Sachdokumentation: Signatur: DS 1460

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Sachdokumentation:
                                   Signatur: DS 1460
                                   Permalink: www.sachdokumentation.ch/bestand/ds/1460

                                   Nutzungsbestimmungen
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Gazette du
     Parc sans Frontières                         Zürich, 25.5.2018

Zürich, das Labor
                                                                                        Lager der
                                                                                        Entrechteten
                                                                                        → Seite 4

der Unterdrückung                                                                       Aufzeichnungen
                                                                                        eines Ausgeschafften
Heute sind die Gefäng­                           In den 70er­, 80er­ und 90er­Jahren    → Seite 6
                                             war Heroin beliebt und die offene Dro­
nisse voll mit «kriminellen                  genszene ein Dauerschlager in den Medi­
Ausländern». Doch der                        en und an den Stammtischen. Die Zürch­     Von der Schlagkraft
Begriff ist eine Erfindung                   er Drogenszene wurde jahrelang durch       des zivilen
                                             die Stadt getrieben und landete 1986 im    Ungehorsams
der rot­grünen Stadt­                        Platzspitz hinter dem Landesmuseum.        → Seite 7
regierung. In den 90er­                      Der Park wurde als «Needlepark» weltweit
Jahren wollte sie damit                      berühmt.                                   Kriminalisierte
                                                 Die Behörden reagierten mit Repres­
das Drogenproblem                            sion und Gittern. Schliesslich räumte
                                                                                        Sexarbeit
lösen. Diese Taktik hat                      man den Park im Februar 1992, schloss      → Seite 10
                                             ihn vollständig ab und verjagte die Dro­
seither System.
                                             gensüchtigen in den Kreis 5.

In der Schweiz ist es möglich, eine Per­
son ohne Aufenthaltsbewilligung bis
                                                   In der Schweiz
zu fünfeinhalb Jahren ins Gefängnis zu             schmoren Menschen
stecken. Zwar gibt es keinen Richter, der          jahrelang hinter
jemanden zu einer so langen Haftstrafe
verurteilt, nur weil ihm der Stempel des           Gittern, ohne eine
Migrationsamts fehlt. Doch es gibt eine            Straftat begangen
Kette von Administrativhaft und Ver­               zu haben.
urteilungen wegen diverser Vergehen, die
im schlimmsten Fall zu langen Gefängnis­
strafen führen. So kommt es, dass in der        Die Vertreibung der Szene war ein
Schweiz Menschen jahrelang hinter Gitter     Misserfolg. Die Junkies wurden von
schmoren, ohne eine Straftat begangen zu     der Polizei in regelrechten Treib­
haben.                                       jagden durch das Quartier gehetzt.
    Die juristischen Mittel für diese Re­    Die Bevölkerung wurde direkt
pressalien gehen auf das Konto einer Poli­   mit dem Elend der
tik der rot­grünen Stadtregierung. Aus
strategischen Gründen erschuf sie in den
90er­Jahren das Gespenst des «kriminel­
len Drogendealers». Dies, weil es damals
einen Sündenbock brauchte, um die An­
wendung von Zwangsmassnahmen zu
legitimieren. Dank derer sollte das Dro­
genproblem in der Stadt gelöst werden.
1   Gazette du Parc sans Frontières

Die erste Platzspitzschliessung im Januar 1992.

Drogensüchtigen konfrontiert. Die Stim­       wenig thematisiert. Das Problem waren         Sicher war die Erfindung des «dealenden
mung kippte und die Kritik an der Politik     bisher immer die Süchtigen. Das änderte       Asylbewerbers» nicht der einzige Auslös­
des Stadtrates wurde lauter. Er solle dafür   sich im Frühling 1992.                        er für die Entrechtung von Papierlosen in
sorgen, dass die Junkies menschenwürdig           Es war der ehemalige Stadtrat und         der Schweiz. Doch besonders die Zürcher
behandelt würden.                             Sozialdemokrat Robert Neukomm, der            Kantonsregierung lässt auch heute noch
                                              dem neuen Feindbild einen Namen gab.          immer wieder das Ungeheuer der «krimi­
   Zu diesem Zeitpunkt waren Drogen           Während einer Pressekonferenz sprach er       nellen Ausländer» aufleben, wenn sie die
zwar Dauerthema in der Schweizer Politik      von «Drogenbanden aus dem ehemaligen          Einschränkung elementarer Grundrechte
und in der Gesellschaft. Doch von jenen,      Jugoslawien, aus der Türkei, dem Liba­        durchsetzen will. Sie weiss, dass sich mit
welche die Drogen an die Süchtigen brach­     non». Vor allem aber verlangte er mehr        dieser Argumentation ein hartes Vorgehen
ten, sprach man damals wenig. Dass viele      Gefängnisplätze und die «Internierung von     gegen Migrant*innen vor dem Volk einfach
der Dealer einen Migrationshintergrund        Asylsuchenden».                               legitimieren lässt.
hatten, war zwar bekannt, wurde aber              Damit wurde in der Politik ein
                                              Richtungs­wechsel eingeläutet. ­Neukomms         So auch bei der Anwendung der Ein-
                                              Worte fanden Anklang, die Schuldigen          und Ausgrenzung als Repressionsinstru­
    Drei Arten wie man in                     waren gefunden, der Stadtrat aus dem          ment. Behörden dürfen damit Menschen
    Zürich ohne roten                         Schneider. Die Rufe der Zürcher Stadt­        verbieten, sich in einer bestimmten Ge­
    Pass unschuldig im                        regierung nach mehr Repression als Heil­      gend aufzuhalten oder sie zwingen, sich
                                              mittel wurden erhört. Man eröffnete ein
    Knast landet
                                              so genanntes «Notgefängnis» im Bun­
                                              ker unterhalb des Stadtspitals Waid. Die           Die Rufe der Zürcher
                  Strafe wegen                Berichte der Gefangenen, die die Gruppe
                  rechtswidriger Ein-
                                              augenauf damals gesammelt hatte, waren             Stadtregierung nach
                  reise und Aufenthalt:
                  Bis zu einem Jahr           erschütternd. Kurz darauf wurde das «Pro­          mehr Repression
                  Gefängnis.                  pog» (provisorische Polizeigefängnis) in           als Heilmittel wurden
                                              der Kaserne gebaut. Auch dort wurden die
                  Vorbereitungshaft,
                  Ausschafffungshaft,         Menschenrechte mit Füssen getreten.                erhört.
                  Durchsetzungshaft:              Drei Jahre nachdem der Zürcher Stadt­
                  Zusammen bis zu             rat mit der «Ausländer-Karte» gepunktet
                  18 Monaten Gefängis.
                                              hatte, traten die «Zwangsmassnahmen im
                  Strafen wegen               Ausländerrecht» in Kraft. Mit ihnen wurde
                  Verstoss gegen              es erstmals möglich, Menschen, die sich il­
                  Ein- oder Aus­
                  grenzung:
                                              legal in der Schweiz aufhielten, über Mona­
                  Bis zu drei Jahren          te und Jahre ins Gefängnis zu stecken.
                  Gefängnis.                      Diese Regelungen haben heute Ein­
                                              gang in den juristischen Alltag gefunden.
Gazette du Parc sans Frontières   2

nur in einer bestimmten Gegend aufzu­
halten. Wer gegen die Auflage verstösst,
kann zu maximal drei Jahren Gefängnis
verurteilt werden. Argumentiert wird,
die Ein- und Ausgrenzung sei nötig, um
­drogenhandelnde Asylberwerber aus dem
 Kreis 5 und der Drogenszene am Letten
 fernzuhalten. Obwohl heute die offene
 Drogenszene der Vergangenheit angehört
 und im Kreis 5 wohl mehr Porschefahrer
 als Drogenhändlerinnen gesehen werden.
 Trotz­dem kommt es, dass heute immer
mehr Menschen wegen Verstoss gegen die
Ein- und Ausgrenzung im Gefängnis sitzen.
     Vor allem erlässt der Kanton heute
 systematisch Eingrenzungen gegen abge­
 wiesene Asylsuchende. Diese müssen in
 unterirdischen Unterkünften übernachten
 und erhalten eine minimale Nothilfe, die
 zum Überleben nicht reicht. Mit der Ein­
 grenzung dürfen sie ein bestimmtes Ge­
 biet, zum Beispiel die Gemeinde in der sich
 die Notunterkunft befindet, nicht verlas­
 sen. Damit nimmt man ihnen nicht nur das
 Grundrecht der Bewegungsfreiheit, son­
 dern auch den Kontakt zu Freund*innen
 und die Möglichkeit, sich rechtliche Hilfe
 zu holen, um im Dschungel der Schweizer
 Ausländerrechte zu überleben (vgl. S.4).
     Seit Februar 2017 hat der Kanton
 Zürich das Unrechtsregime weiter ver­
 schärft. Abgewiesene Flüchtlinge müs­
 sen sich morgens und abends persönlich
 melden, um Nothilfe zu bekommen. Die
 Notunterkünfte gleichen damit noch mehr
 einem Straflager.
3   Gazette du Parc sans Frontières

Lager der
Entrechteten
In den vier Nothilfe-Lagern                       derzeit treffen. Und ständig droht die Ge­       Grundrechte, wie etwa die freie Ausübung
                                                  fahr des Gefängnisses, der Ausschaffung.         der Religion, werden zu einer zynischen
des Kantons Zürich werden                         Ausschaffungshaft kann auch dann verfügt         Worthülse. Wie viele Moscheen gibt es wohl
weggewiesene Personen                             werden, wenn mit dem Herkunftsland gar           in Kemptthal? So tragen die Eingrenzungen
systematisch unterdrückt.                         kein Rückübernahmeabkommen besteht.              ihren Teil zum vollständigen Ausschluss
                                                  So bewirken die Polizeikontrollen ein stän­      aus allen Bereichen des gesellschaftlichen
Erklärtes Ziel der Sicherheits­                   diges Gefühl der Angst. Besonders verhee­        Lebens bei. Für die in Urdorf Registrierten
direktion ist ihre «freiwillige»                  rend ist das für die Kinder, die im Nothilfe-­   etwa ist schon Schlieren Tabu. Es ist wie­
Ausreise. Hier zeigt sich das                     Lager Adliswil untergebracht sind. Die
                                                  Wände zwischen den Zimmern sind dünn:
ganze Ausmass der Gewalt                          Die Kinder hören, wenn ein ­Gspänli mitge­              So versteckt die
einer menschenverachtenden                        nommen wird. Nachts liegen sie wach aus                 Zürcher Nothilfe-
                                                  Angst, die Polizei würde sie als nächstes ab­
Migrationspolitik.
                                                  holen. Und die Angst ist nicht unbegrün­
                                                                                                          Lager sind, so
                                                  det: Sie könnte es.                                     schrankenlos ist
                                                                                                          die repressive
Sie liegen unscheinbar an Ortsrändern im              Die Personenkontrollen sind jedoch
Kanton Zürich, die vier «Notunterkünfte»,         längst nicht die einzige Schikane, denen                Gewalt, die in
so ihr zynischer Name. Die Baracken in            die Personen in den Lagern ausgesetzt                   ihnen und durch
Glattbrugg und Adliswil, die Unterkunft           sind. Viele von ihnen sind «eingegrenzt».               sie zur Anwendung
in Kemptthal und der Bunker in Urdorf             Sie dürfen das Gebiet der Gemeinde oder
konzentrieren die Unerwünschten in La­            des Bezirks des Lagers, dem sie zugewie­                kommt.
gern ausserhalb der öffentlichen Wahrneh­         sen sind, nicht verlassen. Ansonsten dro­
mung.                                             hen ihnen Gefängnisstrafen von bis zu drei
    So versteckt die Zürcher Nothilfe-La­         Jahren. Zugang zu rechtlicher Beratung
ger sind, so schrankenlos ist die repressive      haben sie oftmals nur, weil A
                                                                              ­ ktivist*innen
Gewalt, die in ihnen und durch sie zur An­        in die Lager fahren und damit in die Bre­
wendung kommt. Den dort registrierten             sche springen, wo die Sicherheitsdirek­
Menschen wird durch den negativen Asyl­           tion Grundrechte aushebelt. Auch weitere
entscheid das Recht abgesprochen, sich
im Land aufzuhalten. Mit ihrer blossen
Anwesenheit werden sie mit dem Dauerde­
likt «rechtswidriger Aufenthalt» belastet.
Die Gründe, weshalb sie trotzdem bleiben,
sind vielfältig. Erklärtes Ziel der Politik ist
es dagegen, die Gründe, das Land zu verlas­
sen, noch gewichtiger zu machen. Tägliche
Schikane, Entrechtung und Entwürdigung
sollen das Leben dieser Personen in der
Schweiz so unerträglich gestalten, dass sie
«freiwillig» ausreisen.

    Um dieses Ziel zu erreichen, sind der
kantonalen Sicherheitsdirektion unter
Mario Fehr alle Mittel recht. Wöchentlich,
meist noch öfter, führen Polizist*innen in
den Lagern Personenkontrollen durch – in
aller Regel frühmorgens, wenn viele noch
schlafen. Manchmal verhaften sie jeman­
den, manchmal nicht. Weil in den Lagern
alle den Straftatbestand «rechtswidriger
Aufenthalt» erfüllen, könnte es jede*n je­        Mit Tüchern versuchen die Bewohner des Bunkers ein wenig Privatspähre zu schaffen.
Gazette du Parc sans Frontières   4

Ort der Hoffnungslosigkeit: Eingang zum Nothilfe-Bunker in Urdorf.

derholt vorgekommen, dass Polizist*innen        quente Weiterführung einer menschen­
Personen verfolgen, die trotz Eingrenzung       verachtenden Migrationspolitik des Aus­
mit dem Bus das Gemeindegebiet verlassen        schlusses. In den Lagern in Glattbrugg,
wollen. Sobald sie in Schlieren aussteigen,     Adliswil, Kemptthal und Urdorf zeigt sie
werden sie verhaftet.                           ihr wahres Gesicht. An jedem Zentimeter
                                                der Urdorfer Bunkermauer widerspiegelt
    Dabei ist es auch für Personen ohne         sich die bröckelnde Fassade der «humani­
Eingrenzung kaum möglich, grössere Di­          tären Tradition». Jede Eingrenzung legt
stanzen zurückzulegen. Sie leben von der        offen, wie es um die viel beschworenen
staatlichen Nothilfe: 8.50 Franken pro Tag.
Zugtickets sind damit kaum bezahlbar und
wenn, dann auf Kosten von Essen, Baby­                 Die Wände zwischen
nahrung, Zigaretten. Aber nicht einmal                 den Zimmern im
dieser kleine Betrag wird bedingungslos
ausbezahlt. Um das Geld zu erhalten, müs­
                                                       Adliswiler Nothilfe-
sen die Nothilfe-Bezüger*innen zweimal                 Lager sind dünn:
täglich jeweils innerhalb eines kurzen Zeit­           Die Kinder hören,
fensters eine Unterschrift hinterlassen und
in den Lagern übernachten. Die zynische
                                                       wenn ein Gspänli
Begründung: Wer nicht im Lager über­                   mitgenommen wird.
nachte, habe das Geld nicht nötig. So wer­
den die Personen zusätzlich zur Eingren­
zung noch stärker in den Lagern isoliert.       «westlichen Werte» steht. Jeder Suizid, der
Betrieben werden die vier Nothilfe-Lager        in einem der Lager verübt wird, zeigt das
von der ORS Service AG. Die gewinnorien­        Ausmass der verübten Gewalt. Niemand
tierte Firma versucht naturgemäss, mög­         wird sagen können, man habe es nicht
lichst viel Profit aus der an sie delegierten   gewusst. Und die Radikalität, mit der das
Repression zu schlagen.                         Zürcher Nothilfe-Regime durchgesetzt
    Die Unterdrückung der Menschen im           wird, steckt ab, wie weit der Widerstand
Zürcher Nothilfe-Regime ist die konse­          gehen muss. Es gibt keine Grenzen.
5   Gazette du Parc sans Frontières

Vermisste Freiheit
Ich trage die Gefühle des Verlustes in mir.   von Gewalt ausgeschafft. Ein Körper aus         Die ökonomischen Verhältnisse ge­
Der Verlust dieser Momente in Europa, einer   Fleisch und Blut, ein freier Mensch vol­     hören zu den Hauptmotiven für Bewegun­
Welt aus Träumen von etwas, das für mich      ler Mut und Energie, seine Träume zu         gen rund um den Globus. Afrika ist der
alles ist. Etwas, das sich Freiheit nennt.    verwirklichen, haben sie vertrieben, aus­    ärmste Kontinent der Welt. Und selbst
                                              gewiesen! Als ich in meinem Herkunfts­       wenn Menschen erträgliche Lebensbe­
Aufzeichnungen eines Ausgeschafften.          land ankam, hatte ich das Bild meines        dingungen haben, so werden sie doch
                                              Quartiers vor Augen, so wie ich es vor
                                              drei Jahren verlassen hatte, um nach Eu­
Während meiner Zeit in Europa habe ich        ropa aufzubrechen. Es hatte sich nichts           In der Schweiz
immer geglaubt, den perfekten Ort ge­         verändert. Die Frustration und Resigna­           werden wir in
funden zu haben, um meine Freiheit als        tion der Leute blieben dieselben, ausser
Atheist und bisexueller Mensch zu leben.      vielleicht bei jenen, die das Gesetz be­
                                                                                                den Untergrund,
In meinem vom Islam durchdrungenen            folgen und tun, was sie tun müssen, um            in den Keller der
Herkunftsland war mir diese Möglichkeit       sich in der kapitalistischen Gesellschaft         Festung verbannt.
verwehrt, weil ich gegen das Gesetz ver­      zu behaupten. Doch selbst diese Leute
stossen hätte. Gerade über Sexualität zu      beschweren sich über Schwierigkeiten,
sprechen ist ein Tabu. Und auch «Nicht­       sich finanziell halten zu können, weder      nach besseren Bedingungen streben, ins­
gläubige» werden in dieser konservativen      Job noch Haus noch Ehefrau zu finden.        besondere nach Freiheit und Gleichheit.
Gemeinschaft nicht akzeptiert. In der                                                      Doch weil sich das globale System der Un­
Schweiz hatte ich dagegen immer wieder            Fragt Geflüchtete in eurem Umfeld, in    terdrückung vor solchen Kräften schützen
Momente, in denen ich all dies spüren und     den Camps und Bunkern, oder wenn sie eu­     muss, erhalten diese Menschen nur das
ausdrücken konnte.                            ren Weg auf der Strasse kreuzen, warum sie   Allernötigste, ein Minimum zum Überle­
    Letztlich haben sie mich in mein al­      nach Europa gereist sind. Viele von ihnen    ben. Sie sollen ausharren und Sklaven ihrer
tes Leben, in dieses islamische Gefängnis     werden euch ökonomische Gründe nennen.       Armut bleiben. Und so nimmt sich Europa
zurückgeschickt, mich unter dem Einsatz       Warum halten wir also an den alten Kate­     von Afrika und dem Mittleren Osten noch
                                              gorien fest, wenn die heutige Welt mehr      immer alles, was es braucht, um weiter zu
                                              und mehr unter der kapitalistischen Gier     wachsen. Fliesst ein Teil dieses Profits zu­
                                              leidet und Menschen vor Armut flüchten?      rück, gelangt er, wenn überhaupt, in die
                                                                                           Hände der Korruption und so wieder zu­
                                                                                           rück nach Europa.
                                                                                               Die Opfer dieses Missbrauchs, dieses
                                                                                           diktatorischen Systems, das sind wir.
                                                                                           Natürlich wünscht sich niemand ein sol­
                                                                                           ches Leben, doch die meisten fürchten
                                                                                           sich, darüber zu sprechen und die Konse­
                                                                                           quenzen dafür zu tragen. Deshalb ist es
                                                                                           gut, an einen Ort zu reisen, wo die Chance
                                                                                           auf Besserung greifbar ist. Doch in Europa
                                                                                           kommt für viele von uns Geflüchteten die
                                                                                           Überraschung: Anstatt uns zuzuhören und
                                                                                           uns eine Chance zu geben, werden wir in
                                                                                           der Schweiz in den Untergrund verbannt,
                                                                                           in den Keller der Festung. Die Autoritäten
                                                                                           behandeln uns wie Fremde, die aus dem
                                                                                           Nichts auftauchen. Grenzen werden ge­
                                                                                           schlossen und die Asylpolitik wird so ge­
                                                                                           staltet, dass die «Illegalen» leicht wieder
                                                                                           entfernt werden können. Zum Glück ste­
                                                                                           hen auf der anderen Seite einige solidar­
                                                                                           ische Freund*innen, die uns das Gefühl
                                                                                           geben, im Kampf für unsere Rechte nicht
                                                                                           allein zu sein.

                                                                                              Wenn ihr Trauer verspürt über die Mi­
                                                                                           grant*innen, die im Mittelmeer sterben,
                                                                                           dann kann ich euch sagen, dass der ­Grund
                                                                                           dafür die Grenzen sind, die sich um uns
Gazette du Parc sans Frontières        6

                                           Von der
schliessen und sichere Fluchtwege ver­     Schlagkraft
                                           des zivilen
hindern. Wir Geflüchteten bewegen
uns trotzdem weiter, weil wir von der
Misere unseres Lebens genug haben.

                                           Ungehorsams
Warum sollte ich dort bleiben? Ich will
reisen, die Welt sehen. Doch in meinem
Land ist das unmöglich oder zumindest
schwierig, während es für einige ande­
re auf der Welt so leicht ist. Warum?
Während Europäer*innen das Privileg
des roten oder blauen Passes haben
                                           und anderen
                                           Frechheiten
und jederzeit überall hinreisen können,
müssen Afrikaner*innen erst einen lan­
gen Marathon hinter sich bringen, um
dann doch kein Visum zu erhalten.
    Wir verlangen nicht viel. Wir wol­
len sein wie andere auf dieser Welt.       Anfang der 90er-Jahre                     und*innen und Bekannten infiszierten
Wir wollen die Rechte geniessen, die                                                 sich während dieser Zeit mit dem Virus,
uns allen zustehen – nicht nur den         wurde der Platzspitz-Park                 weil sie die raren Spritzen untereinander
Pro­fiteur*innen der faschistischen,       als Drogenhölle welt­                     tauschten oder die Nadeln an Streich­
kapitalistischen Maschinerie. Darum        bekannt. Dass sich im                     holzschachteln       schliffen.   Anfangs
braucht es Bewegungsfreiheit für alle.                                               Dezember gab der Verein unabhängiger
                                           Schatten dieses Medien­                   Ärzte bekannt, dass 200 Ärzte im Kan­
    Menschen töten andere Menschen,        spektakels auch ganz                      ton bei einer Selbstbezichtigungs-Ak­
weil sie sich in Kultur, Religion und      andere Dinge entwick­                     tion mitmachten, und dazu standen,
Hautfarbe voneinander unterscheiden.                                                 dass sie den Fixern sterile Spritzen ga­
Menschen sperren andere Menschen in        elten, ist den wenigsten                  ben. Wiederkehr musste das Abgabe­
den Untergrund, weil diese «Anderen»       bekannt. Ein Aktivist                     verbot kurz darauf zurückziehen.
keine Dokumente haben. Oder sie                                                          1988 spitzte sich die Situation am
                                           erzählt.
bringen sie gar ins Gefängnis, weil sie                                              Platzspitz dramatisch zu. Junkies und
Rebell*innen sind. Männer stellen sich                                               Kiffer*innen organisierten sich gegen
über Frauen* und Trans-Menschen und        Nach jahrelanger Treibjagd auf die        die zunehmende polizeiliche Repres­
versuchen, sie als aktive Kräfte in der    Junkies entlang der Limmat duldeten       sion und gründeten das „Frosch-Syndi­
Gesellschaft aufzuhalten. Menschen         es die städtischen Behörden im Sommer     kat» – unterstützt von Leuten aus den
beten ein mythisches Wesen namens          1983, dass sich die Drogen-Szene hint­    Häusern. Das im Herbst während fast
Gott an, das sie nie gesehen haben,        er dem Landesmuseum im Platzspitz-        einen Monat besetzte Cafe Meyer an
weil sie glauben, es sei der Grund für     Park niederliess. Vorausgegangen war      der Limmatstrasse 28 übernahm dabei
die Existenz der Welt und richte nach      ein polizeiinterner Streit. Während       eine wichtige Scharnierfunktion.
ihrem Tod über Himmel und Hölle.           sich die «Uniform-Polizei» entschieden
Menschen, die Polizist*innen sind, ver­    gegen eine Duldung der Junkies am             Die gesundheitliche Situation der
haften andere, «illegale» Menschen auf     Platzspitz aussprach, befürworteten       Menschen am Platzspitz verschlech­
der Strasse und in ihren Häusern. Alles    die Detektiv*innen und Fahnder*innen      terte sich massiv. Im Herbst erklärten
im Namen des Systems, das nichts als       diese Kon­zentration der Drogenabhän­     Gassenarbeiter*innen der Zürcher
Sklaven schafft. Menschen arbeiten         gigen an einem Ort. Am Platzspitz ver­    Arbeitsgemeinschaft für Jugend­
für Geld, denn wer kein Geld hat, hat      mischten sich Händler*innen und Kon­      probleme zusammen mit dem Roten
Schwierigkeiten zu überleben. Men­         sument*innen von harten und weichen       Kreuz und der Spitex der umliegen­
schen wählen andere Menschen, die          Drogen endgültig.                         den Stadtteile den Notstand. Über
sie, die Millionen, regieren und ihre          Im September 1985 verfügte der        Weihnachten und Neujahr bauten sie
Träume realisieren sollen, anstatt dass    kantonale Gesundheitsdirektor Wieder­     ein grosses Zelt auf, in dem sie zusam­
sie sich selber regieren und ihre Träume   kehr ein Spritzenabgabeverbot. Ärzt*­     men mit Freund*innen und Aktiv­
selber realisieren.                        innen und Apotheker*innen, welche         ist*innen der Polit-Szene einen Tref­
    Darum will ich eine Welt ohne          trotzdem Spritzen an die Junkies abga­    fpunkt schufen und die Isolation des
Grenzen, Illegalisierung und Diskrimi­     ben, wurden mit Berufsverbot be­droht.    «Ghettos am Platzspitz» durchbrachen.
nierung der Geschlechter. Eine Welt        Dies zu einem Zeitpunkt als sich der      Die Aktion bereitete den Boden für die
voller Liebe und voller Rebellion gegen    HI-Virus erstmals massiv verbreitete      Gründung der «Arge Platzspitz» – ein
Rassismus, Faschismus, Kapitalismus        und die Aids-Hysterie einem ersten        breiter Zusammenschluss von Jung
und Sexismus.                              Höhepunkt zustrebte. Viele unserer Fre­   und Alt mit dem Ziel, eine grundsätzli­
7   Gazette du Parc sans Frontières

Die Arbeitsgemeinschaft Platzspitz kocht 1989 warme Mahlzeiten.

che Änderung der städtischen Drogenpoli­       wurde frecher, selbstbewusster, fordernder.
tik zu erreichen.                              Die Erkenntnis verbreitete sich, dass sich
    Zur Aktionspalette der Arge Platzspitz     die sozialen Probleme, die sich am Platzspitz
gehörte neben dem täglichen Kochen am          manifestierten, innerhalb der bestehenden
Rondel und Interventionen auf politischer      (Un-)ordnung nicht lösen liessen.
Ebene auch der zivile Ungehorsam. Am               In der Arge Platzspitz traf sich ein brei­
Platzspitz oder in den Strassen der umlieg­    tes Spektrum an Personen mit ganz un­
enden Quartiere waren wir oft Zeug*innen       terschiedlichen Vorstellungen von Wider­
zunehmender Polizeigewalt bei Kontrollen       stand. Aber wer damals immer wieder
und Verhaftungen. Es war damals möglich        staunend über die unbeschwerte Radikali­
und üblich, stehen zu bleiben, zu interve­     tät und Frechheit daneben stand, das war­
nieren, mit den Kontrollierten zu sprechen.    en wir. Denn das haben wir aus dieser Zeit
Wir waren meistens alleine oder zu zweit       gelernt: Wer persönlich bereit ist, sich der
unterwegs, hatten kein Handy oder ande­        Staatsgewalt entgegenzustellen, macht den
re Datenträger mit unseren Kontakten im        ersten Schritt, die eigene Angst zu über­
Sack dabei.                                    winden und sich ein weites Feld zu öffnen.
    Die Arge Platzspitz stellte ohne Rück­
sprache mit den städtischen Behörden eine
Baubaracke als Treffpunkt neben dem Ron­
del auf. Nach wenigen Tagen wurde sie un­
ter Polizeischutz wieder abgebrochen. Dem
Versuch der städtischen Behörden, missli­
ebige Personen aus dem öffentlichen Raum
zu entfernen und Plätze zu säubern, stell­
ten sich die Aktivist*innen immer wieder
persönlich entgegen.

    Ziviler Ungehorsam steht oft am Anfang
eines Bewusstseinsprozesses. Ein scheinbar
kleiner Schritt kann jemandem die Augen
öffnen. Die Bereitschaft, mit dem bestehen­
den Strafgesetz Bekanntschaft zu machen,
ist ein wichtiger erster Schritt zum persön­
lichen Widerstand. So machten Angehörige
von Junkies, die sich der willkürlichen Po­
lizeigewalt entgegenstellten, unerwartete
Erfahrungen mit den selbstgerechten Ver­
tretern der staatlichen Gewalt. Das Auftre­    Die Arbeitsgemeinschaft «Weihnachten 88 am Platzspitz» stellt den Junkies über
ten der Aktivist*innen der Arge Platzspitz     die sogenannten «Festtage» ein wärmendes Zelt auf.
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Von NoBunkers                                                                                 heuchlerische Strategie des Kantons spielt
                                                                                              Prekarisierte gegeneinander aus. Das Bun­
                                                                                              desausreisezentrum, das neben dem Flug­

zu #prenonslaville
                                                                                              hafen entsteht; die neuen Ausschaffungs­
                                                                                              gefängnisse, die 2022 im Kanton Genf fünf
                                                                                              Mal mehr Plätze als 2017 fassen werden;
                                                                                              aber auch die Tatsache, dass über 70% der
                                                                                              Strafgefängnisinsass*innen wegen illegalen
Würdige Lebensbedingun­                       werden, wird später auch eine Asylunter­        Aufenthalts sitzen: das alles ist Ergebnis der
                                              kunft: das Foyer d’Appia. Das Verprügeln        ultra-repressiven Politik des freisinnigen Si­
gen für alle: Ein Bericht                     mehrerer Betroffener durch Polizisten,          cherheitsdirektors Pierre Maudet.
über den Widerstand                           diffamierende Artikel in der Tagespres­             Auch die Schikanen in der Nothilfe hat
gegen die Bunkerpolitik                       se sowie punktuelle interne Spannungen          Maudet auf ein neues Level gehoben: Seit
                                              prägen die Bewegung seit Beginn. Im Au­         März 2018 müssen Nothilfebezüger*in­
im Kanton Genf.                               gust 2015 markiert dann ein kollektives         nen, die in Genf ohnehin schon beim Be­
                                              Burnout aller Beteiligten ein Ende dieser       völkerungsamt stempeln müssen, auch
                                              intensiven Phase. Es beginnt eine lange         noch beim Flughafen stempeln, um dann
2015 sind im Kanton Genf bis zu 600           und schwierige Zeit, in der die Ausschaf­       beim Sozialamt 10.- pro Tag abholen zu
Personen in Zivilschutzanlagen, also in       fungen mehrerer der aktivsten NoBun­            können.
Bunkern, untergebracht. 117 Bunker­           ker-Mitglieder nicht verhindert werden              Währenddessen hat das Sozialamt zu
bewohner*innen schicken damals einen          können und die anfängliche Euphorie             Beginn dieses Jahres in einem zynischen
Brief an das kantonale Sozialamt: Ein         abflaut. 2016 gelingt es aber durch einen       Communiqué die temporäre Schliessung
Appel, der Sonne, frische Luft und Wür­       weiteren entschlossenen Kampf, den Ab­          des Bunkers angekündigt. Es freut uns,
de für alle verlangt. Daraufhin starten die
Unterzeichnenden, die parlamentarische
links-alternative Partei Solidarités, das
junge autonome Kollektiv Sans retour
und verschiedene Vereine eine Kampa­
gne, um die Öffentlichkeit auf die Bun­
kerproblematik aufmerksam zu machen.
Alle befinden sich gleichzeitig auch im
Kampf gegen die Ausschaffung von Ayop,
einem der 40 Verletzten des Brandes vom
November 2014 im Foyer des Tattes, der
grössten Asylunterkunft des Landes. Ein
Brand, der auch einen Toten gefordert
hat. Ayop wird nicht ausgeschafft und die
spriessende Bewegung gewinnt an Selbst­
vertauen.
    15. Juni, Hitzewelle, ein Tag vor Rama­
dan. SMS: “Foyer des Tattes, komm, Leute
werden in den Bunker gebracht.” 80 Männer
werden innerhalb von drei Tagen aus ihrem
oftmals langjährigen Wohnort vertrieben.
Sie verweigern fast allesamt den Transfer
und besetzen mit ihren Unterstützer*in­       Mehr als zehn Mal auf der Strasse: Demonstrant*innen fordern die Schliessung
nen ein Kulturzentrum. Der Kampf ist auf      der Asylbunker in Genf.
dem Höhepunkt, ganz Genf ist NoBunker.
VoKüs, Sprachkurse, Transpimalen und ad­
ministrative Unterstützung organisieren       riss des Foyers Frank-Thomas zu verhin­         wenigstens diesen Kampf (derzeit) nicht
sich. Die Revolution fühlt sich fassbar an.   dern. Keine Schliessungen von Foyers, so        mehr führen zu müssen. Doch das Bun­
Nach zwei Wochen zieht man in einen Ge­       lange es Bunker gibt!                           deszentrum kommt. Die Situation in der
meinschaftssaal der Stadt.                                                                    Nothilfe hat sich nicht verändert. Maudet
                                                  Zwei Jahre und viele Kämpfe später sind     bleibt Ausschaffungsmeister. In Lausanne
    Trotz mehr als zehn Demos, wieder­        wir wieder bereit: Es entfacht sich eine neue   wurden innerhalb von 18 Monaten drei
holten Verhandlungen mit dem rechts­          breite Bewegung, die Dynamik aus dem            nicht weisse Menschen von der Polizei ge­
extremen Regierungsrat Poggia, der Be­        Jahr 2015 ist wieder da: Recht auf Stadt        tötet. Faschos von Résistance Helvétique
setzung eines ehemaligen Heimes, das          ist angesagt! #prenonslaville findet ihren      organisieren sich. Wir werden uns also
seit Jahren leer steht: den Kanton bringt     Ursprung im politische Misskalkül des Kan­      nicht ausruhen!
nichts zum Zittern. Nur eines der vielen      tons, das studentische Wohnkollektiv Mala­
                                                                                              30. Juni 2018: Antirassistisches Fussballturnier
Häuser, die von der Bewegung als leerste­     gnou zu vertreiben, um stattdessen am sel­      gegen das Bundeszentrum in Grand-Saconnex! Mehr
hende Besitze des Kantons angeprangert        ben Ort Asylsuchende unterzubringen. Die        Infos auf renverse.co!
9   Gazette du Parc sans Frontières

Sexarbeitende in Zürich:
diskriminiert & kriminalisiert
Die Repressalien gegen                       oder aber als hochqualifizierte Fachkräfte.     Verschärfungen der Bedingungen für Sexar­
                                             Migrant*innen aus Drittstaaten reisen in        beitende in Zürich.
migrantische Sexarbeitende                   der Regel durch Familiennachzug oder ille­
haben in der Stadt Zürich                    galisiert in die Schweiz ein. FTIQ+ aus Eu­         Sexarbeit ist gerade für FTIQ+ ohne
seit den 90er-Jahren stetig                  ropa haben leichtere Einreisebedingungen        geregelten Aufenthaltsstatus und Arbeits­
                                             als FTIQ+ aus Drittstaaten und dürfen hier      bewilligung eine Möglichkeit, an Geld zu
zugenommen.                                  arbeiten. Beschäftigung finden sie dann oft     kommen, um ihre Familie zu unterstützen
                                             in feminisierten Tätigkeiten wie im Pflege­     oder ihren eigenen Unterhalt zu bezahlen.
Gründe, weshalb Personen migrieren, sind     bereich, in der Hausarbeit oder in der Sex­     In der Schweiz ist Sexarbeit legal, sofern
divers und immer auch aus geschlechter­      arbeit.                                         sich die Sexarbeiter*innen an die Prostitu­
spezifischer Sicht zu betrachten. Frauen-                                                    tionsgesetze halten und eine Bewilligung
Trans-Inter-Queer+ -Menschen (FTIQ+)1            In den Kreisen 4 und 5 ist Sexarbeit seit   beantragen. Die bekommen sie nur, wenn
sind aufgrund ihres Geschlechts spezi­       langem Teil des Quartierbildes sowie ein        sie ein Bewilligungsgespräch absolviert
ell verletzlich. Diskriminierung im Her­     umstrittenes Politikum. So ist Sexarbeit        haben. Sie müssen eine Aufenthaltsbewil­
kunftsland – zum Beispiel in Bezug auf       immer auch an Auseinandersetzungen im           ligung haben, eine Krankenversicherung
Bildung und Arbeit, sexuelle Gewalt oder     Bereich der Migrations- und Asylpolitik ge­     und so weiter. Für illegalisierte Personen
Ausbeutung, starre Geschlechtsrollen oder    knüpft. Der Strassenstrich am Sihlquai gab      ist dies also keine Option.
Trans-Inter-Queer-Feindlichkeit – können     es bereits zu Zeiten der offenen Drogensze­         Durch die Erhöhung des bürokratischen
ein entscheidender Faktor für FTIQ+ sein,    ne auf dem Platzspitz. Als 1995 die Zwangs­     Aufwandes, um eine Bewilligung zu erhal­
zu migrieren. Im Ankunftsland setzen         massnahmen im Ausländerrecht unter dem          ten, werden Sexarbeiter*innen in die Ille­
sich die Diskriminierungen oft fort. Das     Vorwand der ausser Kontrolle geratenen          galität gedrängt. Ohne Bewilligung machen
Schweizer Migrationsrecht erlaubt FTIQ+      Drogenszene in Kraft traten, hatte das auch     sie* sich strafbar und können von der Poli­
aus Drittstaaten die Einreise nur als Ehe­   rechtliche Folgen für die Sexarbeiter*innen.    zei verzeigt werden. Solche Massnahmen
frauen, Tourist*innen, als Student*innen     Es war eine von noch folgenden repressiven      werden als Schutzmassnahmen verkauft

Die «Dissozialen»
                                                                                             recht, zu weiterem Abbau von Menschen­
                                                                                             rechten. Sie ist Rechtfertigung für weitere
                                                                                             sogenannte «griffigere» Richtlinien zur ef­
                                                                                             fizienten Abschottung und Verfolgung von
                                                                                             Migrant­Innen und nicht zuletzt zum Bau
Dieser Text stammt aus                       Abschottungspolitik basiert auf gut vorbe­      und Betrieb weiterer Gefängnisse.
                                             reitetem Schüren von Ängsten gegenüber              In der Hetzjagd gegen alles «nicht-­
dem Jahr 1996. Er zeigt, wie                 ausländischen Menschen. Entsprechende           schweizerische» in der Zeit der Letten­
sich zur Zeit der Einführung                 Zuweisungen wie: «Asylbetrüger», «Schein­       schliessung gehörte es zum alltäglichen
der Zwangsmassnahmen                         asylant», «Sozialabzocker», usw. haben          Bild, dass AusländerInnen an allen Ecken
                                             längst gegriffen. Bis weit ins linke Lager      der Stadt gefilzt wurden. Wer schlechte
rassistische Narrative ver­                  hinein sind die Unkenrufe zu hören, die         oder keine Papiere hatte, wurde auf den
festigten, die bis heute Basis               meinen, «man müsse jetzt endlich was tun,       Posten mitgenommen. Viele kamen nach
von Repression sind.                         um die Ausländerfeindlichkeit der Schwei­       kurzer Zeit wieder frei, mussten aber die
                                             zerInnen nicht noch mehr zu forcieren».         oftmals demütigende und rassistische Be­
                                                 Milde wird darüber hinweggesehen,           handlung schlucken, wollten sie sich nicht
Dissozialität heisst die Zauberformel, mit   wie der Polizei- und Justizapparat auf­         noch mehr Probleme einhandeln.
der sich die Justizbehörden in neuester      gerüstet wird, Grundrechte unterhöhlt
Zeit hervortun, um unliebsame Auslän­        werden. Rassistische Übergriffe werden              AusländerInnen, die in Zürich kontrol­
derInnen in Ausschaffungshaft zu setzen.     kaum mehr wahrgenommen. Eher werden             liert, durchsucht und dann meistens auf
Anlehnung an völkische Begriffe wie «aso­    sie verschwiegen, denn unterbunden und          den Posten mitgenommen werden, erhalten
zial», «amoralisch», «anpassungsunwillig»    bekämpft. «Ohne Ausländer keine Frem­           im Polizeirapport regelmässig den Vermerk
kommen nicht von ungefähr. Sie sind Teil     denfeindlichkeit!» Die verhängnisvolle          «im Drogenmilieu kontrolliert». Da ist es
einer erweiterten Kampagne und Stra­         Umkehrung, mit der Opfer zu TäterInnen          nur noch ein kleiner Schritt bis zum festen
tegie gegen alles «fremdartige» und «un­     gemacht werden, ist Rechtfertigung zu wei­      Satzbaustein der Zürcher Fremdenpolizei,
schweizerische». Die Ausgrenzungs- und       teren Verschärfungen im Straf- und Asyl­        welche papierlose Algerier, die in Ausschaf­
Gazette du Parc sans Frontières                   10

und eingeführt, wirken sich aber in der Pra­     illegalisieren, kriminalisieren und diskri­         Zwar wurde die 2013 eingeführte PGVO
xis oft repressiv auf die Sexarbeitenden aus,    minieren.                                       2016 teilrevidiert. Das bedeutete Locke­
da diese in die Illegalität getrieben und kri­       Weiter zugespitzt hat sich die rechtliche   rungen in der Bewilligungspflicht für Ein­
minalisiert werden.                              Situation in der Stadt Zürich 2013 mit der      zelsalons und die Aufhebung des Grund­
                                                 Änderung der Prostitutionsgesetzverord­         satzverbots für sexgewerbliche Nutzungen
   Im Juni 2011 wurde zusätzlich ein             nung (PVGO). Der Strassenstrich am Sihl­        in Zonen mit mindestens 50 % Wohnanteil.
«Bewilligungsgespräch zur Klärung der            quai wurde im Sommer 2013 aufgehoben            Es fehlt aber an legalen Strichzonen. Der
Selbständigkeit von Sexarbeiter*innen»           und durch die Eröffnung der sogenannten         Strichplatz am Sihlquai bleibt geschlossen.
eingeführt. Damit einher gehen in der            Sexboxen in Altstetten «ersetzt». Seither       Die Sexarbeit wird mehr und mehr aus den
Folge Kontrollen, Bussen und Wegwei­             werden Sexarbeiter*innen an der Lang­           Kreisen 4 und 5 in die Peripherie verdrängt
sungen, die Sexarbeiter*innen zusätzlich         strasse vermehrt kontrolliert.                  und muss der Aufwertung weichen. Die
                                                                                                 (ausländer*innen- und arbeits-)rechtliche
                                                                                                 Situation für Sexarbeiter*innen ohne ge­
                                                                                                 regelten Aufenthalt bleibt auf Grund der
                                                                                                 polizeilichen Repression in Zürich schwie­
                                                                                                 rig. Dadurch wird der Zugang zu nieder­
                                                                                                 schwelliger Unterstützung erschwert. Die
                                                                                                 finanzielle Lage für Sexarbeitende hat sich
                                                                                                 verschlechtert.
                                                                                                     Der in den 90er-Jahren eingesetzte
                                                                                                 Trend von Repression und Verdrängung
                                                                                                 aus den aufzuwertenden Vierteln setzt sich
                                                                                                 fort. Es fehlt die Anerkennung der Sexarbeit
                                                                                                 als Teil unserer Gesellschaft. Für FTIQ+ mit
                                                                                                 illegalisiertem Status wird die Arbeit durch
                                                                                                 die Zunahme von willkürlichen, ungerecht­
                                                                                                 fertigten Wegweisungen und Bussen umso
                                                                                                 mehr erschwert.

                                                                                                 1 Auch cis-Männer können auf Grund ihrer Ge­
                                                                                                   schlechterrolle Diskriminierung erfahren, sind aber
                                                                                                   in Bezug auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis­
Sinnbild für die Verdrängung: die Sexboxen in Altstetten.                                          se gegenüber FTIQ+-Menschen privilegiert.

fungshaft sitzen, bei verschiedenen Inter­       und während ihres Aufenthaltes vermehrt         Den Journalist­Innen leider entgangen ist,
polstellen folgendermassen denunziert:           in der Drogenszene getroffen und kontrol­       dass, obwohl verschiedene Verfahrens­
«Ibrahim hat den Anschein gemacht, dass          liert werden. Oftmals delinquieren sie, was     mängel gerügt worden waren, die Gefan­
er seinen Lebensunterhalt mit dem Ver­           wiederum zu Strafuntersuchungen und             genen nicht freigelassen wurden. Begrün­
kauf von Drogen finanziert hat». Der von         entsprechenden Urteilen führt. Zwar liegt       det wurde die weitere Inhaftierung damit,
dieser Lüge Betroffene hat nie etwas mit         gegen Herrn Ali kein solches Urteil vor, je­    dass die Gefangenen eine massive Ge­
Drogen zu tun gehabt, er ist wie so viele        doch wurde auch er bereits im Drogenmili­       fährdung der öffentlichen Sicherheit dar­
andere nur ohne Papiere in Zürich kont­          eu kontrolliert und anschliessend der Fre­      stellen würden. Um Massenfreilassungen
                                                 po Zug zugeführt. Es ist ein Anliegen der       auszuweichen, bringen die Bundesrichter
                                                 zürcher Polizeibehörden, dass sich die den      ein neues Zauberwort ins Spiel: Dissozia­
      Milde wird darüber                         angrenzenden Kantonen zugeteilten Asyl­         lität, die kleine Schwester der Asozialität.
                                                 bewerber auch mehrheitlich dort aufhal­         Dissozial soll sein, wer:
      hinweggesehen,                             ten. Bei wiederholter Störung der öffentli­       •   einen Ladendiebstahl begeht oder in
      wie Grundrechte                            chen Sicherheit und Ordnung steht zudem               Verdacht gerät, er oder sie könnte es
      unterhöhlt werden.                         die durch die Zwangsmassnahmen statuier­              tun oder getan haben
                                                 te Möglichkeit der Ausgrenzung offen.»            •   Streit mit SchweizerInnen hat
                                                     Der erste Schritt, eine Person als dis­       •   Auto in angetrunkenem Zustand fährt
rolliert und verhaftet worden. Als weiteres      sozial abzustempeln, ist hiermit gemacht.         •   eine Busse für Schwarzfahren mit den
Beispiel sei hier aus einem Brief der Frem­      Wer in Zürich kontrolliert wird, begeht               öffentlichen Verkehrsmitteln oder we­
denpolizei des Kantons Zug vom 10. Juli          bereits eine «Störung der öffentlichen Si­            gen Nachtruhestörung erhalten hat.
1996 zitiert. Da heisst es unter anderem:        cherheit und Ordnung.» Der zweite Streich         •   an Demonstrationen teilnimmt
«Bereits während des hängigen Asylver­           folgt sogleich: In verschiedenen Presse­
fahrens stellt sich bei den dem Kanton Zug       artikeln während der Sommerferien wird              Erst einenhalb Jahre sind vergangen,
zugewiesenen Asylbewerbern das Problem,          darüber berichtet, dass das Bundesgericht       seitdem die Zwangsmassnahmen in Kraft
dass sich viele davon öfters in der Stadt        die Haftbedingungen im Zürcher Aus­             sind, und schon ist die letzte Maske gefal­
Zürich angeblich bei Freunden aufhalten          schaffungsgefängniss massiv gerügt hat.         len. Dissozial kann alles und jedeR sein.
11       Gazette du Parc sans Frontières

Finde die 8 Unterschiede

                                                        1        4        1 Spitzname des ehemaligen
                                                                            Polizeivorstehers Neukomm                        1
         6
                                                                          2 «Mir mached usem Staat
             1                Kreuzworträsel                          7     Gurkesalat und us de Polizei...»                 2
                                                        2
                                                                          3 Standort des Nothilfe-Lagers
             2                                                                                                               3
                                                                            für Familien im Kanton Zürich
                                                                          4 Wie hiess die Zwangs-                            4
                                   9       5            7                   massnahme "Durchsetzungs-
                                                                            haft" früher?                                    5
                                                             4
                                                                          5 Von welchem SP-Politiker
                                               12                     3     stammt folgendes Zitat?                          6
                          8                                                 «Ich mache Politik, keine
                                       8                                    Parteipolitik.»                                  7
                                                                             (Vor- und Nachname)
                                                                          6 Welche Pflanze wird zur                          8
10                                                                          Herstellung von Heroin
     9                                              6       11       13     verwendet?                                       9

                                                                          7 In welchen Zürcher Stadtkreis
                                                                                                               Lösungswort

                                                                                                                             10
                                                                            verzogen sich die Junkies
                                                                            nach der Platzspitzräumung?
                                                                                                                             11
                                                                          8 Wie hiess die grosse Zürcher
                                                                            Besetzung in den 90er-                           12
                                                                            Jahren?

                              10                5
                                                                          9 Unterirdische Anlage, in                         13
                                                                            denen Geflüchtete, die Not-
                                                                            hilfe beziehen, hausen müssen
                                                                          10 Wer hat uns verraten?

                 Äähm
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