Operative oder konservative Behandlung?" - November 2013
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Swiss Medical Board Expertenrat: • Nikola Biller-Andorno, Prof. Dr. med. Dr. phil., ordentl. Professorin für Biomedizinische Ethik, Universität Zürich • Eva Cignacco, Dr. (PhD, Nursing Sciences), dipl. Hebamme, Institut für Pflegewissenschaft, Universität Basel • Stefan Felder, Prof. Dr. rer. pol., Ordinarius für Health Economics, Universität Basel • Thomas Perneger, Prof. Dr. med., Professor für klinische Epidemiologie, Hôpitaux Universitaires de Genève (seit 01.08.2013) • Peter Meier-Abt, Prof. Dr. med., em. Professor für klinische Pharmakologie & Toxikologie, Präsident Schweiz. Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) • Urs Metzger, Prof. Dr. med. Dr. h.c., em. Chefarzt Chirurgie, Zürich • Brigitte Tag, Prof. Dr. iur. utr., ordentl. Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht, Universität Zürich Team der Geschäftsstelle: • Max Baumann, Prof. Dr. iur, RA, Institut Dialog Ethik • Ruth Baumann-Hölzle, Dr. theol., Institut Dialog Ethik • Hans Bohnenblust, Dipl. Ing. ETH, M.S. MIT, Ernst Basler + Partner • Brida von Castelberg, Dr. med., Institut Dialog Ethik • Patrik Hitz, Dipl. Ing. ETH, NDS MiG, Ernst Basler + Partner • Danielle Stettbacher, Sozialwissenschaftlerin M.A., Ernst Basler + Partner • Christian Weber, Dr. med., MPH, Ernst Basler + Partner Impressum Swiss Medical Board Geschäftsstelle Zollikerstrasse 65 8702 Zollikon info@medical-board.ch www.swissmedicalboard.ch
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ............................................................................................................................. 1 2. Erkenntnisse aus der Grobanalyse der neueren Literatur ............................. 3 3. Schlussfolgerungen und Empfehlung ...................................................................... 5 4. Literatur ............................................................................................................................... 6
1. Einleitung Das Swiss Medical Board hat im Jahr 2009 den Fachbericht „Ruptur des vorderen Kreuzbandes: operative oder konservative Behandlung?“ veröffentlicht [SMB, 2009; http://www.medical- board.ch/index.php?id=809]. Die Empfehlungen in diesem Bericht lauten wie folgt: a) Empfehlungen im Kompetenzbereich des Kantons Zürich 1 Konservative Behandlung bei Ruptur des vorderen Kreuzbandes als Standardtherapie unter allfälliger zeit- und bedarfsgerechter arthroskopischer Beseitigung von Gewebe ohne Heilungspotenzial (Meniscus, Knorpel) und möglichst frühem Beginn einer Physiotherapie. Rekonstruktion nur • wenn gewünschte Rückkehr auf das angestrebte Aktivitätsniveau nach konservativer Behand- lung nicht mehr möglich bzw. mit Beschwerden verbunden ist. • gravierende Begleitverletzungen vorliegen, die eine aufwendige Operation notwendig machen. Um dies zu erreichen, werden folgende Massnahmen im Kompetenzbereich des Kantons Zürich empfohlen: • Information der Spitaldirektionen der Akutspitäler im Kanton Zürich über die obige Empfehlung. • Anstoss und Gewährung einer finanziellen Unterstützung für die Erarbeitung einer Leitlinie "Ruptur des vorderen Kreuzbandes". Diese soll vor allem die Behandlung bei Begleitver- letzungen thematisieren und Kriterien für eine allfällige frühe Operation konkretisieren. • Überprüfung der Daten und Erkenntnisse im vorliegenden Dokument aufgrund allfälliger neuer Studien sowie den Ergebnissen aus der Praxis im Jahr 2013 durch das Medical Board. b) Empfehlungen im Kompetenzbereich des Bundes Der Kanton Zürich soll bei den entsprechenden Stellen des Bundes folgende Anregungen vorbringen: Einleitung eines Umstrittenheitsverfahrens für die operative Behandlung der Ruptur des vorderen Kreuzbandes. 1 Im Jahr 2009 lief noch die Pilotphase des Medical Board unter alleiniger Trägerschaft des Kantons Zürich. Seite 1
Mit Datum vom 6. August 2013 hat die Trägerschaft des Swiss Medical Board das Fachgremium beauftragt, einen Review zu dieser Fragestellung durchzuführen. Auslöser war eine Anfrage der Medizinaltarif-Kommission UVG (MTK) an die Trägerschaft, die Bezug auf eine entsprechende Formulierung im Fachbericht „Ruptur des vorderen Kreuzbandes: operative oder konservative Behandlung?“ genommen hatte (siehe oben). Ein Review umfasst im Wesentlichen eine Aktualisierung der Literatursuche zur Fragestellung sowie eine grobe Analyse der neuen Publikationen. Auf dieser Basis gibt das Fachgremium zu Handen der Trägerschaft eine Empfehlung darüber ab, ob der Fachbericht angesichts neuer Erkenntnisse überarbeitet werden soll oder ob die Empfehlungen nach wie vor gültig sind. Für einen Review stehen insgesamt fünf Arbeitstage zur Verfügung (vgl. auch Bericht „Review und Aktualisierung der Fachberichte des Swiss Medical Board, 7. Juni 2012“). Die Trägerschaft hat in ihrer Anfrage zudem auf das neue Verfahren „Dynamische intraligamentäre Stabilisation mit Ligamys®“ zur operativen Behandlung der Ruptur des Kreuzbandes hingewiesen. Dieses Verfahren befindet sich zurzeit in Erprobung. Daher liegen weder publizierte Studiendaten noch praktische Langzeit-Erfahrungswerte vor. Im Rahmen des vorliegenden Reviews wird deshalb nicht weiter auf dieses neue Verfahren eingegangen. Seite 2
2. Erkenntnisse aus der Grobanalyse der neueren Literatur Die Literaturabfrage umfasste den Zeitraum von 2009 bis 14. August 2013 und erfolgte in den vom Swiss Medical Board üblicherweise konsultierten Datenbanken: Cochrane Library, PubMed, Medline. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass zu diesem Thema weiterhin viel publiziert wird. Viele Artikel befassen sich mit den verschiedenen Operationstechniken, einzeln und im Vergleich. Dies ist für die vorliegende Fragestellung von untergeordneter Bedeutung. Hochwertige Studien, welche die operative mit der konservativen Behandlung vergleichen, sind nach wie vor selten. Es konnte lediglich ein neuer RCT identifiziert werden. Auf diesen sowie zwei Beobachtungsstudien und einen Übersichtsartikel wird im Folgenden kurz eingegangen. Im einzigen seit 2009 publizierten RCT [Frobell et al., 2010]wurden 121 junge Patientinnen und Patienten (Durchschnittsalter 26 Jahre) untersucht, die vorwiegend Wettkampfsport, jedoch nicht professionell, betrieben und eine Ruptur des vorderen Kreubandes erlitten hatten. Inzwischen wurden für diese Patientenpopulation auch die 5-Jahres-Ergebnisse publiziert [Frobell et al., 2013]. Alle Studien-Patienten erhielten eine Physiotherapie. Eine Patientengruppe wurde darüber hinaus früh operiert, während die Vergleichsgruppe ausschliesslich konservativ behandelt wurde, allerdings mit der Option einer späteren Operation, falls notwendig oder von den Patienten gewünscht. Umfassende Outcome-Erhebungen nach verschiedenen Kriterien (z.B. Tegner Activity Scale) nach einem und fünf Jahren ergaben keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Allerdings unterzogen sich 51% der konservativ behandelten Personen einer späteren Operation des vorderen Kreuzbandes. Die Autoren kommen zur Schlussfolgerung: „These results should encourage clinicans and young active adult patients to consider rehabilitation as primary treatment option after an acute ACL tear“. Zwei neuere Beobachtungstudien mit bis zu 15 Jahren Follow-up finden ebenfalls keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Wirkungen bei konservativer Behandlung im Vergleich zu operativer Behandlung [Grindem et al., 2012; Streich et al., 2011]. Aufgrund eines kritischen Überblicks über die bestehende Literatur zum Vergleich der operativen mit der konservativen Behandlung aus dem Jahr 2011 empfehlen die Autoren [Delince et al., 2012]: „At present there are no evidence-based arguments to recommend a systematic surgical reconstruction to any patient who tore his ACL“. Zu einer abweichenden Schlussfolgerung kommt eine Publikation aus dem Jahr 2011, welche das Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis der beiden Behandlungsformen untersucht: „ACL recon- struction for reestablishment of knee stability seems cost effective in the Swiss setting based on currently available evidence“ [Farshad et al., 2011]. Da deren Autoren in der Schweiz tätig sind, wird auf diese Publikation im Folgenden näher eingegangen. Die Autoren errechnen ein Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis der operativen Behandlung im Vergleich zur konservativen Behandlung von 4'890.- USD/QALY. Demgegenüber steht ein Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis von 667‘600.- CHF (=USD 712‘500)/QALY gemäss dem Fachbericht des Swiss Medical Board. Woher rührt dieser grosse Unterschied? Bei den Kosten sind die zu Grunde gelegten Annahmen sehr ähnlich (operative Behandlung: 9‘926 USD [Farshad Seite 3
et al., 2011], 9‘180 CHF (= USD 9‘800) [SMB, 2009]; konservative Behandlung: 2‘535 USD [Farshad et al., 2011], 2‘504 CHF (=USD 2‘670) [SMB, 2009]. Die grossen Abweichungen sind also der unterschiedlichen Beurteilung der Wirksamkeit geschuldet. Im Fachbericht des Swiss Medical Board sind die Annahmen und die Berechnung der QALY für die beiden Behandlungsmethoden transparent dargestellt [SMB, 2009]. Die operative Behand- lung schneidet gegenüber der konservativen Behandlung um 0.01 QALY minimal besser ab. Die Annahmen und Berechnungen der QALY als auch die Ermittlung des Kosten-Wirksamkeits- Verhältnisses sind in der Publikation von Farshad et al. nicht nachvollziehbar. Es wird lediglich auf die angewandten Methoden (Einschätzungen von Experten, Entscheidungsbäume, Monte- Carlo-Simulationen usw.) hingewiesen. Als Datenbasis dienen vier Studien [Fink et al., 2001; Diekstall et al., 1999; Kessler et al., 2008; Seitz et al., 1994] mit insgesamt 229 Patientinnen und Patienten mit operativer und 155 Patientinnen und Patienten mit konservativer Behandlung. Im Folgenden werden einige Aspekte erwähnt, die an der Aktualität und der Qualität dieser Daten Zweifel aufkommen lassen: • Die Publikationen basieren auf Behandlungen, die zum Teil bis zu 30 Jahre zurückliegen und es handelt sich primär um retrospektive Beobachtungsstudien. • Die aktuellste Studie [Kessler et al., 2008] weist gemäss [Farshad et al., 2011] keine Unter- schiede in den Ergebnissen zwischen konservativer und operativer Behandlung aus. Die berichteten Vorteile der operativen Behandlung müssen daher primär von den älteren Studien herrühren. • In der ältesten Studie [Seitz et al., 1994] bestand die Studienpopulation aus Patientinnen und Patienten mit zeitlich zurückliegenden, isolierten Kreuzbandrupturen, die zwischen 1980 und 1987 operiert (92 Personen) bzw. konservativ (39 Personen) versorgt wurden. Weshalb in der Publikation von Farshad et al., 2011 davon lediglich 63 operierte und 21 konservativ behandelte Patientinnen und Patienten berücksichtigt werden, wird nicht begründet. • In der Studie von Diekstall et al. [Diekstall et al., 1999] lauten die ersten beiden Punkte des sieben Punkte umfassenden Fazits der Autoren: (1) „Die Spontanprognose des Kniegelenks nach Verlust des VKB lässt sich im Einzelfall nicht vorhersagen.“ (2) „Aufgrund unserer Ergebnisse führen wir im Moment [1999!, eingefügt durch Dokumentverfasser] nur noch bei Leistungssportlern und bei ambitionierten Freizeitsportlern mit High-risk-pivoting-Sport- arten eine primäre Kreuzbandplastik durch.“ Seite 4
3. Schlussfolgerungen und Empfehlung Im Rahmen des vorliegenden Reviews wurde die Literaturrecherche aktualisiert und die seit 2009 zum Vergleich der operativen mit der konservativen Behandlung der Ruptur des vorderen Kreuzbandes publizierten Artikel gesichtet. Es zeigte sich, dass es einen RCT sowie einige weitere Studien und Übersichtsartikel gibt, welche die Empfehlungen des Fachberichts des Swiss Medical Board aus dem Jahr 2009 bestätigen. Eine Publikation von in der Schweiz tätigen Autoren wurde identifiziert, die postuliert, dass die operative Behandlung kostenwirksam sei [Farshad et al., 2011]. Auf der Grundlage der vorlie- genden Angaben kann nicht nachvollzogen werden, wie die Wirksamkeit ermittelt wurde. Die von den Autoren getroffene Auswahl von teilweise weit zurückliegenden Studien lässt jedoch erhebliche Zweifel an deren Verwertbarkeit und Brauchbarkeit für eine Beurteilung der aktuellen Situation in der Schweiz aufkommen. Diese Daten soweit aufzuarbeiten, dass sie mit den Annahmen und Berechnungen im Fach- bericht des Swiss Medical Board verglichen werden könnten, würde einen erheblichen Aufwand und eine weitgehende Kooperation der Autoren mit dem SMB bedingen. Ob die Erkenntnisse daraus zu einer Modifikation der Empfehlungen gemäss Fachbericht von 2009 führen würde, ist zum heutigen Zeitpunkt zwar offen; angesichts der Erkenntnisse aus den anderen Publikationen erscheint dies derzeit jedoch als eher unwahrscheinlich. Das Fachgremium empfiehlt aufgrund der dargestellten Überlegungen: • Der Fachbericht „Ruptur des vorderen Kreuzbandes: operative oder konservative Behandlung?“ vom 30. Juni 2009 bedarf derzeit keiner Anpassung. Die Analyse der seit 2009 publizierten neuen Studien und Daten lassen den Schluss zu, dass die Empfehlungen von 2009 von diesen neueren Daten gestützt werden und deshalb unverändert gültig sind. • Die zuständigen Fachgesellschaften sind über den Review in Kenntnis zu setzen und darüber zu informieren, dass sie bei gegenteiliger Meinung einen entsprechenden Antrag mit Begründung an die Trägerschaft stellen können. Seite 5
4. Literatur [1] Delince P, Ghafil D. Anterior cruciate ligament tears: conservative or surgical treatment? A critical review of the literature. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 2012, 20 (1): 48- 61. [2] Diekstall P, Rauhut F. [Considerations for the indications for anterior cruciate ligament reconstruction. Results of conservative versus operative treatment]. Unfallchirurg 1999, 102 (3): 173-81. [3] Farshad M, Gerber C, Meyer DC, et al. Reconstruction versus conservative treatment after rupture of the anterior cruciate ligament: cost effectiveness analysis. BMC Health Serv Res 2011, 11 : 317. [4] Fink C, Hoser C, Hackl W, et al. Long-term outcome of operative or nonoperative treatment of anterior cruciate ligament rupture - is sports activity a determining variable? Int J Sports Med 2001, 22(4): 304-309. [5] Frobell RB, Roos EM, Roos HP, et al. A randomized trial of treatment for acute anterior cruciate ligament tears. N Engl J Med 2010, 363 (4): 331-42. [6] Frobell RB, Roos HP, Roos EM, et al. Treatment for acute anterior cruciate ligament tear: five year outcome of randomised trial. BMJ 2013, 346 : f232. [7] Grindem H, Eitzen I, Moksnes H, et al. A pair-matched comparison of return to pivoting sports at 1 year in anterior cruciate ligament-injured patients after a nonoperative versus an operative treatment course. Am J Sports Med 2012, 40 (11): 2509-16. [8] Kessler MA, Behrend H, Henz S, et al. Function, osteoarthritis and activity after ACL- rupture: 11 years follow-up results of conservative versus reconstructive treatment. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 2008, 16 (5): 442-8. [9] Seitz H, Chrysopoulos A, Egkher E, Mousavi M. [Long-term results of replacement of the anterior cruciate ligament in comparison with conservative therapy]. Chirurg 1994, 65 (11): 992-8. [10] Streich NA, Zimmermann D, Bode G, Schmitt H. Reconstructive versus non- reconstructive treatment of anterior cruciate ligament insufficiency. A retrospective matched-pair long-term follow-up. Int Orthop 2011, 35 (4): 607-13. Seite 6
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