die plakative Chiffre „1968“ bemüht wird. Diese frühe NS-Forschung war vor
allem politik- und organisationsgeschichtlich sowie biographisch ausgerichtet –
insgesamt konzentrierte sie sich in hohem Maße auf zentrale Persönlichkeiten und
Ereignisse von überregionaler Bedeutung. Entsprechend war sie – um diesen Befund
auf der wissenschaftsgeschichtlichen Metaebene einzuordnen – noch sehr stark vom
traditionellen Historismus geprägt.

Demgegenüber dominierten in den 1970er und auf ganz breiter Front dann in den
1980er Jahren vor allem sozialgeschichtlich ausgerichtete Forschungsansätze, die
bald durch die aufkommende Alltagsgeschichte Konkurrenz erhielten. Beiden ge-
nannten konzeptionellen Grundrichtungen war gemeinsam, dass zum Teil völlig neue
Quellengruppen gesucht und diese nun weitaus häufiger als zuvor im lokalen und im
regionalen Kontext erschlossen wurden. Damit hatte der rund zwei Jahrzehnte dau-
ernde und scheinbar nicht zu stoppende Siegeszug der Lokal- und Regionalstudien
begonnen. Auf der wissenschaftstheoretischen Ebene ist für die westdeutsche Ent-
wicklung festzuhalten, dass sich seit den 1960er Jahren erhebliche Teile der Histori-

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kerzunft unter dem Leitmotiv der Bielefelder Schule, Geschichte sei im Kern als eine
Historische Sozialwissenschaft zu betreiben, gegenüber den Methoden, Arbeitswei-
sen und Erklärungsmodellen aus Politik- und Sozialwissenschaft und anderen be-
nachbarten Disziplinen immer stärker geöffnet und damit Anschluss an die interna-
tional gültigen Standards der modernen Geschichtswissenschaft gefunden hatte. Ei-
nen weiteren Schub für ein interdisziplinäres Denken und Forschen – hier wird schon
einmal über die Zäsur 1990 hinausgegriffen – brachte die kulturwissenschaftlichen
Erneuerung der Geschichtswissenschaft mit sich, die wir seit einiger Zeit erleben.

Die Wiedervereinigung Deutschlands markierte für die bis dahin mit Ressourcen
verwöhnte westdeutsche NS-Forschung einen abrupten und tiefen Einschnitt. Das
öffentliche Interesse an der Zeitgeschichte richtete sich in den 1990er Jahren ver-
ständlicherweise besonders intensiv auf die plötzlich abgeschlossene Geschichte der
DDR – mit der Konsequenz, dass sich die Forschungsförderung der großen Stiftun-
gen, die Forschungsschwerpunkte an Universitäten und Forschungsinstituten, die
Tagungs- und Publikationstätigkeit und nicht zuletzt vor allem auch die Repräsentanz
in Feuilletons und Medien tendenziell in diese Richtung verlagerten. Dies hat nun
keineswegs zu einer völligen Verdrängung von NS-Themen aus den in Wissenschaft
und medialer Öffentlichkeit geführten Debatten geführt, wohl aber zu einer Zuspit-
zung der NS-Forschung auf einige ausgewählte Themenfelder wie die Täterfor-
schung, das Funktionieren von Behörden und Verwaltungen im NS-Staat, die inneren
Mechanismen der NS-Herrschaft (also beispielsweise auf das Wechselspiel von
Überwachung und Denunziationsbereitschaft, auf das Verhältnis von sozialen und
kulturellen Integrationsdiskursen einerseits und terroristischen Verfolgungsmaßnah-
men andererseits), aber auch auf die NS-Herrschaft in den besetzten Ländern und
die Rolle der Wehrmacht – um nur ein paar besonders markante Bereiche stichwort-
artig zu nennen. Der generelle Trend seit 1990 ist zu beschreiben als eine Abkehr
von der zunehmend amorpher werdenden Vielgestaltigkeit beliebiger lokaler und re-
gionaler Zugriffe hin zu einer systematischeren Konzentration auf ausgewählte For-
schungsprobleme. Regionale Zugriffe spielen dabei weiterhin eine wichtige Rolle,
aber die Region dient nicht mehr als Selbstzweck, sondern sie liefert das Material
und die konkrete Konstellation für exemplarisch angelegte Fallstudien.

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2. Die NS-Zeit im Spiegel der DDR-Geschichtswissenschaft
Zunächst zur Ausgangslage: Da die DDR als explizit „antifaschistischer“ Staat per
definitionem den denkbar radikalsten Gegenentwurf zum „Dritten Reich“ darstellen
wollte, glaubten ihre geschichtspolitischen Propagandisten sich berechtigterweise der
historischen Verantwortung für die von deutschen Tätern verübten Verbrechen ent-
ziehen zu dürfen. Es war auch durchaus bequem, nun moralisch auf der Seite der
siegreichen Sowjetunion zu stehen. Es entlastete, weil es unangenehme Fragen
überflüssig machte – zum Beispiel die nach fortwirkenden Einflüssen der NS-Zeit:
Konnte eine Bevölkerung, die in ihrer großen Mehrheit Hitler bis zum letzten Moment
unterstützt hatte, über Nacht völlig anderen Sinnes geworden sein? Ungeachtet sol-
cher Verwerfungen wurde die primär staatspolitisch (und eben nicht durch wissen-
schaftliche Analyse) bestimmte Interpretation der NS-Zeit von der durch die SED
kontrollierten Historikerzunft widerspruchsfrei konstruiert. Eine tragende Rolle nahm
darin der antifaschistische Widerstand gegen Hitler ein, der per se immer und überall
unter der Führung von Kommunisten gestanden haben musste – auch wenn dies
zum Beispiel in sozialdemokratischen Hochburgen wie Magdeburg die Fakten auf
den Kopf stellte und mit der persönlichen Erfahrung der „Mitlebenden“ nicht in Ein-
klang zu bringen war. Da die geschichtspolitischen Vorgaben der SED universelle
Gültigkeit beanspruchten, mussten die in den Quellen erhobenen Befunde im Ergeb-
nis stets in den Rahmen der verbindlich vorgegebenen zeithistorischen Interpretation
der NS-Zeit eingepasst werden. Auf der Basis einer solchen eindimensionalen und in
sich geschlossenen, von widersprüchlichen Befunden und komplexen Fragestellun-
gen entlasteten geschichtspolitischen Konstruktion der NS-Zeit konnte auch das Ge-
denken problemlos ritualisiert werden. Eine von diesen Deutungsachsen gegebenen-
falls abweichende Erforschung der Regionalgeschichte in der NS-Zeit konnte sich
unter den skizzierten Bedingungen verständlicherweise nicht entfalten. Kritisch re-
flektierende regionalhistorische Forschung erschien überflüssig, da die „historische
Wahrheit“ bereits durch zentrale Vorgaben geregelt war. Ganz offensichtlich haben
viele Stadt- und Landeshistoriker auf diese Gegebenheiten reagiert, indem sie eine
Flucht „in die Geschichte“ antraten, nämlich in ältere Epochen, in denen die Ge-
schichtsschreibung nicht im gleichem Maße ideologisch überformt wurde. Entspre-
chend sind vor 1990 publizierte wirklich quellengestützte und nicht vorrangig ideolo-
gisch bestimmte stadt- und regionalhistorische Arbeiten zur NS-Zeit ausgesprochen
rar und die Forschungslücken somit erheblich.

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3. Die regionalhistorische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit seit 1990 in
Sachsen-Anhalt
Vor dem Hintergrund dieser historiographischen Problemgeschichte ist nunmehr zu
bilanzieren, wo – nach anderthalb Jahrzehnten freien Archivzugangs und vielfältiger
Impulse für die historische Forschung – Sachsen-Anhalt und seine NS-Forschung
heute stehen.

a) Regionale Quelleneditionen zu Sachsen-Anhalt
Die von Hermann Josef Rupieper und seinem Mitarbeiterkreis an der Universität Hal-
le geleistete Edition von Gestapoberichten für die Regierungsbezirke Magdeburg3,
Merseburg4 und Erfurt5 stellt in einer Region, in der die Überlieferungen der national-
sozialistischen Gau- und –Kreisleitungen fast flächendeckend vernichtet worden sind,
eine in ihrem Wert kaum zu überschätzende regionalhistorische Pioniertat dar. Zu-
sammen mit den von Alexander Sperk editierten Lageberichten aus dem Freistaat
Anhalt6 vermitteln diese Quellen für die frühen Jahre der NS-Herrschaft auf dem Ge-
biet des heutigen Sachsen-Anhalt erste Einblicke in eine Vielzahl von Themenkrei-
sen, die oft noch weitgehend unerforscht sind. Manfred Müllers Hallenser Dissertati-
on7 nutzt das in diesen Quellen steckende Potential, um ein Panaroma des Verhal-
tens in der Bevölkerung zu skizzieren, bei dem zwar die Konsenselemente stark her-
vortreten, aber auch partielle Dissenspotentiale deutlich werden. Im Ergebnis macht
diese Studie freilich auch deutlich, dass viele Forschungsfragen noch weitaus detail-
lierter und unter Hinzuziehung weiterer aussagekräftiger Quellen untersucht werden
müssen – aber immerhin: wichtige Impulse für die weitere Forschung sind damit ge-
geben. Und dies – so kann man mit einem vergleichenden Blick nach Niedersachsen
durchaus formulieren – erfreulicherweise nach einer vergleichsweise kurzen Spanne
des freien Archivzugangs, denn vergleichbare Quelleneditionen sind für den Bereich
Hannover 1986, für Osnabrück erst 1995 und für Oldenburg gar erst 2002 publiziert

3
  Hermann-Josef Rupieper (Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei zur Provinz Sachsen
1933 bis 1936. Bd. 1: Regierungsbezirk Magdeburg, Halle 2003.
4
  Hermann-Josef Rupieper/Alexander Sperk (Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei zur
Provinz Sachsen 1933 bis 1936. Bd. 2: Regierungsbezirk Merseburg, Halle 2003.
5
  Hermann-Josef Rupieper (Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei zur Provinz Sachsen
1933 bis 1936. Bd. 3: Regierungsbezirk Erfurt, Halle 2004.
6
  Alexander Sperk, Anhalt im Spiegel der Lageberichte der Geheimen Staatspolizei und des Staatsmi-
nisters zu Beginn des Nationalsozialismus, in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltlinische Landeskun-
de 14 (2005), S. 226-244. Eine ausführlichere Edition ist in Vorbereitung.
7
  Manfred Müller, Zustimmung und Ablehnung, Partizipation und Resistenz. Die preußische Provinz
Sachsen im Spiegel geheimer Gestapo- und Regierungsberichte 1933 bis 1936. Untersuchungen zu
Lage, Stimmung, Einstellung und Verhalten der Bevölkerung, Frankfurt am Main u.a. 2000.

                                                  5
worden.8 Auf dem Gebiet der regionalen Quelleneditionen zur NS-Zeit ist der For-
schungsrückstand also bereits stark relativiert bzw. sogar aufgeholt worden.

b) Gesamtdarstellungen und lokal- bzw. regionalhistorische Monographien zur NS-
Zeit
Deutlich anders stellt sich die Lage im Hinblick auf landeshistorische
Gesamtdarstellungen und lokal- bzw. regionalhistorische Monographien zur NS-Zeit
dar. Hier sind die Defizite nach wie vor besonders deutlich. Während in den alten
Bundesländern für Regionen, Städte, Kreise und zum Teil sogar ländliche
Gemeinden facettenreiche Überblicksdarstellungen in einer so großen Zahl
vorliegen, dass der Flickenteppich der NS-Regionalstudien kaum noch zu
überblicken ist, fehlt ein solcher aus lokaler oder regionaler Perspektive bilan-
zierender oder zumindest kompilierender Blick in Sachsen-Anhalt noch fast
vollständig. Für Magdeburg, Halle, Dessau, Wernigerode, Halberstadt, Stendal,
Salzwedel und weitere Orte stehen klassische Monographien weiterhin aus9, deren
Funktion es wäre, lokale Forschungsergebnisse in der notwendigen thematischen
Breite zusammenzutragen und im Kontext zu bewerten, um so zu einem Gesamtbild
der NS-Zeit auf der lokalen Ebene zu kommen. Mit besonderem Interesse ist daher
der Dissertation von Maik Hattenhorst entgegenzusehen, der die
nationalsozialistische Machtübernahme und die ihr folgende Umgestaltung der
Kommunalpolitik im sprichwörtlich „roten“ Magdeburg an anderer Stelle bereits sehr
pointiert als „braune Gegenrevolution“ charakterisiert hat.10 Hier deuten sich – schon
im landesinternen Regionalvergleich zu Dessau, wo die Nationalsozialisten sehr früh
und problemlos an die Macht gelangten – interessante Kontrastierungsmöglichkeiten
an. Dass manchmal auch jenseits der professionellen Historikerzunft auf der lokalen
Ebene wichtige Zugänge zur Geschichte der NS-Zeit erschlossen werden können,
8
  Klaus Mlynek (Bearb.), Gestapo Hannover meldet.... Polizei- und Regierungsberichte für das mittlere
und südliche Niedersachsen zwischen 1933 und 1937, Hildesheim 1986; Gerd Steinwascher (Bearb.),
Gestapo Osnabrück meldet... Polizei- und Regierungsberichte aus dem Regierungsbezirk Osnabrück
aus den Jahren 1933 bis 1936, Osnabrück 1995; Albrecht Eckhardt/Katharina Hoffmann (Hg.),
Gestapo Oldenburg meldet... Berichte der Geheimen Staatspolizei und des Innenministers aus dem
Freistaat und Land Oldenburg 1933-1936, Hannover 2002.
9
  Vgl. hierzu Detlef Schmiechen-Ackermann/Mathias Tullner, Stadtgeschichte und NS-Zeit in Sach-
sen-Anhalt und im regionalen Vergleich. Forschungsstand, Fragen und Perspektiven, in: Detlef
Schmiechen-Ackermann/Steffi Kaltenborn (Hg.), Stadtgeschichte in der NS-Zeit. Fallstudien aus
Sachsen-Anhalt und vergleichende Perspektiven, Münster 2005, S. 7-38.
10
   Maik Hattenhorst, „Braune“ Gegenrevolution im „roten“ Magdeburg: Profil und Handlungsspielräume
leitender Kommunalbeamter 1933-1945, in: Schmiechen-Ackermann/Kaltenborn (Hg.), Stadtgeschich-
te in der NS-Zeit, S. 39-52. Vgl. auch ders., Stadt der Mitte: Zentrum der Aufrüstung und zweite Zer-
störung, in: Matthias Puhle/Peter Petsch (Hg.), Magdeburg. Die Geschichte der Stadt 805-2005, Dös-
sel (Saalkreis) 2005, S. 779-810.

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war einst eine grundlegende Erkenntnis der westdeutschen Geschichtswerkstätten-
Bewegung. Als positives Beispiel ist hier auf die Aktivitäten am Europagymnasium in
Thale zu verweisen, wo unter der Leitung von Heiko Golla eine Auseinandersetzung
mit der Lokalgeschichte in der NS-Zeit initiiert worden ist, die man nicht nur aufgrund
ihres auf politische Bildungsarbeit in der Schule zielenden Anliegens, sondern auch
von den dokumentierten Ergebnissen11 her als sehr respektabel bezeichnen kann.

Auf der Landesebene stellt sich die Situation weitgehend ähnlich dar wie für die mei-
sten Städte. Mit den summarischen Skizzen von Artur Schellbach und dem nur
8seitigen Überblick zur NS-Zeit in der konkurrenzlosen Landesgeschichte von Mathi-
as Tullner liegen zwar ganz grobe Annäherungsversuche an die Geschichte Sach-
sen-Anhalts in der NS-Zeit vor.12 Diese können aber weder in der Detailliertheit sowie
der Breite der behandelten Aspekte noch in der Komplexität der zu Grunde gelegten
Konzepte und Untersuchungsperspektiven mit den elaborierteren Darstellungen in
einigen anderen Bundesländern konkurrieren.13 Dabei ist ausdrücklich zu betonen,
dass angesichts der schwierigen Quellenlage und der in weiten Bereichen fehlenden
Forschungen dieser bedauerliche Mangel keineswegs den beiden genannten Publi-
kationen angelastet werden kann, sondern der insgesamt defizitären Forschungssi-
tuation geschuldet ist.

c) Spezialuntersuchungen und exemplarische Fallstudien
Diese letzte Betrachtung leitet über zur Frage, wie denn die regionale Bilanz auf dem
Feld von Spezialuntersuchungen und exemplarischen Fallstudien aussieht. Trotz der
eben skizzierten Defizite gibt es eine Reihe von wichtigen exemplarischen Untersu-
chungen, aus denen hier zumindest einige herausgegriffen werden sollen: Gut er-
forscht ist durch den Beitrag von Walter Zöllner und die umfangreiche Monographie

11
   Heiko Golla, Thale in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945, [Thale] 2005.
12
   Arthur Schellbach, Die Region in der NS-Diktatur, in: Gerhard Biegel (Hg.), 1200 Jahre Geschichte
– Renaissance eines Kulturraumes, Braunschweig 1993, S. 213-229; ders., Die Zeit der NS-Diktatur
1933 bis 1945, in: Geschichte Sachsen-Anhalts. III: Bismarckreich bis Gründung der Bezirke 1952, hg.
vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V., Berlin u.a. 1994, S. 135-192; Mathias Tullner, Ge-
schichte des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2001, 3. Aufl., S. 135-143.
13
   Vgl. beispielsweise die dreibändige Reihe „Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935-1945“,
herausgegeben von Hans-Walter Hermann: Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul, Das zersplitterte
Nein. Saarländer gegen Hitler, Bonn 1989; Dies., Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten
Reich, Bonn 1991; Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann, Milieus und Widerstand. Eine Verhaltens-
geschichte der Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bonn 1995.

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von Henrik Eberle die Geschichte der Universität Halle in der NS-Zeit.14 Sehr präzise
unterrichtet sind wir durch die ausgezeichnete Monographie von Beatrix Herlemann
über Schicksal und Widerständigkeit von Magdeburger Sozialdemokraten in den Jah-
ren der braunen Diktatur.15 Diese Studie ist deshalb besonders wertvoll, weil sie be-
reits mit der späten Weimarer Zeit einsetzt und in einem knappen Ausblick auch die
frühe Nachkriegszeit einbezieht, also in beispielgebender Weise nicht nur die eigent-
liche NS-Herrschaft umfasst, sondern auch die beiden Epochenbrüche 1933 und
1945 reflektiert. In mehreren Beiträgen hat Katrin Minner auf der Basis eines moder-
nen kulturgeschichtlichen Ansatzes anhand von Beispielen aus Sachsen-Anhalt (und
vergleichend hierzu aus Westfalen) die lokale Festkultur vom Kaiserreich bis zur NS-
Zeit untersucht.16 Auf den Gebieten Judenverfolgung und Zwangsarbeit sowie auf
dem Feld der regionalen Wirtschaftsgeschichte der NS-Zeit liegen zwar durchaus
einzelne wichtige Publikationen vor17, es fehlt aber vor allem an zusammenfassen-
den Überblicken, an systematischen und möglichst auch vergleichenden Perspekti-
ven sowie an wirklich exemplarisch angelegten Fallstudien. Dies gilt in noch stärke-
rem Maße für die Geschichte der Kirchen und vor allem für eine Verhaltensgeschich-
te des in Sachsen-Anhalt dominierenden protestantischen Milieus, das bisher nur
ganz punktuell und disparat untersucht ist. Jeweils mehrere Beiträge zu einem ge-
meinsamen Themenschwerpunkt versammelt das von Mathias Tullner herausgege-
bene Periodikum „Sachsen-Anhalt. Geschichte und Geschichten“, wobei für die hier
zu diskutierende Forschungsbilanz insbesondere die Themenhefte zum Widerstand
und zum Kriegsende hervorzuheben sind. Insbesondere für das Thema „Widerstand“
gilt freilich, dass durch diese Zeitschriftenbeiträge zwar wichtige Schneisen in weit-
gehend unerforschtes Neuland geschlagen worden sind, die aber in weiteren Schrit-
ten erst noch zu einem breiter abgesicherten Gesamtbild ausgebaut werden müssen.

14
   Henrik Eberle, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945, Halle
2002; Walter Zöllner, Die Universität Halle am Ende der Weimarer Demokratie und unter der NS-
Diktatur u8nter besonderer Berücksichtigung der Geschichtswissenschaft, in: Gunnar Berg/Hans-
Hermann Hartwich (Hg.), Martin-Luther-Universität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach
zwei Diktaturen, Opladen 1994, S. 81-95.
15
   Beatrix Herlemann, „Wir sind geblieben, was wir waren, Sozialdemokraten“. Das
Widerstandsverhalten der SPD im Parteibezirk Magdeburg-Anhalt gegen den Nationalsozialismus
1930-1945, Halle (Saale) 2001.
16
   Vgl. vor allem Katrin Minner, Zwischen Aufbruch und bürgerlicher Prägung. Ortsjubiläen in Sachsen-
Anhalt und Westfalen im Nationalsozialismus, in: Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl Hg.), Regionen im
Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 219-233.
17
   Hierzu im Detail: Alexander Bastian/Christiane Stagge, Forschungsbericht zur Geschichte des heu-
tigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt im Nationalsozialismus, in: Schmiechen-Ackermann/Kaltenborn
(Hg.), Stadtgeschichte in der NS-Zeit, S. 150-179.

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d) Erinnerungsarbeit und Gedenkkultur
Den Abschluss bildet ein kurzer Blick auf das Themenfeld Verfolgung in der NS-Zeit
und damit zugleich auch die Bereiche Erinnerungsarbeit und Gedenkstätten, die ja
an anderer Stelle noch ausführlicher behandelt werden. Auf diesem Gebiet ist – und
zwar sowohl im Hinblick auf die NS- als auch auf die SED-Diktatur – in den letzten 15
Jahren in Sachsen-Anhalt unter ausgesprochen schwierigen Rahmenbedingungen
Beachtliches erreicht worden. Es existiert inzwischen eine ganze Reihe von Gedenk-
stätten und Erinnerungsorten18 – leider in den meisten Fällen unterfinanziert und
teilweise auch improvisiert. Vieles müsste noch erforscht und anschließend in ange-
messener Form dokumentiert werden. Dennoch zeichnen sich wichtige und nachhal-
tige Erfolge ab, indem es erstens – u.a. dank des von der Landeszentrale herausge-
gebenen Gedenkstätten-Rundbriefes – eine intensive Kommunikation und zweitens
ein vergleichsweise schlüssiges und koordiniertes Gesamtkonzept zur Erinnerungs-
kultur in Sachsen-Anhalt gibt. Auch hier soll noch einmal die übliche Vergleichsfolie
bemüht werden: Derartige positive Rahmenbedingungen scheinen im benachbarten
Niedersachsen derzeit nicht unbedingt in gleicher Weise gegeben zu sein. Ange-
sichts der seit Jahren vergeblichen Bemühungen in der Gartenbauschule Ahlem, die
zeitweise als Hauptquartier der hannoverschen Gestapo diente, eine angemessene
und benutzerfreundliche Gedenkstätte zu etablieren oder der in vieler Hinsicht impro-
visierten Verhältnisse in der KZ-Gedenkstätte Salzgitter-Drütte ist festzuhalten, dass
der 1989 unzweifelhaft vorhandene große Rückstand an reflektierter und zudem
auch finanzierter Gedenkkultur in Sachsen-Anhalt in erheblichem Maße aufgeholt
worden ist.

4. Grundlinien der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der SED-
Diktatur
Für die DDR-Geschichte und die Analysen zur SED-Diktatur wird auf einen einleiten-
den wissenschaftsgeschichtlichen Abriss verzichtet. Etliche der eben für die NS-Zeit
skizzierten Rahmenbedingungen gelten analog. Und die Tatsache, dass Historiker,
die selbst in einer Diktatur leben, diese per se nicht unabhängig und kritisch untersu-
chen können, bedarf wohl keiner ausführlichen Erläuterung. Mit Blick auf die ältere
westdeutsche DDR-Forschung sei angemerkt, dass die pauschale Schelte, der sie in
18
  Als Überblick, der sowohl die Gedenkstätte zur NS-Diktatur als auch jene zur SED-Herrschaft um-
fasst: Denise Wesenberg u.a. (Red.), Verortet. Erinnern und Gedenken in Sachsen-Anhalt, herausge-
geben von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt in Zusammenarbeit mit dem
Arbeitskreis Aufarbeitung, Magdeburg 2004.

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den aufgeregten geschichtspolitischen Debatten nach 1989 vielfach ausgesetzt wor-
den ist, schwer nachzuvollziehen ist. Ein großer Teil ihrer zentralen Befunde hat wei-
terhin Bestand: Man betrachte nur einmal beispielhaft die aktuellen Standardwerke
von Hermann Weber19, die gegenüber seinen früheren Publikationen zwar punktuell
modifiziert bzw. ergänzt worden sind, in ihrem Kern aber nach wie vor auf gültigen
Interpretationen beruhen, die in einer großen, sich über mehrere Jahrzehnte erstrek-
kenden Forschungsleistung wurzeln. Bezüglich des vergleichsweise geringen Stel-
lenwertes regionaler Forschungen vor und nach 1989 ist zu zunächst einmal festzu-
halten, dass die altbundesrepublikanische DDR-Forschung angesichts verschlosse-
ner Archive und somit einer überaus eingeschränkten Materialbasis, die sich im we-
sentlichen aus veröffentlichten Berichten, publizistischen Quellen und einigen Erfah-
rungsberichten von Geflüchteten zusammensetzte, gar nicht anders konnte, als sich
ganz stark auf Analysen zur zentralen Ebene zu beziehen. Vielfach ist dies aber gar
nicht als Defizit empfunden worden, denn die DDR galt geradezu als Prototyp einer
zentralistischen Diktatur, für die man kaum regionale Sonderentwicklungen oder
Handlungsspielräume anzunehmen gewillt war.

Seit der Öffnung der Archive im Zuge der Wende hätte diese eingeschränkte zentra-
listische Sicht der Dinge grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt werden können.
Dies ist aber nur ganz punktuell geschehen, denn die große Mehrheit der nun zu
Hunderten neu in Angriff genommenen Forschungsprojekte konzentrierte sich wie-
derum besonders stark auf zentrale Institutionen und Machtinstrumente wie das Po-
litbüro, den SED-Parteiapparat, das Ministerium für Staatssicherheit usw. In gewisser
Weise wurde in der boomenden DDR-Forschung der 1990er Jahre also die Entwick-
lung der NS-Forschung wie in einem Zeitraffer wiederholt: Ausgehend von der zu-
nächst dominierenden Politikgeschichte erfolgte erst langsam eine Öffnung hin zur
Gesellschaftsgeschichte und damit auch eine Erweiterung der von der Forschung
bevorzugten Quellenbestände von der zentralen Ebene hinein in die Regionen. Die-
ser Prozess setzt sich noch fort, ohne dass bislang die regionalhistorische DDR-
Forschung ein vergleichbares Niveau erreicht hätte wie die NS-Regionalforschung.

19
  Hermann Weber, Die DDR, München 200, 3. Aufl.; Ders., Geschichte der DDR, München 200, 2.
Aufl.

                                             10
5. Die regionalhistorische Auseinandersetzung mit der SED-Zeit in Sachsen-
Anhalt seit 1990
In diese Gesamtsituation ist das folgende kritische Fazit zum Stand der regionalhisto-
rischen Erforschung der DDR-Zeit für das Gebiet des heutigen Bundeslandes Sach-
sen-Anhalt einzuordnen. Insgesamt ist dabei vor allem auf Defizite und Desiderate zu
verweisen, weitaus seltener auf vergleichsweise gut erforschte Teilbereiche.

a) Regionale Quelleneditionen
Entsprechend dem bereits zur NS-Zeit angewendeten Schema ist zunächst festzu-
halten, dass auf dem Gebiet der wichtigen Quelleneditionen fast keine regionalspezi-
fischen Publikationen, sondern in aller Regel nur überregionale Materialsammlungen
vorliegen. Es gibt allerdings zwei Ausnahmen, auf die hinzuweisen ist: zum einen der
durch zahlreiche kleinere Publikationen gut dokumentierte Bereich der Stasi-
Verfolgung, zum anderen die von Mathias Tullner besorgte Darstellung und Edition
zu den Kommunal- und Provinzialwahlen des Jahres 1946.20

b) Gesamtdarstellungen und lokal- bzw. regionalhistorische Monographien zur NS-
Zeit
Eine ausführliche wissenschaftliche Gesamtdarstellung zur SED-Diktatur in Sachsen-
Anhalt existiert bekanntermaßen nicht. Eine vorläufige Annäherung an einen solchen
Überblick bietet die schon genannte einschlägige Landesgeschichte von Mathias
Tullner.21 Wie schon im Hinblick auf die NS-Zeit, so reproduziert sich nahezu dassel-
be Bild auch auf der Ebene der Stadtgeschichte. Mit der neuen, zum Stadtjubiläum
erschienenen Geschichte Magdeburgs ist der Versuch gemacht worden, die Ge-
schichte der DDR-Zeit stärker einzubeziehen und gleichsam auch im Kontext der
Stadtgeschichte zu historisieren.22 Angesichts der riesigen Forschungslücken steht
ein solches Unternehmen freilich bisweilen vor dem Problem, einen Forschungsstand
zusammenfassen zu sollen, der de facto gar nicht existiert. Diese hier am Beispiel

20
   Mathias Tullner, Zwischen Demokratie und Diktatur. Die Kommunalwahlen und die Wahlen zum
Provinziallandtag in Sachsen-Anhalt im Jahre 1946, Magdeburg 1996.
21
   Tullner, Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt, S. 145ff.
22
   Vgl. hierzu vor allem die folgenden Beiträge: Detlef Schmiechen-Ackermann, Magdeburg als Stadt
des Schwermaschinenbaus 1945-1990: Politische Geschichte und Gesellschaft unter der SED-
Diktatur, in: Puhle/Petsch (Hg.), Magdeburg, S. 811-852; Ingrun Drechsler, Der Weg der Magdeburger
Sozialdemokraten in die Zwangsvereinigun g (April 1945-April 1946), in: ebenda, S. 853-868; Thomas
Großbölting, Das Bürgertum auf dem Rückzug, in: ebenda, S. 869-888; Lu Seegers, Kulturelles Leben
in Magdeburg nach 1945, in: ebenda, S. 889-906.

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Magdeburgs dargestellte Problematik gilt ähnlich auch für die meisten anderen Städ-
te und Regionen Sachsen-Anhalts.

c) Spezialuntersuchungen und exemplarische Fallstudien
Trotz einer insgesamt kritischen Bilanz existiert auch für die DDR-Zeit eine Reihe von
wichtigen Spezialstudien, die einzelne Forschungsfelder grundlegend und zum Teil
sogar richtungsweisend erschlossen haben. Vergleichsweise gut erforscht sind aus
regionaler Perspektive das Themenfeld der Entnazifizierung und der Personalpolitik
nach 1945 (insbesondere mit den Fallstudien von Alexander Sperk zu Anhalt und
von Daniel Bohse zum Regierungsbezirk Merseburg23) sowie das Problem der Wie-
dergutmachung, das Ralf Kessler und Hartmut Rüdiger Peter in exemplarischer Wei-
se unter Rückgriff auf Quellen aus Sachsen-Anhalt analysiert haben.24 Das Problem
von Flucht und Vertreibung sowie der Integration der offiziell als „Umsiedler“ be-
zeichneten Flüchtlinge in die entstehende DDR-Gesellschaft ist in verschiedenen
Kontexten auch im regionalen Zusammenhang behandelt worden.25 Lu Seegers hat
im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes zur Repräsentation von Herrschaft
in verschiedenen DDR-Städten anhand des Magdeburger Elbefestes und der dort
begangenen Kulturfesttage relevante Aspekte des kulturellen Lebens in der frühen
DDR untersucht.26 Schließlich hat Thomas Großbölting mit seiner Studie zu Bürger-
tum und Entbürgerlichung anhand von Beispielen aus Halle und Magdeburg einen
wichtigen Beitrag zu der noch zu schreibenden Gesellschaftsgeschichte Sachsen-
Anhalts nach 1945 geleistet.27 Als nahezu abgeschlossen kann angesichts zahlrei-
cher Ausstellungen und Publikationen, vor allem eines überzeugend bilanzierenden
Sammelbandes von Hermann-Josef Rupieper28, die regionalhistorische Erforschung
des Aufstandes vom 17. Juni 1953 angesehen werden. Vergleichsweise gut doku-
mentiert ist generell die Geschichte der Verfolgung durch die SED-Diktatur; allerdings

23
   Alexander Sperk, Entnazifizierung und Personalpolitik in der Sowjetischen Besatzungszone
Köthen/Anhalt. Eine Vergleichsstudie 1945-1948, Dössel 2003; Daniel Bohse, Kriegsende und Neu-
beginn im Regierungsbezirk Merseburg, in: Sachsen-Anhalt 3 (2005), S. 26-54.
24
   Ralf Kessler/Hartmut Rüdiger Peter, Wiedergutmachung im Osten Deutschlands 1945-1953.
Grundsätzliche Diskussionen und die Praxis in Sachsen-Anhalt, Frankfurt am Main u.a. 1996.
25
   Vgl. beispielsweise Angelika Königseder/Christel Panzig (Hg.), Zweite Heimat. Flucht, Vertreibung
und Integration Deutscher nach dem II. Weltkrieg in Sachsen-Anhalt, Wittenberg 2004.
26
   Lu Seegers, „Schaufenster zum Westen“. Das Elbefest und die Magdeburger Kulturfesttage in den
1950er und 1960er Jahren, in: Adelheid von Saldern (Hg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsen-
tationen in DDR-Städten, Stuttgart 2003, S. 107-144.
27
   Thomas Großbölting, SED-Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerli-
chung in Magdeburg und Halle, Halle (Saale) 2001.
28
   Hermann-Josef Rupieper (Hg.), “… und das Wichtigste ist doch die Einheit.” Der 17. Juni 1953 in
den Bezirken Halle und Magdeburg, Münster 2003.

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fehlt noch eine zusammenfassende Analyse, quasi eine aus regionalem Blickwinkel
verfasste Geschichte von Herrschaft, Verfolgung und Opposition. Für die friedliche
Revolution von 1989 gilt wiederum, dass eine ganze Reihe von Dokumentationen
und Beiträgen vorliegen und zudem eine instruktive Zusammenschau, die einmal
mehr von Hermann-Josef Rupieper herausgegeben worden ist.29

Dem stehen gravierende Desiderate in weiten Bereichen der Gesellschaftsgeschich-
te, einer empirisch fundierten regionalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der Kul-
tur- und der Kirchengeschichte, selbst im Bereich der regionalen Politik- und Herr-
schaftsgeschichte gegenüber. Noch weitgehend ungeklärt sind beispielsweise fol-
gende Fragen: Wie entwickelten sich wichtige Betriebe? (Diesem Problem müsste in
kritischer Distanz zu den vorliegenden, aber durchgängig ideologisch geprägten und
geschönten Betriebsgeschichten fundiert nachgegangen werden.) Welche Hand-
lungsspielräume hatten die SED-Bezirksleitungen in Magdeburg und Halle gegen-
über den Vorgaben der zentralen Ebene? In welcher Weise wurden Konkurrenz-
kämpfe miteinander und mit anderen Regionen der DDR ausgetragen? Welchen Re-
pressalien waren die Vertreter der evangelischen Kirche ausgesetzt, wie entwickelten
sich ihre Gemeinden gerade auch in den frühen und mittleren Jahren der DDR? Gab
es hier signifikante Unterscheide zu anderen Regionen oder folgte die Entwicklung in
Sachsen-Anhalt vergleichbaren Mustern? Generell gilt: Die 1950er und die 1960er
Jahre sind besser erforscht als die 1970er und die 1980er Jahre. Dies korrespondiert
auch mit der Qualität der zur Verfügung stehenden Quellen. Die von den Bezirks-
und Kreisleitungen der SED erhaltenen Überlieferungen sind für die beiden ersten
Jahrzehnte der DDR-Geschichte wesentlich aussagekräftiger als für die Honecker-
Ära, in der zwar eine ausufernde Masse an Akten produziert worden ist, diese Akten-
berge aber wegen ihrer zunehmenden Ritualisierung einen immer geringer werden-
den Aussagewert haben.

29
   Hermann-Josef Rupieper, Die friedliche Revolution 1989/90 in Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) 2004,
2. Aufl.

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6. Fazit: Der regionalhistorische Forschungsstand zu den beiden deutschen
Diktaturen und die Perspektiven für die weitere Forschung
Zusammenfassend ist zunächst für die NS-Zeit festzuhalten, dass wichtige und zum
Teil richtungsweisende Schritte inzwischen erfolgt sind, zugleich aber bis heute auf
etlichen Gebieten der regionalhistorischen NS-Forschung in Sachsen-Anhalt – und
zwar sowohl in der Breite als auch in der Tiefe – der über viereinhalb Jahrzehnte an-
gestaute Rückstand nach wie vor spürbar ist. Was insgesamt angestrebt werden
müsste, ist eine sowohl sozial- als auch kulturgeschichtliche Akzentuierung der Re-
gionalforschung, die erstens auf geeigneten lokalen und regionalen Quellen (und
dies heißt angesichts der zahlreichen Verluste bei den NS-Beständen in vielen Fällen
eben auch: auf umsichtig erschlossenen Ersatzüberlieferungen) aufbaut. Sie sollte
zweitens exemplarische Untersuchungsansätze verfolgen, da diese es ermöglichen,
die regionalen Arbeitsergebnisse gewinnbringend in überregionale Debatten einzu-
bringen. Sie sollte drittens zugleich aber auch regionale Sonderentwicklungen oder
Spezifika ganz deutlich herausarbeiten (mögliche Stichpunkte wären z.B.: Mittel-
deutschland als Rüstungszentrum; Magdeburg als Prototyp einer sozialdemokrati-
schen Hochburg), um so zu einer weiteren Präzisierung und regionalen Differenzie-
rung unseres Bildes der NS-Zeit beitragen.

Für die weitere regionalhistorische Erforschung der DDR-Zeit in Sachsen-Anhalt las-
sen sich ähnliche Perspektiven aufzeigen: Auf zahlreichen Gebieten fehlen in die
Tiefe gehende Analysen – dies gilt für 1970er und frühen 1980er Jahre noch stärker
als für die ersten beiden Jahrzehnte der DDR. Diese Forschungslücken sollten unter
Rückgriff auf sowohl sozial- als auch kulturgeschichtliche Ansätze sowie unter Be-
nutzung einschlägiger regionaler und lokaler Quellenbestände möglichst bald ge-
schlossen werden. Auch hier gilt: Exemplarisch angelegte Fallstudien und Spezialun-
tersuchungen zu regionalen Sonderentwicklungen sind nicht in Konkurrenz, sondern
als gegenseitige Ergänzung anzusehen. Vor allem fehlen aber auch – und zwar glei-
chermaßen für das ganze Bundesland, seine beiden ehemaligen DDR-Bezirke, seine
Städte und Teilregionen – wissenschaftliche Überblicksdarstellungen, die eine Ein-
ordnung in größere Kontexte erlauben.

Um es am Ende auf eine griffige und vielleicht auch diskussionsfähige Formel zu
bringen: Die weitere Erforschung der modernen Diktaturen in Sachsen-Anhalt hat

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sich auf eine multiperspektivische und interdisziplinär anschlussfähige, unterschiedli-
che Methoden und Analyseansätze aufgreifende Gesellschafts- und Kulturgeschichte
sowohl der NS-Zeit als auch der DDR-Geschichte hin zu orientieren. Dabei werden
isolierte lokale oder regionale Blickwinkel nicht weitertragen, vielmehr müssen exem-
plarische und vergleichende Untersuchungsperspektiven in den Mittelpunkt gerückt
werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Politik den vorhandenen wissenschaftlichen
Einrichtungen und Gedenkstätten, vor allem aber auch den beiden Universitäten
Sachsen-Anhalts die Mittel und Möglichkeiten bereit stellt, um ein solches an-
spruchsvolles und komplexes, für eine lebendige und wertorientierte Demokratie aber
unerlässliches Forschungsprogramm zu realisieren.

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