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Research Collection Report 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO Author(s): Masuhr, Niklas Publication Date: 2020-07 Permanent Link: https://doi.org/10.3929/ethz-b-000422187 Rights / License: In Copyright - Non-Commercial Use Permitted This page was generated automatically upon download from the ETH Zurich Research Collection. For more information please consult the Terms of use. ETH Library
CSS STUDIE 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO Zürich, Juli 2020 Niklas Masuhr Center for Security Studies (CSS), ETH Zurich
Diese Studie ist online verfügbar unter css.ethz.ch/en/publications/other-reports.html Autor: Niklas Masuhr ETH-CSS Projektmanagement: Oliver Thränert, Leiter Think Tank Layout: Miriam Dahinden-Ganzoni © 2020 Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich DOI: 10.3929/ethz-b-000422187
Inhalt Einleitung 4 Analyserahmen und Definitionen 4 1. Der Ukrainekonflikt und die Antwort auf NATO-Ebene6 Der Ukrainekonflikt 2014 – 15 6 Zurück an die Fuldalücke? 8 Reaktionen auf Allianzebene: VJTF, eFP, Manöver 10 2. Die United States Army als Taktgeberin der Allianz 12 Kontext 12 Doktrin und Organisation 12 Ausrüstung und Material 14 Einschätzung 15 3. Das britische Militär: Streitkräftestruktur als Strategie? 16 Kontext 16 Doktrin und Organisation 17 Ausrüstung und Material 19 Einschätzung 19 4. Frankreich: Zentrum, Süd-Südost und Ferner Osten 20 Kontext 20 Doktrin und Organisation 21 Ausrüstung und Material 22 Einschätzung 23 5. Polen: Front und Knotenpunkt 24 Kontext 24 Doktrin und Organisation 25 Ausrüstung und Material 26 Einschätzung 27 6. Die Bundeswehr zwischen Afghanistan und Baltikum 28 Kontext 28 Doktrin und Organisation 29 Ausrüstung und Material 30 Einschätzung 31 7. Muster und Beobachtungen 32 Bibliographie35
CSS STUDIE – 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO Zusammenfassung Drei zentrale Fragen werden untersucht: Diese Studie behandelt strategische und operative An- 1. Welche strategischen Anpassungen sind im Bündnis passungsmassnahmen ausgewählter NATO-Staaten ge- und in den einzelnen Mitgliedstaaten feststellbar? genüber Russland seit 2014. Dabei werden die jeweiligen politischen, technologischen und bündnisstrategischen 2. Welche Anpassungen sind mit Blick auf Doktrin und Zusammenhänge analysiert. Die Landstreitkräfte von Streitkräftestruktur ersichtlich? fünf Allianzmitgliedern werden in den Blick genommen: Die der USA, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Po- 3. Inwieweit kann die Annexion der Krim als Zäsur lens und Deutschlands. Auch wenn Parallelen und wie- verstanden werden und welche Anpassungen lassen derkehrende Muster erkennbar sind, zeigt die Analyse, sich klar auf den Ukrainekonflikt zurückführen? dass der politische und historische Kontext eine ver- gleichsweise starke Triebfeder für die Streitkräfteent- Auf konzeptueller Ebene behandelt diese Studie die Aus- wicklungen darstellt, wie auch das jeweilige Bedrohungs- wirkungen von Analysen und Interpretationen vergange- und Konfliktbild. ner (und laufender) Konflikte auf a) Streitkräftestruktur (force structure), b) Streitkräfteauslegung (force design) sowie c) Streitkräfteaufstellung (force posture) von militä- rischen Kräften.2 Im Mittelpunkt stehen die Dilemmata, mit denen Russlands wiedererstarktes Militär die NATO Einleitung und ihre Mitglieder insbesondere seit 2014 konfrontiert – sowie die Versuche ausgewählter westlicher Akteure, Die Vorbereitung auf den nächsten Krieg ist der Kern mili- hierauf Antworten zu finden. Der Fokus liegt hier auf tärischer Planung. Das bewusste Vergessen früherer Erfah- Landstreitkräften. See- und Luftstreitkräfte werden in der rungen ist oft Teil dieser Planungsprozesse. So «vergass» Untersuchung berücksichtigt, wo der Kontext dies erfor- die U.S. Army nach dem Vietnamkrieg ihre dort errunge- dert. Aus der gewählten strategisch-operativen Linse er- nen Erkenntnisse über die Aufstandsbekämpfung – und gibt sich, dass vor allem traditionell anmutende Instru- musste sich diese einige Jahrzehnte später im Irak und in mente militärischer Macht – Panzerdivisionen, Luftlande- Afghanistan mühsam wieder aneignen.1 Dieses Beispiel il- einheiten und Bewegungskrieg – behandelt werden, lustriert, dass militärische Organisationen Wetten darüber während subtilere Mittel – «Trollfarmen», Informations- abschliessen, welche Lektionen für welche zukünftigen krieg und Attentate – im Hintergrund stehen. Zudem Einsätze erhalten werden müssen. Die Streitkräfte der USA werden Entwicklungen im Bereich der Aufstandsbekämp- und ihrer Verbündeten befinden sich aktuell in einer sol- fung und Stabilisierung lediglich indirekt in den Blick ge- chen Lage. Der Afghanistaneinsatz ist in seiner Schluss- nommen, und die nukleare Dimension weitgehend aus- phase und mit ihm scheint der Appetit für gross angelegte geklammert. Stabilisierungsmissionen vorerst zu schwinden. Seit 2014 konfrontiert Russlands Militär die NATO zudem wieder mit einer wachsenden Herausforderung, die auf den ersten Analyserahmen und Definitionen Blick Rückgriffe auf den Kalten Krieg nahelegt – was teil- weise zutrifft, allerdings angesichts gewandelter militäri- Diese Studie beginnt damit, die Herausforderungen für scher Rahmenbedingungen zu kurz greift. die NATO und ihre Mitglieder am Beispiel des Ukrainekon- Die Absicht dieser Studie ist es, militärische An- flikts 2014 – 15 zu umreissen und richtet ihr Augenmerk passungsmuster und -dynamiken aus der Perspektive der dabei vor allem auf die Frage, inwieweit sich daraus allge- NATO und ihrer Mitglieder zu betrachten und zu analysie- meine Schlüsse über russische Fähigkeiten und Präferen- ren. Das Ziel ist, ein nuanciertes Bild des aktuellen Pla- zen ableiten lassen. Darauf folgt ein Abschnitt bezüglich nungs- und Fähigkeitsstands ausgewählter NATO-Streit- strategischer und operativer Charakteristika der Kriegs- kräfte zu zeichnen. Das Schwergewicht der Analyse liegt führung des 21. Jahrhunderts, welche sich in zentralen dabei auf den strategischen und operativen Ebenen von Aspekten von jenen des Kalten Kriegs unterscheiden. Das Bodentruppen. erste Kapitel schliesst mit einer Betrachtung der Brüsseler NATO-Allianzebene und stellt die Frage nach den strategi- schen Leitlinien, an denen sich nationale Streitkräfte aus- zurichten haben. Die Analyse der Entwicklung der Streit- 2 Hier jeweils definiert durch a) die allgemeine Organisation und Hier- 1 David Fitzgerald, Learning to Forget. US Army Counterinsurgency Doctrine archisierung von Einheiten, b) die zweckbezogene Konfiguration von and Practice from Vietnam to Iraq (Stanford, CA: Stanford University Struktur, Doktrin und Ausstattung c) die Stationierung und Priorisierung Press, 2013), S. 204. von Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. 4
CSS STUDIE – 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO kräfte der USA, Grossbritanniens, Frankreichs, Polens und ation verwendet. Die hierfür genutzten militärischen, pa- Deutschlands soll ein gewisses Spektrum mit Blick auf Be- ramilitärischen und nicht-militärischen Mittel werden je drohungswahrnehmung, Ambitionsniveau und Finanzie- nach Kontext als subkonventionell oder halbverdeckt be- rung abbilden. Die Studie versucht – soweit möglich – zeichnet. eine Vergleichbarkeit der einzelnen Fallstudien mithilfe Russische (und chinesische) Komplexe von Luft- eines Analyserahmens herzustellen. Konkret werden alle abwehrsystemen und Anti-Seezielkörpern sowie ihre not- Fälle in drei Schritten betrachtet: Jüngerer sicherheitspo- wendigen Radar- und Kommandoinfrastrukturen werden litischer Kontext – Doktrin und Organisation – Ausrüs- in der einschlägigen Literatur häufig unter dem Begriff tung und Material. Die einzelnen Fälle schliessen mit Ein- Anti-Access / Area Denial (A2/AD) zusammengefasst. Pro- schätzungsabschnitten. blematisch ist hier vor allem, erstens, dass dieser Begriff Eingangs müssen einige Begrifflichkeiten ge- undurchdringliche Blasen suggeriert, was auch durch Kar- klärt werden. Zunächst ist festzuhalten, dass die Studie ten, auf denen die Radien von Maximalreichweiten ein- sich an der NATO-Systematik für die Kategorisierung mili- gezeichnet sind, hervorgerufen wird.7 Zweitens wird mit tärischer Handlungsebenen orientiert: (militär-)strate- diesem Begriff den russischen und chinesischen Streit- gisch, operativ und taktisch. Strategisch bezeichnet mili- kräften eine uniforme doktrinäre und konzeptuelle Basis tärische Aktionen und strukturelle Massnahmen, welche unterstellt, die so nicht gegeben ist.8 Die vorliegende Ana- auf höchster nationaler oder NATO-Ebene geplant und lyse bevorzugt die Begriffe «Interventionsabwehrsyste- durchgeführt werden. Operativ bezieht sich auf die Konfi- me» im strategischen und operativen Kontext und «inte- guration und den Einsatz militärischer Mittel im Gesamt- grierte Luftabwehrkomplexe» im taktischen Sinne. Auch kontext einer zeitlich und räumlich ausgedehnteren Mili- wenn einzelne Radar- oder Raketensysteme Element von täroperation. Doktrinäre Entwicklungen fallen vor allem beiden sind, erscheint diese Definition präziser. in diese Kategorie. Taktisch behandelt schliesslich techni- sche Fähigkeiten und militärische Kompetenzen, um in einzelnen Gefechten oder Missionen zu bestehen und eng definierte militärische Ziele zu erreichen.3 Im euroatlantischen Diskurs beschreiben zwei Hauptbegriffe das «halbverdeckte»4 russische Vorgehen auf der Krim und im Donbass: Einerseits der sogenannte «Hybridkrieg», andererseits die «Gerasimov-Doktrin», letztere benannt nach dem russischen Generalstabschef. Diese Begriffe werden zum Teil synonym verwendet.5 Ein neueres Konzept ist das der «Grauzone», welches seinen Ursprung auch in chinesischen Vorstössen im Südchinesi- schen Meer hat. In beiden Fällen werden aus dieser Pers- pektive die Aversion demokratischer Regierungen gegen- über bewaffneten Konflikten und ihr binäres Verständnis von Krieg und Frieden ausgenutzt, um unterhalb der Kriegsschwelle zu agieren. Neben der politischen Schwä- che westlicher Regierungen, auf verdeckte und halbver- deckte Vorstösse zu reagieren, kann festgestellt werden, dass die Abwehr der fraglichen subkonventionellen Ein- sätze und Provokationen bisher keiner konzeptuellen Pla- nungsphase der U.S. Army entsprachen.6 Auch wenn die- ses Konzept Kritik ausgesetzt ist, wird es in dieser Analyse mit Blick auf eine militärisch ausnutzbare politische Situ- 3 NATO, AJP-01: Allied Joint Doctrine, Februar 2017, S. 1 – 8. 4 Martin Šuba, «Land warfare in Ukraine. Modern Battlefield of Europe», in: European Army Interoperability Centre Finabel, Food for Thought 5 (2019), S. 16. 5 Christoph Bilban / Hanna Grininger / Christian Steppan, «Gerasimov – Ikone einer tief verwurzelten Denktradition», in: Christoph Bilban / Hanna Grininger (Hrsg.), Mythos «Gerasimov-Doktrin». Ansichten des russischen Militärs oder Grundlage hybrider Kriegsführung? (Wien: Bun- 7 Robert Dalsjö / Christofer Berglund / Michael Jonsson, «Bursting the desministerium für Landesverteidigung Schriftenreihe der Landesver- Bubble. Russian A2/AD in the Baltic Sea Region. Capabilities, Counter- teidigungsakademie 2, 2019), S. 15 – 56. measures, and Implications», Swedish Defence Research Agency (FOI), 6 Antulio J. Echevarria, Operating in the Gray Zone. An Alternative Para- 2019, S. 9, 43, 65. digm for U.S. Military Strategy (Carlisle Barracks, PA: United States Army 8 Michael Kofman, «It’s Time to Talk About A2/AD: Rethinking the Russian War College Press, 2016), S. 4, 12 – 14. Military Challenge», in: War on the Rocks, 05.09.2019. 5
CSS STUDIE – 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO 1 Der Ukrainekonflikt punkt, um den lokalen politischen Machtwechsel militä- und die Antwort auf risch abzusichern. Wenige Tage später, am 27. Februar, übernahmen als lokale Milizen getarnte russische Spezial- NATO-Ebene einheiten (Sily spezial'nych operazij, SSO) das Parlament der Krim in der Hauptstadt Simferopol, wobei sie Unter- stützung von der örtlichen Polizei erhielten.10 Bis Anfang In diesem Kapitel wird Russlands Intervention in der Uk- März wurden zunächst weitere Luftlandekräfte (Wos- raine in der gebotenen Kürze analysiert. Dadurch wird der duschno-dessantnyje woiska, VDV) nachgeführt, um ukra- Kontext deutlich, in dem die Allianz und ihre Mitglieder inische Einheiten festzusetzen und zu neutralisieren, wo- militärisch planen. raufhin auch Bodentruppen nachgezogen wurden.11 Die kulturelle und sprachliche Nähe half den russischen Ver- bänden dabei, inmitten der lokalen Zivilbevölkerung zu Der Ukrainekonflikt 2014 – 15 agieren oder sich sogar als örtliche Sicherheitskräfte aus- zugeben. Das folgende Referendum über die Annexion Als Reaktion auf den Sturz des ukrainischen Präsidenten der Krim, vollzogen am 18. März, wurde militärisch vor al- Viktor Janukowitsch löste der Kreml zwei parallele Opera- lem durch Eingreifkräfte ohne Hoheits- und Einheitsab- tionen aus, welche aus militärischer Perspektive getrennt zeichen abgesichert.12 betrachtet werden sollten. Zunächst wurde 2014 die Mit Blick auf die Eskalation im Donbass ist ins- Halbinsel Krim von einer Kombination aus bereits vor Ort besondere der gebündelte Einsatz von Artillerie seitens befindlichen Kräften und eingeflogenen Reaktionstrup- der russischen Streitkräfte sowie die Präsenz irregulärer pen besetzt und vom Rest der Ukraine physisch und poli- Kräfte auffällig. Bereits bevor Moskaus Bodentruppen in tisch abgeschnitten. Gleichzeitig trugen russische Trup- die Ukraine rollten, wurden ukrainische Truppen von rus- pen und nachrichtendienstliche Einheiten massgeblich zu sischem Territorium aus unter Artilleriebeschuss genom- einer Eskalation im Donbass bei, indem dort tätige sepa- men. Hierbei ist vor allem relevant, dass beispielsweise ratistische Gruppierungen unterstützt wurden. Später der Schlag gegen ukrainische Truppen im Juli bei Zeleno- wurde das russische Engagement graduell verstärkt, um pillya, der innerhalb westlicher Streitkräfte als Weckruf die sich im Kampf mit ukrainischen Streitkräften befindli- aufgefasst wird, mit modernisierten Versionen alter sow- chen lokalen Verbündeten vor dem Zusammenbruch zu jetischer BM-21 Grad-Raketenwerfer durchgeführt wur- bewahren, insbesondere in zwei Offensiven. Die Belage- de.13 Russische Truppen und auch ihre Verbündeten setz- rungsgefechte bei Ilowajsk im Sommer 2014 und Debalz- ten sowohl militärische als auch kommerzielle Drohnen ewe im Winter 2015 stellen die Höhepunkte dieser russi- zur Erfassung von Zielen, der Korrektur von Salven und zur schen Eingriffe dar, bei denen schwere Verbände am Schadenseinschätzung ein.14 Jedoch begnügte man sich Boden eingesetzt wurden. In beiden Fällen wurde das of- nicht damit, ukrainische Einheiten aufzuklären und aus fensive Potenzial der ukrainischen Armee gebrochen und der Ferne zu beschiessen. Stattdessen zielten Bewegun- politische Waffenstillstände erzwungen, namentlich die gen der russischen Truppen und der Separatisten darauf Minsker Abkommen. Das militärische Resultat dieser In- ab, ukrainische Einheiten zu kanalisieren und als Ziele für terventionen ist eine stabile, militarisierte Kontaktlinie die Artillerie zu fixieren.15 Die Schwerpunkte der Sommer- zwischen Kiew und den pro-russischen Separatisten.9 Für und Winteroffensiven (Ilowajsk, respektive der Flughafen diese Studie sollen militärische Kernelemente und Muster Donezk und Debalzewe) zeigen dies besonders deutlich. im russischen Vorgehen identifiziert werden, um die Her- Diese Gefechte wurden bewusst von russischer Seite als ausforderung für die Streitkräfte der NATO zu umreissen. Belagerungen geführt, um die Verteidiger abzunutzen, Russische Militäroperationen auf der Krim be- anstatt die Ziele schnell aber verlustreich zu erstürmen. gannen am 24. Februar 2014, als das Parlament der Krim Dies zwang Kiew an den Verhandlungstisch, während in Sewastopol, Heimathafen der russischen Schwarz- sich die Regierungstruppen in einem für sie nachteiligen meerflotte, einen russischen Staatsbürger zum Bürger- meister erklärte. Russische Marineinfanterie (Morskaja pechota Rossii, MPR) verliess daraufhin den Flottenstütz- 10 Kofman et al, Lessons from Russia’s Operations, S. 6 – 9. 11 Mark Galeotti, Russian Political War. Moving Beyond the Hybrid, (Abing- 9 Die detaillierte Chronologie der beiden Operationen, auf der Krim und don: Routledge, 2019), S. 74. im Donbass, wird in einer Studie des US-amerikanischen Think Tanks 12 Kofman et al, Lessons from Russia’s Operations, S. 11. RAND und, aus russischer Perspektive, in einem Sammelband des 13 Peter L. Kerkhof / Steven E. Gventer, «Learning from Combat-Training Moskauer Centre for Analysis of Strategies and Technologies (CAST) dar- Centers. Lessons in Small Unmanned Aerial Systems Employment for gestellt. Siehe: Michael Kofman / Katya Migacheva / Brian Nichiporuk High-Intensity Conflict at Squadron Level», in: Armor 131:2 (2018), S. 16. / Andrew Radin / Olesya Tkacheva / Jenny Oberholtzer, «Lessons from Russia’s Operations in Crimea and Eastern Ukraine», (Santa Monica, CA: 14 Samuel Cranny-Evans / Mark Cazalet / Christopher F. Foss, «The Czar of RAND Corporation, 2017); Anton Lavrov, «Civil War in the East. How the battle. Russian artillery use in Ukraine portends advances», in: Jane’s by Conflict Unfolded Before Minsk I.», in: Colby Howard / Ruslan Pukhov IHS Markit, (2018). (Hrsg.), Brothers Armed. Military Aspects of the Crisis in Ukraine, (Minnea- 15 Asymmetric Warfare Group, Russian New Generation Warfare Handbook polis, MN: East View Press, 2015), S. 202 – 227. (Fort Meade, MD: 2016), S. 20. 6
CSS STUDIE – 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO Abnutzungskampf auf engem Raum befanden.16 Auch Aufgaben abseits von Gefechten, wie zum Beispiel die Be- aufgrund dieser Ansätze werden bis zu 85 Prozent der wachung von Kontrollpunkten und Patrouillen, übernah- Verluste im Ukrainekonflikt dem Artilleriefeuer zugerech- men.23 net, eine Zahl, die im Zweiten Weltkrieg bei maximal 75 Die Übertragbarkeit der Charakteristika russi- Prozent lag.17 scher Operationen in der Ukraine auf andere operativ- Das russische, auf die Artillerie fokussierte Vor- taktische Kontexte ist begrenzt. So ist alles andere als si- gehen wurde durch den Einsatz elektronischer und Cyber- cher, dass Artillerie in künftigen Kriegsszenarien kampfmittel unterstützt. Damit wurden ukrainische Ein- zwangsläufig eine so prominente Rolle spielt. Russische heiten (und einzelne Soldaten) identifiziert und lokalisiert, Truppen und ihre Verbündeten kämpften in einem zu- um ihnen Propagandanachrichten zukommen zu lassen mindest nicht feindlich gesinnten Operationsgebiet ge- oder sie mit Artilleriefeuer zu beschiessen. Dies erwies gen unvorbereitete Regierungstruppen. Aufgrund der sich als in erster Linie effektiv gegen eine kaum auf kon- Tatsache, dass russische Bodentruppen über keine spezia- ventionellen Krieg eingestellte ukrainische Armee, deren lisierten Aufklärungstruppen im westlichen Sinne verfü- Streitkräfte und Freiwillige teilweise mit zivilen Mobilte- gen, wurden in der Ostukraine Drohnen, Spezialkräfte lefonen kommunizierten.18 Zusätzlich war zum Zeitpunkt (Speznas24), lokale separatistische Kräfte und Geheim- der Intervention russischer Kampfgruppen im August dienstpersonal in Zivil zur Aufklärung von Zielen für die 2014 die Luftwaffe der Ukraine effektiv durch Luftab- Artillerie eingesetzt25 – inmitten einer feindseligeren Zi- wehrraketen, die Russland an die Separatisten geliefert vilbevölkerung wären diese Bemühungen wohl weniger hatte, neutralisiert. Dies verstärkte die artilleriebasierte erfolgreich gewesen. Ebenso ist unwahrscheinlich, dass Überlegenheit in Feuerkraft Russlands und der Separatis- russische elektronische Kampffähigkeiten in Zukunft ein ten zusätzlich.19 ähnlich leichtes Spiel haben werden wie 2014 gegen eine Der Ansatz, ukrainische Verbände zu kanalisie- improvisierende ukrainische Armee. Die Kämpfe in der ren und auf Artillerie zu setzen, illustriert die Priorität, Ukraine zeigten dennoch, dass das russische Militär den russische reguläre Bodentruppen zu schonen. Dieser Ein- Bereich elektronischer Kriegsführung, im Gegensatz zu druck verstärkt sich durch den Einsatz irregulärer Kräfte, den Streitkräften der NATO, nicht vernachlässigt hat.26 die es zudem Russland erlaubten, halbverdeckt aufzutre- Auch der Einsatz, der in der Annexion der Krim ten. Auf der Krim wurde so durch die Zusammenarbeit mündete, lässt keine klaren Schlüsse zu. So ist kaum vor- insbesondere der SSO mit der lokalen Polizei ein gewisses stellbar, dass die Annexion anderorts halbverdeckt hätte Mass an Legitimität gewonnen. In den konventionellen durchgeführt werden können. Dennoch zeigte sich hier, Phasen der Eskalation im Donbass wurden wiederum se- dass russische Spezial- und Interventionskräfte stark ver- paratistische Kräfte nach russischem Vorbild in Batail- bessert worden sind. Moskau scheint mit diesen Einhei- lonskampfgruppen organisiert und entsprechend robust ten (MPR, VDV, SSO) über eine solide Fähigkeit für bewaff- trainiert und ausgerüstet.20 Neben diesen lokalen Kräften nete Interventionen und «Einbruchmanöver» zu verfügen. wurden externe irreguläre Verbände eingesetzt. Beispiele Somit lassen sich gleichwohl strategische Prioritäten und sind hier politisch motivierte Freiwillige, wie panslawisch operative Präferenzen des russischen Militärapparats ab- orientierte serbische und bulgarische Kämpfer.21 Zudem leiten. So scheint es, dass Moskau insbesondere darauf konnten Söldner, wie das kremlnahe Militärunternehmen bedacht war, seine Verluste zu minimieren und lediglich Wagner, identifiziert werden, dessen Einheiten unter an- die Speerspitze seines militärischen Instrumentariums derem im Rahmen der Belagerung von Debalzewe einge- einsetzte. Dies deckt sich mit Analysen zum Einsatz russi- setzt wurden.22 Neben der Verschleierung seiner Aktio- scher Truppen in Syrien, der vor allem auf der Luftwaffe nen erlaubten es diese Verbände dem Kreml, sein und möglichst geringem (regulärem) Aufwand am Boden reguläres Kontingent auf Berufssoldaten (Kontraktniki) basiert.27 abzustützen, auch um innenpolitischen Schaden zu be- grenzen. Dieser reguläre Fussabdruck wurde zusätzlich minimiert, indem lokale Verbündete und externe Söldner 16 Amos C. Fox, «Battle of Debal’tseve. The Conventional Line of Effort in Russia’s Hybrid War in Ukraine», in: Armor 128:1 (2017), S. 46. 23 Asymmetric Warfare Group, Russian New Generation Warfare, S. 14 – 15. 17 Echevarria, Operating in the Gray Zone, S. 28. 24 In Abgrenzung zu den oben (S. 6) eingeführten, neu nach westlichem Vorbild aufgebauten SSO, ist «Speznas» ein Sammelbegriff für spezia- 18 Šuba, Land warfare in Ukraine, S. 6. lisierte Aufklärungs- und Sabotageeinheiten, die im Rahmen grösserer 19 Kofman et al, Lessons from Russia’s Operations, S. 43 – 44. Operationen handeln, siehe: Galeotti, Russian Political War, S. 74. 20 Amos C. Fox, «Cyborgs at Little Stalingrad. A Brief History of the Battles 25 Fox, Battle of Debal’tseve, S. 52. of the Donetsk Airport. 26 May 2014 to 21 January 2015», in: Land 26 Liam Collins, Russia Gives Lessons in Electronic Warfare (Arlington, VA: Warfare Paper 125, (2019), S. 6. Association of the United States Army, Dispatches from the Modern War 21 Šuba, Land warfare in Ukraine, S. 12. Institute, 26.07.2018). 22 @DFRLab, «Wagner’s Role in Key Ukrainian Battle Revealed», in: Digital 27 Dmitry Adamsky, «Moscow’s Syria Campaign. Russian Lessons for the Art Forensics Lab, #MinskMonitor, 12.07.2018 of Strategy», in: IFRI Russie.Nei.Visions 109 (2018), S. 7. 7
CSS STUDIE – 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO Zurück an die Fuldalücke? die von Russland infiltriert werden könnten.32 Aber es bestehen Zweifel, inwieweit Moskau tatsächlich in der Die Rückbesinnung der NATO auf Russland als strategi- Lage wäre, Bevölkerungen auf NATO-Territorium wie schen Rivalen bedeutet nicht, dass operative Konzepte im Donbass politisch-militärisch zu instrumentalisie- und Strategien aus der Zeit des späten Kalten Kriegs eins- ren.33 Dies legt nahe, dass politisch-demografische zu-eins in die aktuelle Situation übertragen werden kön- Faktoren die Relevanz und den spezifischen Charakter nen. Verändert hat sich seitdem nicht nur die geografi- potenzieller Krisenherde stärker als zuvor mitbeein- sche Ausgangslage, auch ist die Technologie inzwischen flussen. Diese Krisenherde müssen somit vor Beginn weiter fortgeschritten und die Rolle von Zivilistinnen und erhöhter Spannungen nicht eindeutig ersichtlich sein. Zivilisten in Konflikten hat sich verändert. Nicht zuletzt Auch wenn bestimmte Knotenpunkte als strategisch bedingen sich die drei Faktoren auch untereinander. essenziell für beide Seiten definiert werden können, spielen Flexibilität und Mobilität somit eine grosse Rol- • Geografie: Hier interagieren vor allem zwei Faktoren. le. In der Tat kann davon ausgegangen werden, dass Zum einen die sowohl bei der NATO als auch Russland strategische Mobilität und damit Luftverlegbarkeit grundsätzlich kleineren Streitkräftestrukturen, zum grösserer Verbände insbesondere in Krisensituationen anderen die Ausdehnung des potenziellen Einsatzge- von entscheidender Bedeutung wären.34 Schwere, und biets. Ein russisches Bataillon ist in aktueller russischer damit schwer verlegbare Panzerverbände sind auf- Planung in etwa verantwortlich für den Bereich, den grund dieser Unberechenbarkeit strategisch im Nach- im Kalten Krieg eine Brigade abdeckte.28 Im Kalten teil – ein Problem, welches Moskau deutlich weniger Krieg waren Korps und Divisionen der NATO Abschnit- betrifft. Gepanzerte Radfahrzeuge, die effektiver über ten entlang der innerdeutschen Grenze zugeteilt – in Strassen verlegt werden können als Kettenfahrzeuge, der heutigen Konfiguration erstreckt sich das potenzi- hätten aus dieser Perspektive entsprechende Vortei- elle Einsatzgebiet zwischen Ostsee und Schwarzem le.35 Zentral ist hier allerdings das zugrunde liegende Meer. Ausgedehnte Geografie und niedrigere Truppen- Eskalations- und Konfliktbild, also ob Reaktionsge- zahlen ergeben eine weitaus geringere Truppendichte, schwindigkeit oder nachgeführte Masse priorisiert als dies an der innerdeutschen Grenze der Fall war.29 werden muss. Dies bedeutet natürlich nicht, dass aufgrund politi- scher und strategischer Geografie keine «Brennpunk- • Technologie: Die Diskrepanz zwischen technischen Fä- te» entstünden, die einen potenziellen Konflikt kanali- higkeiten der 1980er-Jahre und der heutigen Situation sieren und strukturieren würden. Das prominenteste kann hier nicht in wenigen Sätzen dargelegt werden. Beispiel ist hier sicherlich die Suwalki-Lücke. Hierbei Stattdessen soll auf einige Trends hingewiesen wer- handelt es sich um einen etwa 65 Kilometer langen den, welche die Anwendbarkeit von Lektionen des Kal- Grenzstreifen zwischen Polen und Litauen, der von der ten Kriegs erschweren. Zum einen ist die Bedrohung russischen Enklave Kaliningrad und Belarus begrenzt aus der Luft gestiegen. Neben «klassischen» Luftan- wird. Im Konfliktfall würde es dieser Engpass russi- griffen, durchgeführt von Flugzeugen und Helikoptern, schen Streitkräften erlauben, den Landweg zwischen weiten Drohnen das Gefahrenspektrum deutlich aus. Mitteleuropa und den baltischen Republiken für die Sie können zur Aufklärung und Zielerfassung, als Waf- NATO zu sperren. Auch aufgrund des komplexen Ge- fenplattformen und als «Kamikaze-Drohnen» einge- ländes um die Lücke wäre ein Gegenangriff hier für setzt werden.36 Hinzu kommen Marschflugkörper und westliche Streitkräfte ein gefährliches Unterfangen.30 ballistische Raketen, deren gesteigerte Präzision auch Gleichzeitig wird allerdings argumentiert, dass auch taktische Einsätze (gegen Bodentruppen) ermöglicht. Russland abhängig von der Nutzung der Region ist, um In Verbindung mit der russischen Neigung für die mas- Kaliningrad zu versorgen und dass die politische Rolle sive Nutzung von Artillerie bedeutet dies nicht nur, von Belarus nicht eindeutig ist.31 Neben der Suwalki- dass Luft- und Drohnenabwehrsysteme integraler Be- Lücke werden baltische Städte in Grenznähe mit rus- standteil von NATO-Bodentruppen sein müssen. Es be- sischsprachigen Bevölkerungen als potenzielle geogra- deutet auch, dass Kampfeinheiten in der Lage sein fisch-kulturell determinierte Druckpunkte angesehen, müssen, sich schnell zu konzentrieren und zu zerstreu- 28 Echevarria, Operating in the Gray Zone, S. 28. 32 Andrew Radin, Hybrid Warfare in the Baltics. Threats and Potential Res- ponses (Santa Monica, CA: RAND Corporation, 2017), S. 14 – 16. 29 Charles Dick, Russian Ground Forces Posture Towards the West (London: Chatham House, 2019), S. 8. 33 Lanoszka / Hunzeker, Conventional Deterrence and Landpower, S. 58. 30 Ben Hodges / Janusz Bugajski / Peter B. Doran, Securing the Suwałki 34 Michael Shurkin, The Abilities of the British, French, and German Armies Corridor. Strategy, Statecraft, Deterrence, and Defense (Washington, DC: to Generate and Sustain Armored Brigades in the Baltics (Santa Monica, Center for European Policy Analysis, 2018), S. 18. CA: RAND Corporation, 2017), S. 3. 31 Alexander Lanoszka / Michael A. Hunzeker, «Conventional Deterrence 35 Jack Watling / Justin Bronk, «Strike. From Concept to Force», in: RUSI, and Landpower in Northeastern Europe», Strategic Studies Institute 20.06.2019, S. 15. 2019, S. 30 – 33. 36 Asymmetric Warfare Group, Russian New Generation Warfare, S. 43. 8
CSS STUDIE – 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO en, um keine einfachen Ziele zu bieten, besonders, kämpfen.42 Daneben wird sowohl auf westlicher als wenn Luft- und Raketenabwehr nicht zum effektiven auch russischer Seite angenommen, dass moderne Schutz ausreichen.37 Elektronische Kriegsführung Sensor- und Kommunikationssysteme die Entschei- spielt in der fraglichen Gleichung ebenfalls eine Rolle. dungsfenster für Truppen am Boden sowie der über- Sie zwingt Einheiten dazu, autonom zu operieren, da, geordneten Entscheidungsträger verkleinern.43 Dies erstens, elektronische Signaturen (verursacht durch wird durch die Dimension der internationalen öffentli- Funksprüche, Internet- und Telekommunikation) für chen Meinung noch verstärkt. Globale Vernetzung auf Zielerfassung verwendet werden können. Zweitens individueller Ebene bedeutet, dass taktische Handlun- können Störsender den Kontakt zu Hauptquartieren gen beispielsweise in Osteuropa dramatische Auswir- sowie Navigationssystemen stören oder gar verun- kungen auf internationaler Ebene nach sich ziehen, möglichen. Dieser letzte Faktor wird durch präzise wenn es beispielsweise zu zivilen Opfern kommt – und Langstreckenwaffen zusätzlich verstärkt, da Haupt- dass jedes Smartphone die Handlung innerhalb von Se- quartiere ein bevorzugtes Ziel darstellen. Führungsper- kunden aufnehmen und publizieren kann. Aus diesem sonal im taktischen Einsatz müsste aus dieser Perspek- Beispiel lässt sich ablesen, dass es zu einer Verflachung tive zunehmend befähigt werden, zumindest zeitweise der taktischen, operativen und strategischen Ebenen autonom und ohne Rückgriff auf übergeordnete Be- kommt, was sich vor allem für ein politisch sensibles fehlsstrukturen zu operieren.38 Dies bedeutet auch, Bündnis wie die NATO als problematisch herausstellen dass Fähigkeiten, die bisher auf streitkräftegemeinsa- kann. Dies bedeutet auch, dass zivile Bevölkerungen mer (joint) Ebene verfügbar sind, durch Bodentruppen und Städtekämpfe eine andere Herausforderung dar- erfüllt werden müssen. Das prominenteste Beispiel stellen, als dies im Kalten Krieg der Fall war. stellt hier Feuerunterstützung dar, deren Schwerpunkt im russischen Fall explizit in der Artillerie verortet wird, • Rolle von Zivilbevölkerungen: Die Einsicht, dass das zi- während NATO-Streitkräfte zu einem höheren Grad vile Umfeld wichtige militärische Vor- und Nachteile auf die Synchronisation organisatorisch getrennter mit sich bringen kann, ist nicht auf den Donbass be- Einheiten angewiesen sind.39 Neben dem Erschweren grenzt. Auch die Schlacht von Mossul (Oktober 2016 der Kommunikation zwischen Einheiten am Boden und bis Juli 2017), in der die irakische Armee und ihre Ver- Unterstützung aus der Luft, stellen russische integrier- bündeten unter hohen Verlusten die Stadt vom soge- te Luftverteidigungskomplexe ebenfalls eine physi- nannten «Islamischen Staat» (IS) zurückeroberten, sche Verkomplizierung des Einsatzes von Luftstreit- weist darauf hin. Hier konnten sich IS-Milizen auf kräften dar.40 Dies bedeutet nicht, dass diese Kampfeinsätze fokussieren, während Zivilistinnen und undurchdringlich wären. Erfahrungen aus Syrien, in Zivilisten (teilweise unter Zwang) Unterstützungs- denen die syrische Armee russische Luftabwehrtech- funktionen – vom Errichten von Barrikaden, über Ku- nologie wenig effektiv einsetzte, zeigen jedenfalls, riertätigkeiten bis hin zur Aufklärung – erfüllten. Na- dass Taktik, Kontext und Personalqualität trotz tech- mentlich in Städtekämpfen zeigt sich somit, dass nologischer Sprünge ebenso eine Rolle spielen wie phy- lokale Unterstützung ein zentraler Vorteil sein kann.44 sikalische Limitationen von Radaranlagen. Fest steht Auch im Krieg im Donbass fanden die politisch wich- allerdings, dass sich westliche Streitkräfte in einem tigsten Gefechte im überbauten Gelände statt (Ilo- Konflikt mit Russland keiner dauerhaft gesicherten wajsk, Flughafen Donezk und Debalzewe). Auch wenn Luftüberlegenheit sicher sein könnten.41 Auch aus die- argumentiert werden kann, dass Konflikte im Baltikum sen Gründen kann argumentiert werden, dass der einen eher ländlichen Charakter haben würden, illust- Hauptkampfpanzer auch in Zukunft eine Rolle spielen riert dies dennoch die Rolle von Städten und urbaner wird. Geringe Mobilität und komplexe Logistik hin oder Infrastruktur als strukturierendes Element kriegeri- her: Panzer (zumindest mit abstandsaktiven Schutz- scher Handlungen.45 Die örtliche Verdichtung von maßnahmen) bieten Durchhaltefähigkeit, die leichtere Städten potenziert die zuvor betrachtete zeitliche Einheiten nicht aufweisen. Sie haben ausreichend Feu- Kompression militärischer Entscheidungen, die rein erkraft, um schwere Verbände zuverlässig – möglicher- konventionell agierende Verbände überfordern kön- weise ohne dauerhafte Luftunterstützung – zu be- nen. Entsprechend sind beispielsweise Spezialkräfte, 42 Kevin Zhang, Heavyweights on the Battlefield. Why the US Army Will Need its Largest Armored Vehicles in the Next War (West Point, NY: Mo- dern War Institute, 2019). 37 Watling/Bronk, Strike, S. 19. 43 Aleksandr V. Rogovoy / Keir Giles: «A Russian View on Landpower», in: 38 Asymmetric Warfare Group, Russian New Generation Warfare, S. 37. The Letort Papers (2018), S. 31 – 33. 39 Fox, Battle of Debal’tseve, S. 45. 44 Thomas D. Arnold / Nicolas Fiore, «Five Operational Lessons from the 40 Watling/Bronk, Strike, S. 26. Battle for Mosul», in: Military Review 99:1 (2019), S. 68 – 69. 41 Roger Näbig, «Russlands Luftverteidigung & Flugabwehrsysteme in 45 David Johnson, «Urban Legend. Is Combat in Cities Really Inevitable?», Syrien. Mehr Schein als Sein?», in: Offiziere.ch, 25.07.2018. in: War on the Rocks, 07.05.2019. 9
CSS STUDIE – 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO Nachrichteneinheiten, KommunikationsspezialistInnen tion auf die sichtlich verschlechterte Sicherheitslage der und Human Terrain-AnalystInnen insbesondere in ur- sogenannte Readiness Action Plan (RAP) verabschiedet. banen Kontexten relevant.46 Hieraus ergibt sich aller- Daneben wurde politisch kodifiziert, dass europäische Si- dings ein Dilemma. Bevölkerungszentrische Ansätze cherheit auf absehbare Zeit in unmittelbarer Nachbar- und konventionelle Ansätze stellen nicht nur verschie- schaft entschieden würde, in Nordafrika und dem Nahen dene Faktoren in den Vordergrund, sondern diese kön- Osten und entlang der Grenzen mit Russland. Ferner nen sich sogar widersprechen. Eine militärische Konfi- wurde festgehalten, Verteidigungsressorts finanziell guration, die sich wie die Enhanced Forward Presence besser auszustatten.52 Zwei Säulen bilden die Grundla- (eFP) der NATO auf die konventionelle Seite fokussiert, gen des RAP; auf der einen Seite Versicherungsmassnah- kann wenig gegen Subversion lokaler Bevölkerungen, men (assurance measures), auf der anderen Anpassungs- das Einsickern von AgentInnen und authentische Pro- massnahmen (adaptation measures). Erstere beinhalten teste gegen die Truppenpräsenz ausrichten.47 Auf der kurzfristigere Entscheidungen, die das militärische Profil anderen Seite ist eine leichte Truppenkomposition be- der Allianz entlang der Kontaktzone mit Russland ver- stehend aus Spezialkräften, Militärpolizei, ziviler Ex- stärken sollen, wie beispielsweise Luftpolizeieinsätze pertise und leichter Infanterie alles andere als geeig- und rotierende Kontingente von NATO-Streitkräften für net, einen mechanisierten Angriff abzuwehren.48 Trainingszwecke. Auf der Seite der Anpassungsmassnah- Dieses Dilemma kann mit Blick auf das Baltikum als men wurde entschieden, die Eingreiftruppe der NATO eine Kalkulation zwischen einem Fokus auf das wahr- (NATO Response Force, NRF) zu verstärken. Die als «Speer- scheinlichste Szenario (Subversion in der Grauzone) spitze» bezeichnete Very High Readiness Joint Task Force oder das schwerwiegendste Szenario (konventionelle (VJTF) soll unter dem Dach der NRF in der Lage sein, in- Invasion) verstanden werden.49 Dennoch zeigt die nerhalb von Tagen im Bündnisgebiet konzentriert und scheinbar gestiegene militärische Bedeutung von Zivil- eingesetzt zu werden.53 Allerdings scheint bis heute Un- bevölkerungen, dass es für die NATO fatal wäre, die be- klarheit darüber zu bestehen, ob diese Eingreiftruppe pri- völkerungszentrischen Lektionen und Strukturen aus mär als mobiler Stolperdraht fungiert, oder ob es sich um dem Afghanistankonflikt bewusst zu «ent-lernen» – eine echte Verteidigungslinie gegenüber Russland im Fall ein Fehler, den die USA bereits nach dem Vietnamkrieg einer Eskalation handelt.54 Als weiteres Element wurden vorgemacht haben.50 multinationale Hauptquartiere in den östlichen Staaten der Allianz aufgestellt, welche die Integration von neu stationierten NATO-Streitkräften mit ihren lokalen Ver- Reaktionen auf Allianzebene: bündeten sicherstellen sollen. Diese Force Integration VJTF, eFP, Manöver Units (NFIUs) sollen so das Nachführen von Truppen durch strategische Planung sicherstellen und Übungen Im Folgenden werden die politisch-strategischen sowie und Manöver koordinieren.55 operativen Reaktionen der NATO auf Russlands Interven- Die Schlagzahl dieser multinationalen Übungen tion in der Ukraine dargelegt. Das Ziel ist, den strategi- hat sich zudem seit 2014 deutlich erhöht. Neben politi- schen Rahmen aufzuzeigen, in dem nationale Streitkräf- schen Signalen nach innen zur Versicherung und nach te eingesetzt würden. Auf US-amerikanischer Seite aussen zur Abschreckung soll somit die Interoperabilität verkündete Präsident Obama 2014 die Europäische Ver- der Bündnisstreitkräfte erhöht werden.56 Auf dem NATO- sicherungsinitiative (European Reassurance Initiative, ERI, Gipfel in Warschau wurde 2016 zusätzlich zu diesen seit 2017 European Deterrence Initiative, EDI). Durch die- Massnahmen die eFP beschlossen. Innerhalb dieses Pro- ses Programm werden Manöver und Rotationen der U.S. gramms werden NATO-Streitkräfte auf Bataillonsebene Army im Rahmen der Operation Atlantic Resolve finan- durch die baltischen Republiken und Polen rotiert.57 Diese ziert.51 Beim NATO-Gipfel in Wales 2014 wurde als Reak- Gemengelage bringt zwei grosse Vorteile. Zum einen liegt der Fokus potenzieller Bedrohungen nun wieder in einer 46 Eitan Shamir / Eval Ben-Ari, «The Rise of Special Operations Forces. Ge- geografisch bestimmbaren Zone; zum anderen werden neralized Specialization, Boundary Spanning and Military Autonomy», militärische Planungen aufgrund einer bestimmten Be- in: Journal of Strategic Studies 41:3 (2018), S. 337, 352. 47 Martin Zapfe, «Deterrence from the Ground Up. Understanding NATO’s drohung getroffen. Das Maximum Level of Effort, ein kon- Enhanced Forward Presence», in: Survival 59:3 (2017), S. 151. 48 Henrik Praks, Hybrid or Not. Deterring and Defeating Russia’s Ways of 52 Mattelaer, Alexander: «Rediscovering geography in NATO defence plan- Warfare in the Baltics – the Case of Estonia (Rom: NATO Defense College, ning», in: Defence Studies 18:3 (2018), S. 347. 2015), S. 12. 53 NATO, NATO’s Readiness Action Plan, 2016. 49 Lanoszka / Hunzeker, Conventional Deterrence and Landpower, S. 116. 54 Lanoszka/Hunzeker, Conventional Deterrence and Landpower, 50 Fitzgerald, Learning to Forget, 204. S. 114 – 115. 51 Ryan W. French / Peter Dombrowski, «Exercise BALTOPS. Reassurance 55 NATO, NATO Force Integration Units, 2015. and Deterrence in a Contested Littoral», in: Beatrice Heuser / Tormod Heier / Guillaume Lasconjarias, Guillaume (Hrsg.), Military Exercises. 56 Beatrice Heuser / Harold Simpson, «The Missing Political Dimension of Political Messaging and Strategic Impact (Rom: NATO Defense College, Military Exercises», in: The RUSI Journal 162:3 (2017), S. 22. 2018), S. 191 – 192. 57 Zapfe, Deterrence from the Ground Up, S. 147. 10
CSS STUDIE – 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO ventioneller Krieg in Europa, ist nunmehr die Messlatte piert sich eine Reihe mediterraner Staaten um einen ita- der NATO.58 Dies bedeutet auch, dass die Allianzkomman- lienischen Kern, der Stabilisierungskonzepte für den Ein- dostruktur angepasst und bezüglich spezifischer Funktio- satz im Mittelmeerraum entwickeln soll. Die Kooperation nen gestärkt wurde. Als Teil der Anpassung der Komman- mit den Rahmennationen und der Grad der Beteiligung dostruktur (NATO Command Structure – Adaptation, obliegt den jeweiligen nationalen Regierungen. Das Kon- NCS-A) wurden die strategischen Hauptquartiere der zept soll eine geografische Differenzierung erlauben, an- NATO mit mehr Personal ausgestattet, um in Krisen- und hand derer die Fähigkeiten der NATO als Ganze angeho- Konfliktzeiten über belastbarere Kommunikations- und ben werden sollen. Das Konzept birgt jedoch auch die Kommandofähigkeiten zu verfügen. Mit anderen Worten Gefahr, dass sich das Bündnis und seine Streitkräfte poli- wurde dem Gerüst der NATO, vereinigt Konflikte auszu- tisch wie militärisch «auseinanderspezialisieren», insbe- tragen, mehr Bandbreite und Tiefe verschafft. NCS-A soll sondere wenn Brüssel keine koordinierende Rolle er- zudem kontinuierlich überprüft und überarbeitet wer- füllt.62 Auch darüber hinaus gibt es Kritik an den von der den, um sich dem Wandel strategischer Prioritäten der NATO getroffenen strategischen Anpassungen. Beson- NATO anzupassen. Ein zweites hervorstechendes Element ders der konventionelle Charakter, auf den sich die Alli- ist die herausgehobene Rolle von Logistik. Die NATO steht anz mit Blick nach Osten einstellt, ist nicht unumstritten. vor dem Problem, Infrastrukturansätze aus der Zeit des Erstens wird argumentiert, dass vor allem die Truppen Kalten Kriegs nach Osten auszuweiten. Wie oben be- der eFP zu klein sind, um einen konventionellen Angriff schrieben, ist Mobilität entscheidend, um in der Frühpha- glaubhaft abwehren zu können. Gleichzeitig orientierten se von Eskalationen militärisch aktiv werden zu können – sie sich zu stark an konventionellen Kampfhandlungen, oder abzuschrecken. Um die Brücke von Norfolk, Virginia sodass sie gegenüber Subversion und halbverdeckten bis Tallin zu errichten und zu verteidigen wurde unter an- Vorstössen kaum gewappnet seien.63 Auch bezüglich des derem ein mit dem Schutz der atlantischen Seewege be- reaktiven Elements der NATO, VJTF und NRF, herrschen trautes Kommando in Norfolk gebildet. Und um inner- Zweifel ob ihrer militärischen Effektivität. So legt die halb Europas die schnelle Verlegung von Allianztruppen Massnahmenkombination der NATO nahe, dass auf stra- zu koordinieren, wurde ein Kommando in Ulm aufgestellt tegischer Ebene mit einer Serie von Gegenangriffen in (Joint Support and Enabling Command, JSEC).59 Diese An- das Baltikum gerechnet wird, um zuvor verlorenes Terri- passungen zeigen auf, dass ein Hauptaugenmerk der torium zurückzugewinnen.64 Die russische Exklave Kali- NATO auf logistischen Problemen liegt. Dies ist bereits ningrad verkompliziert ein solches Szenario aus Perspek- durch uneinheitliche Rechtsgrundlagen und für Militär- tive der NATO allerdings beträchtlich, da sie einen fahrzeuge geschlossene Grenzen ein Problem in Konti- Vorposten bildet, deren Interventionsabwehrsysteme nentaleuropa. Zudem bedrohen, insbesondere seit dem und Langstreckenartillerie in das Territorium der NATO Fall des INF-Vertrags60 im Herbst 2019, russische ballisti- hineinragen. Potenziell schwerwiegender ist allerdings, sche Raketen und Marschflugkörper nicht nur Bevölke- dass es sich bei Kaliningrad um russisches Territorium rungszentren in Europa und militärische Kommandoein- handelt. Denn eine Bodenoffensive mit dem Ziel, die Ra- richtungen, sondern auch logistische Knotenpunkte wie dar-, Kommando- und Raketenstellungen zu neutralisie- Bahnhöfe, Hafenanlagen und Autobahnkreuze.61 ren, würde eine deutliche Eskalation bedeuten.65 Ein weiterer Anpassungsschritt unter geografi- Wie im oberen Abschnitt angedeutet, erfüllen schen Vorzeichen lässt sich auch mit Blick auf das soge- Manöver auf NATO-Ebene sowohl strategische Funktio- nannte «Rahmennationenkonzept» (Framework Nations nen und politische Signalwirkung nach innen und aussen Concept, FNC) beobachten. Es beinhaltet geografisch und als auch operative Funktionen. Insbesondere soll mit ih- funktional differenzierte Kooperationsprogramme. Das nen die Interoperabilität des Bündnisses erhöht werden. erste Element bildet sich um die Bundeswehr. Hierbei Konkret bedeutet dies, dass NATO-Einsatzverfahren und geht es um gezielte Streitkräfteentwicklung durch die Trainingsstandards aufeinander abgestimmt werden Verknüpfung ausländischer Truppenkörper mit deut- müssen. Die Drehbücher der Manöver geben zudem Auf- schen Kommandostrukturen. Den zweiten Pfeiler bildet schluss darüber, auf welche Szenarien sich das Bündnis eine Eingreiftruppe in Nordosteuropa unter britischem vorbereitet. So wurde beim Marinemanöver Baltic Opera- Kommando, die im Notfall entlang der Ostsee oder im tions (BALTOPS) vor 2013 die Evakuierung von Staatsange- Hohen Norden eingesetzt werden soll. Drittens grup- hörigen und die Konfrontation mit Aufständischen in 58 Mattelaer, Rediscovering Geography, S. 344, 349. 62 Rainer L. Glatz / Martin Zapfe, «Das Rahmennationenkonzept der Nato», 59 Greg Smith, «NATO adapting. A return to peer competition», in: Marc in: CSS Analysen zur Sicherheitspolitik 218 (2017), S. 1 – 3. Ozawa (Hrsg.): The Alliance Five Years after Crimea. Implementing the 63 Zapfe, Deterrence from the Ground Up, S. 150 – 153. Wales Summit Pledges (Rom: NATO Defense College, 2019), S. 42 – 43. 64 Hadfield, Jim: NATO’s Deterrence Strategy is Failing. The Enhanced 60 Intermediate Range Nuclear Forces. Forward Presence: Delusion or Renewal? (Norfolk, VA: Joint Forces Staff 61 Durkalec, Jacek: «European security without the INF treaty», in: NATO College, 2018). Review, 30.09.2019. 65 Hodges et al, Securing the Suwałki Corridor, S. 20 – 21. 11
CSS STUDIE – 2014 als Zäsur? Streitkräfteentwicklung in der NATO Küstennähe geübt – unter Teilnahme russischer Einhei- 2 Die United States Army ten. Seit der Zäsur von 2014 stehen stattdessen Übungen für amphibische Operationen, das Legen von Seeminen als Taktgeberin der und U-Boot-Abwehr auf dem Programm.66 Dieser Um- Allianz schwung auf Manöver in ihren wahrscheinlichen Einsatz- räumen zeigt ebenfalls, wie die strategische Ausrichtung der NATO seit 2014 geografisch verankert werden kann. Das Heer der Vereinigten Staaten kann insofern als «Takt- Bezüglich der gemeinsamen Streitkräfteentwicklung als geber» bezeichnet werden, als in ihm sowohl konzeptuell Teil von Manövern wurden zudem beispielsweise 2018 als auch materiell die Keimzelle der konventionellen Er- während des Sabre Strike-Manövers im Baltikum erstmals neuerung der NATO liegt. Dies ist in Anbetracht der domi- seit Ende des Kalten Kriegs Störsender im NATO-Kontext nanten Rolle, welche die USA in der NATO spielen, nicht integriert, um Fähigkeiten der elektronischen Kriegsfüh- verwunderlich. Weil die U.S. Army als einzige US-amerika- rung zu regenerieren.67 Das Manöver Trident Juncture nische Teilstreitkraft Europa als zentrales Einsatzgebiet 2018 stellt den bisherigen Höhepunkt der Übungen seit betrachtet, ist diese Fallstudie konkret auf sie zugeschnit- Ende des Kalten Kriegs dar. So waren 50 000 Truppen aller ten, klammert also Air Force, Navy sowie Marine Corps ex- Teilstreitkräfte aus der gesamten Allianz in Norwegen plizit aus. «im Einsatz». Kernstück war ein Szenario, in dem ein fikti- ver Invasor aufgehalten und zurückgeschlagen wurde.68 Konkret setzte das Manöver auf Verbesserungen in zwei Kontext Kernbereichen: den logistischen Problemen, schnell gros- se Verbände in die Peripherie der NATO zu verlegen, sowie Die Fähigkeiten der US-amerikanischen Bodentruppen, in Interoperabilität vor Ort in komplexem Terrain herzustel- einem konventionellen Krieg zu bestehen, standen auf- len. Zudem wurde die Kooperation ausländischer NATO- grund der Einsätze in Irak und Afghanistan lange im Hin- Einheiten mit dem nationalen Verteidigungskonzept Nor- tergrund. Zum Zeitpunkt der russischen Interventionen in wegens und seiner zivilen und militärischen Einrichtungen der Ukraine war ihr doktrinäres Gerüst diesbezüglich we- getestet. Zentral überprüft wurde hierin die Einsatzbe- der kulturell noch materiell unterfüttert. So waren Fähig- reitschaft der «Speerspitze» VJTF.69 Die herausgehobene keiten wie Artillerie, mobile Luftabwehr und elektroni- Rolle der logistischen Dimension lässt sich auch aus dem sche Kriegsführung dramatisch abgeschmolzen. Als Folge wegen des Ausbruchs der Corona-Pandemie abgebroche- befindet sich die Army nun in einem doktrinären und nen Grossmanöver Defender 2020 ersehen. Hierin sollte technologischen Erneuerungsprozess. Der konzeptuelle die Verlegung von schweren Bodentruppen in Divisions- Kern dieses Prozesses sind Multi-Domain Operations stärke aus den USA bis nach Osteuropa geübt werden. (MDO). Ähnlich wie AirLand Battle der 1980er Jahre,71 Neben der Landkomponente sollte auch die 2. US-Flotte setzt MDO taktisch auf eine schnellere Synchronisation das Sichern der Seewege üben.70 von Kampfmitteln.72 Dennoch sind zentrale Neuerungen zu erkennen. Doktrin und Organisation Die Neuausrichtung der US-amerikanischen Streitkräfte, und damit der Bodentruppen, lässt sich an einer Reihe von Dokumenten nachzeichnen. In der strategischen Kultur des Militärs spielen kodifizierte Doktrinen eine wichtige Rolle bei der Anpassung an geänderte Rahmenbedingun- gen. Für das US-amerikanische Heer sind in der aktuellen Situation vor allem drei Dokumente bedeutsam. Erstens wird in der National Defense Strategy (NDS 2018) vorgege- ben, dass sich das Militär primär an seiner Rolle als Instru- 66 French/Dombrowski, Exercise BALTOPS, S. 198 – 199. ment in der Grossmächterivalität mit China und Russland 67 Thomas Withington, «AOC 2019. New tools for US Army’s electroma- orientieren muss. Zweitens liefert das MDO-Konzept gnetic overhaul», in: Shephard Media, 25.10.2019. (2018) die Grundlage für die Erarbeitung neuer Einsatz- 68 Leonid Ragozin, «How NATO Is Preparing for the New Cold War», in: Bloomberg, 20.11.2018. 69 Jonathan Masters, «NATO’s Trident Juncture Exercises. What to Know», 71 Benjamin M. Jensen, Forging the Sword. Doctrinal Change in the U.S. in: Council on Foreign Relations, In Brief, 23.10.2018. Army, (Stanford, CA: Stanford University Press, 2016). 70 Megan Eckstein, «Navy Drills Atlantic Convoy Ops for First Time Since 72 Bruno Lezzi, «Streitkräfte in Umbruchzeiten», in: Schweizer Monat 1059 Cold War in Defender-Europe 20», in: USNI News, 28.02.2020. (2018), S. 58. 12
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