Rainer Maria Rilkes Gedicht "Der Panther" in Deutscher Gebärdensprache

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dolm e t s c h e n

                 Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“
                 in Deutscher Gebärdensprache
                 Einblick in die Entstehung zweier Translate

                 Von renate fischer, caren dietrich und melanie rossow

                 Im zweijährigen EU-Projekt „Sign-         l   Österreichische Gebärdensprache:         bärdensprachen online ‚lesbar‘ sind.
                 Library“ wurde Literatur in vier ver-         – Mira Lobe, mit Illustrationen von      Die zwölf im Rahmen des Projektes
                 schiedene Gebärdensprachen über-                Susi Weigel, Das kleine Ich bin ich.   realisierten Werkübertragungen sol-
                 tragen; die „SignLibrary“ ist die ers-        – Franz Kafka, Die Verwandlung.          len nicht die einzigen bleiben – der
                 te europäische online-‚Bibliothek‘            – Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte.     Community-Bereich der Website gibt
                 mit Literatur, die in Gebärdenspra-           – Verein Kinderhände, Die Wunder-        GebärdensprachbenutzerInnen die
                 chen übersetzt wurde. Die Univer-               lampe.                                 Möglichkeit, eigene Erzählungen und
                 sität Hamburg war mit dem Projekt         l   Slowenische Gebärdensprache:             weitere Werkübertragungen einzu-
                 von Prof. Dr. Renate Fischer daran            – Fran Levstik, Martin Krpan.            stellen (zugänglich über http://www.
                 beteiligt, in dem das Gedicht „Der            – Smiljan Rozman, Cudezni pisalni        signlibrary.eu/signlibrary-access-to-
                 Panther“ von Rainer Maria Rilke be-             strojcek.                              worlds-literature-in-sign-language).
                 arbeitet wurde. Es war das einzige        l   Ungarische Gebärdensprache:              Selbstverständlich eignet sich „Sign-
162   DZ 87 11   Teilprojekt, das ein Gedicht in den           – Antoine de Saint-Exupéry, A kis        Library“ auch für eine kreative Nut-
                 Fokus stellte und damit die sprach-             herceg [Der kleine Prinz].             zung durch hörende Interessierte; die
                 lichen Aspekte der Übertragung                – Molnár Ferenc, A Pál utcai fiúk        Übertragung des Gedichts „Der Pan-
                 betonte. Außerdem wurde in die-                 [Die Jungen von der Paulstraße].       ther“ wird z. B. integriert in ein dem-
                 sem Teilprojekt der Zugang gehör-                                                      nächst erscheinendes Handbuch (mit
                 loser Menschen zu den Varianten           Das mit Unterstützung der Europä-            DVD) für Hörendenschulen.
                 des geschriebenen Deutsch reflek-         ischen Kommission finanzierte Pro-                Für Erweiterungen bietet das Pro-
                 tiert und Materialien für die Bear-       jekt hatte sieben beteiligte Partner-        jekt nachhaltige Unterstützung an. In
                 beitung im Rahmen des „DaZiel“-           einrichtungen:                               einem Handbuch für die Filmproduk-
                 Kurses erstellt, sodass das Teilpro-      l Deutschland:                               tion („SignLibrary Guidelines“, zugäng-
                 jekt das Charakteristikum der Nach-         – Gebärdenfabrik, Berlin                   lich über http://www.signlibrary.eu/
                 haltigkeit aufweist.                        – Universität Hamburg                      signlibrary-access-to-worlds-literature-
                                                           l Österreich:                                in-sign-language) werden zu verschie-
                                                             – equalizent Schulungs- und Bera-          denen Themen Erfahrungen und
                 Das EU-Projekt „SignLibrary“                  tungsGmbH, Wien                          Tipps mitgeteilt, u. a. zur Literatur-
                 (2008–2010)                                 – queraum Kultur- und Sozialfor-           auswahl und zu Übersetzungsstrate-
                                                               schung, Wien                             gien (Kapitel 3, „Pre-Production: Lite-
                 Das europäische Projekt „SignLibra-       l Slowenien:                                 rature and translation“).
                 ry“ startete 2008; es ist seit Kurzem       – AURIS Association for the Deaf                Hinsichtlich der Literaturauswahl
                 erfolgreich abgeschlossen. Seine Er-          and Hard of Hearing, Kranj               sollten im Projekt „SignLibra­ry“ ur-
                 gebnisse sind frei zugänglich und he-       – Racio Human Capital Develop-             sprünglich Texte der Weltliteratur
                 runterladbar über die Adresse http://         ment Company, Celje                      übertragen werden. Es stellte sich je-
                 www.signlibrary.eu. Die im Rahmen         l Ungarn:                                    doch heraus, dass je nach Land, Schul-
                 dieses Projektes in verschiedene Ge-        – SINOSZ Association for the Deaf          situation, Lehrplänen etc. eine Aus-
                 bärdensprachen übersetzte Literatur           and Hard of Hearing, Budapest            wahl angemessener sein kann, die die
                 beinhaltet folgende Werke:                                                             Situation jedes Landes spiegelt. Schließ-
                 l Deutsche Gebärdensprache:              „SignLibrary“ ist die bisher einzige eu-      lich sollte es das Ziel des Projektes sein,
                   – anon., 1001 Nacht.                    ropäische ‚Bibliothek‘, die nicht mit        Gebärdensprachbenut­zerInnen mit
                   – Brüder Grimm.                         Büchern oder sogenannten Hörbü-              der sie umgebenden Situation ‚der‘
                   – Barbara Kindermann, Johann            chern, sondern mit ‚Sehbüchern‘ bar-         Hörenden vertrauter zu machen und
                     Wolfgang von Goethe.                  rierefrei ausgestattet ist, da die Wer-      ihnen den Zugang zu diesen kulturel-
                   – Rainer Maria Rilke, Der Panther.      ke, die sie enthält, in nationalen Ge-       len Wissenswelten zu erleichtern. Da-

       Beitrag aus: DAS ZEICHEN 87/2011 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
dolme tschen

her finden sich unter den nun fertig-      Das Ergebnis, gebärdet von Stefan          den Übertragenden Stefan Gold-
gestellten Übertragungen neben Tex-        Goldschmidt, ist zugänglich über die       schmidt und Simon Kollien einen Fach-
ten der Weltliteratur auch eher regio-     Sites von „SignLibrary“ (Der Panther,      austausch darüber, welchen Prinzipien
nal relevante Beiträge.                    http://www.signlibrary.eu) und „Da-        sie bei der Erstellung ihrer jeweiligen
    Es bleibt zu hoffen, dass die Exis-    Ziel“ (Film 40, http://www.sign-lang.      Version des Rilke-Gedichtes (Film 40
tenz (und Nutzung) der Online-„Sign­       uni-hamburg.de/daziel/filme/film_          und Film 41) gefolgt sind.
Library“ dazu beiträgt, das Bewusst-       40/film_40htm).                                Der Film 43 (http://www.sign-
sein für die minderheitensprachliche            Zweitens sollte auch der deutsche     lang.uni-hamburg.de/daziel/filme/
Situation der Gehörlosengemeinschaf-       Ursprungstext den Gebärdensprach­          film_43/film_43htm) zeigt die Mu-
ten zu stärken. Dass dies nicht selbst-    benutzerInnen nahegebracht wer-            seumsführerin Martina Bergmann
verständlich ist, zeigte der Kommen-       den. Dafür wurde eine zweite gebär-        vor zwei Gemälden der Hamburger
tar zur Projekt-Präsentation auf der       dete Fassung erstellt, die nun aller-      Kunsthalle aus dem 19. Jahrhundert,
Frankfurter Buchmesse im Herbst            dings nicht poetologisch motiviert         die sie einem gehörlosen Publikum
2010, demzufolge „SignLibrary“ „Klas-      ist, sondern als Verstehenshilfe für       erläutert. Beide Gemälde greifen die
siker der Weltliteratur auch für lese-     den Originaltext in einer Kombina-         Problematik Freiheit und Gefangen-
faule Gehörlose zugänglich“ mache          tion aus LBG und DGS durch Simon           schaft von Tieren auf; sprachlich han-     DZ 87 11   163
(http://www.news.de/print/                 Kollien angefertigt wurde und als          delt es sich um eine weitere Varietät
855075161/buecher-in-gebaerden-            Film 41 über die „DaZiel“-Site einseh-     der DGS.
sprache/ (11. 10. 2010)).                  bar ist (http://www.sign-lang.uni-             Waren alle bislang angeführten
                                           hamburg.de/daziel/filme/film_41/           DGS-Texte (mit Ausnahme des me-
Das Teilprojekt zu Rilkes                  film_41htm).                               tasprachlichen Films 42) als mono-
Gedicht „Der Panther“                           Drittens geschieht die Einbettung     logisch zu bezeichnen, so zeigt der
                                           des Rilke-Gedichtes in die „DaZiel“-       letzte Film 44 (http://www.sign-
Das Hamburger Teilprojekt unterschei-      Kursmaterialien mit dem didakti-           lang.uni-hamburg.de/daziel/filme/
det sich in mehreren Hinsichten von        schen Ziel, eine Lektionsreihe zu er-      film_44/film_44htm) Kommunika-
den übrigen Teilprojekten der „Sign­       stellen, in der der soziokulturelle Kon-   tionsverhalten in DGS. Beitragende
Library“. Der wesentliche Faktor ist die   text von Lese- und Schreibfähigkeit        sind Martina Bergmann und die Teil-
Verbindung dieses Beitrags mit dem         berücksichtigt und Probleme spezi-         nehmerInnen der von ihr veranstal-
Bildungsprojekt „DaZiel“ (Deutsch als      fisch schreibsprachlicher Kompeten-        teten Museumsführung, die zugleich
Zielsprache für gehörlose Arbeitneh-       zen behandelt werden (Lektion 7C           Mitglieder einer „DaZiel“-LernerIn-
merInnen, http://www.sign-lang.uni-        und folgende). Es geht hier also auch      nengruppe sind.
hamburg.de/daziel).                        um Thematiken wie Stil, gespro-                Viertens und abschließend sei die
    Erstens war es das erklärte Ziel,      chenes vs. geschriebenes Deutsch,          Thematik des in einem Zookäfig see-
auf die sprachliche Realisierung der       Sprachvariation (Nähe- und Distanz-        lisch sterbenden Panthers hervorgeho-
Übertragung besonderes Augenmerk           sprache) in DGS bzw. Deutsch und           ben. Ob sie von den „DaZiel“-Verwen-
zu legen; die Kürze eines Gedichtes,       kulturelle Aspekte von Oralität und        derInnen als Einladung zur Reflexion
zugleich sein Spezifikum der Sinn-         Literalität. Die für die „SignLibrary“     eines der Freiheit beraubten Lebens
und Erfahrungsdichte, erschien hier        erstellte poetisch-gebärdensprachli-       von Tieren und Menschen wahrge-
als materielle Voraussetzung einer         che Übertragung (Film 40) erhält im        nommen wird, muss die Erprobungs-
solchen anspruchsvollen Umsetzung.         Rahmen des „DaZiel“-Projektes somit        phase der Lektionen erweisen.
Rilkes Gedicht „Der Panther“ ist Welt-     eine besondere Nachhaltigkeit, da die          Für die poetische Übertragung in
literatur und in vielen Sprachen viel-     Rezeption um verschiedene Dimen-           DGS bietet das Gedicht bemerkens-
fach anthologisiert, sein Verfasser ei-    sionen der Reflexion erweitert wird,       werte Herausforderungen: Der Käfig,
ner der berühmtesten Lyriker der           unterstützt durch die Filme 41–44.         in dem der Panther stirbt, ist eine spe-
deutschen Sprache. Ziel war es, eine            So führen in Film 42 (http://www.     zielle Topografie und zugleich eine
Übertragung in poetische Deutsche          sign-lang.uni-hamburg.de/daziel/           Raummetapher für das zurichtende
Gebärdensprache (DGS) zu erstellen.        filme/film_42/film_42htm) die bei-         Verhalten von Menschen gegenüber

     Beitrag aus: DAS ZEICHEN 87/2011 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
dolm e t s c h e n

                 Tieren (vgl. Bujok 2010). Das einzige     finitorisch zu fassen sei. Auf jeden          Faktoren bestimmt. Der Übersetzer
                 Lebewesen des Textes ist zudem der        Fall zeichnen sich Gedichte, als eine         trifft seine Wahl zwischen verschie-
                 Panther selbst, womit das Gedicht ge-     besondere Form der Distanzsprache,            denen möglichen Interpretationen
                 radezu dazu einlädt, es ausschließ-       durch Sinnverdichtung aus, die ein            des Ausgangstextes sowie verschie-
                 lich mittels einer Art experimenteller    großes Interpretationspotenzial be-           denen denkbaren Realisierungen in
                 Constructed Action (CA) zu realisie-      inhaltet. Besonderheiten des Gedich-          der Zielsprache. Einen weiteren Ein-
                 ren.1 Das seelische Sterben des Pan-      tes gegenüber gesprochener Sprache            fluss auf die Übersetzungsstrategie
                 thers ist dafür eine spezielle Heraus-    sind bspw. Rhythmus, Reim und poe-            haben Vorentscheidungen wie z. B.
                 forderung, denn seelischer Tod äu-        tische Sinnbilder. Die Bedeutung ei-          über den Verwendungszweck des
                 ßert sich nicht über ‚Action‘.            nes Gedichtes setzt sich nicht nur aus        Translats (vgl. Film 40 im Unterschied
                                                           der Bedeutung der sprachlichen Ein-           zu Film 41). Jede Übersetzung bleibt
                 Konzeptionelle Grundlagen                 zelzeichen, sondern auch aus ihrer            wie das Original ein Unikat. Eben-
                 des Übersetzens                           künstlerischen Kombination zusam-             so wie das Verfassen des Ausgangs-
                                                           men, die völlig neue Assoziationen            textes ist auch die literarische Über-
                 Literarische Übersetzungen können         und Vorstellungen schaffen kann.              setzung ein künstlerischer Schaf-
164   DZ 87 11   die Basis für interkulturellen Aus-            Bei der (literarischen) Überset­         fensprozess, der durch Reflexion und
                 tausch und für kulturelle Sprachmitt-     zung besteht für ÜbersetzerInnen              wiederholte Überarbeitung des Tex-
                 lung bilden. Das Projekt „SignLibrary“    der Konflikt zwischen der Bindung             tes geprägt ist. Nach der Erstellung
                 legt den Schwerpunkt insbesondere         an den ausgangssprachlichen Text              eines Übersetzungsentwurfs dient
                 darauf, gehörlose Menschen durch          und derjenigen an die kulturellen             die Überarbeitung der schrittweisen
                 die Bereitstellung von Translaten         und sprachlichen Erwartungen der              Annäherung an das selbstgesetzte
                 über die Kultur der umgebenden hö-        zielsprachlichen RezipientInnen.              sprachliche und poetische Ziel. Das in
                 renden Mehrheitsgesellschaft zu in-       Generell gibt es die translationswis-         Film 42 festgehaltene Gespräch zwi-
                 formieren. Translationswissenschaft-      senschaftliche Diskussion, ob eine            schen Simon Kollien und Stefan Gold-
                 lich gesehen, haben die unterschied-      Translation retrospektiv, d. h. am Aus-       schmidt gibt Einblick in diesen Schaf-
                 lichen Teilprojekte dabei verschiede-     gangstext orientiert, oder prospek-           fensprozess.
                 ne Herangehensweisen verfolgt. Das        tiv, d. h. an Zielsprache und -kultur,             Die Möglichkeiten der ‚spieleri-
                 Hamburger Teilprojekt verfolgte das       also auf den Zieltext fokussiert, zu          schen‘ poetischen Verwendung von
                 doppelte Ziel, zu Rilkes Gedicht ein      erfolgen habe. Die beiden Transla-            Gebärden- und Lautsprache unter-
                 gebärdetes Translat zu erstellen, das     te des Rilke-Gedichtes veranschau-            scheiden sich. Eventuelle Äquivalen-
                 den deutschen Originaltext zugäng-        lichen diese Übersetzungsstrategien           zen sind bisher kaum bekannt, zumal
                 lich macht, und ein weiteres Trans-       und -funk­tionen: Die poetische Adap-         diese Mittel und die Textsortenkon-
                 lat, das ein poetisches Äquivalent in     tation (Film 40) ist prospektiv, die di-      ventionen der Zielsprache DGS wenig
                 DGS bilden sollte, das also Form und      daktisch motivierte (Film 41) ist ret-        untersucht und systematisiert sind.
                 Inhalt des Gedichtes stimmig vereint.     rospektiv.                                    Diskutiert werden bspw. der Einsatz
                      Da es sich bei Gedichten weder            Es gibt keine allgemeingültigen          gleicher Handformen und die beid-
                 um Gebrauchstexte noch um sponta-         Regeln, wie ein Gedicht zu übersetzen         händige Gebärdenausführung. Als
                 ne Rede handelt, sondern um ‚Kunst-       sei; der Übersetzungsprozess wird             weiteres poetisches Mittel gilt die
                 sprache‘, die sich von den üblichen       von unterschiedlichen subjektiven             sogenannte V-V2, die experimentel-
                 syntaktischen, strukturellen und se-
                 mantischen Merkmalen befreit, stellt      1
                                                             Bei einer früheren Gelegenheit haben Renate Fischer, Stefan Goldschmidt und Simon
                 die Translation eines Gedichtes eine      Kollien bereits gebärdensprachliche Spezifik auf einen poetischen Text übertragen. Eine
                 besondere Herausforderung dar –           ASL- und eine DGS-Fassung des Shakespeare-Sonetts 130, die dieses Team erstellte, brach-
                                                           te gebärdensprachliche Ausführungsaspekte im Sinne der Alltagsmetaphorik von Lakoff
                 ohne dass, bei der Existenz einer Viel-
                                                           & Johnson (1998) zum Einsatz; das Sonett wurde ‚sichtbar‘ als ein Text über ‚Lady‘ Gebär-
                 zahl unterschiedlicher Theorien und       densprache (vgl. Fischer, Goldschmidt & Kollien 2009).
                 Ausdrucksformen, abschließend ge-         2
                                                             Die Gebärde V-V besteht aus der räumlich versetzt wiederholten V-HF und steht für va-
                 klärt werden könnte, wie Poesie de-       riierende englische Wörter: Visual Virtuality, Vernacual-Visual oder auch Virtual Visual.

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dolme tschen

                                                                          Rainer Maria Rilke
ler CA ähnelt oder mit ihr identisch                                         Der Panther
ist (Forschungen hierzu stehen aus).
                                                                      Im Jardin des Plantes, Paris
Der Künstler schlüpft ähnlich wie
in CA in eine Rolle. Experimentelle                           Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
CA haben wir zum zentralen poeti-                            so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
schen Element unserer Adaptation                                Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
bestimmt, auf die wir nun im Einzel-                           und hinter tausend Stäben keine Welt.
nen eingehen.
     Zur besseren Nachvollziehbar-                         Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
keit der Ausführungen sei zunächst                             der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
das Werk Rilkes im Original bereit-                          ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
gestellt (vgl. Extrarahmen; im Inter-                          in der betäubt ein großer Wille steht.
net zugänglich z. B. über http://rainer-
maria-rilke.de/080027panther.html).                        Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
                                                            sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
„Der Panther“: Adaptation in                                geht durch der Glieder angespannte Stille –                       DZ 87 11   165
poetischer DGS                                                     und hört im Herzen auf zu sein.

Nach der Auswahl des zu übersetzen-
den literarischen Textes bestand für
das Team die Aufgabe in der Erarbei-       gen mit Klassifikatorkonstruktionen       und dennoch variiert der Gesichts-
tung grundlegender Übersetzungs-           und ggf. Mundgestik zu beobachten         ausdruck, insbesondere im Augen-
strategien. Das, was in der Schlussfas-    sind. Die translatorische Herausfor-      bereich. Die Verzweiflung findet so-
sung der poetischen Adaptation des         derung bestand in der gezielten Über-     mit auch auf anderen Wegen ihren
Gedichtes so ‚natürlich‘ oder selbst-      arbeitung hin zu einem vollständi-        Ausdruck. Auch die Handlungen des
verständlich wirkt, ist das Ergebnis       gen Verzicht auf Lexeme und zu ei-        Panthers sollten nicht wie mensch-
eines langen Prozesses, in dem nicht       ner weitgehenden Reduktion von            liche Handlungen (z. B. im Gebrauch
weniger als elf verschiedene Trans-        Klassifikatorkonstruktionen inner-        der vorderen Extremitäten) aussehen.
latentwürfe und zahlreiche Varian-         halb der gesamten Adaptation. Da-         Die Abbildung 1 zeigt Stefan Gold-
ten einzelner Abschnitte entstanden.       durch bekommt das Produkt einen           schmidts eindrucksvolle Nachah-
                                           ganz eigenen Charakter, der sich von      mung katzenhafter Bewegung.
Grundlegende Übersetzungs­                 alltagssprachlicher DGS unterschei-
strategien                                 det; wir wollen es als poetische ‚ex-
                                           perimentelle CA‘ bezeichnen.
Das spezielle Forschungsinteresse ‚CA          Die durch die experimentelle CA
in DGS‘ (vgl. Fischer & Kollien 2006a      verkörperte Referenzentität ist im ge-
und b; 2009; 2010) bestimmte die           samten Gedicht gleichbleibend der
Entscheidung, eine CA-basierte poe-        Panther, dessen ausweglose Lebenssi-
tische Fassung zu erstellen.               tuation Thema des Gedichtes ist. Eine
    Die ersten Translatentwürfe wa-        wichtige Zielsetzung war, die Rolle
ren noch stark von der alltagssprach-      des Panthers nicht anthropomorph
lichen Verwendung dieses sprach-           zu gestalten. Daher zeigt der Panther
lichen Mittels geprägt, bei der sich       in der Adaptation z. B. keine mensch-
eine CA als prädikatives Element mit       liche Mimik der Traurigkeit. Vielmehr
lexikalischen Mitteln der Referenz         steht der Mund leicht offen wie bei ei-
und Prädikation sequenziell verbin-        ner Großkatze, Stefan Goldschmidts
det und simultane Parallelisierun-         Gesichtsbewegungen sind minimal,                     Abb. 1 – Endfassung

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dolm e t s c h e n

                      Somit weisen das Gedicht und
                 seine Adaptation Stilmittel auf, die
                 sich wesentlich voneinander unter-
                 scheiden. Für den in der Adaptation
                 vorherrschenden Modus des Zeigens
                 mittels experimenteller CA sind dies:
                 l die Verkörperung einer Großkatze,

                    bei der die Grenzen des Gebärden-
                    raums gewahrt werden;
                 l der Parameter der Bewegung;

                   deren Richtung verläuft grundsätz-
                    lich quer zur Kommunikationsach-                                      Abb. 2 und 3 – Endfassung
                    se, wie auch im Refrain zu sehen;
                    dramatische Höhepunkte sind da-           ten, Gefühle, Zustände und Vorgän-             Die erste Strophe gilt dem Thema
                    gegen auf der Kommunikations-             ge werden dadurch nicht bezeich-          ‚Gefangenschaft‘, die zweite dem The-
166   DZ 87 11      achse angesiedelt;                        net; die Inhalte des Gedichtes müs-        ma ‚Kampf‘ und die dritte dem Thema
                   die Geschwindigkeit der Bewegung           sen in eine Form der Zeigbarkeit ge-      ‚Seelentod‘. Jedes Thema erhält in die-
                    ist im Refrain gleichbleibend und         bracht werden. Es ist aber auch nur        ser poetischen Adaptation – das sei als
                    im Vergleich mit den dramatischen         das ausdrückbar, was zeigbar ist.          letztes grundlegendes Strukturprinzip
                   Höhepunkten beschleunigt;                  Daher kann auf klassifikatorähnli-         angeführt – sein sprachliches Form­
                   deren Art lässt sich wie folgt unter-      che Formen nicht gänzlich verzich-         element durch eine spezifische, bedeu-
                    scheiden:                                 tet werden; ohne sie könnte der Re-        tungshaltige, ‚zeigende‘ Handform.
                   – Laufbewegungen des Panthers              ferent nicht in einer Umgebung ge-             Ausgewählte Übersetzungsbei-
                       (Refrain);                             zeigt werden. Diese Spezifik der poeti-    spiele sollen im Folgenden einen Ein-
                   – gerade Bewegungen (horizon-              schen experimentellen CA bildet den        blick in den Entstehungsprozess der
                       tal oder vertikal), die für die be-    wesentlichen Unterschied zur nicht-       Adaptation geben.
                       schränkenden Aspekte der Situa-        poetischen DGS, in der sich die Modi
                       tion stehen;                           des Sagens und Zeigens sequenziell        Gefangenschaft
                   – schwingende Bewegungen (des              und simultan verbinden.
                       Oberkörpers und als Eigenbewe-             Neben dem gleichbleibenden Sur-        Das Translat (Film 40) zeigt die ers-
                       gung der Finger), die für den As-      rogat-Charakter der Referenzentität        te Strophe mit zwei spezifischen
                       pekt des lebendig Totseins ste-        bilden die sich wiederholenden Lauf-       Handformen (HF). Dabei handelt es sich
                       hen;                                   sequenzen ein weiteres Strukturele-        zum einen um die S-HF und zum ande-
                 l der Parameter der Handform;                ment der Übertragung in poetische          ren um die 4-HF (vgl. Abb. 2 und 3), die
                   sie ist für jede der drei Strophen         DGS. Sie fungieren sowohl als verbin-      ein Gefängnis aus „tausend Stäben“,
                    spezifisch und bedeutungstragend.         dendes als auch als trennendes Ele-        ohne Aussicht auf ein Entkommen mit
                                                              ment und können als ein im Unter-          Überkreuzung der 4-HF, charakterisie-
                 Die Sequenzen aus experimenteller            schied zum Original gebildeter Ref-        ren. Der nicht-fixierende Blick und die
                 CA (einschließlich der dazugehöri-           rain interpretiert werden. Sie geben       wiederholt vor dem Gesicht vorbeizie-
                 gen Mimik) stellen die zentrale Re-          der Adaptation zum einen einen fes-        henden Hände vermitteln den Sinn von
                 ferenzentität des Panthers als „sur-         ten Gesamtrahmen, indem sie das           „hinter tausend Stäben keine Welt“.
                 rogate“ (vgl. Liddell 2003, 141 ff.) in      Translat eröffnen und schließen. Zum           Der Wechsel der Handformen in-
                 den Interaktionsraum und erzeugen            anderen erzeugen sie als wiederkeh-        nerhalb dieser Strophe ist semantisch
                 eine starke emotionale Qualität. CA          rende Sequenzen eine gewisse Stro-         begründet. Die zunächst gewählte al-
                 zu benutzen bedeutet, dass die Dar-          phenhaftigkeit und grenzen die drei        leinige 4-HF zeigt das dem laufenden
                 stellung ausschließlich im Modus            ‚inneren Themen‘ der Strophen struk-        Panther unendlich scheinende Git-
                 des Zeigens erfolgt. Referenzentitä-         turell voneinander ab.                     tergefängnis, stellte sich aber ohne

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dolme tschen

 lexikalische Einführung als missver-                                               talen Ausrichtung des Darstellen-
 ständlich heraus. Daher wurde die                                                  den auf der Kommunikationsachse
 klassifikatorähnliche S-HF zusätzlich                                              ein, auf der er sich dem Betrachter in
 einbezogen, die hier in Verbindung                                                 einer großkatzenhaften Bewegung
 mit der vertikalen Abwärtsbewegung                                                 nähert („der weiche Gang geschmei-
 auf Stäbe zu verweisen vermag.                                                     dig starker Schritte“), bevor die Vor-
     In den ersten Versionen hatte der                                              wärtsbewegung „betäubt“ abgebro-
 Übertragende noch auf die lexikali-                                                chen wird. Das zentrale Gestaltungs-
 sche Bezeichnung der Einzelstäbe (Le-                                              mittel dieser zweiten Strophe ist die
                                                     Abb. 4 – Entwurf 2
 xem mit beidseitiger F-HF, vgl. Abb. 4)                                            S-HF. Sie steht für den kraftvollen
 zurückgegriffen.                                                                   und dennoch vergeblichen Kampf
     Als nicht-lexikalische Alternative                                             gegen die Begrenzung und weiter-
 dazu wurde der Klassifikator mit 1-HF                                              hin für die Stäbe des Gefängnisses
 ausprobiert und mit dem semanti-                                                   (vgl. Abb. 5).
 schen Einwand verworfen, dass die-                                                     Diese S-HF eignet sich durch ihre
 se Handform bei einem unüberwind-                                                  formale Nähe zum Lexem KRAFT be-          DZ 87 11   167
 baren Gefängnis als zu „fein“ und zu                                               sonders gut, um assoziativ den kraft-
„schwach“ wirke.                                                                    vollen Kampf zu vermitteln. Kombi-
     Die schließlich ausgewählte S-HF                                               niert mit dem typischen gebärden-
 (vgl. Abb. 2) stellt einen Kompro-                                                 sprachlichen Mittel, die (ankämp-
 miss dar: Einem Klassifikator ähn-                                                 fende) Bewegung dreimal auszufüh-
 lich vermag sie Einzelstäbe anzudeu-                                               ren, entsteht ein Spannungsbogen
 ten, ohne Lexem zu sein, und sie ist                                               mit sich steigernder Intensität, bis
 ein Vorbote auf die in der zweiten                                                 der Panther von einer äußeren Macht
 Strophe zentrale Handform, die den                                                 (vgl. linkshändig in Anlehnung an
 Kampf des Panthers symbolisiert.                   Abb. 5 – Endfassung             das Lexem MACHT) in seine Gefan-
     Die ausweglose Situation des                                                   genschaft (vgl. die gekreuzten Hän-
 im Käfig gefangenen Panthers wird                                                  de mit S-HF) und in seine ausweglo-
 durch weitere sprachliche Mittel vi-      Panther bäumt sich mit seiner leben-     se Situation (vgl. das Absinken in die
 sualisiert. Dazu gehört die in der ers-   digen Kraft auf und unterliegt doch      Refrainbewegung) zurückgeschlagen
 ten Strophe quer zur Kommunika-           den lähmenden Umständen. Die             wird (vgl. Abb. 6–8 für die Phasen des
 tionsachse verlaufende Bewegungs-         Dramatisierung setzt mit der fron-       Kampfes).
 richtung; sie thematisiert das Ein-
 geschlossensein des Panthers als
 Grundmotiv, das im Refrain ständig
 reaktualisiert wird. Die Körperaus-
 richtung wechselt nicht in eine fron-
 tale Position; Ausnahme ist die leich-
 te Kopfwendung während der Pro-
 duktion der S-HF – ebenso wie diese
 ein Vorbote auf die zweite Strophe.

Kampf

In der zweiten Strophe stellt die Ad-
aptation dramatisierend das The-
ma ‚Kampf‘ in den Mittelpunkt – der                                               Abb. 6 bis 8 – Endfassung

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                 Seelentod

                  Die dritte und letzte Strophe trägt das
                  Thema ‚Seelentod‘ („und hört im Her-
                  zen auf zu sein“) – „ein großer Wille“
                  ist gebrochen. Die Übertragung die-
                  ser Strophe erwies sich als äußerst
                  schwierig und zeitintensiv; die Dis-
                  kussion der vier Zeilen innerhalb des
                  Teams beanspruchte mit Abstand
                  die meiste Vorbereitungszeit. Zahl-                   Abb. 9 – Entwurf 3                           Abb. 10 – Entwurf 3
                  reiche Ideen, die anfänglich Gefal-
                  len fanden, wurden anschließend           Schwierigkeit darin, deutlich zu ma-      das im Widerspruch zum Zustand des
                  wieder verworfen. Die Frage laute-        chen, wie dieses Bild „durch der Glie-    Seelentods steht. Diese Überlegungen
                  te, wie man das Konzept ‚Seelentod‘       der angespannte Stille“ zu gehen ver-     führten die Beteiligten schließlich zu
168   DZ 87 11    gebärdensprachlich umsetzen kann.         mag. Das „Bild“ erhält im Original-       einem weiteren Übertragungsvor-
                      Die Strophe beginnt in der Ad-        gedicht eine (pseudo-)aktive Rolle        schlag. Hier trifft das ankommende
                  aptation wie die zweite Strophe mit       („geht durch ...“, „hört im Herzen auf    Bild (L-HF rechtshändig) auf das
                  einer Frontalausrichtung des Pan-         zu sein“), für die sich keine anspre-     durch die S-HF (linkshändig) ver-
                  thers auf der Kommunikationsach-          chende gebärdensprachliche Umset-         sprachlichte Herz und prallt tau-
                  se. Die großkatzenhafte Bewegung          zung fand. So wurde bspw. erwogen,        melnd daran ab (vgl. Abb. 10).
                  ist nun allerdings einem Gleiten wie      die rechte L-HF sich über den linken           Da es aber im Ausgangstext heißt:
                  in Trance gewichen, das durch einen       Arm bewegen zu lassen, jedoch stell-     „Dann geht ein Bild hinein, geht
                  starren reflexartigen Blick komplet-      te sich dabei nicht der Effekt eines      durch der Glieder angespannte Stil-
                  tiert wird.                               Sinnbilds ein.                            le“, schien auch dieser Versuch kei-
                      Das Originalgedicht spricht dann          Dem Gedichtsinn widersprechend,       ne wirkliche Entsprechung darzustel-
                  von einem „Bild“, das „durch der Glie-    jedoch gebärdensprachlich gut reali-      len und wurde wieder verworfen. Die
                  der angespannte Stille (geht)“ und        sierbar wäre die aktive Rolle des Pan-    Endfassung (vgl. Abb. 11 und 12) zeigt
                 „im Herzen auf(hört) zu sein“.             thers, der ein „Bild“ aufnimmt. Ein       nun ein luftig entgegenkommen-
                      Die Abbildung 9 zeigt eine län-       aktives Wahrnehmen oder Aufneh-           des, nicht spezifiziertes Etwas (5-HF
                  ger diskutierte Realisierungsvarian-      men des Bildes beinhaltet ein kogni-      beidhändig mit Fingerspiel), das in
                  te. Orientiert an der gebärdensprach-     tives und auch seelisches Erfassen,       schwingender Bewegung (s. oben) in
                  lichen Möglichkeit, eine Erinnerung
                  oder kognitive Vorstellung mittels
                  eines ‚Bildes‘ auszudrücken (beide
                  Hände in L-HF formen ein Rechteck,
                  das ein Bild symbolisiert, normaler-
                  weise als entstehendes Bild seitlich
                  in Kopfhöhe platziert), zeigt der Ent-
                  wurf 3 (vgl. Abb. 9), wie der Panther
                  das „Bild“ erblickt, das nach räumli-
                  cher Annäherung schließlich in ihn
                  hineingeht.
                      Gegen diese gebärdensprachliche
                 Variante war zunächst nichts einzu-
                  wenden, jedoch bestand im weite-
                  ren Verlauf die gebärdensprachliche                                  Abb. 11 und 12 – Endfassung

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den Panther hineingeht und in der er-                                              „Der Panther“: Übertragung in
starrten Haltung der Großkatze endet                                               LBG/DGS zu didaktischen
(5-HF beidhändig ohne Fingerspiel).                                                Zwecken und Vergleich der
    Zu den verworfenen Überlegun-                                                  Fassungen
gen zählte für diesen Gedichtab-
schnitt auch die Idee eines sich auf-                                              Das zweite Translat (realisiert durch
schiebenden Gitters (als Wiederauf-                                                Simon Kollien in Film 41) verfolgt
nahme der Stäbe aus der ersten Stro-                                               gänzlich andere Ziele als das erste.
phe, in 5-HF beidseitig; vgl. Abb. 13).                                            Hier soll den gehörlosen Teilnehme-
    Die linke 5-HF wird dann zur Tat-               Abb. 13 – Entwurf 7            rInnen des „DaZiel“-Kurses und an-
ze des Panthers in Kombination mit                                                 derweitig Interessierten das deutsche
einem zunächst schneller und an-                                                   Originalgedicht nachvollziehbar ge-
schließend immer langsamer schla-                                                  macht und, wie durch eine Verste-
genden Herzen (Faust rechtshändig,                                                 henshilfe, nahegebracht werden.
vgl. Abb. 14).                                                                          Man könnte vermuten, dass sich
    Abgeschlossen wird dieses ge-                                                  eine LBG-Fassung des Rilke-Gedich-         DZ 87 11   169
bärdensprachliche Bild von sich wie-                                               tes für dieses Ziel am besten eigne.
der zusammenschiebenden Gitter-                                                    Mit der Umsetzung in LBG sollen
stäben, die für das Gefängnis stehen                                               den RezipientInnen Charakteristika
(vgl. Abb. 15). Diese Deutung orien-                                               und Inhalte aus der Ausgangsspra-
tiert sich jedoch zu konkret am Sinn-                                              che nahegebracht werden. Hierbei
bild des (äußeren) Gefängnisses.                                                   entsteht ein vom üblichen Sprachge-
    Alle Überlegungen zur Darstel-                  Abb. 14 – Entwurf 7            brauch (in Deutsch wie auch in DGS)
lung eines ‚Bildes, das bis ins Herz                                               abweichender Text. Simon Kollien
geht und dort zu sein aufhört‘, er-                                                war sich sofort der Problematik be-
gaben zunächst keine zufrieden-                                                    wusst: Eine Art Interlinear-Überset-
stellende Adaptationsvariante. Das                                                 zung in LBG vermag es nicht, sinn-
gänzliche Aufhören einer rhythmi-                                                  vermittelnd zu wirken. Er setzte da-
schen Herzschlagbewegung (klop-                                                    her das Gedicht so um, dass er die Ge-
fende 5-HF) wurde bspw. nicht als                                                  dichtzeilen zunächst in ‚textgetreuer‘
annehmbare gebärdensprachliche                                                     LBG-Visualisierung realisierte und
Übertragung empfunden, da dies                                                     dann eine ‚textnahe‘ DGS-Überset-
eindeutig einen Herzstillstand und                                                 zung anschloss: In Film 41 wird die
damit den physischen Tod des Pro-                                                  Interlinear-Übersetzung in LBG nach
tagonisten bedeutet hätte. In dieser                                               jedem Sinnabschnitt durch eine Fas-
letzten Strophe sollte dagegen die                                                 sung in sinnvermittelnder DGS ab-
                                                    Abb. 15 – Entwurf 7
grauenhafte Doppelung von noch                                                     gelöst. Nach Auffassung des Teams
bestehender körperlicher/äußerer                                                   ist dies eine sehr gute Form, um das
Stärke des Tieres („der Glieder an-       stand ist, der Seelentod. Das ist wie    Originalgedicht, d. h. das Gedicht in
gespannte Stille“) und innerer Lee-       das Zeigen von etwas nicht Zeigba-       seiner deutschen Form, einer DGS-
re und Hoffnungslosigkeit („hört im       rem; die reine Bewegungslosigkeit        Sprachgemeinschaft nahezubringen
Herzen auf zu sein“) zum Ausdruck         ist dafür nicht ausreichend.             (s. oben: retrospektive Übersetzung).
gebracht werden. Von der gebär-               Unsere Lösung bestand in der              Es wäre jedoch ein Irrtum zu
densprachlichen Realisation her lag       Übernahme der typischen Bewegung         denken, dass die LBG-DGS-Fassung
die große Herausforderung darin,          bei Hospitalismus. Es ist ein monoto-    ohne Interpretation auskomme. Si-
ein ‚Lebendig-tot-Sein‘ darzustellen      nes, zielloses Schwingen zwischen Le-    mon Kollien betont im Expertenge-
– eine Bewegung also, die ein Still-      ben und Tod.                             spräch (Film 42) mehrfach, dass auch

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                      seine ‚wörtliche‘ Übersetzung selbst-
                      verständlich von Interpretation, also
                      Übersetzerentscheidungen, geprägt
                      sei. Er thematisiert bspw. den „müd
                      geworden[en]“ Blick des Panthers: Ist
                      der Panther als müde zu zeigen oder
                      vielmehr sein Blick, und was heißt
                      das dann für die sprachliche Form?
                      Soll das Lexem MÜDE benutzt wer-
                      den oder eine Klassifikatorkonstruk-
                      tion für den müde fallenden Blick?
                      Simon Kollien thematisiert im Ex-
                                                                              Abb. 16a und b – Endfassung                    Abb. 17 – Endfassung
                      pertengespräch ebenfalls, dass eine
                      wörtliche Übersetzung „wie im Kin-
                      dergarten“ wirken könne; die sprach-      DGS-orientiert realisiert. Eine weite-      Produkt kontaktlinguistischer Ein-
170       DZ 87 11    lich erzeugten Bilderwelten in LBG/       re Anpassung, die stark durch die re-       flussgrößen. In der DGS-Version er-
                      DGS und Deutsch sind unterschied-         trospektive Funktion des Textes be-         folgt daher eine weitergehende ziel-
                      lich: Während im deutschen Original       stimmt ist, stellt z. B. die Gebärde VO-    sprachliche Anpassung, die in einer
                     „der Vorhang der Pupille sich lautlos      RÜBER („Sein Blick ist vom Vorüber-         vor dem Auge ausgeführten zweihän-
                      auf(schiebt)“, ohne dass dies albern      gehn der Stäbe ...“) dar, die als ausge-    digen, Öffnung symbolisierenden Ge-
                      wirke, müsse der Übersetzer auch bei      streckter Zeigefinger vor dem Gesicht       bärde mit Handformänderung (Faust
                      einer ‚wörtlichen‘ Übersetzung das        ausgeführt wird und den Klassifikator       > C-HF) besteht (vgl. Abb. 17).
                      gebärdensprachliche Äquivalent erst       für die Gitterstäbe des Käfigs bildet. In       Mit den Filmen 40 und 41, unter-
                      erarbeiten.                              „Nur manchmal schiebt der Vorhang            stützt durch das Gespräch in Film 42,
                           Die Übersetzerentscheidungen         der Pupille sich lautlos auf“ wird die      bietet sich somit eine wunderbare
                      zeigen sich deutlich in der Nutzung       Gebärde SCHIEB- nicht im neutralen          Möglichkeit des Vergleichs von poeti-
                      des Raums und der Umsetzung von           Gebärdenraum, sondern den syntak-           schem und nicht-poetischem Sprach-
                      Richtungsangaben: Mit dem Ziel der        tischen Regeln der DGS entsprechend         gebrauch in DGS (Letzterer kontrastiert
                     Verstehenshilfe werden die Gebärden        vor dem Gesicht in Höhe des Auges           durch eine zusätzliche LBG-Variante)
                      für „hinein“ („Dann geht ein Bild hi-     produziert (vgl. Abb. 16 a und b).          gegenüber einem deutschen Original,
                      nein“) und „hinter“ („hinter tausend          Diese Übertragung bleibt dennoch        hier dem Gedicht „Der Panther“. Wir
                      Stäben keine Welt“) auch in LBG in ih-    relativ abstrakt, es entsteht nicht         möchten unseren Beitrag beschließen
                      rer Ausführungsrichtung bereits an        wirklich ein gebärdensprachliches           mit einigen sprach- oder eher varie-
                      den Sinn angepasst, d. h. eigentlich      Bild – zu sehr ist die LBG-Fassung ein      tätsvergleichenden Hinweisen.

Abb. 18 (DGS) und 19 (DGS-poetisch) – Endfassung:      Abb. 20 (DGS) und 21 (DGS-poetisch)          Abb. 22 (DGS) und 23 (DGS-poetisch) – Endfassung:
     „der sich im allerkleinsten Kreise dreht“      – Endfassung: „Dann geht ein Bild hinein“                „und hört im Herzen auf zu sein“

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    Bei der Produktion einer ‚wörtli-
chen‘ DGS-Übersetzung erfolgt ein
Balanceakt zwischen zwei Zielen: Es
soll eine Verstehenshilfe geliefert, je-
doch keine weitreichende Interpre-
tation geboten werden, die die Rezi-
pientInnen in ihren Deutungsmög-
lichkeiten einschränkt. Die zur in-
haltlichen Klärung verwendete er-
gänzende DGS-Varietät (Abb. 18, 20,
22) unterscheidet sich deutlich von
der in der poetischen Fassung (Abb.
19, 21, 23) präsentierten.
                                                                  Abb. 24 und 25 (DGS) – Endfassung
    Klassifikatorkonstruktionen bil-
den einen wesentlichen Bestand-
teil von Gebärdensprachen und fin-                                                                                            DZ 87 11   171
den sowohl in der poetischen Adap-
tation als auch in der didaktischen
Übertragung Verwendung. In Letz-
terer werden sie jedoch durch Le-
xeme eingeführt, die von Mundbil-
dern begleitet werden, so wie die
Klassifikatorkonstruktionen von
Mundgestiken. Die Darstellung des
gleichen Referenzobjekts (Stäbe) un-
terscheidet sich somit in beiden Pro-
duktionen (vgl. Abb. 24 und 25 gegen-
über 26 und 27).
    Der deutsche Ausgangstext bein-                           Abb. 26 und 27 (DGS-poetisch) – Endfassung
haltet eine Mischung von Perspekti-
ven: die eines Beobachters und die des
Panthers (ohne explizite Verbalisie-
rung mittels „ich“). Dennoch entschei-
den sich beide Übersetzer für die Über-
nahme der Rolle des Panthers. Hiermit
verdeutlichen sie, dass es sich bei CA
um ein originäres gebärdensprachli-
ches Mittel handelt, das auch poetisch
genutzt werden kann. In der didakti-
schen Fassung geschieht die Verwen-
dung von CA in den üblichen Variatio-
nen und zumeist in der parallelisier-
ten Form (u. U. mehrfach parallelisiert,
vgl. Abb. 28 und 29 für den schauen-
den bzw. im Kreis laufenden Panther).
In der poetischen Fassung dominiert
die Rollenübernahme des Panthers,                                 Abb. 28 und 29 (DGS) – Endfassung

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                Abb. 30 – Simon Kollien in LBG: „Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,“

172      DZ 87 11     die maximal durch eine Klassifikator-          Fazit                                               Das im Rahmen des Projektes
                      konstruktion begleitet wird. Insbeson-                                                         entstandene Filmmaterial beinhal-
                      dere bei der Darstellung des laufen-           Die hier vorgestellten Translate veran-         tet über die Translate (Filme 40 und
                      den Panthers ergeben sich hieraus an-          schaulichen neben der inhaltlichen An-          41) hinaus ein im Anschluss an die
                      dere perspektivische Eindrücke und             näherung und zielsprachlichen Anpas-            Übertragungen geführtes Experten-
                      vermittelte Größendimensionen.                 sung verschiedene Problembereiche               gespräch zwischen den gehörlosen
                          Die Abbildungen 30, 31 und 32              des literarischen Übersetzens. Dazu ge-         Übersetzern (Film 42), in dem ein
                      zeigen abschließend eine etwas län-            hört, das Translat als Ergebnis subjektiv       Austausch über die unterschiedli-
                      gere Textpassage aus der letzten Stro-         getroffener Einzelentscheidungen im             chen Entstehungsbedingungen, Vor-
                      phe in ihren drei Realisierungen               Übersetzungsprozess zu sehen.                   gehensweisen und sprachlichen Um-

     3
       Die zweite
 Abbildung zeigt
   das Gehen des
    Panthers und
nicht das ‚Hinein-
gehen‘ des Bildes.

               Abb. 31 – Simon Kollien in DGS3: „Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,“

           Beitrag aus: DAS ZEICHEN 87/2011 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
dolme tschen

                                                                                                     Jür­g en Gutsch (Hg.): Wil­l i­a m
                                                                                                     Shake­spe­are’s son­nets for the first
                                                                                                     ti­me glo­bal­ly re­prin­ted. A qua­ter­
                                                                                                     cen­te­na­ry an­tho­lo­gy (with a DVD).
                                                                                                     Doz­wil: Edi­tion SIGNA­ThUR, 597–
                                                                                                     601 + zwei Filme auf DVD.
                                                                                                  Fi­s cher, Re­n a­t e & Simon Kol­l ien
                                                                                                     (2010): „Gibt es Con­struc­ted Ac­tion
                                                                                                     in Deut­scher Ge­bär­den­spra­che und
                                                                                                     in Deutsch (in der Text­sor­te Be­deu­
                                                                                                     tungs­er­klä­rung)?“. In: Das Zei­chen
                                                                                                     86, 502–510.
                                                                                                  La­koff, George & Mark John­son (1998):
                                                                                                     Le­ben in Me­ta­phern. Kon­struk­tion
                                                                                                     und Ge­brauch von Sprach­bil­dern.
                                                                                                     Hei­del­berg.                              DZ 87 11   173
                                                                                                  Liddell, Scott K. (2003): Grammar, ges-
                                                                                                     ture and meaning in American Sign
                                                                                                     Language. Cambridge u. a.

                   Abb. 32 – Stefan Goldschmidt in poetischer DGS:
„Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,“

                                                                                                      i
setzungen erfolgt. Dieses Gespräch                  – Zur Problematik des gesellschaft-
kann, z. B. im Unterricht, für eine                  lichen Mensch-Tier-Verhältnisses“.
metasprachliche Auseinanderset-                      Universität Hamburg.
zung mit Variation in DGS genutzt                Fi­s cher, Re­n a­t e & Simon Kol­l ien                Prof. Dr. Renate Fischer,
werden.                                              (2006a): „Con­struc­ted ac­tion in                 Institut für Deutsche Gebärden-
    Beide Translate sind konsequent                  DGS: Ro­ses Ak­tions=Frag­men­te                   sprache, Universität Hamburg
ihrer jeweiligen Textfunktion, d. h.                 (Teil I)“. In: Das Zei­chen 72, 96–106.
dem gesetzten Ziel, unterworfen.                 Fi­scher, Re­na­te & Simon Kol­lien                    E-Mail: Renate.Fischer@sign-
Trotz ihrer Unterschiede sind sie somit              (2006b): „Con­struc­ted ac­tion in DGS:            lang.uni-hamburg.de
beide als adäquat einzustufen. Wel-                  Ro­ses Ak­tions=Frag­men­te (Teil II)“.
che emotionale Wirkung sie entfalten,                In: Das Zei­chen 74, 448–463.                      Caren Dietrich, Projektmitar-
hängt von den RezipientInnen ab.                 Fi­scher, Re­na­te & Simon Kol­lien (2009):            beiterin
                                                   „Con­struc­ted Ac­tion und Mund­ge­s­
                                                     tik in DGS: Laut­ma­le­rei und syn­äs­             E-Mail: carendietrich@gmx.de
Literatur                                            the­ti­sche Sym­bo­li­sie­rungs­ver­fah­
                                                     ren“. In: Das Zei­chen 83, 464–478.                Melanie Rossow, M. A., Projekt-
Bujok, Melanie (2010): Der Käfig der             Fi­scher, Re­na­te; Stefan Gold­schmidt                mitarbeiterin
  Gesellschaft. Vortrag gehalten am                 & Simon Kol­lien (2009): „Shake­­
  19. 10. 2010 im Rahmen der Ring-                   s­pe­are’s son­net 130 in two sign                 E-Mail: melanie.rossow@
  vorlesung „Es sind doch nur Tiere!?                lang­u­a­ges“. In: Man­fred Pfi­ster &             googlemail.com

     Beitrag aus: DAS ZEICHEN 87/2011 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)
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