Rezensionen Erster Weltkrieg - Franz Steiner Verlag

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                                                                                 Rezensionsschwerpunkt                   Erster Weltkrieg
                                                                                 ALEKSANDR VATLIN: Sovetskoe ėcho v Bava-                     nes methodologischen Instrumentariums, das
                                                                                 rii. Istoričeskaja drama 1919 g. v šesti glavach,            er als „traditionelle, chronologisch geordnete
                                                                                 pjati kartinach i dvadcati dokumentach [Das                  Quellenanalyse“ bezeichnet, ergänzt um fünf
                                                                                 sowjetische Echo in Bayern. Das historische                  mikrohistorisch untersuchte Fälle – Vatlin
                                                                                 Drama des Jahres 1919 in sechs Kapiteln, fünf                spricht von „fünf Bildern“. Auch hat er sich
                                                                                 Bildern und zwanzig Dokumenten]. Moskva:                     entschieden, in seiner Darstellung „das Ge-
                                                                                 Novyj chronograf, 2014. 464 S. ISBN: 978-5-                  schehen bewusst zu dramatisieren, um die ver-
                                                                                 94881-231-1.                                                 borgenen Mechanismen der Entwicklung sicht-
                                                                                                                                              bar werden zu lassen“. Am Ende der äußerst
                                                                                 Das Gedenkjahr 2014, das in den Medien wie                   spannenden Lektüre wird dem Leser jedoch
                                                                                 auch in den Geschichtswissenschaften vor al-                 klar, dass es sich um eine Arbeit handelt, die in
                                                                                 lem dem Beginn des Ersten Weltkriegs gewid-                  Form der interdisziplinär angelegten „Neuen
                                                                                 met war, hat andere Jahrestage, wie etwa die                 Politikgeschichte“ geschrieben ist und damit
                                                                                 Ausrufung der Bayerischen Räterepublik vor                   Elemente von Gender- und Generationenpro-
Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr

                                                                                 95 Jahren, in den Hintergrund treten lassen. In              blemen, visueller Anthropologie, wie auch
                                                                                 Russland etwa hat die unermüdliche Suche                     kommemorativer und (auto-)biographischer
                                                                                 nach eindeutig heroischen Momenten des                       Analyse umfasst. Bei einigen Exkursen, zur ge-
                                                                                 „vergessenen Krieges“ dazu geführt, dass um-                 nerationentypischen Erfahrung von Kombat-
                                                                                 strittene und mehrdeutige revolutionäre Ereig-               tanten des Ersten Weltkriegs oder zur Rolle
                                                                                 nisse völlig in Vergessenheit gerieten. Das                  der Frau in europäischen Revolutionen, wäre
                                                                                 Buch von Alexander Vatlin bildet in diesem                   eine Erweiterung und Vertiefung wünschens-
                                                                                 Zusammenhang eine glückliche Ausnahme:                       wert gewesen. Allerdings gelingt es dem Autor
                                                                                 Seine Untersuchung ist eine wichtige Ergän-                  mit seinen „fünf Bildern“, die eher in literari-
                                                                                 zung zur aktuellen internationalen Diskussion                schem als in einem für die Mikrohistorie übli-
                                                                                 über die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts                  chen Stil verfasst sind, dem Leser die individu-
                                                                                 und ihre Bedeutung für die Gesellschaften in                 elle wie auch die kollektive Tragödie besonders
                                                                                 Mittel- und Osteuropa in der Zwischenkriegs-                 eindrücklich vor Augen zu führen.
                                                                                 zeit.                                                            Zu einem der Hauptthemen der Untersu-
                                                                                     Die vorliegende Monographie stützt sich                  chung ist die akteursbezogene Dimension der
                                                                                 auf umfangreiches Quellenmaterial aus russi-                 bayerischen Revolution geworden. Vatlin zeigt
                                                                                 schen und deutschen Archiven (darunter auch                  höchst anschaulich, wie im Frühjahr 1919, als
                                                                                 höchst interessante, gleichwohl schwer zu in-                sich der revolutionäre Furor in Deutschland
                                                                                 terpretierende Gerichtsakten), auf Pressebe-                 bereits abschwächte, die Berufsrevolutionäre
                                                                                 richte, Ego-Dokumente und Memoiren, wie                      den Weg nach Bayern fanden, in der Hoff-
                                                                                 auch auf die zahlreiche Sekundärliteratur zur                nung, in den Wirbel der Ereignisse zurückzu-
                                                                                 Münchner Räterepublik, die vom Autor mit                     kehren; manche beflügelt von Gerüchten über
                                                                                 den jeweiligen politischen Trends in Beziehung               eine finanzielle Unterstützung aus Sowjetruss-
                                                                                 gesetzt wird, die das kulturelle Gedächtnis prä-             land. Es war dieses Bild von „Spartakisten mit
                                                                                 gen. Besonders anschauliche Dokumente sind                   Rucksack“, vor allem von Politemigranten aus
                                                                                 in den einzelnen Kapiteln im Volltext veröf-                 dem ehemaligen Zarenreich, die überall bereit
                                                                                 fentlicht.                                                   waren, revolutionäre Unruhe zu entfachen, das
                                                                                     Dem Autor ist es zwar mit großer sprachli-               die führenden Vertreter der Bayerischen Räte-
                                                                                 cher Klarheit gelungen, die Menge an Fakten,                 republik in den Augen der einheimischen Be-
                                                                                 Personen und Vorgängen analytisch zu ordnen,                 völkerung diskreditierte und von der konterre-
                                                                                 doch verwirrt er den akademischen Leser in                   volutionären Propaganda erfolgreich eingesetzt
                                                                                 seiner Einleitung durch die Beschreibung sei-                wurde. Der Autor zeichnet eine eindrucksvolle

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                             Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                      Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                            Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                               und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                                  © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                              Franz Steiner Verlag
104                                                 Rezensionen

                                                                                 und überzeugende Porträtgalerie der Kommu-                   chung nicht nur mit der Rolle der Freikorps,
                                                                                 ne: von überzeugten Ideologen und arbeitslo-                 deren Brutalität weitgehend erklärbar ist, son-
                                                                                 sen demobilisierten Soldaten des Ersten Welt-                dern auch mit der sozialdemokratischen Regie-
                                                                                 kriegs über fanatische Anhängerinnen der                     rung in Berlin, die das Blutbad im Süden aus
                                                                                 Emanzipation und realitätsferne, in den Wol-                 eigenem Interesse zuließ: Es ging ihr darum,
                                                                                 ken schwebende Künstler aus Schwabing bis                    die letzten kommunistischen Brandherde aus-
                                                                                 hin zu Hochstaplern und eitlen Karrieristen.                 zulöschen, Einfluss auf die Siegermächte zu
                                                                                 Vor allem der Mangel an geeignetem Personal                  nehmen hinsichtlich ihrer Vorstellung von
                                                                                 war ursächlich für das administrative Chaos                  Deutschland als europäischem Vorposten ge-
                                                                                 und für unterschiedlichste planlose Maßnah-                  gen den Bolschewismus und auch darum, dem
                                                                                 men wie etwa eigeninitiativ vorgenommene                     Streben Bayerns nach Unabhängigkeit ein
                                                                                 Requisitionen, die Ankündigung eines General-                Ende zu setzen. Auch wenn der Autor die
                                                                                 streiks, oder auch die Auseinandersetzungen                  These von einem direkten Zusammenhang
                                                                                 mit den Banken. Die meisten Maßnahmen, vor                   zwischen der blutigen Niederschlagung der ro-
                                                                                 allem auf dem Finanzsektor, waren auf eine                   ten Revolution und der Umwandlung Bayerns
                                                                                 langfristige Perspektive ausgerichtet, in der sich           in ein Bollwerk der braunen Revolution als
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                                                                                 nicht nur die erklärten Feinde, sondern auch                 grobe Vereinfachung bezeichnet, so weisen
                                                                                 die potentiellen Verbündeten gegen die Rätere-               doch viele seiner Schlussfolgerungen, wie etwa
                                                                                 publik stellten. Zweifel an der Langlebigkeit                die personelle Kontinuität, in ebendiese Rich-
                                                                                 des Räteexperiments bestimmten das Handeln                   tung.
                                                                                 der gesamtdeutschen KPD-Führung, die die                         Das „sowjetische Echo“ ist eine sehr gelun-
                                                                                 süddeutschen Kommunarden förmlich im                         gene, anschauliche Metapher als Antwort auf
                                                                                 Stich ließ, die Beamten der lokalen Behörden                 die Frage, inwieweit sich russisch-bolschewis-
                                                                                 ignorierten die Befehle der neuen Macht, und                 tische und bayerische Modelle bei der Umset-
                                                                                 die bayerische Bauernschaft stand den Reform-                zung der revolutionären Experimente wechsel-
                                                                                 vorschlägen völlig teilnahmslos gegenüber.                   seitig beeinflusst haben. Die auf sowjetischer
                                                                                     Während der „rote“ Terror nach Einschät-                 wie auch auf bayerischer Seite vermittelte Dar-
                                                                                 zung des Autors ohne größeres Blutvergießen                  stellung des Anderen beruhte auf irreführen-
                                                                                 ausging – der berüchtigten Hinrichtung im Lu-                den Vorstellungen über den Verlauf der Ereig-
                                                                                 itpold-Gymnasium fielen zehn Menschen zum                    nisse im jeweils anderen Teil Europas. Dies
                                                                                 Opfer –, überstieg der „weiße“ Terror alle                   war teils auf den Abbruch der regulären
                                                                                 denkbaren Maßstäbe: Neben den Opfern mili-                   Kommunikation zurückzuführen, teils aber
                                                                                 tärischer Auseinandersetzung und hunderten                   auch von Wunschdenken getragen. Weder die
                                                                                 außergerichtlicher Erschießungen standen über                von der weißen Propaganda verbreiteten Ge-
                                                                                 hunderttausend Menschen (ein Sechstel der da-                rüchte über eine großzügige Finanzierung der
                                                                                 maligen Münchner Bevölkerung) wegen ihrer                    süddeutschen Revolutionäre durch Sowjetruss-
                                                                                 vermeintlichen oder tatsächlichen Sympathien                 land, noch der Glaube an die Möglichkeit einer
                                                                                 für die Roten vor Gericht. Dabei wurden                      direkten Steuerung der bayerischen Revolution
                                                                                 Nichteinheimische bei gleichen Delikten stren-               aus Moskau entsprachen der Wirklichkeit.
                                                                                 ger verurteilt als die Einwohner Bayerns. Was                Gleichwohl gelingt es dem Autor nicht nur, die
                                                                                 in der Geschichtsschreibung noch wenig er-                   verbindende Logik der revolutionären Ereig-
                                                                                 forscht ist, so der Autor, sind die in ganz Bay-             nisse in beiden Ländern nachzuzeichnen – der
                                                                                 ern bis hin zur österreichischen Grenze vorge-               unerwartet leichte Sturz einer tausendjährigen
                                                                                 nommenen Durchsuchungsmaßnahmen. Und                         Monarchie, die anfängliche Euphorie im Lager
                                                                                 selbst die führenden Akteure der Räterepublik,               der Sieger und dessen rasche Zersplitterung
                                                                                 denen es gelungen war zu fliehen, gerieten spä-              unter dem Einfluss demokratischer Verfahren
                                                                                 ter in die Mühlen des nationalsozialistischen                –, sondern auch gegenläufige Tendenzen her-
                                                                                 und des stalinistischen Terrors.                             auszuarbeiten: ein unterschiedliches Verständ-
                                                                                     Der Autor befasst sich in seiner Untersu-                nis von Räten und Räterepublik, eigene Vor-

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                        Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                 Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                       Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                          und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                             © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
Rezensionen                                                 105

                                                                                 stellungen im Hinblick auf Krieg und Frieden,                schen Zwischenkriegszeit wie auch der longue
                                                                                 wie auch in Bezug auf die Doppelherrschaft.                  durée der Revolution gehört zweifellos zu den
                                                                                 Diese Kontextualisierung von unterschiedli-                  besonderen Stärken dieser Arbeit.
                                                                                 chen Prozessen und Ereignissen der europäi-                                     Oksana Nagornaja, Čeljabinsk

                                                                                 JOCHEN BÖHLER / WŁODZIMIERZ BORO-                            war hier der Tübinger SFB Kriegserfahrung
                                                                                 DZIEJ / JOACHIM VON PUTTKAMMER (Ed.):                        und insbesondere die Studie von CHRISTOPH
                                                                                 Legacies of Violence. Eastern Europe’s First                 MICK: Kriegserfahrungen in einer multiethni-
                                                                                 World War. München: Oldenbourg, 2014. VII,                   schen Stadt. Lemberg 1914–1947. Wiesbaden
                                                                                 334 S. = Europas Osten im 20. Jahrhundert.                   2010; vgl. auch MARK HATLIE: Riga at War.
                                                                                 Schriften des Imre Kertész Kollegs Jena, 3.                  War and Wartime Experience in a Multi-Eth-
                                                                                 ISBN: 978-3-486-74195-7.                                     nic Metropolis. Marburg 2014), aber auch die
                                                                                                                                              sich seit einigen Jahren entwickelnde historisie-
                                                                                 Das östliche Europa veränderte nicht nur                     rende Perspektive der Gewaltforschung. Die-
                                                                                 durch den Zerfall der kontinentalen Imperien                 ses Desiderat greift der Band mit insgesamt
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                                                                                 und die Entstehung neuer Nationalstaaten am                  dreizehn Beiträgen auf, die im Anschluss an
                                                                                 Ende des Ersten Weltkriegs sein Gesicht, son-                einen Workshop am Imre-Kertész-Kolleg
                                                                                 dern seine Gesellschaften wurden auch durch                  (Jena) entstanden sind: Ausgehend von der
                                                                                 die damit einhergehenden Gewaltexzesse nach-                 Prämisse, dass der Erste Weltkrieg mehr Kata-
                                                                                 haltig geprägt. Verstärkt wurde diese Entwick-               lysator denn Ausgangspunkt der entstehenden
                                                                                 lung durch die zahlreichen Wechsel der Front-                Gewaltausbrüche war, sehen die Herausgeber
                                                                                 verläufe und nicht zuletzt durch die vergleichs-             die sich im Zuge des Zweiten Weltkrieges ent-
                                                                                 weise lange Kriegszeit, die in dieser Region mit             fesselnde Welle von Pogromen, ethnischen
                                                                                 den Balkankriegen begann und nach Ende des                   Säuberungen und Genoziden und nicht zuletzt
                                                                                 Weltkriegs in traumatisierende Grenz- und                    die Welle von paramilitärischer Gewalt und
                                                                                 Bürgerkriege überging, die bis zum Anfang der                Bürgerkrieg als wesentliche Hinterlassenschaf-
                                                                                 1920er Jahre andauerten. Krieg war daher über                ten des Ersten Weltkrieges. Um dies auszufüh-
                                                                                 1918 hinaus für die entstehenden Staaten ein                 ren, wird der Band nach einer kurzen Einfüh-
                                                                                 Mittel, das entstandene politische Machtvaku-                rung in vier thematisch ineinandergreifende
                                                                                 um zu füllen und eigene territoriale Ansprüche               Sektionen unterteilt und von einem längeren
                                                                                 zu realisieren, zugleich setzte sich anders als im           zusammenfassenden Kommentar abgerundet:
                                                                                 Westen bewaffnete Gewalt auch außerhalb von                      In der ersten Sektion A World in Transition
                                                                                 Kriegshandlungen als Handlungsoption und                     behandeln die Beiträge von JOACHIM VON
                                                                                 -strategie durch. Das östliche Europa wurde                  PUTTKAMER, MARK BIONDICH und JOCHEN
                                                                                 daher von unterschiedlichen Formen von                       BÖHLER in vergleichender Perspektive die
                                                                                 Gewaltanwendung erschüttert, zumal zahlrei-                  durch den Ersten Weltkrieg hervorgerufenen
                                                                                 che Fragmentierungen entstanden, die die be-                 Veränderungen. Zunächst legt Joachim von
                                                                                 stehenden ethno-konfessionell und sozial be-                 Puttkamer als Mitherausgeber mit seinem Ver-
                                                                                 dingten Spannungen aus der Vorkriegszeit in-                 gleich der an 1918 anschließenden Welle von
                                                                                 tensivierten.                                                Gewalt im östlichen Europa den konzeptionel-
                                                                                     Erst seit einigen Jahren sind der Erste Welt-            len Rahmen des Bandes dar, indem er sie mit
                                                                                 krieg und seine Folgen für das östliche Europa               der gegenseitigen Beeinflussung von Zu-
                                                                                 allmählich wieder in das Blickfeld der Histori-              sammenbruch und Instandsetzung, dem Wech-
                                                                                 ker gewandert, so dass diesbezüglich noch                    selspiel von Politik und kriegsbedingten Defor-
                                                                                 zahlreiche Desiderate offen sind. Ein zentrales              mationen des gesellschaftlichen Gefüges er-
                                                                                 Thema ist hierbei die Frage nach Folgen der                  klärt. Mark Biondich verdeutlicht anhand der
                                                                                 Gewalt für die jeweiligen Gesellschaften im                  gegenseitigen Beeinflussung von nationaler
                                                                                 Sinne von Kriegserfahrungen. (Wegweisend                     Identität und Konflikt in Ostmittel- und Süd-

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                             Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                      Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                            Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                               und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                                  © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                              Franz Steiner Verlag
106                                                 Rezensionen

                                                                                 osteuropa am Vorabend des Ersten Weltkriegs,                 Entstehung von namhaften paramilitärischen,
                                                                                 dass diese ethno-konfessionell und kulturell                 extrem nationalistischen Subkulturen nach Be-
                                                                                 sehr unterschiedlichen Gebiete bereits vor                   endigung der Kriegshandlungen sehr deutlich.
                                                                                 1914 zu potentiellen Konfliktzonen heran-                    ROBERT GERWARTH, dessen Beitrag als einzi-
                                                                                 gereift seien. Die Tatsache, dass vor allem auch             ger bereits veröffentlicht worden ist, zeigt so-
                                                                                 in der lokalen Bevölkerung Bruchstellen ver-                 mit, dass es den Paramilitärs gelang, ihre gesell-
                                                                                 laufen seien, erklärt für Jochen Böhler den                  schaftliche Randständigkeit dadurch zu über-
                                                                                 Wandel von Generälen und Warlords zu                         kommen, dass die Veteranen sich mehrheitlich
                                                                                 Politikern, wobei Gewaltanwendung nicht „do-                 in eng miteinander verbunden Vereinigungen
                                                                                 mestiziert“ (S. 65) worden sei.                              zusammengeschlossen und diese in allen be-
                                                                                     Die folgende Sektion diskutiert die Besat-               siegten Staaten ein Netzwerk gebildet hätten.
                                                                                 zungsherrschaft. JOHNATHAN E. GUMZ be-                       Da ihre Mitglieder in den Staaten Karriere
                                                                                 schreibt, wie die Vorkriegsnormen der Besat-                 gemacht hätten, sei Gewalt als Praktik von Ex-
                                                                                 zungsherrschaft in Ostmitteleuropa allmählich                klusion stets präsent gewesen.
                                                                                 kollabierten, wobei die Revolution von 1917                      Die anschließenden drei Beiträge themati-
                                                                                 diesen Prozess des Kontrollverlustes beschleu-               sieren die Nachwirkungen dieser Entwicklun-
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                                                                                 nigt habe. STEPHAN LEHNSTEDT erläutert an-                   gen. So dekonstruiert JULIA EICHENBERG ins-
                                                                                 schließend die Besatzungspolitik während des                 besondere am polnischen Fall das Narrativ ei-
                                                                                 Ersten Weltkriegs, die zwischen wirtschaftli-                ner Dichotomie von Zwang und Konsens in
                                                                                 cher Nutzbarmachung und Ausbeutung chan-                     Bezug auf die Kriegserfahrungen. Der Überg-
                                                                                 giert habe. Eine weitreichende Folge der Besat-              ang vom Weltkrieg zu Grenz- und Bürgerkrie-
                                                                                 zungspolitik sei daher auch gewesen, dass Vor-               gen sei ohne wirkliche Zäsur verlaufen und
                                                                                 stellungen zur zwangsweisen Umsiedlung von                   habe daher zu einer Brutalisierung aller Kriegs-
                                                                                 Bevölkerungsgruppen und von ethnischen Säu-                  veteranen geführt. Anschließend greift PHILIPP
                                                                                 berungen entwickelt worden seien. ROBERT L.                  THER die Frage von ethnischen Säuberungen
                                                                                 NELSON legt anschließend die Entwicklung der                 im „langen“ Ersten Weltkrieg wieder auf und
                                                                                 deutschen Visionen von Bevölkerungstransfers                 diskutiert die Legalisierung von Gewalt als Mit-
                                                                                 dar, um zu zeigen, dass sie als Mittel der Kolo-             tel zur Konfliktlösung. So seien ethnische Säu-
                                                                                 nisationspolitik aus der Beobachtung von Prak-               berungen und andere gewaltsame Eingriffe der
                                                                                 tiken in den USA, im Russländischen Reich                    Homogenisierung der Bevölkerung als ein Aus-
                                                                                 und auf dem Balkan abgeleitet und im Laufe                   weg nationaler und internationaler Politik ak-
                                                                                 des Krieges weiter radikalisiert worden seien.               zeptiert worden. DIETRICH BEYRAU beschließt
                                                                                     Dieser ideengeschichtliche Beitrag leitet zur            die Sektion mit einem Blick auf die entstehen-
                                                                                 nächsten Sektion über, die ausdrücklich die                  de Sowjetunion. Hier sei eine Spirale der
                                                                                 weitere Radikalisierung im Ersten Weltkrieg be-              Gewaltanwendung entstanden, die er weniger
                                                                                 leuchtet. So verdeutlicht MACIEJ GÓRNY am                    als eine Folge einer kumulativen Radikalisie-
                                                                                 Beispiel der Somatolgie wie Wissenschaft in                  rung, sondern vielmehr als Zusammenspiel un-
                                                                                 den Dienst der Staaten und Nationen gestellt                 terschiedlicher Faktoren sieht. Organisierte
                                                                                 wurde. Daher habe der Weltkrieg für die                      und lokale Gewalt sei von einem Kollateral-
                                                                                 Wissenschaften eine Zäsur dargestellt, weil sie              schaden und von teilweise institutionalisierten
                                                                                 nun einem rein nationalen Paradigma unter-                   Verbrechen, aber auch von Hunger und Epide-
                                                                                 worfen worden seien. Die Radikalisierung der                 mien begleitet worden, so dass die Staatsbil-
                                                                                 nationalen Gesellschaften in Bezug auf den                   dung Gewalt und Zwang teilweise als konstitu-
                                                                                 Antisemitismus sieht PIOTR WRÓBEL daher in                   tive Faktoren integriert habe.
                                                                                 seinem Beitrag als Vorahnung des Holocaust                       In seinem zusammenfassenden Kommentar
                                                                                 an. Dass die Traumatisierungen durch Krieg                   kritisiert JÖRN LEONHARD die bisherige Histo-
                                                                                 und Niederlage, Revolution und territorialen                 riografie, die die Ereignisse aus einer national-
                                                                                 Verlust bei der Gewaltanwendung Hemmun-                      staatlichen oder regionalen Perspektive bewer-
                                                                                 gen niederbrechen ließen, wird auch in der                   te und im Lichte des Zweiten Weltkrieges eine

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                        Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                 Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                       Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                          und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                             © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
Rezensionen                                                 107

                                                                                 rückblickende Kausalkette entwerfe, um die                   sellschaften des 20. Jahrhunderts im östlichen
                                                                                 Notwendigkeit einer vertiefenden, West und                   Europa wurden. Sie verdeutlichen durch ihre
                                                                                 Ost vergleichenden Perspektive zu betonen.                   Fokussierung auf den Gebrauch von Gewalt
                                                                                 Dabei müsse der Weltkrieg als doppelte                       und die daraus resultierende, sich radikalisie-
                                                                                 Wasserscheide zwischen 19. und 20. Jahr-                     rende Begründungen der Gewaltanwendung,
                                                                                 hundert gesehen werden, weil er eine neue                    dass gerade für das östliche Europa der zeitli-
                                                                                 Qualität der Kriegsführung hervorgebracht                    che Analyserahmen weiter gespannt und die
                                                                                 habe und neue Ausdrucksweisen von Loyalität                  Balkan- und die sich nach 1918 anschließenden
                                                                                 sowie neue Instrumente und Akteure hervor-                   Grenz- und Bürgerkriege einbezogen werden
                                                                                 gebracht habe. Mit diesem Fazit wendet er sich               müssen. An ihrem Beispiel wird deutlich, wie
                                                                                 ausdrücklich gegen die suggestive Klassifizie-               wichtig vergleichende Perspektiven auf die Er-
                                                                                 rung der östlichen Grenz- und Übergangs-                     eignisse, Erfahrungen und Folgen der Kriegs-
                                                                                 regionen als bloodlands (T. Snyder).                         ereignisse sind, um zahlreiche Facetten ihrer
                                                                                     Da alle sehr lesenswerten und kenntnisrei-               Hinterlassenschaft zu begreifen. Zu hoffen
                                                                                 chen Beiträge die Kriegshandlungen als Kataly-               bleibt daher, dass hieraus weitere, vergleichen-
                                                                                 sator für die weitere gesellschaftliche und ideel-           de und zugleich das Erbe des Ersten Welt-
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                                                                                 le Entwicklung verstehen, zeigen sie zu-                     kriegs vertiefende analysierende Aufarbeitun-
                                                                                 sammenfassend, dass die Folgen der                           gen der Kriegshandlungen und folgenden
                                                                                 „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (G. F.                  Gewaltexzesse durch diesen empfehlenswerten
                                                                                 Kennan) weit über die Opferzahlen, die mate-                 Band initiiert werden.
                                                                                 riellen und territorialen Folgen hinausgingen                                      Heidi Hein-Kircher, Marburg
                                                                                 und im besonderen Maße prägend für die Ge-

                                                                                 Pervaja mirovaja vojna, Versal’skaja sistema i               reits im Jahr 2012 erschienenen Sammelban-
                                                                                 sovremennost’. Sbornik statej [Der Erste Welt-               des. In beiden Fällen traten die Fakultät für In-
                                                                                 krieg, das Versailler System und die Gegen-                  ternationale Beziehungen der St. Petersburger
                                                                                 wart. Sammelband]. Otv. red. I. N. Novikova /                Universität und die Russische Vereinigung der
                                                                                 A. Ju. Pavlov. S.-Peterburg: Izdat. SPB GU,                  Historiker des Ersten Weltkriegs als Gastgeber
                                                                                 2012. 352 S. ISBN: 978-5-288-05279-8.                        auf, bei der zweiten Tagung im November
                                                                                                                                              2011 fungierte auch noch das Institut für All-
                                                                                 Velikaja vojna 1914–1918. Al’manach Rossijs-                 gemeine Geschichte der Russischen Akademie
                                                                                 koj associacii istorikov Pervoj mirovoj vojny.               der Wissenschaften als zusätzlicher Veranstal-
                                                                                 Vyp. 2 [Der Große Krieg 1914–1918. Alma-                     ter. Die Hälfte der 14 Autorinnen und Autoren
                                                                                 nach der Russischen Vereinigung der Histori-                 des später publizierten Werkes (über die Kon-
                                                                                 ker des Ersten Weltkriegs. Nr. 2]. Moskva:                   ferenz von 2009) verfassten auch Beiträge für
                                                                                 Kvadriga, 2013. 141 S., Tab. ISBN: 978-5-                    den erstgenannten Sammelband (über die Ta-
                                                                                 91791-067-3.                                                 gung von 2011), der insgesamt jedoch 30 Vor-
                                                                                                                                              träge vereinigt.
                                                                                 Die beiden hier vorgestellten Sammelbände ge-                    Der große Verdienst des Sammelbandes,
                                                                                 ben die Vorträge auf zwei Konferenzen wieder,                der auf die zweite Konferenz im Jahre 2011 zu-
                                                                                 die unter dem Titel Der Erste Weltkrieg, das Ver-            rückgeht, ist, dass er einen Überblick über den
                                                                                 sailler System und die Gegenwart in St. Petersburg           Stand der Erste-Weltkriegs-Forschung in Russ-
                                                                                 stattfanden. Die Materialien der ersten Konfe-               land in ihrer ganzen Breite und Vielfalt gibt.
                                                                                 renz vom 24./25. April 2009 wurden in zwei                   Ansonsten scheint seine Konzeption wenig
                                                                                 Ausgaben des Almanachs veröffentlicht, von                   nachvollziehbar. Die Zuordnung der Aufsätze
                                                                                 denen hier die zweite von 2013 vorliegt. Die                 zu den sechs Abschnitten (1. Militärisch-politische
                                                                                 zweite Tagung vom 7./8. November 2011                        Aspekte des Ersten Weltkriegs, 2. Nationale Idee und
                                                                                 führte zur Herausgabe des erstgenannten, be-                 Krieg, 3. Der Erste Weltkrieg und die Gesellschaft,

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                             Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                      Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                            Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                               und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                                  © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                              Franz Steiner Verlag
108                                                  Rezensionen

                                                                                 4. Der Erste Weltkrieg und die internationalen Bezie-         tärische Elite von Compiègne bis Versailles: Soll man
                                                                                 hungen, 5. Die Diplomatie von Versailles und 6. Die           den Krieg beenden? bzw. Schweden in den Plänen der
                                                                                 internationalen Folgen des Systems von Versailles und         militärisch-politischen Eliten Deutschlands [1914–
                                                                                 Washington) erscheint in vielen Fällen willkür-               1915]) beruhen auf intensivem Studium
                                                                                 lich und austauschbar. Einige Beiträge fallen                 deutschsprachiger Quellen. Bei den Altmeis-
                                                                                 aus dem Rahmen, so der sehr solide gearbeitete                tern der russischen Geschichtsschreibung über
                                                                                 Artikel von A. A. MALYGINA zur chemischen                     den Ersten Weltkrieg wie E. JU. SERGEEV und
                                                                                 Kriegsführung. Welchen Bezug der Vortrag                      V. K. ŠACILLO ist ihre Routine klar spürbar.
                                                                                 von V. A. KARELIN über die russisch-norwegi-                  E. JU. DUBROVSKAJA entwickelt überdies in ih-
                                                                                 schen Beziehungen 1905–1912 zum Thema                         rer Studie über die russischen Truppen in
                                                                                 des Tagungsbandes hat, blieb dem Rezensen-                    Finnland in den Jahren des Ersten Weltkriegs
                                                                                 ten dagegen verschlossen. Daneben erscheint                   einleuchtend ihren mentalitätsgeschichtlichen
                                                                                 die These von D. JU. KOZLOV, dass der See-                    Ansatz.
                                                                                 krieg ausschlaggebend für den Ausgang des Er-                     Im Unterschied zu dem ambitionierten
                                                                                 sten Weltkriegs gewesen sei, zumindest gewöh-                 Sammelband von 2012 macht das zweite hier
                                                                                 nungsbedürftig. Der Aufsatz von S. N. BAZA-                   besprochene Werk, der Almanach von 2013,
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                                                                                 NOV (Die Bildung von militärischen Einheiten aus              einen wesentlich homogeneren Eindruck. Die
                                                                                 kriegsgefangenen Slaven in den Jahren des Ersten              Kapiteleinteilung ist einleuchtender und die
                                                                                 Weltkriegs) macht überdies einen oberflächli-                 Beiträge sind meist umfangreicher und können
                                                                                 chen Eindruck. Er stützt sich im Wesentlichen                 deshalb auch mehr in die Tiefe gehen. Die
                                                                                 auf Forschungsliteratur aus der Sowjetzeit, und               meisten von ihnen behandeln interessante The-
                                                                                 an dem Patriotismus des Verfassers bleibt nach                men und sind solide fundiert. So stützt sich der
                                                                                 dieser Studie kein Zweifel. Schwer nachvoll-                  Aufsatz von S. E. NOVIKOV (Der Kreis Weiß-
                                                                                 ziehbar wirkt zudem, dass sich eine beträchtli-               russland und das „Projekt Ober-Ost“. Auf der Suche
                                                                                 che Zahl von Beiträgen mit ausschließlich in-                 nach der historischen Wahrheit) auf eine breite
                                                                                 nenpolitischen Problemen Großbritanniens be-                  Quellenbasis. Allerdings muss hier einschrän-
                                                                                 schäftigt, was disproportioniert erscheint. Die               kend hinzugefügt werden, dass der Autor das
                                                                                 Qualität dieser Arbeiten ist aber sehr unter-                 bahnbrechende Werk von VEJAS G. LIULEVI-
                                                                                 schiedlich. Wie Fremdkörper wirken auch die                   CIUS (War Land at the Eastern Front. Cam-
                                                                                 englischsprachigen Aufsätze der beiden italieni-              bridge 2000; deutsch: „Kriegsland im Osten“.
                                                                                 schen Konferenzteilnehmer und des britischen                  Hamburg 2002) leider nicht rezipiert hat. Auch
                                                                                 Konferenzteilnehmers. Sie behandeln zwar in-                  der materialreiche Beitrag von D. JU. KOZLOV
                                                                                 teressante Themen und sind solide gearbeitet,                 über das Thema der Marinezusammenarbeit
                                                                                 zeigen aber in ihrer Andersartigkeit in der rus-              Russlands mit seinen Alliierten am Vorabend
                                                                                 sischen Umgebung, wie sehr sich auch heute                    des Krieges kann mehr überzeugen als seine
                                                                                 noch westliche und russische Historiographie                  Studie in dem Sammelband von 2012. Sehr ne-
                                                                                 im Allgemeinen unterscheiden. Jedoch kann                     gativ fällt allein der Artikel von V. A. KOTE-
                                                                                 eine ganze Reihe von Abschnitten durchaus                     NEV auf, der für die Verfolgung der Armenier
                                                                                 überzeugen. So wurden von einigen Historike-                  im Osmanischen Reich eine abstruse jüdisch-
                                                                                 rinnen und Historikern aus der Provinz (I. B.                 zionistisch-armenisch-türkische         Freimaurer-
                                                                                 BELOVA, D. S. LAVRINOVIČ, S. V. BUKALOVA)                     theorie konstruiert. Unter der ganzen Reihe
                                                                                 aufschlussreiche Lokalstudien vorgelegt, die in               von interessanten Untersuchungen sei hier aus-
                                                                                 der Regel auf umfangreiche Recherchen in rus-                 gerechnet die von S. N. BAZANOV, der im erst-
                                                                                 sischen Archiven zurückgehen. Hierzu kann                     besprochenen Werk enttäuschte, über die Rolle
                                                                                 auch der Vortrag von T. V. KOTJUKOVA (Mos-                    von A. A. Brusilov bei der Bildung von Frei-
                                                                                 kau) über die Lage der Kriegsgefangenen in                    willigen-Einheiten in der russischen Armee
                                                                                 Turkestan 1914–1916 gezählt werden. Die Bei-                  1917 besonders hervorgehoben.
                                                                                 träge von L. V. LANNIK und I. N. NOVIKOVA                         Abschließend soll festgehalten werden, dass,
                                                                                 zu genuin deutschen Themen (Die deutsche mili-                auch wenn sie Mängel aufweisen, die beiden

                                                                                            Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                         Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                  Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                        Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                           und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                              © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
Rezensionen                                                 109

                                                                                 hier besprochenen Sammelbände ein Muss für                   schung zum Ersten Weltkrieg informieren wol-
                                                                                 die Historikerinnen und Historiker darstellen,               len.
                                                                                 die sich über den Stand der russischen For-                                     Georg Wurzer, Wilhelmsdorf

                                                                                 Vojna vo vremja mira. Voenizirovannye kon-                   Ursprünge, Ausprägungen und Auswirkungen
                                                                                 flikty posle Pervoj mirovoj vojny. 1917–1923.                paramilitärischer Gewalt in Europa im Zeit-
                                                                                 Sbornik statej [Krieg in Friedenszeiten. Militä-             raum von 1917 bis 1923 zu untersuchen, und
                                                                                 rische Konflikte in den Jahren nach dem Er-                  argumentieren überzeugend, warum es folge-
                                                                                 sten Weltkrieg, 1917–1923]. Red. R. Gervart /                richtig ist, die untersuchte Periode mit den
                                                                                 D. Chorn. Moskva: NLO, 2014. 397 S., 4 Ktn.,                 Russischen Revolutionen zu beginnen und mit
                                                                                 17 Abb., 2 Tab. = Historia Rossica / Studia                  dem Ende des Bürgerkriegs in Irland und dem
                                                                                 Europaea. ISBN: 978-5-4448-0184-0.                           Ausklingen des Ruhrkampfes enden zu lassen.
                                                                                                                                              Doch eine Reihe von Beiträgen überspringt
                                                                                 Der vorliegende Sammelband ist eine Überset-                 sinnvollerweise die gesetzte Zeitgrenze, denn
                                                                                 zung aus dem Englischen ins Russische und er                 die paramilitärische Gewalt lief weiter. Die Au-
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                                                                                 liegt auch in einer deutschen Fassung vor. Im                toren nutzen wiederholt das Konzept der
                                                                                 Vergleich zur englischsprachigen Version wur-                „shatter zones“ von Donald Bloxham und wei-
                                                                                 de er um einen Beitrag von Nikolaus Katzer                   sen die Brutalisierungsthese von George L.
                                                                                 ergänzt. So kann sich der Leser entscheiden,                 Mosse eher zurück. Die Konkurrenz verschie-
                                                                                 welche Sprache er bevorzugt. Der Band ist das                dener Ideologien bildet einen zentralen Faktor
                                                                                 Ergebnis von Tagungen in Dublin und Moskau                   der Analyse des Bandes; besonders galt dies für
                                                                                 sowie der teilweise langjährigen Kooperation                 die Überbleibsel von Imperien, die zumeist
                                                                                 der Autoren miteinander. Dadurch gelang es                   auch noch ethnische Konflikte und keine klar
                                                                                 ausgesprochen gut, die Beiträge innerhalb eines              definierten Grenzen aufwiesen. Revolution, der
                                                                                 gemeinsamen Rahmens zu fokussieren. Die                      Zusammenbruch von Imperien und ethnische
                                                                                 einzelnen Aufsätze sind allesamt von hohem                   Konflikte sind daher Schlagworte, die den
                                                                                 Niveau und fassen den aktuellen Forschungs-                  Band durchziehen und die eingesetzte Gewalt
                                                                                 stand in nationalen oder regionalen Fallstudien              nachvollziehbarer machen. Wichtig war in be-
                                                                                 zusammen. In dem Sinne haben die Herausge-                   stimmten Regionen auch der Verlust des
                                                                                 ber gute Arbeit geleistet.                                   Gewaltmonopols des Staates.
                                                                                     Paramilitärische Gewalt und Konflikte nach                  Der erste Teil der Aufsätze steht unter der
                                                                                 dem Ersten Weltkrieg waren ein gesamteuro-                   Überschrift Revolution und Gegenrevolution. Dies
                                                                                 päisches Phänomen, und nach dem einen                        macht mit Sicherheit die Bedeutung der so ge-
                                                                                 großen Krieg folgten noch die vielen kleinen,                nannten Oktoberrevolution und der Reaktion
                                                                                 wie durch ein Zitat Winstons Churchills am                   auf sie deutlich. WILLIAM G. ROSENBERG un-
                                                                                 Anfang illustriert wird. Doch abgesehen von                  tersucht die Gewalt in den Russischen Bürger-
                                                                                 den deutschen Freikorps und dem Fall Irlands                 kriegen, wobei er nicht die Niederlage im Welt-
                                                                                 wurden die Paramilitärs von der Forschung                    krieg als eine Ursache betont, sondern viel-
                                                                                 eher stiefmütterlich behandelt. Durch einen                  mehr die unzureichende Versorgungslage und
                                                                                 vergleichenden und transnationalen Ansatz                    die große Knappheit wichtiger Güter, welche
                                                                                 bietet der Band eine hervorragende Einfüh-                   es erlaubte, dass paramilitärische Gruppen ent-
                                                                                 rung in das Thema, jedoch basieren die einzel-               standen. Es verschwammen auch zunehmend
                                                                                 nen Aufsätze eher auf Literatur als auf umfang-              die Grenzen zwischen regulären und irregulä-
                                                                                 reichen, neuen Archivrecherchen.                             ren Einheiten. Rosenberg stellt auch die wichti-
                                                                                     Die Herausgeber ROBERT GERWARTH und                      ge Frage, ob die Gewaltanwendung der Bol’še-
                                                                                 JOHN HORNE bieten in ihrer Einleitung einen                  viki den gegenrevolutionären Kräften in Euro-
                                                                                 geeigneten Rahmen für den gesamten Band.                     pa nicht eher als eine Art Muster und als
                                                                                 Sie formulieren das Ziel, die Ambitionen, die                Rechtfertigung für eigene Gewalt diente. Die

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                             Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                      Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                            Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                               und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                                  © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                              Franz Steiner Verlag
110                                                 Rezensionen

                                                                                 beiden Herausgeber setzen sich im folgenden                  verhältnismäßig geringen Ausmaßes politischer
                                                                                 Beitrag damit auseinander, wie man sich die                  Gewalt in den baltischen Staaten in der Zwi-
                                                                                 „bolschewistische Gefahr“ vorstellte – sowohl                schenkriegszeit erscheint der Vergleich mit Ita-
                                                                                 unter den Siegern als auch unter den Verlierern              lien oder der Weimarer Republik, den der Au-
                                                                                 des Weltkriegs. Anschließend stellt GERWARTH                 tor zieht (S. 242), als etwas überzogen. JOHN
                                                                                 den Kampf gegen die „rote Gefahr“ in Mittel-                 PAUL NEWMAN untersucht das Beispiel des
                                                                                 europa dar. Es bestand sozusagen ein transna-                Balkans und kann überzeugend auf Kontinuitä-
                                                                                 tionales Netzwerk von Paramilitärs in Gegner-                ten mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ver-
                                                                                 schaft zum „jüdischen Bolschewismus“. PERT-                  weisen. Sowohl nach dem Zusammenbruch
                                                                                 TI HAAPALA und MARKO TIKKA zeigen in                         Österreich-Ungarns als auch im Zweiten Welt-
                                                                                 ihrem ausführlichen Aufsatz zum Finnischen                   krieg lebten die paramilitärischen Traditionen
                                                                                 Bürgerkrieg, wie dieser sich zwar schnell bruta-             wieder auf. UĞUR ÜMIT ÖNGUR beschreibt die
                                                                                 lisierte, diese Tatsache aber nicht so sehr auf              Entstehung unterschiedlicher paramilitärischer
                                                                                 die Russischen Revolutionen zurückzuführen                   Einheiten im zusammenbrechenden Osmani-
                                                                                 war, als auf Faktoren vor Ort. Da die Bevölke-               schen Reich. Er verweist auf ihren teilweise
                                                                                 rung Finnlands während des Weltkriegs von                    lang andauernden Einfluss auf die Einstellung
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                                                                                 der Wehrpflicht befreit war, spielte das Kriegs-             führender türkischer Politiker. Am Beispiel
                                                                                 erlebnis auch keine besondere Rolle. EMILIO                  von Polen und Irland belegt JULIA EICHWALD,
                                                                                 GENTILE liefert eine detaillierte Beschreibung               dass die Erklärung einer Kontinuität der
                                                                                 der Entstehung und Etablierung von faschis-                  Gewalt in Weltkrieg und Nachkriegszeit zu
                                                                                 tischen paramilitärischen Strukturen in Italien              kurz greift. Dies gelingt ihr durch die Be-
                                                                                 in den Jahren 1919–1923. NIKOLAUS KATZER                     trachtung von untypischen Paramilitärs, näm-
                                                                                 rundet diesen Block mit einem Beitrag über                   lich von Frauen und Kindern. In der späteren
                                                                                 den weißen Mythos des russischen Antibol-                    Erinnerung wurden die Frauen dann wieder
                                                                                 schewismus in der Nachkriegszeit ab. Er be-                  ausgeblendet. ANNE DOLAN geht ebenfalls auf
                                                                                 handelt die Führungselite der Weißen Armeen                  den irischen Fall ein, indem sie die eskalierende
                                                                                 und ihre politischen Aktivitäten in der Emi-                 Wirkung von Kampfhandlungen und die
                                                                                 gration.                                                     Kultur der Gewalt der in Irland eingesetzten
                                                                                     Der zweite Teil trägt die Überschrift Natio-             britischen Kräfte untersucht. Diese hätten sich
                                                                                 nen, Grenzen und ethnische Gewalt. Er beginnt mit            alle sehr ähnlich verhalten – ob es sich nun um
                                                                                 einem Aufsatz von SERGEJ EKEL’ČUK über                       reguläre oder irreguläre Verbände handelte.
                                                                                 den Ukrainischen Bürgerkrieg, welcher das                    Dolan appelliert für ein erweitertes Verständnis
                                                                                 heutige Geschichtsbild in der Ukraine ein we-                paramilitärischen Verhaltens. JOHN HORNE
                                                                                 nig in Frage stellt. Der Autor betont den loka-              setzt schließlich einen Kontrapunkt zu den
                                                                                 len und gar nicht so ideologischen Charakter                 vorangegangenen Beiträgen, indem er zeigt,
                                                                                 der Akteure. TOMAS BALKELIS gibt einen                       wie es Frankreich gelang, das Ausufern parami-
                                                                                 Überblick über die Entwicklung in den bal-                   litärischer Gewalt zu vermeiden.
                                                                                 tischen Staaten, wo Paramilitärs an den Unab-                    Nach der Lektüre und all den negativen Bei-
                                                                                 hängigkeitskriegen beteiligt waren und deren                 spielen paramilitärischer Gewalt ging dem Re-
                                                                                 Organisationen nach Friedensschluss als vom                  zensenten der Gedanke nicht aus dem Kopf,
                                                                                 Staat finanzierte Mobilisierungsreserven und                 paramilitärische und staatstreue Verbände kön-
                                                                                 „Schulen der Nation“ dienten. Der Aufsatz en-                nen in einer Demokratie auch drei wichtige
                                                                                 det erst mit dem Zweiten Weltkrieg und so                    Aufgaben erfüllen: Sie können helfen, im Kri-
                                                                                 kann Balkelis auf die Rolle der Paramilitärs bei             senfall die innere Ordnung aufrechtzuerhalten
                                                                                 den Staatsstreichen im Baltikum eingehen so-                 oder die Folgen von Naturkatastrophen zu be-
                                                                                 wie auf die Beteiligung von Mitgliedern dieser               seitigen, und sie dienen im Kriegsfall als zu-
                                                                                 Organisationen an Vergeltungsmaßnahmen im                    sätzliche Mobilisierungsreserve. Schließlich be-
                                                                                 Sommer 1941 während des deutschen Einmar-                    saß auch die alte Bundesrepublik mit der Be-
                                                                                 sches und am Holocaust. Doch angesichts des                  reitschaftspolizei und dem Bundesgrenzschutz

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                        Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                 Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                       Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                          und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                             © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
Rezensionen                                                 111

                                                                                 paramilitärische Formationen, die nicht nur an               Aktualität dieses Forschungsthemas bewusst.
                                                                                 kleinen Waffen ausgebildet wurden.                           Der transnationale und vergleichende Ansatz
                                                                                     Alles in allem handelt es sich um einen le-              liefert manches Aha-Erlebnis. Paramilitärische
                                                                                 senswerten Sammelband, dem eine weite Ver-                   Gewalt war eben nicht beschränkt auf den
                                                                                 breitung zu wünschen ist. Angesichts der heu-                ‚rückständigen Osten‘ oder die instabile Wei-
                                                                                 tigen Situation paramilitärischer Gewalt in der              marer Republik.
                                                                                 Ost-Ukraine wird dem Leser umso mehr die                                             Olaf Mertelsmann, Tartu

                                                                                 Bol’šaja vojna Rossii. Social’nyj porjadok, pu-              völkerung in Galizien in den ersten Kriegsmo-
                                                                                 bličnaja kommunikacija i nasilie na rubeže cars-             naten bis zur Rückeroberung des Gebiets
                                                                                 koj i sovetskoj ėpoch. Sbornik statej [Der                   durch die Mittelmächte im Frühjahr 1915. Die
                                                                                 Große Krieg Russlands. Soziale Ordnung, öf-                  russischen Behörden sahen in den Polen eine
                                                                                 fentliche Kommunikation und Gewalt an der                    Stütze der eigenen Herrschaft, avisierten ihnen
                                                                                 Schwelle der zarischen und der sowjetischen                  kulturelle Autonomie und versprachen sich
                                                                                 Epoche. Eine Aufsatzsammlung]. Red. K.                       durch Gewalt gegenüber Juden, aber auch
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                                                                                 Bruiš / N. Katcer. Moskva: NLO, 2014. 207 S.                 durch eine Landreform auf Kosten des (polni-
                                                                                 = Studia Europaea. ISBN: 978-5-4448-0155-0.                  schen) Großgrundbesitzes Akzeptanz. Nicht
                                                                                                                                              nur die tief verwurzelten antirussischen Res-
                                                                                 Zu seinem Zentenarium ist der Erste Weltkrieg                sentiments in der polnischen Bevölkerung, eine
                                                                                 in vieler Munde. Kaum ein Tag vergeht, an                    aggressive Russifizierungspolitik der russischen
                                                                                 dem die printmediale Öffentlichkeit nicht einer              Verwaltung, sondern auch eine ausgeprägte
                                                                                 Begebenheit, meist einer Schlacht oder einem                 polnische Loyalität gegenüber der Donaumon-
                                                                                 bedeutenden Akteur, die Reverenz erweist. Die                archie verhinderten jedoch ein gedeihliches
                                                                                 Monographien Christopher Clarks Die Schlaf-                  Verhältnis (S. 31–33).
                                                                                 wandler, Herfried Münklers Der Große Krieg oder                  FRANZISKA DAVIS untersucht, inwieweit
                                                                                 Jörn Leonhards Die Büchse der Pandora haben in               sich die zarischen Streitkräfte der Loyalität und
                                                                                 der Bundesrepublik breiten Widerhall gefun-                  der Akzeptanz der Untertanen des multiethno-
                                                                                 den. Zahlreiche Besprechungen, Repliken und                  konfessionellen Imperiums erfreuten. Sie ver-
                                                                                 Kommentare, an denen sich auch die Doyens                    deutlicht, dass der Armee eine einheitliche
                                                                                 der bundesdeutschen Historikerzunft wie                      Strategie zur Integration der Muslime des
                                                                                 Hans-Ulrich Wehler und Hermann August                        Reichs gefehlt habe: Während Baškiren und
                                                                                 Winkler in den großen Presseorganen beteilig-                Wolgatataren einberufen wurden, galten für
                                                                                 ten, haben dazu geführt, dass die herrschende                Krimtataren Sonderregelungen, während die
                                                                                 Meinung der Post-Fischer-Kontroverse bezüg-                  Muslime des Kaukasus und Zentralasiens exi-
                                                                                 lich der Kriegsschuld des Deutschen Reichs                   miert waren. Die Hoffnungen muslimischer in-
                                                                                 hinterfragt wird. Der Begriff der „Revision“ ist             tellektueller und politischer Eliten, dass Regime
                                                                                 bereits gefallen.                                            werde ihre Loyalität und ihren Beitrag zur Lan-
                                                                                     Dass angesichts seines Jubiläums der Erste               desverteidigung honorieren und umfassendere
                                                                                 Weltkrieg Gegenstand zahlreicher Tagungen                    Bürgerrechte konzedieren, erfüllten sich nicht
                                                                                 auch in Russland war und ist, nimmt nicht                    (S. 53–57).
                                                                                 wunder. Der hier zur Besprechung vorliegen-                      ALEXANDRE SUMPFs Beitrag ist dem sich
                                                                                 de, angenehm schmale Sammelband mit seinen                   wandelnden Verständnis von Kriegsinvaliden
                                                                                 neun Beiträgen reicht auf eine Tagung zurück,                sowie dem Verhältnis von Invalidität und Ex-
                                                                                 die im Deutschen Historischen Institut in Mos-               pertise gewidmet. Etwa 40 % aller Kriegsver-
                                                                                 kau bereits im Herbst des Jahres 2011 statt-                 letzten erwiesen sich nicht mehr als fronttaug-
                                                                                 fand.                                                        lich. Laut einer Statistik eines Minsker Militär-
                                                                                     PIOTR SZLANTA behandelt das Verhältnis                   krankenhauses aus dem zweiten Kriegsjahr
                                                                                 von russischer Armee und polnischer Zivilbe-                 hatten sich über 6 % ihre Verletzungen selber

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                             Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                      Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                            Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                               und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                                  © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                              Franz Steiner Verlag
112                                                 Rezensionen

                                                                                 zugefügt. Angesichts dieser Zahlen überrascht                Bemerkungen und lieferten Gerüchten über
                                                                                 es weder, dass sich die Alimentierung der Inva-              anrüchigen Lebenswandel und sexuelle Laster-
                                                                                 liden, die sich an dem Grad der Beeinträchti-                haftigkeit Vorschub. Die Zarin wurde desakra-
                                                                                 gung orientierte, als eine Belastung der sozialen            lisiert, letztlich demokratisiert und populari-
                                                                                 Fürsorge erwies, noch dass sie bei dem leises-               siert, so dass ihre Tätigkeit in propagandis-
                                                                                 ten Verdachtsmoment auf Selbstverstümme-                     tischer Hinsicht zwar in den Entente-Staaten
                                                                                 lung gestrichen wurde. Die Wiedereingliede-                  auf Anerkennung stieß, innerhalb des Russlän-
                                                                                 rung der Invaliden in den Arbeitsprozess berei-              dischen Reichs aber genau das Gegenteil er-
                                                                                 tete große Schwierigkeiten. Nach dem                         reichte: Der Zarismus wurde in den Augen der
                                                                                 Oktoberumsturz erfuhr die soziale Hierarchi-                 Gesellschaft diskreditiert.
                                                                                 sierung der Invaliden eine Erweiterung um                        OKSANA SERGEEVNA NAGORNAJAs Bei-
                                                                                 eine politische Dimension. Die Sowjetmacht                   trag beschäftigt sich zum einen mit dem Wan-
                                                                                 versorgte nicht nur Versehrte des Bürgerkriegs               del der in der Gesellschaft vorherrschenden
                                                                                 besser als Bedürftige der Armee des Ancien ré-               Repräsentationen der Kriegsgefangenen. Gene-
                                                                                 gime, sondern sie weigerte sich auch, Invaliden              rell gilt, dass die großen Zahlen russischer
                                                                                 aus den Gebieten, die nicht zu Sowjetrussland                Kriegsgefangener in der russischen Gesell-
Free Download von der Franz Steiner Verlag eLibrary am 05.03.2022 um 20:08 Uhr

                                                                                 gehörten, überhaupt zu bedenken.                             schaft immer wieder dem Verdacht Vorschub
                                                                                     JULIJA ALEKSANDROVNA ŽERDEVA be-                         leisteten, dass sie massenhaft desertiert seien.
                                                                                 schäftigt sich mit der propagandistischen Vi-                Gleichwohl ist ein Wandel der herrschenden
                                                                                 sualisierung von Zerstörung, Leid und Elend in               öffentlichen Rezeption erkennbar: Wurden
                                                                                 Postkarten, Holzschnitten, Karikaturen, Pho-                 Kriegsgefangene bis zum Februar 1917 als Op-
                                                                                 tos, Illustrierten und im Film während des Er-               fer deutscher Grausamkeiten und Inkarnation
                                                                                 sten Weltkriegs. Ziel sei es gewesen, die eigene             der Loyalität gegenüber Zar und Vaterland dar-
                                                                                 Gesellschaft moralisch über die gegnerische zu               gestellt, galten sie seit der Revolution als Medi-
                                                                                 erheben und letztere als ‚barbarisch‘ zu diffa-              um eines etwaigen Separatfriedens und nach
                                                                                 mieren. Dabei wurden auch Nichtkombattan-                    dem Oktoberumsturz als Träger des Atheis-
                                                                                 ten wie Frauen der Täterschaft, beispielsweise               mus. Zum anderen untersucht der Aufsatz die
                                                                                 des Marodierens, bezichtigt.                                 Darstellung der Kriegsgefangenschaft im Werk
                                                                                     BORIS IVANOVIČ KOLONICKIJs Beitrag be-                   der drei sowjetischen Schriftsteller Anton
                                                                                 schäftigt sich mit den Repräsentationen der                  Ul’janskij, Kirill Levin und Konstantin Fedin,
                                                                                 Krankenschwestern in der russischen Kultur.                  deren künstlerische Verarbeitungen des The-
                                                                                 Zumindest unter den Mannschaftsgraden der                    mas sich mit der Memoirenliteratur und den
                                                                                 zarischen Armee galt die Krankenschwester als                Erlebnissen der Betroffenen nicht immer deck-
                                                                                 Sexualobjekt. Diesen Eindruck unterstrich ein                ten, aber gleichwohl glänzend zu einem Mas-
                                                                                 Artikel der in Helsingfors erscheinenden sozi-               ternarrativ verweben ließen.
                                                                                 alrevolutionären Tageszeitung Narodnaja Niva                     OLEG VITAL’EVIČ BUDNICKIJ untersucht
                                                                                 (No. 11, 6.5.1917, S. 3). Sie berichtete, Groß-              die Judenpogrome der Bürgerkriegsjahre auf
                                                                                 fürst Boris Vladimirovič habe sich einen Ha-                 dem Territorium der Ukraine und stellt diese in
                                                                                 rem an Kokotten gehalten, die alle wie                       ein Kontinuum der antijüdischen Gewalt und
                                                                                 Krankenschwestern gekleidet gewesen seien. In                des in der zarischen Armee verbreiteten Anti-
                                                                                 dem Maße, indem sich die Zarin und ihre                      semitismus.
                                                                                 Töchter in den Dienst der patriotischen Mobi-                    CHRISTOPER GILLEY bindet seine Untersu-
                                                                                 lisierung aller gesellschaftlichen Kräfte stellten           chung über die „Gewalträume“ in der Ukraine
                                                                                 und in den Hospitälern alle möglichen Aufga-                 in den Jahren 1917 bis 1922 mit Rekurs auf die
                                                                                 ben bis hin zum Waschen der Füße von Sol-                    Überlegungen von Robert Gerwarth und John
                                                                                 daten verrichteten, büßten sie ihre sakrosankte              Horne in ein größeres Narrativ der Gewalt ein.
                                                                                 Aura und ihre Stellung ober- bzw. außerhalb                  Vier Faktoren steckten gleichsam den Rahmen
                                                                                 der Ständepyramide ein. Die Zarin und ihre                   ab: erstens die Erfahrung „industriellen Tö-
                                                                                 Töchter wurden zum Gegenstand anzüglicher                    tens“ im Ersten Weltkrieg, zweitens Revoluti-

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                        Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                 Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                       Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                          und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                             © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
Rezensionen                                                 113

                                                                                 on und Konterrevolution, drittens der Zu-                    lichter Gewalträume auf, unterlässt es aber, das
                                                                                 sammenbruch des Imperiums und viertens die                   weiterreichende, von Gilley herangezogene
                                                                                 Erfahrung der Niederlage. Darüber hinaus the-                Modell auf den Ural anzuwenden. Ob der von
                                                                                 matisiert er den Stellenwert von Ideologie und               den Bol’ševiki verwendete und Gewalt legiti-
                                                                                 Nationalismus für die Entwicklung des warlor-                mierende Bürgerkriegsmythos in weiten Teilen
                                                                                 dism in der Ukraine. Gilley wendet sich gegen                der Bevölkerung des Urals auf Akzeptanz ge-
                                                                                 Felix Schnells Erklärungsansatz, dass allein                 stoßen ist, wäre angesichts der heterogenen
                                                                                 schon die Gewaltpartizipation sinnstiftend                   politischen Gemengelage des Gebiets zu über-
                                                                                 gewirkt habe, und hebt, ungeachtet mancher                   prüfen. Dies konzediert Narskij allerdings
                                                                                 programmatischer Widersprüche, auf politische                selbst (S. 197–198, 200). Zu fragen wäre ferner,
                                                                                 Aussagen der warlords als Komponenten einer                  ob und inwieweit die Bellifizierung nach dem
                                                                                 Gruppenidentität, bei der auch die Wiederbele-               Bürgerkrieg andauerte. Hierfür müsste aller-
                                                                                 bung von Traditionen eine wichtige Rolle ge-                 dings der Untersuchungszeitraum erweitert
                                                                                 spielt habe, ab (S. 173, 176).                               werden.
                                                                                     IGOR’ VLADIMIROVIČ NARSKIJ erörtert am                       Alle Autoren sind als Spezialisten ihrer hier
                                                                                 Beispiel des Urals die Bellifizierung der Le-                behandelten Fragen ausgewiesen. Neue Thesen
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                                                                                 benswelten in der russischen Provinz in den                  präsentieren sie nicht. Dieser Sammlung ist im
                                                                                 Jahren von Krieg und Bürgerkrieg. Während                    Lektürekanon zum Ersten Weltkrieg – ange-
                                                                                 das Gebiet im Weltkrieg ruhiges Hinterland                   sichts der wahren Springflut neuer Publikatio-
                                                                                 gewesen sei, penetrierte der Bürgerkrieg es be-              nen – nicht höchste Priorität beizumessen.
                                                                                 reits im November 1917 und es habe dann                      Gleichwohl bieten die sorgfältig recherchier-
                                                                                 einen mehrfachen Herrschaftswechsel erlebt.                  ten, oft auf umfangreichen Archivforschungen
                                                                                 „Erfahrung“ sei daher für die lokale Bevölke-                basierenden Beiträge einen schnellen Zugriff
                                                                                 rung eine Schlüsselkategorie geworden. Der                   auf tiefere Einsichten.
                                                                                 Aufsatz greift zwar die Überlegung entstaat-                                            Lutz Häfner, Göttingen

                                                                                 CHRISTOPHER READ: War and Revolution in                      in den größeren Zusammenhang des Ersten
                                                                                 Russia, 1914–22. The Collapse of Tsarism and                 Weltkriegs ein. Beide Autoren wenden sich
                                                                                 the Establishment of Soviet Power. Hound-                    nicht zum ersten Mal ihren Themen zu. Read
                                                                                 mills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Mac-                 hat seit 1979 mehrere Publikationen über die
                                                                                 millan, 2013. XIV, 249 S., 1 Kte. = European                 Russische Revolution vorgelegt, und Sanborn
                                                                                 History in Perspective. ISBN: 978-0-230-                     knüpft an seine Forschung über Militär und
                                                                                 23986-9.                                                     Gesellschaft in Russland von 1905 bis 1925 an.
                                                                                                                                              Über diese formalen Gemeinsamkeiten hinaus
                                                                                 JOSHUA A. SANBORN: Imperial Apocalypse.                      läuft die Lektüre beider Bücher in einem in-
                                                                                 The Great War and the Destruction of the                     haltlichen Punkt zusammen: Nikolaus II. und
                                                                                 Russian Empire. Oxford, New York: Oxford                     die Armeeführung des Zarenreiches erscheinen
                                                                                 University Press, 2014. IX, 287 S., 11 Ktn.                  in ihnen als die größten Revolutionäre. Niko-
                                                                                 = The Greater War. ISBN: 978-0-19-964205-2.                  laus’ II. autokratische Beratungsresistenz und
                                                                                                                                              die Praktiken der Militäradministration in den
                                                                                 Der 100. Jahrestag des Beginns des Ersten                    Frontregionen haben zu einem Großteil erst
                                                                                 Weltkriegs 2014 und das bevorstehende Cen-                   jene Unzufriedenheit und Nöte geschaffen, auf
                                                                                 tennium der Russischen Revolution 2017 ha-                   deren Boden die Revolution gedeihen konnte.
                                                                                 ben den Buchmarkt fest im Griff. Die Titel                      Darin erschöpfen sich jedoch die Gemein-
                                                                                 von Christopher Read und Joshua A. Sanborn                   samkeiten beider Bücher. Read hat für seine
                                                                                 sind rechtzeitig vor dem 100. Jahrestag des                  Überblicksdarstellung einen nüchternen Titel
                                                                                 Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erschienen                   gewählt, der Zeitraum, Region und zwei Ereig-
                                                                                 und betten die Revolutionen in Russland 1917                 nisse sachlich benennt. Sanborns Imperial Apo-

                                                                                           Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                             Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                      Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                            Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                               und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                                  © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                              Franz Steiner Verlag
114                                                  Rezensionen

                                                                                 calypse ist ein symbolträchtiger Titel, der den               möglicht es Read, die Qualitäten von Fluktuati-
                                                                                 Fokus auf den Untergang des Russländischen                    on, Offenheit und Kontingenz der Revolution
                                                                                 Reiches im Untertitel trägt. Während Read sei-                gut zur Geltung zu bringen. Insbesondere für
                                                                                 nen Lesern den aktuellen Forschungsstand ge-                  die Zeit von der Abdankung Nikolaus’ II. im
                                                                                 bündelt präsentiert, hat Sanborn ein analytisch-              Februar 1917 bis zum Ende des Bürgerkriegs
                                                                                 typologisches Konzept erarbeitet, mit dem er                  1922 weist Read immer wieder auf Erwar-
                                                                                 die russische Revolutionsgeschichte in die Ge-                tungshorizonte der Akteure und teils nicht-
                                                                                 schichte der Dekolonisation einschreiben                      intendierte Folgen ihres Handelns hin. Die
                                                                                 möchte. Sanborn unterscheidet vier Phasen der                 Darstellung von Selbstverständnissen, Kalkula-
                                                                                 Dekolonisation: imperial challenge, state failure, so-        tionen und Fehlperzeptionen einzelner Akteure
                                                                                 cial disaster und state-building (dekolonisierter Ge-         verhindert, dass die Revolutionsgeschichte als
                                                                                 sellschaften). In Kapiteln über den Kriegsaus-                zwangsläufiger Prozess erzählt wird. Ein
                                                                                 bruch und die Randregionen des Zarenreiches,                  gewichtiger kollektiver Akteur ist in Reads
                                                                                 die wandernden Fronten, die Mobilisierung                     Darstellung die Revolution der gewöhnlichen
                                                                                 von Militär und Gesellschaft, Revolution und                  Menschen (popular revolution). Frieden, Brot und
                                                                                 Dekolonisation sowie einem Schlusskapitel                     Land erhofften sich die meisten Menschen und
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                                                                                 über die imperiale Apokalypse buchstabiert                    gaben ihre politische Unterstützung jenen
                                                                                 Sanborn seine Typologie der vier Phasen aus.                  Gruppen, denen sie die Erfüllung ihrer Wün-
                                                                                 Read stützt sich auf das reichhaltige Material                sche in der jeweiligen Situation am ehesten zu-
                                                                                 edierter Quellen und Literatur. Sanborn hat                   trauten.
                                                                                 umfangreiche Archivarbeit geleistet. Neben in-                    Aufgrund des analytisch-konzeptionellen
                                                                                 dividuellen Überlieferungen in Moskau und                     Anspruchs, eine neue Geschichte der Dekolo-
                                                                                 den Hoover Institution Archives hat er vor al-                nisation des Zarenreiches zu schreiben, ist San-
                                                                                 lem Bestände zur Geschichte der Armee und                     borns Buch nicht so sensibel gegenüber der
                                                                                 Gendarmerie, aber auch der zivilen Administ-                  Kontingenz der Revolutionsepoche. Die
                                                                                 ration in Riga, Kiev, St. Petersburg und Mos-                 Dekolonisation des Zarenreiches zwingt der
                                                                                 kau eingesehen.                                               Darstellung einen Fluchtpunkt auf. Sie entlas-
                                                                                     Reads Buch hält, was sein Titel verspricht.               tet Sanborn jedoch zugleich vom Anspruch der
                                                                                 Aus dem ganzen Fundus der Revolutionslitera-                  ausgewogenen Überblicksdarstellung. Das
                                                                                 tur schöpfend, hat Read einen prägnanten und                  führt dazu, dass die Auswirkungen von Krieg
                                                                                 eleganten Überblick geschrieben. Meistens ge-                 und Revolution in verschiedenen Räumen des
                                                                                 lingt es Read sehr gut, den unverwüstlichen                   Imperiums viel stärker im Vordergrund stehen.
                                                                                 Kern zentraler Ereignisse und Figuren der Re-                 Wenn Sanborn die Interaktion zwischen
                                                                                 volutionsgeschichte mit den Befunden der jün-                 Hauptquartier und einzelnen Armeen und zwi-
                                                                                 geren Forschungen vor allem über die Bauern                   schen Militär und Ziviladministration oder die
                                                                                 und verschiedene Regionen Russlands zu ei-                    Geschichte von Flüchtlingen und Deportatio-
                                                                                 nem flüssigen Text zu verknüpfen. Allein die                  nen darstellt, nimmt er seine Leser immer wie-
                                                                                 Verflechtungen der Nationsbildungen an den                    der in verschiedenste Regionen des Zarenrei-
                                                                                 Rändern des ehemaligen Imperiums mit der                      ches mit. Die räumliche Dimension des Impe-
                                                                                 Revolutionsgeschichte wirken ab und zu ad-                    riums kommt in Sanborns Darstellung zu
                                                                                 ditiv an die Kapitelenden angereiht. Hier wird                ihrem vollen Recht. Problematisch ist demge-
                                                                                 deutlich, wie schwierig es ist, dem Überblicks-               genüber Sanborns Analyse des Endes des Za-
                                                                                 charakter der Revolutionsgeschichte Genüge                    renreiches als ein Vorgang von Dekolonisation.
                                                                                 zu tun und zugleich die immensen Ergebnisse                   So gewiss das Ende des Zarenreiches National-
                                                                                 der jüngeren Forschungen zu Regionen und                      bewegungen neue Handlungsmöglichkeiten
                                                                                 Nationsbildungen in die Erzählung der Revo-                   bot, erschöpft sich die Geschichte der Dekolo-
                                                                                 lution zu integrieren.                                        nisation in den Räumen des ehemaligen Russ-
                                                                                     Die chronologische Vorgehensweise, die                    ländischen Reiches nicht im Ende der Zaren-
                                                                                 nicht auf den Beleg einer Generalthese zielt, er-             herrschaft. Während an die Stelle der österrei-

                                                                                            Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1 © Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart/Germany

                                                                                         Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen
                                                                                                  Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
                                                                                        Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen
                                                                                           und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen.
                                                                                                              © Franz Steiner  Verlag, Stuttgart 2016
                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
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