Referenz in Gebärdensprachen: Raum und Person - Ulrike Rosa Wrobel

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Forschungsberichte des
Instituts für Phonetik und
Sprachliche Kommunikation
der Universität München
(FIPKM) 37 (2001) 25-50

         Referenz in Gebärdensprachen: Raum und Person
                                       Ulrike Rosa Wrobel

                         Institut für Deutsch als Fremdsprache (DaF)
                         Ludwig-Maximilians-Universität, München
                                         Ludwigstr. 27
                                   D-80799 Munich, Germany
                          ulrike.wrobel@phonetik.uni-muenchen.de

                                           ABSTRACT

Sign Language Reference: Space and Person
Automatic interpretation of deictic words is a demanding task. The interpretation of deictic words
like "I" or "now" is bound to a specific situation. In understanding deictic words such boundedness
implies a definition of the situation. Therefore restrictions concerning the context of space and time
have to be applied, which determine frame situations with actions that can happen like "at the post"
or "at the kiosk". The faculty to perceive a situation is determined by factors like the orientation and
direction of persons and objects. This I would like to summarize under the term of ‚directionality'
(Gerichtetheit) in spoken and signed languages. Space, time and person exhibit specific kinds of
interactions in signed languages. In comparing spoken and signed communication one has the op-
portunity to check the way spatial concepts are mapped cross-modally onto language units. Kno-
wing about the role of space as a structuring element in visual languages enhances the analysis of
spatial conceptualisations in spoken languages. In German Sign Language (DGS), space in incorpo-
rated in the language sign and provides different referential functions. We believe that there are
grounds for questioning the notion of reference and its relation to what is called 'space': The com-
plex representational systems of space in signed languages that have been proposed in the literature
are to be simplified in order to provide plain concepts of the use and function of space during the
communication. Speaker and hearer (or better: signer and 'see-er') in a particular speech situation
(Sprechsituation) use this given situation of the time and place of speech (Sprechzeitraum) to esta-
blish an imagination space (Vorstellungsraum). Therefore signed languages provide exceptional
grammatical forms, that have striking differences in comparison to spoken languages.

Key words: Pragmatics, Psycholinguistics, Spatial Relations

                                                  25
1. DIE ROLLE DER DEIXIS IN DER LAUTSPRACHLICHEN
                   KOMMUNIKATION: DEIXIS UND GERICHTETHEIT

1.1 Spracherkennung und Bedeutungsbestimmung
In der maschinellen Spracherkennung wird die problematische Rolle des Raums gerade bei den
Wörtern offenbar, die traditionell als „deiktisch“ gekennzeichnet werden1. Versucht man, die Refe-
renz eines Begriffs durch die Festlegung seiner Bedeutung zu bestimmen, bekommt man Schwie-
rigkeiten mit deiktischen Wörtern wie z.B. ich, hier, jetzt, da, und so. Wenn ich ich sage, referiere
ich auf mich, wenn Sie ich sagen, beziehen Sie sich nicht auf mich, sondern auf sich. Was ist mit
„ich“ gemeint? Was bedeutet das Wort ich?

Für ein Wort wie ich scheint die Beziehung zwischen Form und Inhalt des Zeichens anders geartet
zu sein als zum Beispiel für Wörter wie Schreibmaschine. Bei dem Wort Schreibmaschine kann
man davon ausgehen, dass alle Sprecher des Deutschen eine Vorstellung von der Form und Funkti-
on des Wortes, des Inhalts oder des Sinns haben, und somit die Bedeutung von Schreibmaschine
angeben und umschreiben können. Weiterhin kann man davon ausgehen, dass sich die Vorstellun-
gen verschiedener Sprecher von der Bedeutung des Wortes „Schreibmaschine“ ähneln und dass
Sprecher sich eine prototypische Schreibmaschine vorstellen können. Bei Wörtern wie ich ist das
unmöglich. Wer soll das prototypische „ich“ sein? Ähnliche Probleme treten bei der Bestimmung
der Bedeutung von hier auf: Beispiel 1 (Ausschnitt aus einem fiktiven Telefongespräch):

      1. A: „Hier regnet es total!“
         B: „Hier nicht.“

Natürlich weiß jeder, was mit hier gemeint und wie das entsprechende Wort zu verstehen ist. In der
menschlichen Interaktion treten in Bezug auf das Verstehen der Bedeutung deiktischer Wörter na-
hezu keine Probleme auf. Weltwissen, persönliches Vorwissen, Schematawissen und Interpretation
der nonverbalen Faktoren Mimik, Gestik und Blickverhalten verhindern in den meisten Fällen ein
Missverstehen der Kommunikationspartner. In der Kommunikation von Mensch und Maschine
kann man die tatsächlichen Verstehensprobleme erst im Nachhinein (bei missglückter Kommuni-
kation) feststellen. Mögliche Verständnisprobleme müssen in die konzeptionelle Vorplanung einer
interaktiven Maschine mit einbezogen werden. Die Frage, auf was genau referiert wird, ist gar
nicht so einfach zu beantworten. Referiert man nur auf Wörter oder auch auf Sätze, referieren nur
Personen, Sprecher oder auch Dinge, Ideen oder gar Gedanken?

Ausgehend von der BÜHLERSCHEN Deixisdefinition möchte ich den Einfluss des Faktors Raum auf
die Konzeption referentieller Relationen in Laut- und Gebärdensprache vergleichend darstellen2 .
‚Gerichtetheit’ von Personen und Objekten spielt bei referentiellen Bezugnahmen eine große Rolle,
und wird in der Raumlinguistik thematisiert. Ähnlichkeiten zwischen laut- und gebärdensprach-
licher Raumlinguistik sollen im Folgenden thematisiert werden. In Laut- und Gebärdensprachen
wirken bei referentiellen Bezugnahmen verschiedene funktionale, psychologische und pragma-
tische Faktoren, die in Bezug auf den Raum als strukturierendes Sprachmittel verglichen werden
sollen. Ziel der Darstellung ist die Sensibilisierung für Faktoren, die die Erfahrbarkeit von Sach-
verhalten in Bezug auf ihre Versprachlichung begünstigen oder einschränken.

1
    Ich unterscheide Wörter, ihre „Bedeutung“ und GEBÄRDEN.
2
    Ich beziehe mich auf die Deutsche Gebärdensprache (DGS) und Deutsch

                                                         26
1.2 Zur Bedeutung von deiktischen Wörtern: BÜHLER (1934)
Eine in der lautsprachlichen Linguistik sehr einflussreiche Publikation zu der Bedeutung von
Wörtern wie ich, hier, jetzt und da stammt von BÜHLER (1934). Dieser kommt zu dem Ergebnis,
dass man mit solchen Wörtern in einem Zeigfeld operiert. Nullpunkt oder Origo dieses Zeigfelds
ist der Sprecher. Von ihm aus werden die Wörter ich, hier, jetzt und da in ihren Bezügen bestimm-
bar. Wenn Sie ich sagen, ist ein anderer Nullpunkt gemeint, als wenn ich ich sage; genau so verhält
es sich mit dem Wort hier. BÜHLER (1934) stellt das Zeigfeld einem Symbolfeld gegenüber. Die
Bedeutung von Wörtern aus dem Symbolfeld wie z.B. Haus oder Schreibmaschine ist nicht so
stark von der Situation bestimmt, in der die Wörter tatsächlich gesprochen werden. Wörter aus dem
Symbolfeld haben einen Symbolcharakter; es werden symbolische Bezüge erschaffen, deren Be-
deutung durch konventionelle Festlegung bestimmt wird. Mit BÜHLER (1934) wird Deixis be-
stimmt als Gebrauch von Wörtern aus dem Zeigfeld. Äußerungen wie: Ich bin jetzt hier- werden
interpretierbar als Bezugnahme auf die Person, den Ort und die Zeit des Sprechers. Mit der An-
nahme einer Origo wird die Person des Sprechers in den Vordergrund gerückt. BÜHLERS Definition
von Deixis hat einen handlungsbezogenen Charakter. Deiktische Wörter werden zu deiktisch be-
nutzten Wörtern; die Person des Sprechers wird bei der Interpretation der Bedeutung zu einer be-
stimmenden Größe. BÜHLERS Definition von Deixis vereinigt damit handlungszentrierte und zei-
chenzentrierte Aspekte.

1.3 Gerichtetheit und Wahrnehmungsrelevanz
Indem man deiktische Wörter benutzt, führt man deiktische Bezugnahmen aus. Deiktische Wörter
werden häufig mit einer Zeigegebärde produziert, z.B. Guck mal da! Mit deiktischen Wörtern be-
zieht man sich auf die Situation, die nähere raumzeitliche Umgebung, den sensuell wahrnehmbaren
oder in irgendeiner Form perzipierten oder perzipierbaren Kontext. Der Raum als alles das, was den
Menschen umgibt, wird in die Zeicheninterpretation mit einbezogen. Ein Bereich der Linguistik,
der sich auf derartige Fragestellungen spezialisiert hat, wird unter dem Begriff ‚Raumlinguistik’
zusammengefasst. In der Raumlinguistik wird der Begriff ‚deiktisch’ dem Begriff ‚intrinsisch’ ge-
genübergestellt. Häufig wird davon ausgegangen, dass deiktische Referenz bei deiktischen Bezug-
nahmen vorliegt, und intrinsische Bezüge nur bei intrinsischen Objekten erstellt werden können.
Intrinsische Objekte sind Objekte, die gerichtet sind; Objekte, die ausgezeichnete Seiten haben,
deren „rechts“ und „links“ oder „oben“ und „unten“ bestimmbar ist, wie zum Beispiel Menschen im
Gegensatz zu Kugeln. Intrinsische Bezüge sind also abhängig von den Objekten, auf die man sich
bezieht. Faktoren wie Sichtbarkeit oder Verdeckung von Objekten (Prinzip der perzeptuellen Zu-
gänglichkeit) können die Versprachlichung von Situationen beeinflussen. ‚Gerichtetheit’ von Ob-
jekten ist bei der Etablierung von referentiellen Bezügen massgebend3.

Auch Gerichtetheit von Personen beeinflusst die Versprachlichung von Raumverhältnissen. Die
Beurteilung der Wahrnehmungsrelevanz eines Sinneseindrucks in einer Situation in Bezug auf seine
Versprachlichung scheint gewissen allgemeinen Prinzipien zu folgen, wie zum Beispiel dem Prin-
zip der kanonischen Orientierung (LEVELT 1986: 203). Die Art der eingenommenen Perspektive
kann bei der Lokalisierung im Raum relevant werden: Sprecher können räumliche Bezüge aus ihrer
eigenen Lokalisierung in Raum ableiten (Sprecherperspektive), oder sich auf den Hörer beziehen
(Hörerperspektive). Die Origo einer Äußerung kann auch von einer dritten Person eingenommen
werden (Gerd sieht den Ball rechts von der Lampe.). Die Wahl der Perspektive nimmt Einfluss auf
die sprachliche Darstellung einer Situation.

3
    Ich möchte den Begriff der Perspektive im Gegensatz zu ‚Gerichtetheit’ für personale Effekte wie sprecher- und
    hörerbezogene Phänomene reservieren.

                                                            27
Sprecher nehmen typische Raumpositionen bei der Benutzung von Objekten ein. Diese können ei-
nen Einfluss auf die Versprachlichung von räumlichen Relationen haben. In Bezug auf die Lokali-
sierung von Objekten können Sprecher bestimmte Perspektiven einnehmen: Es können Nebenein-
anderperspektive (Tandemperspektive) und Gegenüberperspektive (Vis-á-vis-Perspektive) unter-
schieden werden (vgl. VATER 1991: 51). Es ist zu überlegen, ob es sich bei diesen Unterschieden
nicht um Objektqualitäten handelt (Tandem- und Gegenüberobjekte). In diesem Sinne wäre die
Größe eines Zielobjekts im Verhältnis zur Größe eines Bezugsobjekts für eine Versprachlichung
von Raumbeziehungen relevant4. Ich vermute, dass man zum Beispiel große Objekte nicht durch
kleinere Objekte beschreibend lokalisiert, zumindest nicht in einer Orientierungsanweisung5. Etwas
Anderes ist das beispielsweise in einer Bildbeschreibung: Ein Bild kann durch ein zentrales, kleines
Objekt in der Bildmitte bestimmt werden, aus dem die Bedeutung des Bildes erschlossen werden
kann. Unter den Wahrnehmungskonstellationen, die bei der Erstellung von Referenz beachtet wer-
den müssen, ist neben der Größe der Objekte und ihrer Sichtbarkeit also auch die dargebotene Tex-
tart im weitesten Sinn von Wichtigkeit. Problematisch ist allerdings, wie eine Analyse tatsächlicher
Äußerungen zu handhaben ist („Nee, der Ball da vor die, da vorne, nein, oh mann, da rechts!“).
Fraglich ist auch, wie der unterschiedliche propositionale Gehalt folgender Äußerungen zu analysie-
ren ist: Der Ball ist/ liegt vor dem Stuhl oder Gerd glaubt, dass/ fühlt, dass/ sieht den Ball vor dem
Stuhl. Unter dem Begriff Gerichtetheit können personen- und objektbezogene räumliche Faktoren
(Prinzip der kanonischen Orientierung, Prinzip der perzeptuellen Zugänglichkeit) bei der Ver-
sprachlichung räumlicher Relationen zusammengefasst werden.

Im Folgenden soll nun ‚Gerichtetheit’ in Gebärdensprachen thematisiert werden, um Gemeinsam-
keiten und Unterschiede zu lautsprachlichen Bezügen aufzeigen. Referentielle Bezugnahmen sind
in Gebärdensprachen strukturell durch den Raum bestimmt. Raum ist eine für visuelle Sprachen
wesensbestimmende Kategorie, die Produktion und Rezeption von Sprache ermöglicht. Räumliche
Bezüge, Eigenschaften von Körpern im Raum sowie räumliche Vorstellungswelten sind in der visu-
ellen Modalität durch die Nutzung dessen, was den Menschen umgibt, in die grammatische Form
sprachlicher Äußerungen transformierbar. Räumlichkeit wird versprachlicht und ist zugleich Mittel
der Versprachlichung. Gerichtetheit von Personen und Objekten im Raum spielt dabei eine zentrale
Rolle.

4
  Ich unterscheide Zielobjekt (GRABOWSKI 1996) und Bezugsobjekt (VATER1991; LEVELT 1986). Zielobjekt nenne ich
  das, worauf ich verweise, und Bezugsobjekt das, worauf ich mich dabei beziehe. Zum Beispiel ist in dem Satz Der
  Ball ist vor dem Stuhl der Ball das Zielobjekt und der Stuhl das Bezugsobjekt.
5
  Diese Annahme gilt für die Lokalisierung und Verortung von Objekten in der DGS.

                                                       28
2. RAUM: REFERENZ UND GRAMMATISCHE BEDEUTUNG IN
                         GEBÄRDENSPRACHEN

Die technische Entwicklung im Bereich der optischen Wiedergabe hat die Möglichkeiten, visuell
produzierte und rezipierte Sprachen wie Gebärdensprachen zu dokumentieren, revolutioniert. Im
Sinne der Existenz verschiedener vergleichbarer Grammatiken sind diese Möglichkeiten aber weit-
gehend unausgeschöpft. Dadurch eröffnet sich ein breites Feld der vergleichenden Forschung ver-
schiedener Gebärdensprachen sowie der Untersuchung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten in
Bezug auf Lautsprachen.

Gebärdensprachen sind keine erfundenen Sprachen, sondern die natürlichen Sprachen gehörloser
Menschen. Es gibt verschiedene Gebärdensprachen mit unterschiedlichen Dialekten, und man kann
in diesen visuellen Sprachen genau so wie in Lautsprachen über alles sprechen. Die ersten Studien
zur Grammatik von Gebärdensprachen erschienen vor 40 Jahren in den Vereinigten Staaten, ein
enormer Aufschwung der Forschung setzte in den 70er Jahren ein und mündete in den 90er Jahren
in erste allgemein verständliche Grammatikskizzen 6. Bis heute besteht aber zum Teil in Pädagogik
und Didaktik eine kulturell regressive Orientierung in Form einer Ausrichtung hin auf das Paradig-
ma der Oralisierung. DGS ist als Sprache in Deutschland im Gegensatz zu den entsprechenden Ge-
bärdensprachen in den skandinavischen Ländern und den Vereinigten Staaten noch nicht anerkannt.
Seit Ende der 90er Jahre wird eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit durch Gehörlose, Pädagogen
und Linguisten spürbar, womit auch eine erneute Überprüfung linguistischer Theorien und Modelle
an nicht-lautsprachlichen Sprachsystemen zunimmt. An Interesse gewinnt, in Bezug auf Gebärden-
sprachen, das Forschungsgebiet Sprache und Raum (KELLER 1998, VATER 1991, JARVELLA/ KLEIN
1982, WUNDERLICH 1982) und im Zusammenhang damit der Bereich Sprache und Denken
(JACKENDOFF 1983, BIERWISCH 1983, SCHWARZ 1992; 1999).

2.1 Zum Verhältnis von Sprache und Raum in Gebärdensprachen
Gebärdensprachliche Linguistik zu den Themen Referenz und Raum beschränkt sich fast aus-
schließlich auf die Amerikanische Gebärdensprache. Gebärdensprachen eignen sich aus dem Grund
besonders zu raumlinguistischen Untersuchungen, weil die Wörter, sprich Gebärden, im Raum pro-
duziert und rezipiert werden. Das Verhältnis von Sprache und Raum erfordert in Gebärdensprachen
eine gesonderte Betrachtung, weil Raum insgesamt stärker in die Sprachstruktur mit einbezogen
wird als in Lautsprachen, bzw. Raum die Sprachstruktur grundlegend prägt und eventuell sogar
konstituiert.

Man kann im Großen und Ganzen zwei Thesen unterscheiden, wie Raum in Gebärdensprachen im
Verhältnis zum sprachlichen Ausdruck steht: Nach der Lokativhypothese wird angenommen, dass
die konzeptuelle Verarbeitung von Sprache raumbezogen ist, und dass Raum ein in die Zeichenform
integrierter Aspekt ist. Demnach ist Referieren in Gebärdensprachen gleichbedeutend mit einem
Lokalisieren im raumlinguistischen Sinn. Zum zweiten gibt es die Transitivitätshypothese, nach der
die sprachliche Kodierung von konzeptuellen Repräsentationen eigenständig ist und Raumvorstel-
lung grammatisch vermittelt wird. Semantische Unterschiede wie räumliche Merkmale und Rela-
tionen werden nur indirekt als Teil der konzeptualisierten Rauminformation über grammatische
Distinktionen mitgeteilt. Innerhalb der Lokativhypothese finden räumliche Relationen dagegen di-

6
    Für den deutschen Raum PRILLWITZ (1985).

                                               29
rekten (lokalisierenden) Ausdruck in grammatischen Distinktionen. Neben diesen philosophischen
Hypothesen existieren in der gebärdensprachlichen Linguistik unterschiedliche divergierende An-
sätze zu funktionalen Konzeptionen von Raumreferenz.

2.2 Referenz und Raum: Raumrepräsentationssysteme
Diskutiert wird die Frage, ob in Gebärdensprachen zwei nichtüberlappende, distinkte Raumreprä-
sentationssysteme existieren, in denen entweder eine syntaktische oder eine topographische Nut-
zung von Raum erfolgen kann (vgl. EMMOREY 1996). Im syntaktischen Raum werden Operationen
syntaktischer Art vorgenommen, Räumlichkeit wird abstrakt versprachlicht. Im topographischen
Raum geht es um räumlich nachbarschaftliche Relationen, die einen ikonischen Gehalt haben: Im
Gebärdenraum werden Entitäten in dreidimensionalen Verhältnissen abgebildet, deren Anordnung
die der realen Raumverhältnisse spiegelt. Im syntaktischen Raum werden sprachliche Zuordnungen
getätigt, während es im topographischen Raum um Raumverhältnisse geht, die in irgendeiner Weise
mit der räumlich präsenten Umgebung zu tun haben. Prototypische Beispiele für die unterschiedli-
che Raumrepräsentation sind nach POIZNER/ KLIMA/ BELLUGI (1987: 30) Raumverben und Überein-
stimmungsverben (Beispiel 2 und 3):

  2. Syntaktische Raumverwendung bei Übereinstimmungsverben: Flexion für [Person] und
     [Anzahl] mit personaler Kongruenz:
     /x-GIVE-y/             „person x give y“
  3. Topographische Raumnutzung bei Raumverben: Anfangs- und Endlokalisierung:
     MOVE-FLAT-OBJEKT-FROM-x-TO-y                   „move flat object from x to y“

Ich halte diese theoretische Unterscheidung für ein unbrauchbares Konstrukt, weil meiner Meinung
nach im gebärdensprachlichen Zeichen beide Raumnutzungen untrennbar miteinander verbunden
sind (vgl. 4. Raumkonzeption in der DGS).

                                              30
3. RAUM ALS STRUKTURELEMENT DER DEUTSCHEN
                            GEBÄRDENSPRACHE

3.1 Gebärdenraum und Ausführungsstelle
Im Unterschied zu einer Pantomimischen Darstellung im Theater werden fast alle Gebärden in ei-
nem fest umgrenzten Raum gebildet. Für jeden Sprecher existiert so etwas wie eine individuelle
‚normale Lautstärke’, denn bei kleinerer Ausführung der Bewegungen wird geflüstert, bei größerer
als normal geschrieen. Die meisten Gebärden können in den Gebärdenraum gestellt werten, andere
müssen am Körper oder mit Körperkontakt gebildet werden.

Seit STOKOE et. al. (1965) gehören zu den traditionell als distinktiv bezeichneten gebärdensprachli-
chen Parametern die Ausführungsstelle, die Bewegung, die Handform und die Handstellung. Die
Bedeutung einer Gebärde kann sich allein durch den Wechsel der Ausführungsstelle verändern:
Raum kann distinktive Funktion besitzen. Die Rolle der Mimik sowie der Mundgestik und des
Mundbilds, die ebenfalls distinktive Funktion haben können, werden aktuell diskutiert. Meiner
Meinung nach ist in der DGS von einer Vermischung der phonologischen und der morphologischen
Sprachebene auszugehen.

3.2 Lexikalische Verwendung des Raums
3.2.1 Zeitangaben
Wie auch in der Lautsprache gibt es spezifische, lexikalisierte Gebärden für Zeitangaben wie zum
Beispiel TAG, oder MONTAG. Tempusangaben erfolgen in den meisten westeuropäischen Gebär-
densprachen einem bestimmten räumlichen Prinzip: Es gibt drei imaginäre vertikale Ebenen, mit
denen eine bestimmte zeitliche Einordnung vorgenommen werden kann: Gebärden, die direkt vor
dem Körper ausgeführt werden, beziehen sich auf die Gegenwart, mit denjenigen, die rückwärtig
orientiert sind, werden Aussagen über die Vergangenheit gemacht und die nach vorne verlagerten
Gebärden haben eine mit der Zukunft verbundene Bedeutung. Diese konzeptuelle Zuordnung von [
„hinten“ - „Vergangenheit“ ] / [ „direkt am Körper“ - „Gegenwart“] und [ „vorn“ - „Zukunft“] ist
laut BOYES-BRAEM (1992) nicht notwendigerweise der Fall. Eine unterschiedliche Zuordnung von
Bewegungsausführung und Bedeutung verdeutlicht, welche Rolle kulturelle Gewohnheiten spielen
können: In der Gebärdensprache der Maya-Indianer bezeichnen die vor dem Gebärdenden platzier-
ten Gebärden etwas Vergangenes. Als Erklärung hierfür nimmt BOYES-BRAEM an, dass man nur
Vorfälle sehen kann, die sich bereits ereignet haben. Analog dazu werden die hinter dem Gegen-
wartsbereich gebildeten Gebärden benutzt, um zukünftige Ereignisse auszudrücken.

Im allgemeinen gilt, dass Zeitbezüge zu Anfang einer Äußerung festgelegt werden und dass dieses
Tempus dann so lange gilt, bis ein Neues explizit festgesetzt wird. Das hat manche Linguisten dazu
veranlasst, zeitliche Bezüge allgemein als „anaphorisch“ zu bezeichnen. Eine solche Bezeichnung
bezieht sich auf eine diskursive Definition der Deixis-/ Anaphorik-Distinktion, in der Anaphorik als
Beibehaltung des Themas definiert ist. Eine gegenseitige Orientierung von Sprecher und Rezipient
ist für die Interpretation der Bedeutung von Zeitbezügen wichtig: Temporale Gebärden müssen vom
Rezipienten zur Interpretation aus einer Gegenüberperspektive in eine Tandemperspektive trans-
formiert werden. Bei mehreren anwesenden Personen werden kognitive Fähigkeiten wie die Mög-
lichkeit zur mentalen Rotation und Translation eingesetzt.

                                                31
3.2.2 Personale Bezüge
In der Gebärdensprache existiert wie allen Lautsprachen ein Referenzsystem, mit dem angezeigt
werden kann, wer wem was tut. Dabei müssen alle beteiligten Personen in ihrer unmittelbar gege-
benen Gesprächssituation koordiniert werden. In der Gebärdensprache macht es lexikalisch einen
Unterschied, ob man sich auf tatsächlich anwesende oder abwesende Personen bezieht.
a) Anwesende Personen
Es werden Gebärden verwandt, bei denen die Koordination der Ausführungsstelle im Raum mit der
Blickrichtung wichtig ist: Zeigt der Sprecher mit seinem Zeigefinger auf sich selbst, bedeutet das
„ich“ (1. Sg.). Zeigt der Sprecher mit seinem Zeigefinger auf eine Person A und schaut sie dabei an,
bedeutet das „du“ (2. Sg.). Zeigt der Sprecher mit seinem Zeigefinger auf eine Person B und schaut
dabei eine Person A an, bedeutet das „er“, „sie“, „es“ (3. Sg.). Die Pluralformen sind ähnlich; es
wird nicht nach Geschlecht unterschieden und es gibt keine lexikalisierten Distanz- oder Höflich-
keitsformen.
b) Abwesende Personen
Möchte man auf Personen (oder auch Dinge und Sachverhalte) Bezug nehmen, die im Moment des
Gesprächs nicht anwesend sind, kann man mit einer Zeigegebärde einen Punkt im Raum lokalisie-
ren, auf den man immer wieder zeigen kann, wenn man sich auf den entsprechenden Referenten
beziehen kann. Diese Gebärde wird Index genannt. In Bezug auf das Thema Personalreferenz unter-
scheiden sich Gebärdensprachen und Lautsprache in einem Punkt eklatant: In Gebärdensprachen ist
im Gegensatz zu Lautsprachen der Referent eines Pronomens immer eindeutig zu identifizieren7,
weil die sprachliche Einheit Gebärde im Unterschied zum Wort immer eine tatsächliche Ausfüh-
rung besitzt, bei der im Raum gezeigt wird. Da die Gebärden für unterschiedliche Referenten im
Raum nicht den selben Ausführungsort einnehmen können, sind die Ausführungsorte und somit die
Referenten in jedem Verwendungsfall immer voneinander zu unterscheiden.

3.2.3 Raumverben
Zur Kategorie Raumverben gehören Verben, bei denen Ausgangspunkt und Ziel einer Tätigkeit
obligatorisch gebärdet werden müssen (BOYES-BRAEM 1992: 55). Die Bewegung der Gebärde für
das Raumverb GEHEN beginnt am Ausgangspunkt und wird auf das Ziel der Tätigkeit gerichtet.
Das Verb kann bezüglich des „woher“ und „wohin“ flektiert werden. Will man später „kommen“
ausdrücken, führt man die Bewegung in der umgekehrten Richtung aus. Bei der Verbverwendung
Referenzorte im Raum zu koordinieren ist ein typisches Beispiel für die Bedeutung der Wesens-
merkmale Simultaneität und Inkorporation in Gebärdensprachen.

3.2.4 Übereinstimmungsverben
Die DGS verfügt über so genannte Übereinstimmungsverben (auch: agreement verbs, spatial verbs,
personenorientierte Raumverben). Übereinstimmungsverben sind pronominale Formen und gehören
zum Bereich der Personalreferenz. Wenn man ein Übereinstimmungsverb benutzt, muss man die
persononale Spezifikation, auf die sich das Verb bezieht, mitgebärden8. Es gibt keine Form, die der
lautsprachlichen Zitierform geben entspricht. Die umgekehrte Ausführung der Gebärde im Raum
hat eine andere reversive Bedeutung (siehe 4.3.2). Die Verwendung des Raums spielt in Gebärden-
sprachen strukturell eine bestimmende Rolle, Raum wird grammatisch in die sprachliche Form des
Zeichens viel stärker einbezogen als in Lautsprachen, was sich aus der Verwendung des visuellen
Kanals erklärt: Es handelt sich um ‚optische Wörter’, die durch ihre sichtbare Ausführung im Raum
7
  Keine eindeutige Identifikation des Referenten in der Lautsprache z.B. bei Gerd meinte zu Bernd, dass er ihm noch
  Geld schulde.
8
  Bei GEBEN muss zum Beispiel mitgebärdet werden, wer wem etwas gibt. Bei „Ich gebe Dir“ versus „Du gibst mir“
  notiere ich deshalb (ich-GEB-dir) versus (du-GEB-mir). Zur Notation vgl. 4.0.

                                                         32
eine visuelle Sprache konstituieren. Übereinstimmungsverben können nicht nur verwendet werden,
wenn die Person, auf die sich das Verb bezieht, anwesend ist; man kann sich auch auf abwesende
Personen mit Übereinstimmungsverben beziehen. In der Hochsprache kann die Entität vorher ge-
nannt und im Gebärdenraum verortet worden sein. Man kann aber auch darauf verzichten, was im
weitesten Sinn eine Stilfrage zu sein scheint. Diese Verortung kann durch verschiedene manuelle
und nichtmanuelle sprachliche Mittel erreicht werden: Man kann zum Beispiel den Namen einer
Person mit dem Fingeralphabet nennen und dann durch eine Zeigegebärde in den Raum stellen.
Wenn ich mich dann später im Diskurs auf diese Person beziehen möchte, kann ich einfach auf den
vorher zugewiesenen Ort zeigen. Diese Möglichkeit hat einige Linguisten veranlasst, den gesamten
Bereich der Personalreferenz in seinen referentiellen Bezügen als ‚anaphorisch’ zu kennzeichnen.
Diese Charakterisierung bezieht sich auf eine diskursive Definition der Deixis-/ Anaphorik-
Dichotomie, in der Anaphorik als thematische Beibehaltung des Fokus definiert ist.

3.3 Personalreferenz: Referenzraum und Referenzrahmen
Kompliziert wird der Versuch, personale Bezüge referentiell zu klassifizieren, wenn man andere
Möglichkeiten, auf Personen zu referieren, mitbetrachtet:
1. Die erste Möglichkeit habe ich oben schon angesprochen: Man kann mit der G-Handform (dem
   Zeigefinger) einen Referenten symbolisch im Gebärdenraum verorten, und dann mit einem Über-
   einstimmungsverb Bezug darauf nehmen. Die Position des Referenten im Gebärdenraum ist
   dadurch dimensional spezifiziert.
2. Zum zweiten gibt es eine Gebärde PERSON, die man in den Raum stellen kann. Auch auf die
   Gebärde PERSON kann man sich mit einem Übereinstimmungsverb beziehen. Die Gebärde
   PERSON hat wie der Zeigefinger ebenfalls dreidimensionale Qualitäten, die aber eingeschränkter
   sind als beim ersten Beispiel. Zum Beispiel würde man die Gebärde PERSON nicht verwenden,
   wenn man darstellen wollte, wie sich zwei Personen aufeinander zu bewegen. Gewisse topolo-
   gische Qualitäten scheinen aber trotzdem ausgeprägt zu sein. Ich kann zum Beispiel mit einer
   weiteren Gebärde PERSON zwei Personen im Raum platzieren, auf deren Nebeneinander Bezug
   genommen werden kann.
3. Wenn man sich auf Personen in einer Reihenfolge beziehen möchte, zum Beispiel Brüder in einer
   Geschwisterfolge, kann man mit dem Zeigefinger der dominanten Hand einzelne Referenten den
   Fingern der anderen Hand zuweisen. Auf diese Referenten kann man sich nicht topologisch be-
   ziehen. Die Finger haben überhaupt keine dreidimensionalen Eigenschaften im Gebärdenraum
   sowie im gedanklichen Vorstellungsraum, und es ist ungrammatisch, Übereinstimmungsverben
   auf sie zu richten.
Es scheinen also in der DGS im Vergleich zur Lautsprache bei verschiedenen Arten, zu Referieren,
unterschiedliche Bedeutungen impliziert zu werden, wie zum Beispiel dreidimensionierende und
topologische Qualitäten. Dass solche Qualitäten direkt mit in die sprachliche Form des Gebärden-
zeichens miteinbezogen werden, gibt es auch bei den so genannten Klassifikatorformen (classi-
fiers). Mit diesen können Objektqualitäten ausgedrückt werden9. Die durch solche Formen darge-
stellten Objekte besitzen ebenfalls dreidimensionale Eigenschaften, beispielsweise kann man sich
auf die Vorderseite des Fahrzeugs beziehen, indem man auf die Fingerspitzen der Klassifikatorform
deutet.

9
 Beispielsweise flache Objekte oder Objekte mit gerader Oberfläche: A-Handform (flache Hand); runde Objekte: C-
Handform.

                                                       33
3.4 Raumkonzepte und Raumfunktionen
In der Gebärdensprachlinguistik wird angenommen, dass bei den oben geschilderten Bezügen be-
stimmte Raumfunktionen ausgenutzt werden (LIDDELL 1990; 1995; 1996, KELLER 1998, POIZNER/
KLIMA/ BELLUGI 1987, EMMOREY 1996). Um diese voneinander zu unterscheiden, wird der den
Menschen normal umgebende Raum in Funktionseinheiten gegliedert. In unterschiedlichen Kon-
zeptionen werden dabei verschiedene Referenzräume postuliert, die bei den unterschiedlichen Be-
zügen applizieren, so zum Beispiel ein ‚Gebärdenraum’, ein ‚virtueller Raum’, ein ‚konzeptueller
Raum’, ein ‚realer Raum’, etc. Diese Raumkonzepte sind in ihrem Verhältnis zueinander sehr kom-
plex und beinhalten unterschiedliche referentielle Implikationen, deren Vergleichbarkeit nicht ge-
geben ist. Die betreffende Terminologie ist uneinheitlich und bereitet schon in den vermeintlich
einfachen Fällen Schwierigkeiten: Mit ‚realer Raum’ ist das gemeint, was den Menschen in der
Kommunikationssituation umgibt. Mit dem Terminus realer Raum handelt man sich Probleme da-
durch ein, dass die Charakterisierung real im Gegensatz zu fiktiv steht, was eine unbeabsichtigte
Irrealität impliziert.

Ich möchte versuchen, räumliche Bezüge ausschließlich danach zu unterscheiden, ob sie im Gebär-
denraum sichtbar dargestellt werden, oder ob es sich um nicht-sichtbare Bezüge in der gedanklichen
Vorstellungswelt handelt. Aus diesem Grund unterscheide ich mit EHLICH (1979) zwischen vier
verschiedenen Arten von Raum, in denen gezeigt und referiert werden kann: Sprechzeitraum (time
and place of speech), Rederaum (discourse space), Vorstellungsraum (imagination space) und
Textraum (text space). Dadurch können die komplizierten referentiellen Bezüge, die durch die An-
nahmen verschiedener Räume innerhalb der Gebärdensprache entstehen, vereinfacht werden. Grob
beschrieben ist der Sprechzeitraum der in der Situation gegebene reale raumzeitlich bestimmbare
Raum. Mit Elementen des Rederaums bezieht man sich auf diskursive Einheiten, mit Hilfe des Vor-
stellungsraums bezieht man sich auf eine gedankliche Welt, und mit Elementen des Textraums be-
zieht man sich auf das in einem Text Dargestellte. Die Kategorie Textraum spielt in der DGS eine
untergeordnete Rolle, weil es -sicherlich aus unterschiedlichsten Gründen- bisher kaum erstarrte
Formen der Mitteilung gibt.

                                               34
4. RAUMKONZEPTION IN DER DGS

4.0 Bemerkungen zur Transkription
Gebärden werden in Grossbuchstaben notiert. Mit der Gebärde verbundene Bedeutung kennzeichne
ich durch einfache Klammerung. Optionale Gebärden werden durch einfache Klammern mit vor-
ausgehendem Additionszeichen markiert. Die überstrichenen Gebärden werden mit nichtmanuellen
Komponenten gebärdet. Kommentare innerhalb der Transkription werden durch geschweifte
Klammerung notiert. Die schriftsprachlichen Satzzeichen möchte ich in meinen Beschreibungen
durch eine eckige Klammerung ersetzen, die zusammengehörige Konstituenten sichtbar machen
soll, sobald zwei Propositionen anzunehmen sind. Ich benutze keine lautsprachlichen Satzzeichen,
weil es nicht sinnvoll ist, die lautsprachliche Kategorie ‚Satz’ in der DGS zu übertragen. Ich trenne:
1. Den Index, der immer mit dem Zeigefinger (G-Handform) ausgeführt wird. Um den Index zu
   gebärden, wird der Zeigefinger gerade bis bogenförmig von oben nach unten bewegt, um auf
   einen Punkt im Gebärdenraum hinzudeuten. Der Index unterscheidet sich von:
2. Bestimmten Orte im Gebärdenraum, die entweder
   a) in ihren dreidimensionalen topologischen Qualitäten bestimmt sind (Orta), oder
   b) die in Bezug auf solche Qualitäten weitgehend unbestimmt sind (Ortunspezifiziert).

4.1 DGS Raumkonzeption mit Hilfe von Vorstellungsräumen
Eine sprachliche Nutzung des Raums findet in Laut- und Gebärdensprachen gleichermaßen statt10:
Räumliche Beziehungen werden versprachlicht. Mit sprachlichen Ausdrücken können unter Zuhil-
fenahme des Raums räumliche Bezüge ausgedrückt werden. Eine Nutzung von Raum als strukturie-
rendem Mittel scheint also nicht einzigartig für Gebärdensprachen zu sein. Die Möglichkeiten der
Verwendung unterscheiden sich, weil statt des auditiven Kanals die visuelle Modalität genutzt wird.
Raum als Strukturelement der Sprache ist in der gebärdensprachlichen Kommunikation von anderer
Bedeutung als in der lautsprachlichen Kommunikation : Während man in Lautsprachen sogar
räumliche Bezüge ohne Rückgriff auf die Darstellung eines wie auch immer gearteten Raumes aus-
drücken kann, könnte man ohne den Zugriff auf Raum als strukturierendes Element in Gebärden-
sprachen nichts ausdrücken.

In Lautsprachen können räumliche Bezüge durch die Darstellung räumlicher Gegebenheiten ausge-
drückt werden, was zum Beispiel durch eine Platzierung von Hilfsobjekten im von Sprecher und
Hörer geteilten Sprechzeitraums (in der betreffenden Situation) geschieht (vgl. LIDDELL 1995).
Vorzugsweise werden komplizierte räumliche Gegebenheiten thematisiert; bei einfachen räumli-
chen Propositionen wie „Mein Haus ist an der Leopoldstrasse. Rechts davon ist die Garage.“ genügt
eine sprachliche Nennung des Sachverhalts, damit der Hörer eine räumliche Vorstellungswelt er-
stellen kann. Bei konzeptuell komplizierten Raumbeschreibungen wie „Das Fahrrad ist hinter mei-
nem Haus an der Leopoldstraße, und zwar rechts hinter dem Schuppen, der sich im linken Teil des
Gartens befindet.“ kann eine schnellere Verständigung von Sprecher und Hörer dadurch erreicht
werden, dass der Sprecher Hilfsobjekte im Raum (zum Beispiel auf einem Tisch) platziert, um mit
ihnen die räumlichen Gegebenheiten zu spiegeln (Beispiel 4):

10
     Im folgenden Kapitel habe ich versucht, die Überlegungen LIDDELLS (1995) für die ASL teilweise auf die DGS zu
     übertragen

                                                          35
4. „Wenn das die Leopoldstraße ist [Zeigeste], ist das mein Haus [Platzieren eines Objektes,
         das gerade zur Hand ist], dann ist der Garten hier [Zeigegeste, die einen bestimmten
         räumlichen Bereich umrandet], und das Fahrrad steht hier [Platzieren eines zweiten
         Objektes oder des Zeigefingers].“

Der Bezug auf eine sichtbare räumliche Konstellation vereinfacht in diesem Fall das gegenseitige
Verstehen der Kommunikationspartner. Dabei werden den real vorhandenen Objekten Bedeutungen
zugeordnet (zum Beispiel durch die Phrase „das ist...“). Eine bloße Nennung ohne Zuordnung reicht
nicht aus, um sich referentiell auf die Objekte beziehen zu können: Zeigen auf die rechte Objekt-
seite eines Buchs mit der Äußerung „Hier ist die Sonnenseite“ ist eine unsinnige Äußerung, wenn
der Bezug zwischen Buch im realen Raum und dem Haus in der Vorstellungswelt nicht erstellt
worden ist. Häuser, die wie Bücher geformt sind, sind unüblich, aber der zweckgebundene Ge-
brauch dieser Bezüge funktioniert gut: Menschen sind in der Lage, auf Objekte und den sie umge-
benden Raum zu zeigen, um räumliche Informationen zu kodieren.

Die Platzierung von Gebärden im Raum mit ihrem teilweise stark ikonischen Charakter ähnelt sol-
chen Bezugnahmen; unterscheidet sich aber auch von lautsprachlichen Bezügen: Nichts kann in
gebärdensprachlichen Äußerungen ohne die Bezugnahme auf Raum ausgedrückt werden. Die
räumlichen Vorstellungswelten sind nicht immer zu jeder Zeit des Diskurses wirklich sichtbar und
greifbar wie die Stellvertreter-Objekte, die Lautsprachsprecher verwenden. Raum als strukturieren-
der Faktor hat in der DGS eine andere Stellung als in Lautsprachen; Gebärdende scheinen andere
räumliche Repräsentationen zu erstellen als diejenige, in der Items auf einem Tisch platziert wer-
den. Ausgefeilte Vorstellungswelten werden auch im normalem Diskurs im Gebärdenraum erschaf-
fen, zum Beispiel können Pronomen und bestimmte Verbtypen, die in spezifischen Arealen produ-
ziert oder auf diese gerichtet sind, distinktive Bedeutung haben. Einzigartig in Gebärdensprachen
scheinen die Möglichkeiten zu sein, Zeigegeste und Gebärde simultan miteinander zu kombinieren.

4. 2 Erstellen räumlicher Repräsentationen in Gebärdensprachen
Beispiel 5:
             Kopfnicken
     5. (BERG-Orta)
        „Da (a) ist ein Berg“

Gebärden, die nicht am Körper oder mit Körperkontakt gebildet werden müssen, werden im Gebär-
denraum positioniert. Mit der Positionierung im Gebärdenraum wird ein Vorstellungsraum erstellt.
Die Lokalisierung des Bergs im Gebärdenraum entspricht einer Ortszuweisung im Vorstellungs-
raum, womit der Ort a dimensional spezifiziert wird. Damit ist gemeint, dass der betreffende Ort im
Gebärdenraum bedeutungstragend in Bezug auf seine räumliche Spezifikation ist. Bilde ich eine
Gebärde TAL rechts neben der Gebärde BERG, drücke ich damit den Sachverhalt aus, dass neben
dem Berg ein Tal ist. Ich erschaffe einen Vorstellungsraum, in dem sich ein Berg und ein Tal in
einer bestimmten räumlichen Anordnung zueinander befinden. Diese Art der Lokalisierung ist oft
von der nichtmanuellen Komponente Kopfnicken begleitet. Durch das Kopfnicken bei Blickkontakt
von Gebärdendem und Seher versichert sich der Gebärdende der Aufmerksamkeit des Sehers11.
Möchte ich andere Sachverhalte ausdrücken, in denen der Berg eine nebensächliche Rolle spielt und
seine räumliche Lokalisierung für den Diskurs thematisch unwichtig ist, wird das Kopfnicken weg-

11
     Mit Seher kann ich im Unterschied zu Rezipient auf den Gebrauch der visuellen Modalität hinweisen.

                                                           36
gelassen. Mit der Gebärde BERG (nichtmanuelle Komponente Kopfnicken) wird kodiert, dass eine
Entität an diesem bestimmten Ort lokalisiert wird. Der Lokalisationsort der Gebärde ist nicht lexi-
kalisch fixiert, sondern die Gebärde wird an einem Ort produziert, der einen Lokalisierungsort einer
Entität in einer räumlich erschaffenen Vorstellungswelt positioniert12.
Beispiel 6:
                         sehr
     6. HAUS(-Orta) (NAH-rechts) FAHRAD *DISK (CLa-Orta)
       „Rechts neben dem Haus steht (so) ein Fahrrad.“

Die Gebärde HAUS in Beispiel 6 ist eine zweihändige Gebärde. Diese wird an einem durch die
Ausführung spezifizierten Ort im Gebärdenraum lokalisiert (siehe Beispiel 5). Um das Zeichen
NAH zu bilden, wird die linke Hand an dem Ort im Raum platziert, der in der Gebärde HAUS von
der rechten Hand eingenommen wurde13. FAHRRAD ist eine zweihändige Gebärde, kann aber op-
tional einhändig produziert werden, was sich in diesem Fall anbietet, da man zur Verdeutlichung
der rechten Hauswand (ich meine hier aus der Sprecherperspektive‚rechts’) die linke Hand an dem
Ort lassen kann, an dem NAH produziert wurde14. CLa ist eine Klassifizierende Handform für zwei-
rädrige Fahrzeuge. Diese wird im Verhältnis zur Hauswand, die durch die linke Hand dargestellt
wird, im Raum platziert. Die Klassifizierende Handform spezifiziert eine bestimmte räumliche Aus-
richtung des Fahrrads, wobei die Fingerspitzen der flachen ungespreizten Hand die Vorderseite des
Fahrrads darstellen. Durch das räumliche Verhältnis der linken Hand beim Gebärden von NAH und
der rechten Hand beim Gebärden der Klassifizierenden Handform wird ein räumliches Verhältnis
von zwei Objekten in der Vorstellungswelt dargestellt. Produziere ich beide Handformen in paral-
leler Raumanordnung, bezeichne ich den Sachverhalt, dass das Fahrrad längs neben dem Haus steht.
Produziere ich beide Handformen in einem Winkel von 90 Grad zueinander, wobei die Fingerspit-
zen der rechten Hand den Handteller der linken Hand berühren, bezeichne ich den Sachverhalt,
dass das Fahrrad mit dem Vorderreifen im Winkel von 90 Grad neben dem Haus steht (und sehr
unüblich abgestellt wurde). Mit der Art der räumlichen Ausführung der Klassifizierenden Handform
wird die Art der Beziehung der durch die Gebärden dargestellten Entitäten ausgedrückt. Die unter-
strichene Gebärde NAH wird mit folgender Mimik produziert: Augen verkleinern und etwas zu-
sammenkneifen, Mund spitzen, und optional die Zunge leicht vorstrecken. Je intensiver die Mimik
produziert wird, desto näher befindet sich das Fahrrad am Haus.

Führt man FAHRRAD zweihändig aus, wird vor der Produktion der Klassifizierenden Form die
linke Hand wieder genau an dem Ort im Raum platziert, an dem vorher die Gebärde NAH produ-
ziert wurde, mit dem auch schon die rechte Seite des Hauses bezeichnet worden ist. Diese Form
habe ich mit DISK transkribiert. DISK ist ein diskursives deiktisches Element, was verschiedene
Handformen annehmen kann. Hat man zum Beispiel ein Regal dargestellt, kann die Ecke des Re-
gals durch eine gekrümmte Hand thematisch wieder aufgenommen werden. Die passive Hand kann
genutzt werden, um räumliche Beziehungen eines vorher genannten Objekts zu verdeutlichen. Es
wäre unsinnig, davon auszugehen, dass jede verwendete Form eine eigene, im Lexikon zu verzeich-
nende Bedeutung hat. Ich glaube, dass die morphophonologische Bedeutung unspezifiziert ist und
der pragmatischen Sichtbarmachung räumlicher Beziehungen dient. Einmal dargestellte räumliche
Information von der Seite des Sprechers wird durch seine im Gebärdenraum sichtbaren Hände zu
12
    Das Beispiel 6 krank daran, dass man im Grunde keine Äußerung ohne Kontextbezug machen kann. Eine Zitierform
   „Ein Berg“ oder „der Berg“ ohne thematischen Bezug gibt es nicht.
13
   Die dimensionalen Bezeichnungen rechts und links beziehen sich im folgenden Abschnitt auf Gebärdende, die
   Rechtshänder sind, und deren rechte Hand dominant ist. Für Linkshänder sind die Bezeichnungen zu vertauschen.

                                                       37
einer besseren Orientierung des Sehers weiter beibehalten und ermöglicht so eine konstante ge-
meinsame Teilung des Wissens von Sprecher und Seher. Die Beibehaltung räumlicher Positionie-
rungen in dieser Gebärdenfolge durch beide Hände ist Ausdruck der relationalen Raumverhältnisse,
die so für den Seher einfacher nachvollzogen werden können. Der von Sprecher und Seher geteilte
Gebärdenraum ist räumlich analog übertragbar in einen von beiden Gesprächsteilnehmern geteilten
Vorstellungsraum. Dadurch werden die Gebärden in ein sichtbares Verhältnis gesetzt, das es dem
Seher erleichtert, räumliche Bezüge zu identifizieren und somit referentiell zuzuordnen.

Mit der Produktion der Klassifizierenden Handform können spezifizierte Raumverhältnisse ausge-
drückt werden. Im Deutschen würde die Äußerung „Da ist das Fahrrad“ sicherlich von einer Zeige-
geste begleitet werden. Durch diese Zeigegeste kann in Lautsprachen aber keine bestimmte Orien-
tierung des Objekts angezeigt werden, sondern nur eine Positionierung. Dies kann man auch in der
DGS, wobei dann der spezifizierte Ort wird durch die G-Handform (den Zeigefinger) bestimmt
wird (Beispiel 7):
                            sehr                               betont
      7. HAUS(-Orta) (NAH-rechts) FAHRAD *DISK Indexa
      „Rechts neben dem Haus steht ein Fahrrad.“

Räumliche Verhältnisse im Gebärdenraum können also zur einer Darstellung räumlicher Verhält-
nisse in einem Vorstellungsraum genutzt werden. Die spezifischen Mittel in der Grammatik der
DGS sind durch die visuelle Modalität bestimmt. Der Bezug auf räumlich sichtbare Verhältnisse
ermöglicht Sprecher und Seher, ihr Wissen zu teilen. Die Möglichkeit von Sprecher und Seher, sich
auf den Raum, den beide in der unmittelbar gegebenen Gesprächssituation sehen, zu beziehen, kann
genutzt werden, um einen gemeinsamen Vorstellungsraum zu erschaffen. Räumlich konkrete Wis-
sensteilung kann ohne die Gefahr von Wissensbrüchen einfach in eine räumlich abstrakte Wissen-
steilung übertragen werden, weil der Rezipient durch die Sichtbarkeit der Gebärden eine unmittel-
bare Orientierungsanweisung durch den Sprecher zur Verfügung gestellt bekommt: DISK ist ein
stark deiktisches Element, mit dem Zeigen und Referieren gleichzeitig ausgeführt werden können.

4.3 Raumkonzeption mit grammatischen Mitteln
4.3.1 Übereinstimmungsverben und Bezugspunkte
Jedes Übereinstimmungsverb ist durch seine personalen Bezüge inhärent gerichtet: Wenn ich dem
mir gegenübersitzenden anwesenden Wolfgang Schokolade gebe, führe ich die Gebärde GEBEN
von mir zu Wolfgang aus (8a); gibt Wolfgang mir Schokolade, wird die Bewegung von ihm aus zu
mir gerichtet (8b):

      8.a) W. FREUNDLICH SCHOKOLADE (ich-GEB-ihm)
           „Wolfgang ist freundlich. Ich gebe ihm Schokolade.“
      8.b) W. FREUNDLICH SCHOKOLADE (er-GEB-mir)
           „Wolfgang ist freundlich. Er gibt mir Schokolade.“ bzw. „Wolfgang ist freundlich. Ich be
           komme von ihm Schokolade“.

Gebe ich dem nicht anwesenden Wolfgang Schokolade, wird die Gebärde von mir aus auf einen
Punkt im Raum gerichtet; gibt eine nicht anwesende Person namens Wolfgang mir Schokolade, von

14
     Es gibt auch eine lexikalisierte Gebärde RECHTS, die durch zweimaliges Antippen des rechten Armes gebärdet wird.

                                                          38
einem Ort im Gebärdenraum aus zu mir. Dabei ist die Aufrechterhaltung des Blickkontakts zum
Gegenüber wichtig (vgl. 3.2.2).Die an dem Prozess des Gebens beteiligten Personen müssen immer
zusammen mit der verbalen Form ausgedrückt werden: Es existiert keine Zitierform von GEBEN.
Der Name Wolfgang wird mit dem Fingeralphabet gebärdet. Das ist ein manuelle symbolische Dar-
stellung der Buchstaben des lateinischen Alphabets. Wenn man weiß, um wen es sich handelt, wird
nur der Anfangsbuchstabe gebärdet und der Rest durch das Mundbild ausgedrückt.

Es sieht so aus, als ob durch das Übereinstimmungsverb eine Person im Gebärdenraum thematisch
etabliert und zugleich lokalisiert wird. Aus diesem Grund transkribiere ich die Form mit einer zu-
sätzlichen pronominalen Bedeutung in runden Klammern, weil ich glaube, dass mit einem Überein-
stimmungsverb personale Bezüge erstellt werden. Es ist aber nicht klar, ob eine Person etabliert
oder lokalisiert wird, oder eventuell ein Objektbezug erstellt wird, bei dem zum Beispiel ein Weg
beschrieben wird, den ein Objekt im Raum zurücklegt. Aus diesem Grund wird dieses Phänomen
auch als Kongruenz interpretiert: Subjekt und Objekt des Verbs seien in das sprachliche Zeichen
inkorporiert (BOYES-BRAEM 1992: 63f). Die Einbeziehung von Objektkonzepten bei Klassifikator-
formen in Gebärdensprachen diskutiert HILZENSAUER/ SKANT (2001). Dieses analytische Problem
stellt sich analog für die Versprachlichung räumlicher Relationen in der Lautsprache (vgl. 1.3).

Es scheinen homonyme Verbpaare zu existieren, von denen der eine Partner gerichtet ist und der
andere nicht. Diese Formen unterscheiden sich formal durch eine andere Handform, Handstellung
oder andere distinktive Parameter. Ein Beispiel ist „treffen“: TREFFEN (G-Hand) und TREFFEN
(H-Hand) werden nicht gleich verwendet. Letzteres ist keine Richtungsgebärde und ihre Ausfüh-
rung im Raum unterscheidet sich in der Form nicht in Abhängigkeit von den Orten, an denen Per-
sonen räumlich lokalisiert sind. Andere Beispiele sind: VERSPOTTEN, SAGEN, SCHIMPFEN,
ZUSCHAUEN. Die gerichteten Partner nenne ich Übereinstimmungsverben. Referentielle Bezüge
der ungerichteten können mittels der Gebärde AUF verdeutlicht werden (Beispiel 9):

     9. ICH AUF SAGungerichtet ...
      „Ich sage zu x...“

Auch die gerichteten Partner können zur Verdeutlichung referentieller Bezüge mit AUF geäußert
werden (Beispiel 10):

     10. [ICH AUF W. FREUNDLICH]{rechts} [SCHOKOLADE (ich-GEB-ihm)]{rechts} [(+AUF) N.
                 Negation
        (ich-GEB-ihm)]{links}
        „(Ich finde) Wolfgang freundlich. Ich gebe ihm Schokolade. Norbert bekommt nichts.“

Alles, was sich auf die positive Verbalphrase bezieht, wird räumlich von dem getrennt, was sich auf
die negative Verbalphrase bezieht. Dazu wird der Oberkörper leicht nach rechts bzw. links verscho-
ben. Der linguistische Status der Gebärde AUF ist noch nicht befriedigend bestimmt15.

15
  AUF wird auch bei adjektivischen und adverbialen Gefühlsausdrücken wie STOLZ, SAUER, und WÜTEND verwen
 det, mit denen man sich auf Lebewesen beziehen kann (Beispiel )
  ICH STOLZ AUFx
  „Ich bin stolz auf x.“
 MARTHUR/ RATHMANN (2001) werten AUF als personales Element PAM (personal agreement marker).

                                                  39
Bei den meisten Übereinstimmungsverben folgt die Hand genau dem umgekehrten Weg im Raum,
wenn man wie in 8 b) eine entgegengesetzte Handlung ausdrücken möchte; einige Verben schei-
nenaber lexikalische Besonderheiten zu besitzen. Das Übereinstimmungsverb SAGEN wird zum
Beispiel vom Kopf des Sprechers aus auf den Seher gerichtet; werde ich informiert, endet die Ge-
bärde nicht an meinem Kopf, sondern an meiner Schulter. Es ist möglich, dass verschiedene Klas-
sen von Übereinstimmungsverben existieren: Bei der Produktion einiger Übereinstimmungsverben
ändert sich nur die Richtung der Gebärde, bei anderen zusätzlich (oder ausschließlich) die Orientie-
rung (vgl. RATHMANN/ MATHUR 2001).

In Beispiel 8 passiert unter pragmatischen Gesichtspunkten folgendes: Sprecher (ich) und Rezipient
(unbekannt und ungenannt, aber anwesend – außer der Sprecher führt Selbstgespräche) befinden
sich in einer gemeinsamen raumzeitlichen Situation, dem Sprechzeitraum. Der Sprecher möchte
etwas über die Person Wolfgang äußern, nämlich die obigen Sätze Wolfgang ist freundlich. Ich gebe
ihm Schokolade. Durch die Nennung Wolfgangs wird dieser thematisch im Diskurs etabliert, so
dass die Charakterisierung „freundlich“ angeschlossen werden kann. Die Person „ich“ ist im
Sprechzeitraum anwesend und kann mit der Gebärde SCHOKOLADE die Äußerung beginnen.
Durch die Ausrichtung der Folgegebärde GEBEN auf einen Ort im Gebärdenraum, der sichtbar im
Sprechzeitraum verankert ist, können Sprecher und Seher auf einfache Art und Weise einen ge-
meinsamen Vorstellungsraum entwerfen, in dem gedanklich einer Person Schokolade gegeben wird.

In sehr vielen linguistischen Beschreibungen wird behauptet, dass man Übereinstimmungsverben
nur auf vorher erstellte Bezüge (Indices) richten kann (für die DGS BOYES-BRAEM 1992 und
KELLER 1998). Dabei wird davon ausgegangen, dass nach der Nennung der betreffenden Entität
diese mit der G-Handform (dem Zeigefinger) im Gebärdenraum verortet wird, und man sich erst
dann auf die entsprechende Entität beziehen kann. Um den Index zu gebärden zu können, muss
vorher über die betreffende Person „sie“ gesprochen worden sein (Beispiel 11: Abwesende Person
mit örtlichem Bezug):
                   Befehlsmimik
  11. Index (sie-ABHOL-du)
      „Hol sie (nicht anwesend) ab!“

Dabei stimmt der Ort im Gebärdenraum, an dem der Index gebärdet wird , mit dem Ort überein,
von dem aus die Richtungsgebärde ABHOLEN ausgeführt wird (Beispiel 12):
  12. Index{an Orta} (sie-{an Orta}ABHOL-du{an Ortb})
      „Hol sie (nicht anwesend) ab.“

Es ist fraglich, ob diese Gebärde nicht als Personalpronomen transkribiert werden sollte (Beispiel
13 ):
                 Befehlsmimik
  13. SIE (sie-ABHOL-du)
      „Hol sie (nicht anwesend) ab!“

Es ist auch zu diskutieren, ob die Gebärde nicht als ein Bezug auf einen spezifizierten Ort transkri-
biert werden sollte, der einen lokalisierenden Charakter tragen kann, was dann so aussehen würde
(Beispiel 14):

                                                 40
Befehlsmimik
     14. Orta (sie-ABHOL-du)
         „Hol sie (nicht anwesend) ab!“

Man kann auch auf den zweiten Blick nicht entscheiden, ob „sie“, „da ist“, oder etwas drittes aus-
gedrückt wird, da die entsprechende Gebärde nicht immer von einem Mundbild begleitet ist. Diese
Frage ist ein Beispiel für die praktischen Schwierigkeiten, die aus den konkurrierenden Hypothesen
entstehen, die sich damit befassen, in welchem Verhältnis Raum und sprachlicher Ausdruck stehen.
Nach der Lokativhypothese sollte man die Form als Personalpronomen transkribieren, weil es um
die Verortung von Personen im Raum geht. Nach der Transitivitätshypothese müsste man „Index“
oder „Ort“ transkribieren, weil eine sprachliche Form etabliert wird, die eine Stellvertreter-Funktion
in Bezug auf den Referenten besitzt16. Die Verwendung eines Index scheint insgesamt auf narrative
Zwecke wie Erzählungen oder Berichte beschränkt zu sein.

In den meisten Fällen wird aber bei der Verwendung von Übereinstimmungsverben auf eine expli-
zite Indizierung verzichtet, und die entsprechenden diskursiv zu markierenden Elemente werden
durch nichtmanuelle Mittel wie referierendes Blickverhalten, eine leichte Drehung oder eine Verla-
gerung des Kopfes und des Oberkörpers im Gebärdenraum angezeigt (vgl. HESSMANN 2001: 99).
Dabei wird die Ausführung der Gebärden bei thematisch zu trennenden Gebärden nach rechts bzw.
links verlagert, während bei parallelen Reihungen mit aufzählendem oder listartigem Charakter die
Gebärden von rechts nach links im Gebärdenraum verschoben werden. Die ansonsten räumlich so
klar zu unterscheidenden einzelnen Ausführungsorte können dabei ineinander gestaucht werden
(wenn man vor sich im Gebärdenraum keinen, ‚freien’ Ausführungsort mehr hat, der noch nicht
durch eine referentielle Zuordnung belegt ist).

Anwesenden Personen analog einen Index zuzuweisen ist ungrammatisch oder markiert: Es zeigt
einen Wechsel im Rederaum an. Wenn ich einer anwesende Person im Gebärdenraum verorte, kann
ich einen so genannten Rollenwechsel oder ein Rollenverhalten ausüben. Diese Formen gebärden-
sprachlicher Rede werden oft mit den lautsprachlichen Formen der Redeerwähnung verglichen (di-
rekte und indirekte Rede).

Der Index kann zur Fokussierung genutzt werden (Beispiel 15):
                                   Sehr
     15. [W. FREUNDLICH Indexa] [SCHOKOLADE (ich-GEB-ihm-Orta)]
         „ Der (dieser) Wolfgang ist (aber) freundlich“.

Dabei wird der Index mit einer nonmanuellen Komponente gebärdet; nämlich Zusammenziehen der
Augenbrauen, Verkleinern der Augen, Spitzen des Mundes. Dadurch besitzt die Gebärde eine de-
terminierende Funktion.

Weiterhin wird behauptet, dass ein kataphorischer (voraus weisender) Gebrauch von Übereinstim-
mungsverben nicht stattfände (KELLER 1998: 68). Das ist so für die DGS nicht haltbar. Man kann
sich mit einem Übereinstimmungsverb auf eine Person beziehen, ohne dass vorher ein räumlich

16
  Als Index ist es in diesem Beispiel meiner Meinung nach nicht zu transkribieren, weil nicht mit dem Zeigefinger vor-
 her auf einen Punkt im Raum hingedeutet wird, sondern die Handform von ABHOL (Greifhand) einfach im Raum
 produziert wird.

                                                         41
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