Rezensionen Erster Weltkrieg - Franz Steiner Verlag
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Rezensionen Rezensionsschwerpunkt Erster Weltkrieg ALEKSANDR VATLIN: Sovetskoe ėcho v Bava- nes methodologischen Instrumentariums, das rii. Istoričeskaja drama 1919 g. v šesti glavach, er als „traditionelle, chronologisch geordnete pjati kartinach i dvadcati dokumentach [Das Quellenanalyse“ bezeichnet, ergänzt um fünf sowjetische Echo in Bayern. Das historische mikrohistorisch untersuchte Fälle – Vatlin Drama des Jahres 1919 in sechs Kapiteln, fünf spricht von „fünf Bildern“. Auch hat er sich Bildern und zwanzig Dokumenten]. Moskva: entschieden, in seiner Darstellung „das Ge- Novyj chronograf, 2014. 464 S. ISBN: 978-5- schehen bewusst zu dramatisieren, um die ver- 94881-231-1. borgenen Mechanismen der Entwicklung sicht- bar werden zu lassen“. Am Ende der äußerst Das Gedenkjahr 2014, das in den Medien wie spannenden Lektüre wird dem Leser jedoch auch in den Geschichtswissenschaften vor al- klar, dass es sich um eine Arbeit handelt, die in lem dem Beginn des Ersten Weltkriegs gewid- Form der interdisziplinär angelegten „Neuen met war, hat andere Jahrestage, wie etwa die Politikgeschichte“ geschrieben ist und damit Ausrufung der Bayerischen Räterepublik vor Elemente von Gender- und Generationenpro- Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr 95 Jahren, in den Hintergrund treten lassen. In blemen, visueller Anthropologie, wie auch Russland etwa hat die unermüdliche Suche kommemorativer und (auto-)biographischer nach eindeutig heroischen Momenten des Analyse umfasst. Bei einigen Exkursen, zur ge- „vergessenen Krieges“ dazu geführt, dass um- nerationentypischen Erfahrung von Kombat- strittene und mehrdeutige revolutionäre Ereig- tanten des Ersten Weltkriegs oder zur Rolle nisse völlig in Vergessenheit gerieten. Das der Frau in europäischen Revolutionen, wäre Buch von Alexander Vatlin bildet in diesem eine Erweiterung und Vertiefung wünschens- Zusammenhang eine glückliche Ausnahme: wert gewesen. Allerdings gelingt es dem Autor Seine Untersuchung ist eine wichtige Ergän- mit seinen „fünf Bildern“, die eher in literari- zung zur aktuellen internationalen Diskussion schem als in einem für die Mikrohistorie übli- über die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts chen Stil verfasst sind, dem Leser die individu- und ihre Bedeutung für die Gesellschaften in elle wie auch die kollektive Tragödie besonders Mittel- und Osteuropa in der Zwischenkriegs- eindrücklich vor Augen zu führen. zeit. Zu einem der Hauptthemen der Untersu- Die vorliegende Monographie stützt sich chung ist die akteursbezogene Dimension der auf umfangreiches Quellenmaterial aus russi- bayerischen Revolution geworden. Vatlin zeigt schen und deutschen Archiven (darunter auch höchst anschaulich, wie im Frühjahr 1919, als höchst interessante, gleichwohl schwer zu in- sich der revolutionäre Furor in Deutschland terpretierende Gerichtsakten), auf Pressebe- bereits abschwächte, die Berufsrevolutionäre richte, Ego-Dokumente und Memoiren, wie den Weg nach Bayern fanden, in der Hoff- auch auf die zahlreiche Sekundärliteratur zur nung, in den Wirbel der Ereignisse zurückzu- Münchner Räterepublik, die vom Autor mit kehren; manche beflügelt von Gerüchten über den jeweiligen politischen Trends in Beziehung eine finanzielle Unterstützung aus Sowjetruss- gesetzt wird, die das kulturelle Gedächtnis prä- land. Es war dieses Bild von „Spartakisten mit gen. Besonders anschauliche Dokumente sind Rucksack“, vor allem von Politemigranten aus in den einzelnen Kapiteln im Volltext veröf- dem ehemaligen Zarenreich, die überall bereit fentlicht. waren, revolutionäre Unruhe zu entfachen, das Dem Autor ist es zwar mit großer sprachli- die führenden Vertreter der Bayerischen Räte- cher Klarheit gelungen, die Menge an Fakten, republik in den Augen der einheimischen Be- Personen und Vorgängen analytisch zu ordnen, völkerung diskreditierte und von der konterre- doch verwirrt er den akademischen Leser in volutionären Propaganda erfolgreich eingesetzt seiner Einleitung durch die Beschreibung sei- wurde. Der Autor zeichnet eine eindrucksvolle Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
104 Rezensionen und überzeugende Porträtgalerie der Kommu- chung nicht nur mit der Rolle der Freikorps, ne: von überzeugten Ideologen und arbeitslo- deren Brutalität weitgehend erklärbar ist, son- sen demobilisierten Soldaten des Ersten Welt- dern auch mit der sozialdemokratischen Regie- kriegs über fanatische Anhängerinnen der rung in Berlin, die das Blutbad im Süden aus Emanzipation und realitätsferne, in den Wol- eigenem Interesse zuließ: Es ging ihr darum, ken schwebende Künstler aus Schwabing bis die letzten kommunistischen Brandherde aus- hin zu Hochstaplern und eitlen Karrieristen. zulöschen, Einfluss auf die Siegermächte zu Vor allem der Mangel an geeignetem Personal nehmen hinsichtlich ihrer Vorstellung von war ursächlich für das administrative Chaos Deutschland als europäischem Vorposten ge- und für unterschiedlichste planlose Maßnah- gen den Bolschewismus und auch darum, dem men wie etwa eigeninitiativ vorgenommene Streben Bayerns nach Unabhängigkeit ein Requisitionen, die Ankündigung eines General- Ende zu setzen. Auch wenn der Autor die streiks, oder auch die Auseinandersetzungen These von einem direkten Zusammenhang mit den Banken. Die meisten Maßnahmen, vor zwischen der blutigen Niederschlagung der ro- allem auf dem Finanzsektor, waren auf eine ten Revolution und der Umwandlung Bayerns langfristige Perspektive ausgerichtet, in der sich in ein Bollwerk der braunen Revolution als Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr nicht nur die erklärten Feinde, sondern auch grobe Vereinfachung bezeichnet, so weisen die potentiellen Verbündeten gegen die Rätere- doch viele seiner Schlussfolgerungen, wie etwa publik stellten. Zweifel an der Langlebigkeit die personelle Kontinuität, in ebendiese Rich- des Räteexperiments bestimmten das Handeln tung. der gesamtdeutschen KPD-Führung, die die Das „sowjetische Echo“ ist eine sehr gelun- süddeutschen Kommunarden förmlich im gene, anschauliche Metapher als Antwort auf Stich ließ, die Beamten der lokalen Behörden die Frage, inwieweit sich russisch-bolschewis- ignorierten die Befehle der neuen Macht, und tische und bayerische Modelle bei der Umset- die bayerische Bauernschaft stand den Reform- zung der revolutionären Experimente wechsel- vorschlägen völlig teilnahmslos gegenüber. seitig beeinflusst haben. Die auf sowjetischer Während der „rote“ Terror nach Einschät- wie auch auf bayerischer Seite vermittelte Dar- zung des Autors ohne größeres Blutvergießen stellung des Anderen beruhte auf irreführen- ausging – der berüchtigten Hinrichtung im Lu- den Vorstellungen über den Verlauf der Ereig- itpold-Gymnasium fielen zehn Menschen zum nisse im jeweils anderen Teil Europas. Dies Opfer –, überstieg der „weiße“ Terror alle war teils auf den Abbruch der regulären denkbaren Maßstäbe: Neben den Opfern mili- Kommunikation zurückzuführen, teils aber tärischer Auseinandersetzung und hunderten auch von Wunschdenken getragen. Weder die außergerichtlicher Erschießungen standen über von der weißen Propaganda verbreiteten Ge- hunderttausend Menschen (ein Sechstel der da- rüchte über eine großzügige Finanzierung der maligen Münchner Bevölkerung) wegen ihrer süddeutschen Revolutionäre durch Sowjetruss- vermeintlichen oder tatsächlichen Sympathien land, noch der Glaube an die Möglichkeit einer für die Roten vor Gericht. Dabei wurden direkten Steuerung der bayerischen Revolution Nichteinheimische bei gleichen Delikten stren- aus Moskau entsprachen der Wirklichkeit. ger verurteilt als die Einwohner Bayerns. Was Gleichwohl gelingt es dem Autor nicht nur, die in der Geschichtsschreibung noch wenig er- verbindende Logik der revolutionären Ereig- forscht ist, so der Autor, sind die in ganz Bay- nisse in beiden Ländern nachzuzeichnen – der ern bis hin zur österreichischen Grenze vorge- unerwartet leichte Sturz einer tausendjährigen nommenen Durchsuchungsmaßnahmen. Und Monarchie, die anfängliche Euphorie im Lager selbst die führenden Akteure der Räterepublik, der Sieger und dessen rasche Zersplitterung denen es gelungen war zu fliehen, gerieten spä- unter dem Einfluss demokratischer Verfahren ter in die Mühlen des nationalsozialistischen –, sondern auch gegenläufige Tendenzen her- und des stalinistischen Terrors. auszuarbeiten: ein unterschiedliches Verständ- Der Autor befasst sich in seiner Untersu- nis von Räten und Räterepublik, eigene Vor- Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
Rezensionen 105 stellungen im Hinblick auf Krieg und Frieden, schen Zwischenkriegszeit wie auch der longue wie auch in Bezug auf die Doppelherrschaft. durée der Revolution gehört zweifellos zu den Diese Kontextualisierung von unterschiedli- besonderen Stärken dieser Arbeit. chen Prozessen und Ereignissen der europäi- Oksana Nagornaja, Čeljabinsk JOCHEN BÖHLER / WŁODZIMIERZ BORO- war hier der Tübinger SFB Kriegserfahrung DZIEJ / JOACHIM VON PUTTKAMMER (Ed.): und insbesondere die Studie von CHRISTOPH Legacies of Violence. Eastern Europe’s First MICK: Kriegserfahrungen in einer multiethni- World War. München: Oldenbourg, 2014. VII, schen Stadt. Lemberg 1914–1947. Wiesbaden 334 S. = Europas Osten im 20. Jahrhundert. 2010; vgl. auch MARK HATLIE: Riga at War. Schriften des Imre Kertész Kollegs Jena, 3. War and Wartime Experience in a Multi-Eth- ISBN: 978-3-486-74195-7. nic Metropolis. Marburg 2014), aber auch die sich seit einigen Jahren entwickelnde historisie- Das östliche Europa veränderte nicht nur rende Perspektive der Gewaltforschung. Die- durch den Zerfall der kontinentalen Imperien ses Desiderat greift der Band mit insgesamt Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr und die Entstehung neuer Nationalstaaten am dreizehn Beiträgen auf, die im Anschluss an Ende des Ersten Weltkriegs sein Gesicht, son- einen Workshop am Imre-Kertész-Kolleg dern seine Gesellschaften wurden auch durch (Jena) entstanden sind: Ausgehend von der die damit einhergehenden Gewaltexzesse nach- Prämisse, dass der Erste Weltkrieg mehr Kata- haltig geprägt. Verstärkt wurde diese Entwick- lysator denn Ausgangspunkt der entstehenden lung durch die zahlreichen Wechsel der Front- Gewaltausbrüche war, sehen die Herausgeber verläufe und nicht zuletzt durch die vergleichs- die sich im Zuge des Zweiten Weltkrieges ent- weise lange Kriegszeit, die in dieser Region mit fesselnde Welle von Pogromen, ethnischen den Balkankriegen begann und nach Ende des Säuberungen und Genoziden und nicht zuletzt Weltkriegs in traumatisierende Grenz- und die Welle von paramilitärischer Gewalt und Bürgerkriege überging, die bis zum Anfang der Bürgerkrieg als wesentliche Hinterlassenschaf- 1920er Jahre andauerten. Krieg war daher über ten des Ersten Weltkrieges. Um dies auszufüh- 1918 hinaus für die entstehenden Staaten ein ren, wird der Band nach einer kurzen Einfüh- Mittel, das entstandene politische Machtvaku- rung in vier thematisch ineinandergreifende um zu füllen und eigene territoriale Ansprüche Sektionen unterteilt und von einem längeren zu realisieren, zugleich setzte sich anders als im zusammenfassenden Kommentar abgerundet: Westen bewaffnete Gewalt auch außerhalb von In der ersten Sektion A World in Transition Kriegshandlungen als Handlungsoption und behandeln die Beiträge von JOACHIM VON -strategie durch. Das östliche Europa wurde PUTTKAMER, MARK BIONDICH und JOCHEN daher von unterschiedlichen Formen von BÖHLER in vergleichender Perspektive die Gewaltanwendung erschüttert, zumal zahlrei- durch den Ersten Weltkrieg hervorgerufenen che Fragmentierungen entstanden, die die be- Veränderungen. Zunächst legt Joachim von stehenden ethno-konfessionell und sozial be- Puttkamer als Mitherausgeber mit seinem Ver- dingten Spannungen aus der Vorkriegszeit in- gleich der an 1918 anschließenden Welle von tensivierten. Gewalt im östlichen Europa den konzeptionel- Erst seit einigen Jahren sind der Erste Welt- len Rahmen des Bandes dar, indem er sie mit krieg und seine Folgen für das östliche Europa der gegenseitigen Beeinflussung von Zu- allmählich wieder in das Blickfeld der Histori- sammenbruch und Instandsetzung, dem Wech- ker gewandert, so dass diesbezüglich noch selspiel von Politik und kriegsbedingten Defor- zahlreiche Desiderate offen sind. Ein zentrales mationen des gesellschaftlichen Gefüges er- Thema ist hierbei die Frage nach Folgen der klärt. Mark Biondich verdeutlicht anhand der Gewalt für die jeweiligen Gesellschaften im gegenseitigen Beeinflussung von nationaler Sinne von Kriegserfahrungen. (Wegweisend Identität und Konflikt in Ostmittel- und Süd- Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
106 Rezensionen osteuropa am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Entstehung von namhaften paramilitärischen, dass diese ethno-konfessionell und kulturell extrem nationalistischen Subkulturen nach Be- sehr unterschiedlichen Gebiete bereits vor endigung der Kriegshandlungen sehr deutlich. 1914 zu potentiellen Konfliktzonen heran- ROBERT GERWARTH, dessen Beitrag als einzi- gereift seien. Die Tatsache, dass vor allem auch ger bereits veröffentlicht worden ist, zeigt so- in der lokalen Bevölkerung Bruchstellen ver- mit, dass es den Paramilitärs gelang, ihre gesell- laufen seien, erklärt für Jochen Böhler den schaftliche Randständigkeit dadurch zu über- Wandel von Generälen und Warlords zu kommen, dass die Veteranen sich mehrheitlich Politikern, wobei Gewaltanwendung nicht „do- in eng miteinander verbunden Vereinigungen mestiziert“ (S. 65) worden sei. zusammengeschlossen und diese in allen be- Die folgende Sektion diskutiert die Besat- siegten Staaten ein Netzwerk gebildet hätten. zungsherrschaft. JOHNATHAN E. GUMZ be- Da ihre Mitglieder in den Staaten Karriere schreibt, wie die Vorkriegsnormen der Besat- gemacht hätten, sei Gewalt als Praktik von Ex- zungsherrschaft in Ostmitteleuropa allmählich klusion stets präsent gewesen. kollabierten, wobei die Revolution von 1917 Die anschließenden drei Beiträge themati- diesen Prozess des Kontrollverlustes beschleu- sieren die Nachwirkungen dieser Entwicklun- Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr nigt habe. STEPHAN LEHNSTEDT erläutert an- gen. So dekonstruiert JULIA EICHENBERG ins- schließend die Besatzungspolitik während des besondere am polnischen Fall das Narrativ ei- Ersten Weltkriegs, die zwischen wirtschaftli- ner Dichotomie von Zwang und Konsens in cher Nutzbarmachung und Ausbeutung chan- Bezug auf die Kriegserfahrungen. Der Überg- giert habe. Eine weitreichende Folge der Besat- ang vom Weltkrieg zu Grenz- und Bürgerkrie- zungspolitik sei daher auch gewesen, dass Vor- gen sei ohne wirkliche Zäsur verlaufen und stellungen zur zwangsweisen Umsiedlung von habe daher zu einer Brutalisierung aller Kriegs- Bevölkerungsgruppen und von ethnischen Säu- veteranen geführt. Anschließend greift PHILIPP berungen entwickelt worden seien. ROBERT L. THER die Frage von ethnischen Säuberungen NELSON legt anschließend die Entwicklung der im „langen“ Ersten Weltkrieg wieder auf und deutschen Visionen von Bevölkerungstransfers diskutiert die Legalisierung von Gewalt als Mit- dar, um zu zeigen, dass sie als Mittel der Kolo- tel zur Konfliktlösung. So seien ethnische Säu- nisationspolitik aus der Beobachtung von Prak- berungen und andere gewaltsame Eingriffe der tiken in den USA, im Russländischen Reich Homogenisierung der Bevölkerung als ein Aus- und auf dem Balkan abgeleitet und im Laufe weg nationaler und internationaler Politik ak- des Krieges weiter radikalisiert worden seien. zeptiert worden. DIETRICH BEYRAU beschließt Dieser ideengeschichtliche Beitrag leitet zur die Sektion mit einem Blick auf die entstehen- nächsten Sektion über, die ausdrücklich die de Sowjetunion. Hier sei eine Spirale der weitere Radikalisierung im Ersten Weltkrieg be- Gewaltanwendung entstanden, die er weniger leuchtet. So verdeutlicht MACIEJ GÓRNY am als eine Folge einer kumulativen Radikalisie- Beispiel der Somatolgie wie Wissenschaft in rung, sondern vielmehr als Zusammenspiel un- den Dienst der Staaten und Nationen gestellt terschiedlicher Faktoren sieht. Organisierte wurde. Daher habe der Weltkrieg für die und lokale Gewalt sei von einem Kollateral- Wissenschaften eine Zäsur dargestellt, weil sie schaden und von teilweise institutionalisierten nun einem rein nationalen Paradigma unter- Verbrechen, aber auch von Hunger und Epide- worfen worden seien. Die Radikalisierung der mien begleitet worden, so dass die Staatsbil- nationalen Gesellschaften in Bezug auf den dung Gewalt und Zwang teilweise als konstitu- Antisemitismus sieht PIOTR WRÓBEL daher in tive Faktoren integriert habe. seinem Beitrag als Vorahnung des Holocaust In seinem zusammenfassenden Kommentar an. Dass die Traumatisierungen durch Krieg kritisiert JÖRN LEONHARD die bisherige Histo- und Niederlage, Revolution und territorialen riografie, die die Ereignisse aus einer national- Verlust bei der Gewaltanwendung Hemmun- staatlichen oder regionalen Perspektive bewer- gen niederbrechen ließen, wird auch in der te und im Lichte des Zweiten Weltkrieges eine Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
Rezensionen 107 rückblickende Kausalkette entwerfe, um die sellschaften des 20. Jahrhunderts im östlichen Notwendigkeit einer vertiefenden, West und Europa wurden. Sie verdeutlichen durch ihre Ost vergleichenden Perspektive zu betonen. Fokussierung auf den Gebrauch von Gewalt Dabei müsse der Weltkrieg als doppelte und die daraus resultierende, sich radikalisie- Wasserscheide zwischen 19. und 20. Jahr- rende Begründungen der Gewaltanwendung, hundert gesehen werden, weil er eine neue dass gerade für das östliche Europa der zeitli- Qualität der Kriegsführung hervorgebracht che Analyserahmen weiter gespannt und die habe und neue Ausdrucksweisen von Loyalität Balkan- und die sich nach 1918 anschließenden sowie neue Instrumente und Akteure hervor- Grenz- und Bürgerkriege einbezogen werden gebracht habe. Mit diesem Fazit wendet er sich müssen. An ihrem Beispiel wird deutlich, wie ausdrücklich gegen die suggestive Klassifizie- wichtig vergleichende Perspektiven auf die Er- rung der östlichen Grenz- und Übergangs- eignisse, Erfahrungen und Folgen der Kriegs- regionen als bloodlands (T. Snyder). ereignisse sind, um zahlreiche Facetten ihrer Da alle sehr lesenswerten und kenntnisrei- Hinterlassenschaft zu begreifen. Zu hoffen chen Beiträge die Kriegshandlungen als Kataly- bleibt daher, dass hieraus weitere, vergleichen- sator für die weitere gesellschaftliche und ideel- de und zugleich das Erbe des Ersten Welt- Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr le Entwicklung verstehen, zeigen sie zu- kriegs vertiefende analysierende Aufarbeitun- sammenfassend, dass die Folgen der gen der Kriegshandlungen und folgenden „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (G. F. Gewaltexzesse durch diesen empfehlenswerten Kennan) weit über die Opferzahlen, die mate- Band initiiert werden. riellen und territorialen Folgen hinausgingen Heidi Hein-Kircher, Marburg und im besonderen Maße prägend für die Ge- Pervaja mirovaja vojna, Versal’skaja sistema i reits im Jahr 2012 erschienenen Sammelban- sovremennost’. Sbornik statej [Der Erste Welt- des. In beiden Fällen traten die Fakultät für In- krieg, das Versailler System und die Gegen- ternationale Beziehungen der St. Petersburger wart. Sammelband]. Otv. red. I. N. Novikova / Universität und die Russische Vereinigung der A. Ju. Pavlov. S.-Peterburg: Izdat. SPB GU, Historiker des Ersten Weltkriegs als Gastgeber 2012. 352 S. ISBN: 978-5-288-05279-8. auf, bei der zweiten Tagung im November 2011 fungierte auch noch das Institut für All- Velikaja vojna 1914–1918. Al’manach Rossijs- gemeine Geschichte der Russischen Akademie koj associacii istorikov Pervoj mirovoj vojny. der Wissenschaften als zusätzlicher Veranstal- Vyp. 2 [Der Große Krieg 1914–1918. Alma- ter. Die Hälfte der 14 Autorinnen und Autoren nach der Russischen Vereinigung der Histori- des später publizierten Werkes (über die Kon- ker des Ersten Weltkriegs. Nr. 2]. Moskva: ferenz von 2009) verfassten auch Beiträge für Kvadriga, 2013. 141 S., Tab. ISBN: 978-5- den erstgenannten Sammelband (über die Ta- 91791-067-3. gung von 2011), der insgesamt jedoch 30 Vor- träge vereinigt. Die beiden hier vorgestellten Sammelbände ge- Der große Verdienst des Sammelbandes, ben die Vorträge auf zwei Konferenzen wieder, der auf die zweite Konferenz im Jahre 2011 zu- die unter dem Titel Der Erste Weltkrieg, das Ver- rückgeht, ist, dass er einen Überblick über den sailler System und die Gegenwart in St. Petersburg Stand der Erste-Weltkriegs-Forschung in Russ- stattfanden. Die Materialien der ersten Konfe- land in ihrer ganzen Breite und Vielfalt gibt. renz vom 24./25. April 2009 wurden in zwei Ansonsten scheint seine Konzeption wenig Ausgaben des Almanachs veröffentlicht, von nachvollziehbar. Die Zuordnung der Aufsätze denen hier die zweite von 2013 vorliegt. Die zu den sechs Abschnitten (1. Militärisch-politische zweite Tagung vom 7./8. November 2011 Aspekte des Ersten Weltkriegs, 2. Nationale Idee und führte zur Herausgabe des erstgenannten, be- Krieg, 3. Der Erste Weltkrieg und die Gesellschaft, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
108 Rezensionen 4. Der Erste Weltkrieg und die internationalen Bezie- tärische Elite von Compiègne bis Versailles: Soll man hungen, 5. Die Diplomatie von Versailles und 6. Die den Krieg beenden? bzw. Schweden in den Plänen der internationalen Folgen des Systems von Versailles und militärisch-politischen Eliten Deutschlands [1914– Washington) erscheint in vielen Fällen willkür- 1915]) beruhen auf intensivem Studium lich und austauschbar. Einige Beiträge fallen deutschsprachiger Quellen. Bei den Altmeis- aus dem Rahmen, so der sehr solide gearbeitete tern der russischen Geschichtsschreibung über Artikel von A. A. MALYGINA zur chemischen den Ersten Weltkrieg wie E. JU. SERGEEV und Kriegsführung. Welchen Bezug der Vortrag V. K. ŠACILLO ist ihre Routine klar spürbar. von V. A. KARELIN über die russisch-norwegi- E. JU. DUBROVSKAJA entwickelt überdies in ih- schen Beziehungen 1905–1912 zum Thema rer Studie über die russischen Truppen in des Tagungsbandes hat, blieb dem Rezensen- Finnland in den Jahren des Ersten Weltkriegs ten dagegen verschlossen. Daneben erscheint einleuchtend ihren mentalitätsgeschichtlichen die These von D. JU. KOZLOV, dass der See- Ansatz. krieg ausschlaggebend für den Ausgang des Er- Im Unterschied zu dem ambitionierten sten Weltkriegs gewesen sei, zumindest gewöh- Sammelband von 2012 macht das zweite hier nungsbedürftig. Der Aufsatz von S. N. BAZA- besprochene Werk, der Almanach von 2013, Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr NOV (Die Bildung von militärischen Einheiten aus einen wesentlich homogeneren Eindruck. Die kriegsgefangenen Slaven in den Jahren des Ersten Kapiteleinteilung ist einleuchtender und die Weltkriegs) macht überdies einen oberflächli- Beiträge sind meist umfangreicher und können chen Eindruck. Er stützt sich im Wesentlichen deshalb auch mehr in die Tiefe gehen. Die auf Forschungsliteratur aus der Sowjetzeit, und meisten von ihnen behandeln interessante The- an dem Patriotismus des Verfassers bleibt nach men und sind solide fundiert. So stützt sich der dieser Studie kein Zweifel. Schwer nachvoll- Aufsatz von S. E. NOVIKOV (Der Kreis Weiß- ziehbar wirkt zudem, dass sich eine beträchtli- russland und das „Projekt Ober-Ost“. Auf der Suche che Zahl von Beiträgen mit ausschließlich in- nach der historischen Wahrheit) auf eine breite nenpolitischen Problemen Großbritanniens be- Quellenbasis. Allerdings muss hier einschrän- schäftigt, was disproportioniert erscheint. Die kend hinzugefügt werden, dass der Autor das Qualität dieser Arbeiten ist aber sehr unter- bahnbrechende Werk von VEJAS G. LIULEVI- schiedlich. Wie Fremdkörper wirken auch die CIUS (War Land at the Eastern Front. Cam- englischsprachigen Aufsätze der beiden italieni- bridge 2000; deutsch: „Kriegsland im Osten“. schen Konferenzteilnehmer und des britischen Hamburg 2002) leider nicht rezipiert hat. Auch Konferenzteilnehmers. Sie behandeln zwar in- der materialreiche Beitrag von D. JU. KOZLOV teressante Themen und sind solide gearbeitet, über das Thema der Marinezusammenarbeit zeigen aber in ihrer Andersartigkeit in der rus- Russlands mit seinen Alliierten am Vorabend sischen Umgebung, wie sehr sich auch heute des Krieges kann mehr überzeugen als seine noch westliche und russische Historiographie Studie in dem Sammelband von 2012. Sehr ne- im Allgemeinen unterscheiden. Jedoch kann gativ fällt allein der Artikel von V. A. KOTE- eine ganze Reihe von Abschnitten durchaus NEV auf, der für die Verfolgung der Armenier überzeugen. So wurden von einigen Historike- im Osmanischen Reich eine abstruse jüdisch- rinnen und Historikern aus der Provinz (I. B. zionistisch-armenisch-türkische Freimaurer- BELOVA, D. S. LAVRINOVIČ, S. V. BUKALOVA) theorie konstruiert. Unter der ganzen Reihe aufschlussreiche Lokalstudien vorgelegt, die in von interessanten Untersuchungen sei hier aus- der Regel auf umfangreiche Recherchen in rus- gerechnet die von S. N. BAZANOV, der im erst- sischen Archiven zurückgehen. Hierzu kann besprochenen Werk enttäuschte, über die Rolle auch der Vortrag von T. V. KOTJUKOVA (Mos- von A. A. Brusilov bei der Bildung von Frei- kau) über die Lage der Kriegsgefangenen in willigen-Einheiten in der russischen Armee Turkestan 1914–1916 gezählt werden. Die Bei- 1917 besonders hervorgehoben. träge von L. V. LANNIK und I. N. NOVIKOVA Abschließend soll festgehalten werden, dass, zu genuin deutschen Themen (Die deutsche mili- auch wenn sie Mängel aufweisen, die beiden Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
Rezensionen 109 hier besprochenen Sammelbände ein Muss für schung zum Ersten Weltkrieg informieren wol- die Historikerinnen und Historiker darstellen, len. die sich über den Stand der russischen For- Georg Wurzer, Wilhelmsdorf Vojna vo vremja mira. Voenizirovannye kon- Ursprünge, Ausprägungen und Auswirkungen flikty posle Pervoj mirovoj vojny. 1917–1923. paramilitärischer Gewalt in Europa im Zeit- Sbornik statej [Krieg in Friedenszeiten. Militä- raum von 1917 bis 1923 zu untersuchen, und rische Konflikte in den Jahren nach dem Er- argumentieren überzeugend, warum es folge- sten Weltkrieg, 1917–1923]. Red. R. Gervart / richtig ist, die untersuchte Periode mit den D. Chorn. Moskva: NLO, 2014. 397 S., 4 Ktn., Russischen Revolutionen zu beginnen und mit 17 Abb., 2 Tab. = Historia Rossica / Studia dem Ende des Bürgerkriegs in Irland und dem Europaea. ISBN: 978-5-4448-0184-0. Ausklingen des Ruhrkampfes enden zu lassen. Doch eine Reihe von Beiträgen überspringt Der vorliegende Sammelband ist eine Überset- sinnvollerweise die gesetzte Zeitgrenze, denn zung aus dem Englischen ins Russische und er die paramilitärische Gewalt lief weiter. Die Au- Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr liegt auch in einer deutschen Fassung vor. Im toren nutzen wiederholt das Konzept der Vergleich zur englischsprachigen Version wur- „shatter zones“ von Donald Bloxham und wei- de er um einen Beitrag von Nikolaus Katzer sen die Brutalisierungsthese von George L. ergänzt. So kann sich der Leser entscheiden, Mosse eher zurück. Die Konkurrenz verschie- welche Sprache er bevorzugt. Der Band ist das dener Ideologien bildet einen zentralen Faktor Ergebnis von Tagungen in Dublin und Moskau der Analyse des Bandes; besonders galt dies für sowie der teilweise langjährigen Kooperation die Überbleibsel von Imperien, die zumeist der Autoren miteinander. Dadurch gelang es auch noch ethnische Konflikte und keine klar ausgesprochen gut, die Beiträge innerhalb eines definierten Grenzen aufwiesen. Revolution, der gemeinsamen Rahmens zu fokussieren. Die Zusammenbruch von Imperien und ethnische einzelnen Aufsätze sind allesamt von hohem Konflikte sind daher Schlagworte, die den Niveau und fassen den aktuellen Forschungs- Band durchziehen und die eingesetzte Gewalt stand in nationalen oder regionalen Fallstudien nachvollziehbarer machen. Wichtig war in be- zusammen. In dem Sinne haben die Herausge- stimmten Regionen auch der Verlust des ber gute Arbeit geleistet. Gewaltmonopols des Staates. Paramilitärische Gewalt und Konflikte nach Der erste Teil der Aufsätze steht unter der dem Ersten Weltkrieg waren ein gesamteuro- Überschrift Revolution und Gegenrevolution. Dies päisches Phänomen, und nach dem einen macht mit Sicherheit die Bedeutung der so ge- großen Krieg folgten noch die vielen kleinen, nannten Oktoberrevolution und der Reaktion wie durch ein Zitat Winstons Churchills am auf sie deutlich. WILLIAM G. ROSENBERG un- Anfang illustriert wird. Doch abgesehen von tersucht die Gewalt in den Russischen Bürger- den deutschen Freikorps und dem Fall Irlands kriegen, wobei er nicht die Niederlage im Welt- wurden die Paramilitärs von der Forschung krieg als eine Ursache betont, sondern viel- eher stiefmütterlich behandelt. Durch einen mehr die unzureichende Versorgungslage und vergleichenden und transnationalen Ansatz die große Knappheit wichtiger Güter, welche bietet der Band eine hervorragende Einfüh- es erlaubte, dass paramilitärische Gruppen ent- rung in das Thema, jedoch basieren die einzel- standen. Es verschwammen auch zunehmend nen Aufsätze eher auf Literatur als auf umfang- die Grenzen zwischen regulären und irregulä- reichen, neuen Archivrecherchen. ren Einheiten. Rosenberg stellt auch die wichti- Die Herausgeber ROBERT GERWARTH und ge Frage, ob die Gewaltanwendung der Bol’še- JOHN HORNE bieten in ihrer Einleitung einen viki den gegenrevolutionären Kräften in Euro- geeigneten Rahmen für den gesamten Band. pa nicht eher als eine Art Muster und als Sie formulieren das Ziel, die Ambitionen, die Rechtfertigung für eigene Gewalt diente. Die Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
110 Rezensionen beiden Herausgeber setzen sich im folgenden verhältnismäßig geringen Ausmaßes politischer Beitrag damit auseinander, wie man sich die Gewalt in den baltischen Staaten in der Zwi- „bolschewistische Gefahr“ vorstellte – sowohl schenkriegszeit erscheint der Vergleich mit Ita- unter den Siegern als auch unter den Verlierern lien oder der Weimarer Republik, den der Au- des Weltkriegs. Anschließend stellt GERWARTH tor zieht (S. 242), als etwas überzogen. JOHN den Kampf gegen die „rote Gefahr“ in Mittel- PAUL NEWMAN untersucht das Beispiel des europa dar. Es bestand sozusagen ein transna- Balkans und kann überzeugend auf Kontinuitä- tionales Netzwerk von Paramilitärs in Gegner- ten mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ver- schaft zum „jüdischen Bolschewismus“. PERT- weisen. Sowohl nach dem Zusammenbruch TI HAAPALA und MARKO TIKKA zeigen in Österreich-Ungarns als auch im Zweiten Welt- ihrem ausführlichen Aufsatz zum Finnischen krieg lebten die paramilitärischen Traditionen Bürgerkrieg, wie dieser sich zwar schnell bruta- wieder auf. UĞUR ÜMIT ÖNGUR beschreibt die lisierte, diese Tatsache aber nicht so sehr auf Entstehung unterschiedlicher paramilitärischer die Russischen Revolutionen zurückzuführen Einheiten im zusammenbrechenden Osmani- war, als auf Faktoren vor Ort. Da die Bevölke- schen Reich. Er verweist auf ihren teilweise rung Finnlands während des Weltkriegs von lang andauernden Einfluss auf die Einstellung Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr der Wehrpflicht befreit war, spielte das Kriegs- führender türkischer Politiker. Am Beispiel erlebnis auch keine besondere Rolle. EMILIO von Polen und Irland belegt JULIA EICHWALD, GENTILE liefert eine detaillierte Beschreibung dass die Erklärung einer Kontinuität der der Entstehung und Etablierung von faschis- Gewalt in Weltkrieg und Nachkriegszeit zu tischen paramilitärischen Strukturen in Italien kurz greift. Dies gelingt ihr durch die Be- in den Jahren 1919–1923. NIKOLAUS KATZER trachtung von untypischen Paramilitärs, näm- rundet diesen Block mit einem Beitrag über lich von Frauen und Kindern. In der späteren den weißen Mythos des russischen Antibol- Erinnerung wurden die Frauen dann wieder schewismus in der Nachkriegszeit ab. Er be- ausgeblendet. ANNE DOLAN geht ebenfalls auf handelt die Führungselite der Weißen Armeen den irischen Fall ein, indem sie die eskalierende und ihre politischen Aktivitäten in der Emi- Wirkung von Kampfhandlungen und die gration. Kultur der Gewalt der in Irland eingesetzten Der zweite Teil trägt die Überschrift Natio- britischen Kräfte untersucht. Diese hätten sich nen, Grenzen und ethnische Gewalt. Er beginnt mit alle sehr ähnlich verhalten – ob es sich nun um einem Aufsatz von SERGEJ EKEL’ČUK über reguläre oder irreguläre Verbände handelte. den Ukrainischen Bürgerkrieg, welcher das Dolan appelliert für ein erweitertes Verständnis heutige Geschichtsbild in der Ukraine ein we- paramilitärischen Verhaltens. JOHN HORNE nig in Frage stellt. Der Autor betont den loka- setzt schließlich einen Kontrapunkt zu den len und gar nicht so ideologischen Charakter vorangegangenen Beiträgen, indem er zeigt, der Akteure. TOMAS BALKELIS gibt einen wie es Frankreich gelang, das Ausufern parami- Überblick über die Entwicklung in den bal- litärischer Gewalt zu vermeiden. tischen Staaten, wo Paramilitärs an den Unab- Nach der Lektüre und all den negativen Bei- hängigkeitskriegen beteiligt waren und deren spielen paramilitärischer Gewalt ging dem Re- Organisationen nach Friedensschluss als vom zensenten der Gedanke nicht aus dem Kopf, Staat finanzierte Mobilisierungsreserven und paramilitärische und staatstreue Verbände kön- „Schulen der Nation“ dienten. Der Aufsatz en- nen in einer Demokratie auch drei wichtige det erst mit dem Zweiten Weltkrieg und so Aufgaben erfüllen: Sie können helfen, im Kri- kann Balkelis auf die Rolle der Paramilitärs bei senfall die innere Ordnung aufrechtzuerhalten den Staatsstreichen im Baltikum eingehen so- oder die Folgen von Naturkatastrophen zu be- wie auf die Beteiligung von Mitgliedern dieser seitigen, und sie dienen im Kriegsfall als zu- Organisationen an Vergeltungsmaßnahmen im sätzliche Mobilisierungsreserve. Schließlich be- Sommer 1941 während des deutschen Einmar- saß auch die alte Bundesrepublik mit der Be- sches und am Holocaust. Doch angesichts des reitschaftspolizei und dem Bundesgrenzschutz Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
Rezensionen 111 paramilitärische Formationen, die nicht nur an Aktualität dieses Forschungsthemas bewusst. kleinen Waffen ausgebildet wurden. Der transnationale und vergleichende Ansatz Alles in allem handelt es sich um einen le- liefert manches Aha-Erlebnis. Paramilitärische senswerten Sammelband, dem eine weite Ver- Gewalt war eben nicht beschränkt auf den breitung zu wünschen ist. Angesichts der heu- ‚rückständigen Osten‘ oder die instabile Wei- tigen Situation paramilitärischer Gewalt in der marer Republik. Ost-Ukraine wird dem Leser umso mehr die Olaf Mertelsmann, Tartu Bol’šaja vojna Rossii. Social’nyj porjadok, pu- völkerung in Galizien in den ersten Kriegsmo- bličnaja kommunikacija i nasilie na rubeže cars- naten bis zur Rückeroberung des Gebiets koj i sovetskoj ėpoch. Sbornik statej [Der durch die Mittelmächte im Frühjahr 1915. Die Große Krieg Russlands. Soziale Ordnung, öf- russischen Behörden sahen in den Polen eine fentliche Kommunikation und Gewalt an der Stütze der eigenen Herrschaft, avisierten ihnen Schwelle der zarischen und der sowjetischen kulturelle Autonomie und versprachen sich Epoche. Eine Aufsatzsammlung]. Red. K. durch Gewalt gegenüber Juden, aber auch Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr Bruiš / N. Katcer. Moskva: NLO, 2014. 207 S. durch eine Landreform auf Kosten des (polni- = Studia Europaea. ISBN: 978-5-4448-0155-0. schen) Großgrundbesitzes Akzeptanz. Nicht nur die tief verwurzelten antirussischen Res- Zu seinem Zentenarium ist der Erste Weltkrieg sentiments in der polnischen Bevölkerung, eine in vieler Munde. Kaum ein Tag vergeht, an aggressive Russifizierungspolitik der russischen dem die printmediale Öffentlichkeit nicht einer Verwaltung, sondern auch eine ausgeprägte Begebenheit, meist einer Schlacht oder einem polnische Loyalität gegenüber der Donaumon- bedeutenden Akteur, die Reverenz erweist. Die archie verhinderten jedoch ein gedeihliches Monographien Christopher Clarks Die Schlaf- Verhältnis (S. 31–33). wandler, Herfried Münklers Der Große Krieg oder FRANZISKA DAVIS untersucht, inwieweit Jörn Leonhards Die Büchse der Pandora haben in sich die zarischen Streitkräfte der Loyalität und der Bundesrepublik breiten Widerhall gefun- der Akzeptanz der Untertanen des multiethno- den. Zahlreiche Besprechungen, Repliken und konfessionellen Imperiums erfreuten. Sie ver- Kommentare, an denen sich auch die Doyens deutlicht, dass der Armee eine einheitliche der bundesdeutschen Historikerzunft wie Strategie zur Integration der Muslime des Hans-Ulrich Wehler und Hermann August Reichs gefehlt habe: Während Baškiren und Winkler in den großen Presseorganen beteilig- Wolgatataren einberufen wurden, galten für ten, haben dazu geführt, dass die herrschende Krimtataren Sonderregelungen, während die Meinung der Post-Fischer-Kontroverse bezüg- Muslime des Kaukasus und Zentralasiens exi- lich der Kriegsschuld des Deutschen Reichs miert waren. Die Hoffnungen muslimischer in- hinterfragt wird. Der Begriff der „Revision“ ist tellektueller und politischer Eliten, dass Regime bereits gefallen. werde ihre Loyalität und ihren Beitrag zur Lan- Dass angesichts seines Jubiläums der Erste desverteidigung honorieren und umfassendere Weltkrieg Gegenstand zahlreicher Tagungen Bürgerrechte konzedieren, erfüllten sich nicht auch in Russland war und ist, nimmt nicht (S. 53–57). wunder. Der hier zur Besprechung vorliegen- ALEXANDRE SUMPFs Beitrag ist dem sich de, angenehm schmale Sammelband mit seinen wandelnden Verständnis von Kriegsinvaliden neun Beiträgen reicht auf eine Tagung zurück, sowie dem Verhältnis von Invalidität und Ex- die im Deutschen Historischen Institut in Mos- pertise gewidmet. Etwa 40 % aller Kriegsver- kau bereits im Herbst des Jahres 2011 statt- letzten erwiesen sich nicht mehr als fronttaug- fand. lich. Laut einer Statistik eines Minsker Militär- PIOTR SZLANTA behandelt das Verhältnis krankenhauses aus dem zweiten Kriegsjahr von russischer Armee und polnischer Zivilbe- hatten sich über 6 % ihre Verletzungen selber Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
112 Rezensionen zugefügt. Angesichts dieser Zahlen überrascht Bemerkungen und lieferten Gerüchten über es weder, dass sich die Alimentierung der Inva- anrüchigen Lebenswandel und sexuelle Laster- liden, die sich an dem Grad der Beeinträchti- haftigkeit Vorschub. Die Zarin wurde desakra- gung orientierte, als eine Belastung der sozialen lisiert, letztlich demokratisiert und populari- Fürsorge erwies, noch dass sie bei dem leises- siert, so dass ihre Tätigkeit in propagandis- ten Verdachtsmoment auf Selbstverstümme- tischer Hinsicht zwar in den Entente-Staaten lung gestrichen wurde. Die Wiedereingliede- auf Anerkennung stieß, innerhalb des Russlän- rung der Invaliden in den Arbeitsprozess berei- dischen Reichs aber genau das Gegenteil er- tete große Schwierigkeiten. Nach dem reichte: Der Zarismus wurde in den Augen der Oktoberumsturz erfuhr die soziale Hierarchi- Gesellschaft diskreditiert. sierung der Invaliden eine Erweiterung um OKSANA SERGEEVNA NAGORNAJAs Bei- eine politische Dimension. Die Sowjetmacht trag beschäftigt sich zum einen mit dem Wan- versorgte nicht nur Versehrte des Bürgerkriegs del der in der Gesellschaft vorherrschenden besser als Bedürftige der Armee des Ancien ré- Repräsentationen der Kriegsgefangenen. Gene- gime, sondern sie weigerte sich auch, Invaliden rell gilt, dass die großen Zahlen russischer aus den Gebieten, die nicht zu Sowjetrussland Kriegsgefangener in der russischen Gesell- Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr gehörten, überhaupt zu bedenken. schaft immer wieder dem Verdacht Vorschub JULIJA ALEKSANDROVNA ŽERDEVA be- leisteten, dass sie massenhaft desertiert seien. schäftigt sich mit der propagandistischen Vi- Gleichwohl ist ein Wandel der herrschenden sualisierung von Zerstörung, Leid und Elend in öffentlichen Rezeption erkennbar: Wurden Postkarten, Holzschnitten, Karikaturen, Pho- Kriegsgefangene bis zum Februar 1917 als Op- tos, Illustrierten und im Film während des Er- fer deutscher Grausamkeiten und Inkarnation sten Weltkriegs. Ziel sei es gewesen, die eigene der Loyalität gegenüber Zar und Vaterland dar- Gesellschaft moralisch über die gegnerische zu gestellt, galten sie seit der Revolution als Medi- erheben und letztere als ‚barbarisch‘ zu diffa- um eines etwaigen Separatfriedens und nach mieren. Dabei wurden auch Nichtkombattan- dem Oktoberumsturz als Träger des Atheis- ten wie Frauen der Täterschaft, beispielsweise mus. Zum anderen untersucht der Aufsatz die des Marodierens, bezichtigt. Darstellung der Kriegsgefangenschaft im Werk BORIS IVANOVIČ KOLONICKIJs Beitrag be- der drei sowjetischen Schriftsteller Anton schäftigt sich mit den Repräsentationen der Ul’janskij, Kirill Levin und Konstantin Fedin, Krankenschwestern in der russischen Kultur. deren künstlerische Verarbeitungen des The- Zumindest unter den Mannschaftsgraden der mas sich mit der Memoirenliteratur und den zarischen Armee galt die Krankenschwester als Erlebnissen der Betroffenen nicht immer deck- Sexualobjekt. Diesen Eindruck unterstrich ein ten, aber gleichwohl glänzend zu einem Mas- Artikel der in Helsingfors erscheinenden sozi- ternarrativ verweben ließen. alrevolutionären Tageszeitung Narodnaja Niva OLEG VITAL’EVIČ BUDNICKIJ untersucht (No. 11, 6.5.1917, S. 3). Sie berichtete, Groß- die Judenpogrome der Bürgerkriegsjahre auf fürst Boris Vladimirovič habe sich einen Ha- dem Territorium der Ukraine und stellt diese in rem an Kokotten gehalten, die alle wie ein Kontinuum der antijüdischen Gewalt und Krankenschwestern gekleidet gewesen seien. In des in der zarischen Armee verbreiteten Anti- dem Maße, indem sich die Zarin und ihre semitismus. Töchter in den Dienst der patriotischen Mobi- CHRISTOPER GILLEY bindet seine Untersu- lisierung aller gesellschaftlichen Kräfte stellten chung über die „Gewalträume“ in der Ukraine und in den Hospitälern alle möglichen Aufga- in den Jahren 1917 bis 1922 mit Rekurs auf die ben bis hin zum Waschen der Füße von Sol- Überlegungen von Robert Gerwarth und John daten verrichteten, büßten sie ihre sakrosankte Horne in ein größeres Narrativ der Gewalt ein. Aura und ihre Stellung ober- bzw. außerhalb Vier Faktoren steckten gleichsam den Rahmen der Ständepyramide ein. Die Zarin und ihre ab: erstens die Erfahrung „industriellen Tö- Töchter wurden zum Gegenstand anzüglicher tens“ im Ersten Weltkrieg, zweitens Revoluti- Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
Rezensionen 113 on und Konterrevolution, drittens der Zu- lichter Gewalträume auf, unterlässt es aber, das sammenbruch des Imperiums und viertens die weiterreichende, von Gilley herangezogene Erfahrung der Niederlage. Darüber hinaus the- Modell auf den Ural anzuwenden. Ob der von matisiert er den Stellenwert von Ideologie und den Bol’ševiki verwendete und Gewalt legiti- Nationalismus für die Entwicklung des warlor- mierende Bürgerkriegsmythos in weiten Teilen dism in der Ukraine. Gilley wendet sich gegen der Bevölkerung des Urals auf Akzeptanz ge- Felix Schnells Erklärungsansatz, dass allein stoßen ist, wäre angesichts der heterogenen schon die Gewaltpartizipation sinnstiftend politischen Gemengelage des Gebiets zu über- gewirkt habe, und hebt, ungeachtet mancher prüfen. Dies konzediert Narskij allerdings programmatischer Widersprüche, auf politische selbst (S. 197–198, 200). Zu fragen wäre ferner, Aussagen der warlords als Komponenten einer ob und inwieweit die Bellifizierung nach dem Gruppenidentität, bei der auch die Wiederbele- Bürgerkrieg andauerte. Hierfür müsste aller- bung von Traditionen eine wichtige Rolle ge- dings der Untersuchungszeitraum erweitert spielt habe, ab (S. 173, 176). werden. IGOR’ VLADIMIROVIČ NARSKIJ erörtert am Alle Autoren sind als Spezialisten ihrer hier Beispiel des Urals die Bellifizierung der Le- behandelten Fragen ausgewiesen. Neue Thesen Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr benswelten in der russischen Provinz in den präsentieren sie nicht. Dieser Sammlung ist im Jahren von Krieg und Bürgerkrieg. Während Lektürekanon zum Ersten Weltkrieg – ange- das Gebiet im Weltkrieg ruhiges Hinterland sichts der wahren Springflut neuer Publikatio- gewesen sei, penetrierte der Bürgerkrieg es be- nen – nicht höchste Priorität beizumessen. reits im November 1917 und es habe dann Gleichwohl bieten die sorgfältig recherchier- einen mehrfachen Herrschaftswechsel erlebt. ten, oft auf umfangreichen Archivforschungen „Erfahrung“ sei daher für die lokale Bevölke- basierenden Beiträge einen schnellen Zugriff rung eine Schlüsselkategorie geworden. Der auf tiefere Einsichten. Aufsatz greift zwar die Überlegung entstaat- Lutz Häfner, Göttingen CHRISTOPHER READ: War and Revolution in in den größeren Zusammenhang des Ersten Russia, 1914–22. The Collapse of Tsarism and Weltkriegs ein. Beide Autoren wenden sich the Establishment of Soviet Power. Hound- nicht zum ersten Mal ihren Themen zu. Read mills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Mac- hat seit 1979 mehrere Publikationen über die millan, 2013. XIV, 249 S., 1 Kte. = European Russische Revolution vorgelegt, und Sanborn History in Perspective. ISBN: 978-0-230- knüpft an seine Forschung über Militär und 23986-9. Gesellschaft in Russland von 1905 bis 1925 an. Über diese formalen Gemeinsamkeiten hinaus JOSHUA A. SANBORN: Imperial Apocalypse. läuft die Lektüre beider Bücher in einem in- The Great War and the Destruction of the haltlichen Punkt zusammen: Nikolaus II. und Russian Empire. Oxford, New York: Oxford die Armeeführung des Zarenreiches erscheinen University Press, 2014. IX, 287 S., 11 Ktn. in ihnen als die größten Revolutionäre. Niko- = The Greater War. ISBN: 978-0-19-964205-2. laus’ II. autokratische Beratungsresistenz und die Praktiken der Militäradministration in den Der 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Frontregionen haben zu einem Großteil erst Weltkriegs 2014 und das bevorstehende Cen- jene Unzufriedenheit und Nöte geschaffen, auf tennium der Russischen Revolution 2017 ha- deren Boden die Revolution gedeihen konnte. ben den Buchmarkt fest im Griff. Die Titel Darin erschöpfen sich jedoch die Gemein- von Christopher Read und Joshua A. Sanborn samkeiten beider Bücher. Read hat für seine sind rechtzeitig vor dem 100. Jahrestag des Überblicksdarstellung einen nüchternen Titel Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erschienen gewählt, der Zeitraum, Region und zwei Ereig- und betten die Revolutionen in Russland 1917 nisse sachlich benennt. Sanborns Imperial Apo- Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
114 Rezensionen calypse ist ein symbolträchtiger Titel, der den möglicht es Read, die Qualitäten von Fluktuati- Fokus auf den Untergang des Russländischen on, Offenheit und Kontingenz der Revolution Reiches im Untertitel trägt. Während Read sei- gut zur Geltung zu bringen. Insbesondere für nen Lesern den aktuellen Forschungsstand ge- die Zeit von der Abdankung Nikolaus’ II. im bündelt präsentiert, hat Sanborn ein analytisch- Februar 1917 bis zum Ende des Bürgerkriegs typologisches Konzept erarbeitet, mit dem er 1922 weist Read immer wieder auf Erwar- die russische Revolutionsgeschichte in die Ge- tungshorizonte der Akteure und teils nicht- schichte der Dekolonisation einschreiben intendierte Folgen ihres Handelns hin. Die möchte. Sanborn unterscheidet vier Phasen der Darstellung von Selbstverständnissen, Kalkula- Dekolonisation: imperial challenge, state failure, so- tionen und Fehlperzeptionen einzelner Akteure cial disaster und state-building (dekolonisierter Ge- verhindert, dass die Revolutionsgeschichte als sellschaften). In Kapiteln über den Kriegsaus- zwangsläufiger Prozess erzählt wird. Ein bruch und die Randregionen des Zarenreiches, gewichtiger kollektiver Akteur ist in Reads die wandernden Fronten, die Mobilisierung Darstellung die Revolution der gewöhnlichen von Militär und Gesellschaft, Revolution und Menschen (popular revolution). Frieden, Brot und Dekolonisation sowie einem Schlusskapitel Land erhofften sich die meisten Menschen und Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr über die imperiale Apokalypse buchstabiert gaben ihre politische Unterstützung jenen Sanborn seine Typologie der vier Phasen aus. Gruppen, denen sie die Erfüllung ihrer Wün- Read stützt sich auf das reichhaltige Material sche in der jeweiligen Situation am ehesten zu- edierter Quellen und Literatur. Sanborn hat trauten. umfangreiche Archivarbeit geleistet. Neben in- Aufgrund des analytisch-konzeptionellen dividuellen Überlieferungen in Moskau und Anspruchs, eine neue Geschichte der Dekolo- den Hoover Institution Archives hat er vor al- nisation des Zarenreiches zu schreiben, ist San- lem Bestände zur Geschichte der Armee und borns Buch nicht so sensibel gegenüber der Gendarmerie, aber auch der zivilen Administ- Kontingenz der Revolutionsepoche. Die ration in Riga, Kiev, St. Petersburg und Mos- Dekolonisation des Zarenreiches zwingt der kau eingesehen. Darstellung einen Fluchtpunkt auf. Sie entlas- Reads Buch hält, was sein Titel verspricht. tet Sanborn jedoch zugleich vom Anspruch der Aus dem ganzen Fundus der Revolutionslitera- ausgewogenen Überblicksdarstellung. Das tur schöpfend, hat Read einen prägnanten und führt dazu, dass die Auswirkungen von Krieg eleganten Überblick geschrieben. Meistens ge- und Revolution in verschiedenen Räumen des lingt es Read sehr gut, den unverwüstlichen Imperiums viel stärker im Vordergrund stehen. Kern zentraler Ereignisse und Figuren der Re- Wenn Sanborn die Interaktion zwischen volutionsgeschichte mit den Befunden der jün- Hauptquartier und einzelnen Armeen und zwi- geren Forschungen vor allem über die Bauern schen Militär und Ziviladministration oder die und verschiedene Regionen Russlands zu ei- Geschichte von Flüchtlingen und Deportatio- nem flüssigen Text zu verknüpfen. Allein die nen darstellt, nimmt er seine Leser immer wie- Verflechtungen der Nationsbildungen an den der in verschiedenste Regionen des Zarenrei- Rändern des ehemaligen Imperiums mit der ches mit. Die räumliche Dimension des Impe- Revolutionsgeschichte wirken ab und zu ad- riums kommt in Sanborns Darstellung zu ditiv an die Kapitelenden angereiht. Hier wird ihrem vollen Recht. Problematisch ist demge- deutlich, wie schwierig es ist, dem Überblicks- genüber Sanborns Analyse des Endes des Za- charakter der Revolutionsgeschichte Genüge renreiches als ein Vorgang von Dekolonisation. zu tun und zugleich die immensen Ergebnisse So gewiss das Ende des Zarenreiches National- der jüngeren Forschungen zu Regionen und bewegungen neue Handlungsmöglichkeiten Nationsbildungen in die Erzählung der Revo- bot, erschöpft sich die Geschichte der Dekolo- lution zu integrieren. nisation in den Räumen des ehemaligen Russ- Die chronologische Vorgehensweise, die ländischen Reiches nicht im Ende der Zaren- nicht auf den Beleg einer Generalthese zielt, er- herrschaft. Während an die Stelle der österrei- Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Franz Steiner Verlag
Sie können auch lesen