SARS-COV-2 SOWIE COVID-19 UND NEUROLOGISCHE ERKRANKUNGEN - KLINIKEN KÖLN

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SARS-COV-2 SOWIE COVID-19 UND NEUROLOGISCHE ERKRANKUNGEN - KLINIKEN KÖLN
COVID-19

                                                                                                                                                                                                     Bildquelle: © stock.adobe.com | Vink Fan
Elektronischer Sonderdruck zur persönlichen Verwendung

                                                         State of the Art

                                                         SARS-CoV-2 sowie COVID-19 und
                                                         neurologische Erkrankungen
                                                         Volker Limmroth
                                                         Klinik für Neurologie am Klinikum Köln-Merheim, Köln

                                                         Mit Beschreibung der ersten Infek-          ratory syndrome coronavirus 2“ (SARS-            hochrangigen Journalen oft durch keinen
                                                         tionsfälle im Dezember 2019 in Wu-          CoV-2) konfrontiert waren, schon früh-           Review-Prozess liefen, um eine schnelle
                                                         han/China wurde relativ schnell klar,       zeitig auf. Es gibt daher zahlreiche Fallbe-     Publikation zu ermöglichen. Inzwischen
                                                         dass SARS-CoV-2 im Wesentlichen             richte aus den Epizentren der SARS-CoV-          sind jedoch die ersten größeren Fallseri-
                                                         schwerste respiratorische Symptome          2-Erkrankung wie Wuhan, Straßburg,               en mit neurologischen Ausfällen publi-
                                                         verursachen kann, viele Patienten           Norditalien, aber auch aus London und            ziert worden, die auf validem Datenma-
                                                         aber auch unter neurologischen und          verschiedenen amerikanischen Groß-               terial beruhen und auch durch reguläre
                                                         neuropsychiatrischen       Symptomen        städten. Die Definition neurologischer           Review-Prozesse gelaufen sind.
                                                         leiden. SARS-CoV-2 ist kein neurotro-       bzw. neuropsychiatrischer Symptome er-
                                                         pes Virus per Definition, kann das ZNS      folgte allerdings nicht einheitlich.             SARS-CoV-2 und das
                                                         jedoch direkt und indirekt schädigen.
                                                         Ein Großteil der neurologischen und         Sofern unspezifische Symptome wie
                                                                                                                                                      Nervensystem
                                                         neuropsychiatrischen Symptome ent-          Kopfschmerzen, Müdigkeit, Abgeschla-             Mit der im Verlauf des Jahres 2020 dras-
                                                         steht jedoch als sekundäre Folge der        genheit, Schwindel oder Übelkeit mit in          tisch steigenden Zahl von mit SARS-CoV-
                                                         Infektion und/oder längerer intensiv-       die Auswertung genommen wurden, er-              2 infizierten und erkrankten Menschen
                                                         medizinischer Behandlungen. Bis             gaben sich bei mehr als 80 % der jeweili-        weltweit stieg auch die Zahl der Berichte
                                                         jetzt sind nicht alle neurologischen        gen Fallserien neurologische oder neuro-         über neurologische und neuropsychiatri-
                                                         Symptome ätiologisch verstanden.            psychiatrische Symptome. Wurden je-              sche Symptome. SARS-CoV-2 nutzt wie
                                                         Diese Übersicht soll den derzeitigen        doch ausschließlich konkrete fokal-neu-          auch das früher bereits aufgetretene
                                                         Wissensstand zu neurologischen und          rologische Ausfälle und nachgewiesene            SARS-CoV den Angiotensin-converting-
                                                         neuropsychiatrischen Symptomen in           strukturelle Schädigungen des periphe-           enzyme-2(ACE2)-Rezeptor, um in eine
                                                         Verbindung mit SARS-CoV-2-Infek-            ren oder Zentralnervensystems erfasst,           Zelle zu gelangen. Da ACE2-Rezeptoren
                                                         tionen wiedergeben.                         war der Anteil von Patienten mit neuro-          im menschlichen Gehirn auf Gliazellen
                                                                                                     logischen oder neuropsychiatrischen              und Neuronen exprimiert werden, ent-
                                                         Neurologische und neuropsychiatrische       Symptomen deutlich geringer. Ergän-              fachte sich zu Beginn der Pandemie die
                                                         Symptome fielen den ärztlichen Kolle-       zend muss berücksichtigt werden, dass            Diskussion, ob die Einnahme von ACE-
                                                         gen, die bereits Anfang 2020 mit den ers-   in der Frühphase der Pandemie Manu-              Hemmern oder auch Angiotensin-Rezep-
                                                         ten Infektionen des „severe acute respi-    skripte zu den ersten Fallserien selbst in       tor-Blockern (AR-Blocker) die Infektion

                                                         22                                                                           Limmroth V. SARS-CoV-2 sowie COVID-19 … Kompendium ZNS 2020; 22–28
Merke
                                                                                                                                                           Die Tatsache, dass bisher – anders als
                                                                                                                                                           erwartet – keine eindeutigen Hinweise
                                                                                                                                                           dafür vorliegen, dass immunsuppri-
                                                                                                                                                           mierte Patienten besonders schwere
                                                                                                                                                           Verläufe aufweisen, könnte ein indirek-
                                                                                                                                                           ter Hinweis dafür sein, dass Immunsup-
                                                                                                                                                           pressiva exzessive Zytokinsynthesen
                                                                                                                                                           unterdrücken und damit möglicherwei-
                                                                                                                                                           se für die zweite Phase der Infektion
                                                                                                                                                           einen gewissermaßen „protektiven“
                                                                                                                                                           Effekt haben [9].

                                                                                                                                                           Ein dritter Schädigungsmechanismus
                                                                                                                                                           könnte durch die primäre Immunantwort
                                                                                                                                                           selbst im Sinne einer „unintended host
                                                                                                                                                           immune response“ nach der akuten In-
                                                            ▶ Abb. 1 Exemplarisch sei hier der Fall eines 57-jährigen COVID-19-Patienten dargestellt,      fektion entstehen. Klassische klinische
                                                            der aufgrund seiner Hypoxie und Dyspnoe 30 Tage beatmet werden musste. Als vaskuläre           Beispiele auf neurologischem Fachgebiet
Elektronischer Sonderdruck zur persönlichen Verwendung

                                                            Risikofaktoren bestanden eine arterielle Hypertonie, ein grenzwertiger Diabetes Typ 2, eine    sind das Guillain-Barré-Syndrom (GBS
                                                            Adipositas und ein Nikotinkonsum mit etwa 25 Packyears. Bei Extubation war eine deutlich       oder AIDP) und das Miller-Fisher-Syn-
                                                            prolongierte Aufwachphase mit weiter bestehender Desorientierung auffällig. Das MRT des
                                                                                                                                                           drom, über die inzwischen mehrfach bei
                                                            Kopfes zeigte umfangreiche, insbesondere periventrikulär gelegene Signalalterationen.
                                                                                                                                                           COVID-19-Patienten berichtet worden
                                                                                                                                                           ist [10, 11]. Allerdings ist dieser Mecha-
                                                         als solche, aber insbesondere die Ent-               gung diskutiert, die als „Eintrittspforte“   nismus infektiologisch bei verschiedenen
                                                         wicklung neurologischer Symptome be-                 ins zentrale Nervensystem (ZNS) mit der      Erregern bekannt und wäre nicht unbe-
                                                         einflussen könnte.                                   Folge direkter enzephalitischer Entzün-      dingt COVID-19-spezifisch.
                                                                                                              dungen dienen könnte [4, 5]. Diese The-
                                                                     Merke                                    se ist bisher jedoch nicht belegt.           Der vierte Schädigungsmechanismus
                                                         Inzwischen zeigten mehrere valide                                                                 könnte indirekt durch die systemischen
                                                         Studien, dass die Einnahme von ACE-                  Darüber hinaus konnten die bisher publi-     Effekte der Erkrankung selbst verursacht
                                                         Hemmern oder AR-Blockern weder die                   zierten Liquoranalysen bei mit SARS-         werden. Ein hoher Prozentsatz von Pa-
                                                         Entwicklung von COVID-19 bzw. den                    CoV-2 infizierten Patienten, die schwere     tienten, die längere Zeit intensivmedizi-
                                                         Verlauf begünstigt oder verschlechtert               Verläufe mit neurologischen Symptomen        nisch betreut werden müssen, weist im
                                                         noch vor der Infektion oder der Erkran-              entwickelten, weder SARS-CoV-2 per           Verlauf ihrer Grunderkrankung neurolo-
                                                         kung selber schützt [1–3].                           PCR (polymerase chain reaction) noch         gische Sekundärerkrankungen des zen-
                                                                                                              eine intrathekale Antikörpersynthese         tralen und auch peripheren Nervensys-
                                                         Potenzielle Schädigungs-                             nachweisen [6, 7]. Allerdings wurden in      tems auf, wie Enzephalopathien oder
                                                                                                              kleinen Berliner Kohorten intrathekale       Critical-illness-Neuropathien oder -Myo-
                                                         mechanismen                                          neuronale oder gliale Autoantikörper do-     pathien. Ein Großteil der bisher berichte-
                                                         Grundsätzlich könnte das Virus nach der-             kumentiert [7].                              ten neurologischen Syndrome scheint
                                                         zeitiger Vorstellung das Nervensystem                                                             aus diesem Mechanismus zu resultieren.
                                                         über 4 potenzielle Mechanismen schädi-               Der zweite und aus heutiger Sicht we-        Nicht unwahrscheinlich ist schließlich
                                                         gen, die sich theoretisch auch überlap-              sentlich plausiblere Schädigungsmecha-       auch, dass sich insbesondere der zweite
                                                         pen könnten. Zum einen könnte die virale             nismus kommt sekundär durch die im           und vierte Mechanismus bei zahlreichen
                                                         Schädigung der Nervenzellen über einen               Verlauf der Erkrankung hyperstimulative      Patienten überlappen.
                                                         direkten Kontakt verursacht werden,                  immunologische Antwort in Form einer
                                                         ähnlich der Herpes-simplex-Enzephalitis.             toxischen Zytokin-Ausschüttung („cyto-
                                                         Allerdings gibt es bisher, von wenigen               kine storm“) [1] zum Tragen. Zytokine
                                                                                                                                                           Neurologische Symptome
                                                         Einzelfallberichten abgesehen, keine Hin-            als Folge einer immunologischen Aktivie-     Die erste große Fallserie aus China [12]
                                                         weise darauf, dass das Virus direkt in das           rung können vielfältige Effekte haben,       mit 1099 bestätigten COVID-19-Patien-
                                                         zentrale oder auch periphere Nerven-                 die Blut-Hirn-Schranke überwinden und        ten beschrieb allgemeine klinische Cha-
                                                         system eindringt und dieses schädigt.                sind mit akut nekrotisierenden Enzepha-      rakteristika, u. a. auch neurologische/
                                                         Die häufig beobachtete Anosmie in der                lopathien assoziiert, die bereits verein-    neuropsychiatrische Symptome, analy-
                                                         Frühphase der SARS-CoV-2-Infektionen                 zelt berichtet worden sind [8].              sierte diese allerdings nicht im Detail.
                                                         wurde in diesem Zusammenhang als Zei-                                                             Demnach wiesen 13,6 % der Patienten
                                                         chen einer Bulbus-olphactorius-Schädi-                                                            Kopfschmerzen, 38,1 % eine Fatigue-

                                                         Limmroth V. SARS-CoV-2 sowie COVID-19 … Kompendium ZNS 2020; 22–28                                                                       23
COVID-19

                                                         Symptomatik, 14,9 % Myalgien und             V. a. unklare enzephalopathische Symp-           oder Psychosen litten, jedoch keine
                                                         Arthralgien und 1,4 % „zerebrovaskuläre      tome erhielten, zeigten sich leptomenin-         eindeutigen Auffälligkeiten in der
                                                         Erkrankungen“ auf. Die Prävalenz der         geale Anreicherungen. Bei 11 dieser Pa-          Kernspintomografie des Kopfs oder
                                                         Symptome war im Wesentlichen unab-           tienten war eine bifrontale Hypoperfu-           in der Liquordiagnostik zeigten
                                                         hängig von der Schwere des Verlaufs.         sion in der entsprechenden Gewichtung          ▪ inflammatorische ZNS-Syndrome
                                                         Nur die zerebrovaskulären Ereignisse         nachweisbar, und 2 Patienten zeigten             (12/43) einschließlich Enzephalitis
                                                         waren bei den schweren Verläufen knapp       kleinere Ischämien. Die Untersuchungen           (2/12 para- oder postinfektiös), akuter
                                                         doppelt so häufig wie bei den leichten       konnten jedoch nicht klären, welcher die-        disseminierter Enzephalomyelitis
                                                         Verläufen (2,3 vs. 1,2 %).                   ser kernspintomografischen Befunde pri-          (9/12) mit Hämorrhagien (5/9),
                                                                                                      mär mit der SARS-CoV-2-Infektion, mit            Nekrosen (1/9), Myelitiden (2/9) oder
                                                         Mao et al. [13] veröffentlichten die erste   einer     Critical-illness-Enzephalopathie       einer isolierten Myelitis (1/9)
                                                         Kohorte mit einer detaillierten Charakte-    oder auch mit Entzugssymptomen nach            ▪ zerebrale Ischämien (8/43) assoziiert
                                                         risierung neurologischer und neuropsy-       Absetzen und Ausschleichen der sedie-            mit prothrombotischen Zuständen,
                                                         chiatrischer Symptome. Von den ersten        renden Medikation assoziiert werden              insbesondere Thromboembolien
                                                         214 zwischen Mitte Januar und Mitte Feb-     konnte. Die im Übrigen nur bei wenigen         ▪ periphere neurologische Störungen
                                                         ruar in Wuhan komplett erfassten, an         Patienten (n = 7) durchgeführte Liquor-          wie Guillain-Barré-Syndrome (7/8)
                                                         „coronavirus disease 2019“ (COVID-19)        diagnostik blieb unergiebig. Der Nach-           und einem Fall einer sonstigen zentral-
                                                         erkrankten Patienten, zeigten 36,4 %         weis des Virus im Liquor durch RT-PCR            nervösen Plexopathie der Arme (1/8)
                                                         (78 Patienten) neurologische Symptome.       gelang bei keinem Patienten.                   ▪ sonstige zentralnervöse Störungen
Elektronischer Sonderdruck zur persönlichen Verwendung

                                                         Davon wiesen 46 % (36 Patienten) Be-                                                          (5/43).
                                                         nommenheit, 35 % (28 Patienten) Kopf-        Eine weitere Fallserie aus Wuhan [14] un-
                                                         schmerzen, 19 % (16 Patienten) eine          tersuchte bei insgesamt 221 konsekutiv                      Merke
                                                         veränderte Bewusstseinslage und 7,6 %        bestätigten COVID-19-Fällen von Januar         Die Autoren des Berichts aus dem Na-
                                                         (6 Patienten) akute vaskuläre Ereignisse     bis Februar 2020 akute zerebrovaskuläre        tional Hospital, Queen Square, London,
                                                         wie zerebrale Ischämien auf. Bei einem       Ereignisse (ZVE) und verglich klinische        weisen darauf hin, dass die neurologi-
                                                         weiteren Patienten kam es zu einem epi-      Aspekte, Therapie und Verlauf mit              schen Komplikationen der SARS-CoV-2-
                                                         leptischen Anfall. Interessanterweise war    COVID-19-Patienten ohne zerebrovasku-          Infektion Ähnlichkeiten mit früheren
                                                         auch das periphere Nervensystem bei          läre Ereignisse. Insgesamt erlitten knapp      Coronavirus-Epidemien haben, insbe-
                                                         einigen Patienten betroffen. So berichte-    6 % (13 Patienten) zerebrale Ischämien         sondere mit dem „severe acute respira-
                                                         ten 29 % (23 Patienten) Geschmacks-          (5 %), Sinusvenenthrombosen (0,5 %)            tory syndrome“ (SARS) von 2003 sowie
                                                         oder Geruchsstörungen. Bei dieser Fall-      oder intrazerebrale Blutungen (0,5 %). Er-     mit dem „middle east acute respiratory
                                                         serie sollte berücksichtigt werden, dass     wartungsgemäß waren Patienten mit              syndrome“ (MERS) von 2012. Die da-
                                                         Symptome wie Benommenheit oder               ZVE ca. 20 Jahre älter als Patienten ohne      maligen Fälle umfassten Enzephalopa-
                                                         Kopfschmerzen häufig mit anderen             ZVE (71,6 ± 15,7 vs. 52 ± 15,3 Jahre) und      thien, Enzephalitiden und sowohl ischä-
                                                         Symptomen wie hohem Fieber einhergin-        wiesen signifikant häufiger klassische         mische wie hämorrhagische Schlagan-
                                                         gen und sich daher Symptomgruppen            Risikofaktoren wie Hypertonus, Diabetes        fälle durch Hyperkoagulopathien, Sep-
                                                         nicht selten auch gegenseitig begünsti-      oder bereits andere Ereignisse in der          sis sowie Vaskulitiden und GBS [16].
                                                         gen und Prävalenzen damit anstiegen.         Anamnese auf. Auch die Mortalität war          Allerdings waren die Zahlen der damals
                                                                                                      höher als in der Gruppe ohne ZVE.              infizierten Patienten deutlich geringer
                                                         Ein kurzer Bericht aus Straßburg [6] über                                                   als in diesem Jahr mit SARS-CoV-2.
                                                         58 konsekutive, zwischen Anfang März         Ein kurzer Review [15] von insgesamt
                                                         und Anfang April stationär aufgenomme-       6 Fallserien (darunter auch die beiden         Neurologische
                                                         ne Patienten beschrieb bei 14 % (8 Patien-   oben referierten) erbrachte keine weite-
                                                         ten) neurologische Symptome bei Auf-         ren spezifischen Aspekte.
                                                                                                                                                     Vorerkrankungen
                                                         nahme, aber bei 69 % (40 Patienten) neu-                                                    Eine amerikanische Arbeitsgruppe [17]
                                                         rologische/neuropsychiatrische Sympto-       Ein ausführlicher Bericht aus dem Natio-       analysierte insgesamt 22 Studien, von
                                                         me im Verlauf der stationären Behand-        nal Hospital, Queen Square, London, be-        denen 19 retrospektiv neurologische
                                                         lung – insbesondere Agitation und Ver-       richtet über eine Serie von 43 an COVID-       Komplikationen im Rahmen von COVID-
                                                         wirrtheitszustände, die aber am ehesten      19 erkrankten Patienten mit neurologi-         19 untersuchten, aber auch den Verlauf
                                                         im Zusammenhang mit der intensivme-          schen oder neuropsychiatrischen Symp-          der Erkrankung bei Patienten mit bereits
                                                         dizinischen Behandlung standen. Darü-        tomen [11]. Anhand von klinischen, neu-        vorbestehenden neurologischen Erkran-
                                                         ber hinaus wiesen 67 % (39 Patienten) dif-   roradiologischen, neurophysiologischen         kungen. Aus den Veröffentlichungen wa-
                                                         fuse Zeichen von Schädigungen kortiko-       und paraklinischen Befunden wurden 5           ren von insgesamt 4014 stationär behan-
                                                         spinaler Bahnen wie gesteigerte Muskel-      Diagnosegruppen erstellt:                      delten Patienten 322 (8 %) zu identifizie-
                                                         eigenreflexe, Fußklonie oder Pyramiden-      ▪ Enzephalopathien (10/43), wobei die          ren, die bereits an einer neurologischen
                                                         bahnzeichen auf. Bei 8 von 13 Patienten,        Patienten überwiegend unter neuro-          Vorerkrankung litten. Das Hauptproblem
                                                         die zerebrale Kernspintomografien bei           psychiatrischen Symptomen wie Delire        der Auswertung war jedoch die Hetero-

                                                         24                                                                          Limmroth V. SARS-CoV-2 sowie COVID-19 … Kompendium ZNS 2020; 22–28
COVID-19

                                                         genität der Daten, da unterschiedliche        re Komorbiditäten entscheidender für           gesetzt werden sollten [20]. Bis auf ein-
                                                         Scores, Definitionen und Schwerpunkte         den klinischen Verlauf zu sein als eine        zelne Abweichungen waren die Empfeh-
                                                         genutzt und gesetzt wurden.                   zuvor verabreichte Immuntherapie.              lungen deckungsgleich und änderten an
                                                                                                                                                      den prä-COVID-19 geltenden Therapie-
                                                         Insgesamt waren Kopfschmerzen das am          Für andere neurologische Indikationsbe-        algorithmen wenig.
                                                         häufigsten in allen 22 Studien erwähnte       reiche liegen von Einzelfallberichten ab-
                                                         Symptom. Als Vorerkrankungen bestan-          gesehen derzeit noch keine Auswertun-                       Merke
                                                         den u. a. zerebrale Ischämien, epilepti-      gen größerer Kohorten vor.                     Als völlig unbedenklich (very low risk)
                                                         sche Anfälle, Enzephalitiden, Zustand                                                        hinsichtlich Neueinstellung und Thera-
                                                         nach Koma oder Bewusstlosigkeit, zere-                    Merke                              piefortsetzung gelten Interferonpräpa-
                                                         brale Ödeme, Zustand nach intra-              Die bisherigen Kohortenstudien geben           rate, Glatirameracetat und Terifluno-
                                                         zerebralen Blutungen oder Subarachnoi-        zurzeit keine Hinweise darauf, dass            mid. Als unbedenklich (low risk) werden
                                                         dalblutungen, Migräne, Neuropathien           Patienten mit neurodegenerativen Er-           Dimethylfumarat und Natalizumab ein-
                                                         oder Myasthenia und Demenz oder neu-          krankungen, anderen neurologischen             gestuft. Als vertretbar (intermediate
                                                         rokognitive Erkrankungen. Vier Studien        Erkrankungen oder demenziellen Ent-            risk) werden die S1P-Modulatoren
                                                         konnten dabei eindeutig zeigen, dass          wicklungen häufiger von COVID-19 be-           (Fingolimod, Siponimod, Ozanimod,
                                                         Patienten mit COVID-19, die auf einer         troffen sind. Für den jeweiligen Verlauf       Ponesimod) und Cladribin eingestuft.
                                                         Intensivstation behandelt werden muss-        erscheinen wie bei anderen Erkrankun-          Als risikoreich (high risk) werden Mito-
                                                         ten, im Durchschnitt älter und männ-          gen auch im Wesentlichen vaskuläre             xantron und Alemtuzumab gesehen,
Elektronischer Sonderdruck zur persönlichen Verwendung

                                                         lichen Geschlechts waren sowie eine be-       Risikofaktoren und Komorbiditäten              und von Neueinstellungen wird abge-
                                                         reits vorhandene Komorbidität, insbe-         entscheidend zu sein.                          raten.
                                                         sondere zerebrovaskuläre Erkrankungen,
                                                         aufwiesen. Statistisch gesehen war die        COVID-19: Konsequenzen                         Eine Stellungnahme der American Acade-
                                                         Mortalität bei Patienten, die unter                                                          my of Neurology liegt inzwischen auch
                                                         COVID-19 eine Pneumonie entwickelt
                                                                                                       auf die Therapie                               für die Behandlung von Epilepsien vor.
                                                         hatten, höher, wenn sie bereits an einer      Eine aktuelle Arbeit [19] analysiert die       Hierbei ändern sich die therapeutischen
                                                         zerebrovaskulären Erkrankung litten.          Schlaganfallversorgung in Frankreich,          Algorithmen nicht. Besondere Beach-
                                                                                                       Italien und Deutschland in den ersten          tung sollte lediglich möglichen medika-
                                                         Aus Italien liegen Fallserien zu Multiple-    Monaten der COVID-19-Pandemie. In              mentösen Interaktionen zwischen einzel-
                                                         Sklerose(MS)-Patienten vor, die an            Italien und Frankreich war die Versor-         nen Antikonvulsiva und Virustatika bzw.
                                                         COVID-19 erkrankten. Die größte Fallse-       gung von Schlaganfallpatienten nicht           Antibiotika geschenkt werden [21],
                                                         rie [18] berichtet über 232 MS-Patienten,     mehr flächendeckend gewährleistet und          ebenso wie der Vermeidung stationärer
                                                         von denen 57 positiv auf SARS-CoV-2 ge-       nur in einigen Zentren gesichert. Haupt-       Aufnahmen und Vorstellungen in Notauf-
                                                         testet waren und 175 Patienten ohne Vi-       grund für diese Unterversorgung war die        nahmen.
                                                         rusnachweis, die aber klinische Sympto-       Umwandlung vieler Stroke-Units zu
                                                         me für COVID-19 aufwiesen. Aus dieser         COVID-19-Stationen. In Deutschland
                                                         Kohorte erkrankten 10 Patienten (4 %)         konnte die Schlaganfallversorgung wie-         COVID-19 und Neurologie
                                                         schwer bis kritisch. Von diesen 10 Patien-    derum aufgrund des späteren und dann
                                                         ten verstarben 5 Patienten, wovon wie-        milderen Verlaufs in den Stroke-Units
                                                                                                                                                      – das Fazit
                                                         derum 4 unter vaskulären Risikofaktoren       fast überall aufrechterhalten werden.          ▪ SARS-CoV-2 ist kein neurotropes Virus,
                                                         wie Diabetes mellitus, arterieller Hyper-     Allerdings zeigte sich in allen 3 Ländern        kann jedoch schwere Schäden im zen-
                                                         tonie oder anderen Komorbiditäten wie         die Tendenz, dass Patienten mit tran-            tralen wie peripheren Nervensystem
                                                         Hepatitis oder Tuberkulose litten. Nur ei-    sient-ischämischen Attacken (TIAs) oder          insbesondere bei längerer Erkrankung
                                                         ner dieser Patienten war zuvor mit einer      nur milden Initialsymptomen nicht oder           verursachen.
                                                         Immuntherapie (Rituximab) behandelt           erst verspätet vorstellig wurden, weil sie     ▪ Die mit Abstand häufigsten Symptome
                                                         worden. Die 4 anderen verstorbenen            den primären Gang in eine Notaufnahme            auf neurologischem und neuropsychi-
                                                         Patienten hatten keine Immuntherapie          verhindern wollten.                              atrischem Gebiet sind Kopfschmerzen,
                                                         erhalten. Alle 5 schwer erkrankten Pa-                                                         Anosmie, Fatigue (auch nach über-
                                                         tienten, die überlebten, hatten eine          Bereits frühzeitig meldeten sich verschie-       standener Erkrankung) und Myalgien.
                                                         Immuntherapie erhalten (2-mal Ocrelizu-       dene Arbeitsgruppen und Kommissionen             Schwere Symptomkomplexe wie zere-
                                                         mab, Glatiramer, Fingolimod, Natalizu-        von Fachgesellschaften, die zur Verwen-          brale Ischämien, Sinusvenenthrombo-
                                                         mab), litten jedoch von 1 Fall mit Adiposi-   dung der einzelnen Immuntherapeutika             sen, Enzephalopathien, Enzephalitiden
                                                         tas abgesehen unter keinen vaskulären         in der Therapie der MS Stellung bezogen.         oder auch epileptische Anfälle werden
                                                         Risikofaktoren und waren im Durch-            Dabei wurde insbesondere dargestellt,            deutlich seltener berichtet und bewe-
                                                         schnitt ca. 10 Jahre jünger als die 5 ver-    mit welchen Medikamenten auch wäh-               gen sich statistisch im unteren einstel-
                                                         storbenen Patienten. Trotz der geringen       rend der Pandemie Neueinstellungen er-           ligen Bereich.
                                                         Fallzahl erschienen auch hierbei vaskulä-     folgten bzw. bestehende Therapien fort-

                                                         26                                                                           Limmroth V. SARS-CoV-2 sowie COVID-19 … Kompendium ZNS 2020; 22–28
COVID-19

                                                         ▪ Zerebrale Ischämien und Sinusvenen-               Korrespondenzadresse                                       SARS-CoV-2. N Engl J Med 2020; 382:
                                                                                                                                                                        2574–2576. doi:10.1056/NEJMc2009191
                                                           thrombosen entstehen offensichtlich
                                                           durch eine sekundär erhöhte koagulo-                                                                    [11] Paterson RW, Brown RL, Benjamin L et al.
                                                                                                                  Prof. Dr. Volker Limmroth                             The emerging spectrum of COVID-19 neu-
                                                           pathische Grundaktivität im Rahmen                     Klinik für Neurologie am Klinikum                     rology: clinical, radiological and laboratory
                                                           der Infektion oder auch septischer Zu-                 Köln-Merheim                                          findings. Brain 2020: awaa240.
                                                           stände.                                                Ostmerheimer Straße 200                               doi:10.1093/brain/awaa240
                                                                                                                  51109 Köln
                                                         ▪ Patienten, die vaskuläre Komplikatio-                                                                   [12] Guan WJ, Ni ZY, Hu Y et al. Clinical charac-
                                                                                                                  LimmrothV@kliniken-koeln.de
                                                           nen wie zerebrale Ischämien erleiden,                                                                        teristics of coronavirus disease 2019 in Chi-
                                                           weisen in den meisten Fällen bereits                                                                         na. N Engl J Med 2020; 382: 1708–1720.
                                                                                                             Literatur                                                  doi:10.1056/NEJMoa2002032
                                                           vaskuläre Komorbiditäten auf und sind
                                                           im Durchschnitt älter.                                                                                  [13] Mao L, Jin H, Wang M et al. Neurologic ma-
                                                                                                                                                                        nifestations of hospitalized patients with
                                                         ▪ Eine englische Studie weist darauf hin,            [1] Mehra MR, Desai SS, Kuy S et al. Cardiovas-
                                                                                                                                                                        coronavirus disease 2019 in Wuhan, China.
                                                           dass die Charakteristika neurologi-                    cular disease, drug therapy, and mortality
                                                                                                                                                                        JAMA Neurol 2020; 77: 1–9. doi:10.1001/
                                                                                                                  in COVID-19. N Engl J Med 2020; 382: e102.
                                                           scher Syndrome den klinischen Cha-                                                                           jamaneurol.2020.1127
                                                                                                                  doi:10.1056/NEJMoa2007621
                                                           rakteristika früherer Pandemien wie                                                                     [14] Li Y, Li M, Wang M et al. Acute cerebrovas-
                                                                                                              [2] Reynolds HR, Adhikari S, Pulgarin C et al.
                                                           SARS-CoV 2003 oder MERS 2012 äh-                                                                             cular disease following COVID-19: a single
                                                                                                                  Renin-angiotensin-aldosterone system
                                                           neln.                                                                                                        center, retrospective, observational study.
                                                                                                                  inhibitors and risk of COVID-19. N Engl J
                                                                                                                                                                        Stroke Vasc Neurol 2020; 2: svn-2020-
                                                         ▪ Bei länger erkrankten, intensivmedizi-                 Med 2020; 382: 2441–2448. doi:10.1056/
                                                                                                                                                                        000431. doi: 10.1136/svn-2020-000431
                                                           nisch behandelten oder beatmeten                       NEJMoa2008975
Elektronischer Sonderdruck zur persönlichen Verwendung

                                                                                                                                                                   [15] Asadi-Pooya AA, Simani L. Central nervous
                                                           Patienten zeigen sich in etwa 10 %                 [3] Mancia G, Rea F, Ludergnani M et al. Renin-
                                                                                                                                                                        system manifestations of COVID-19: a sys-
                                                           der Fälle enzephalopathische Verände-                  angiotensin-aldosterone system blockers
                                                                                                                                                                        tematic review. J Neurol Sci 2020; 413:
                                                                                                                  and the risk of COVID-19. N Engl J Med
                                                           rungen, die nicht primär ischämisch,                                                                         116832. doi:10.1016/j.jns.2020.116832
                                                                                                                  2020; 382: 2431–2440. doi:10.1056/
                                                           sondern eher entzündlich-degenerativ                   NEJMoa2006923                                    [16] Tsai LK, Hsieh ST, Chang YC. Neurological
                                                           sind und deren pathophysiologische                                                                           manifestations in severe acute respiratory
                                                                                                              [4] Gandhi S, Srivastava AK, Ray U et al. Is the
                                                           Mechanismen noch nicht vollständig                                                                           syndrome. Acta Neurol Taiwan 2005; 14:
                                                                                                                  collapse of the respiratory center in the
                                                                                                                                                                        113–119
                                                           verstanden sind.                                       brain responsible for respiratory break-
                                                                                                                                                                   [17] Herman C, Mayer K, Sarwal A. Scoping re-
                                                         ▪ Epileptische Anfälle werden ver-                       down in COVID-19 patients? ACS Chem
                                                                                                                  Neurosci 2020; 11: 1379–1381.                         view of prevalence of neurologic comorbi-
                                                           gleichsweise selten berichtet und tre-                                                                       dities in patients hospitalized for COVID-
                                                                                                                  doi:10.1021/acschemneuro.0c00217
                                                           ten meist im Zusammenhang von En-                                                                            19. Neurology 2020; 95: 77–84.
                                                                                                              [5] Lucchese G, Flöel A. Molecular mimicry
                                                           zephalitiden oder hohem Fieber auf.                                                                          doi:10.1212/WNL.0000000000009673
                                                                                                                  between SARS-CoV-2 and respiratory
                                                         ▪ In Deutschland – anders als in süd-                    pacemaker neurons. Autoimmun Rev 2020;           [18] Sormani MP. An Italian programme for
                                                           europäischen Ländern – scheint die                     19: 102556. doi:10.1016/j.autrev.2020.                COVID-19 infection in multiple sclerosis.
                                                           Schlaganfallversorgung durch COVID-                    102556                                                Lancet Neurol 2020; 19: 481–482.
                                                                                                                                                                        doi:10.1016/S1474-4422(20)30147-2
                                                           19 nicht signifikant beeinträchtigt                [6] Helms J, Kremer S, Merdji H et al. Neurolo-
                                                                                                                  gic features in severe SARS-CoV-2 infec-         [19] Bersano A, Kraemer M, Touzé E et al. Stroke
                                                           worden zu sein. Allerdings neigten
                                                                                                                  tion. N Engl J Med 2020; 382: 2268–2270.              care during the COVID‐19 pandemic: expe-
                                                           Patienten mit TIA oder milder Symp-                                                                          rience from three large European countries.
                                                                                                                  doi:10.1056/NRJMoa2008597
                                                           tomatik zu einer verspäteten Vorstel-                                                                        Eur J Neurol 2020. 10.1111/ene.14375.
                                                                                                              [7] Franke C, Ferse C, Kreye J et al. High fre-
                                                           lung in der Notaufnahme.                                                                                     doi:10.1111/ene.14375
                                                                                                                  quency of cerebrospinal fluid autoanti-
                                                         ▪ Bisher gibt es keine Hinweise darauf,                  bodies in COVID-19 patients with neurolo-        [20] Giovanonni G, Hawkes C, Lechner-Scott J et
                                                           dass Patienten mit neurologischen                      gical symptoms. medRxiv 2020.                         al. The COVID-19 pandemic and the use of
                                                           Grunderkrankungen häufiger an                          doi:10.1101/2020.07.01.20143214                       MS disease-modifying therapies. Mult Scler
                                                                                                                                                                        Relat Disord 2020; 39: 102073. doi:
                                                           COVID-19 erkrankten als Patienten                  [8] Poyiadji N, Shahin G, Noujaim D et al.
                                                                                                                                                                        10.1016/j.msard.2020.102073
                                                           ohne neurologische Erkrankungen.                       COVID-19-associated acute hemorrhagic
                                                                                                                  necrotizing encephalopathy: imaging fea-         [21] French JA, Brodie MJ, Caraballo R et al.
                                                         ▪ Die meisten therapeutischen Algorith-                                                                        Keeping people with epilepsy safe during
                                                                                                                  tures. Radiology 2020; 296: E119–E120.
                                                           men für neurologische Erkrankungen                     doi:10.1148/radiol.2020201187                         the COVID-19 pandemic. Neurology 2020;
                                                           werden durch COVID-19 nicht tan-                                                                             94: 1032–1037. doi:10.1212/WNL000000
                                                                                                              [9] Giovanonni G. Anti-CD20 immunosup-
                                                           giert.                                                                                                       000009632
                                                                                                                  pressive disease-modifying therapies and
                                                                                                                  COVID-19. Mult Scler Relat Disord 2020;
                                                                                                                  41: 102135. doi:10.1016/j.msard.2020.
                                                         Interessenkonflikt                                       102135
                                                                                                             [10] Toscano G, Palmerini F, Ravaglia S et al.
                                                               Der Autor gibt an, dass kein Interessenkon-        Guillain-Barré Syndrome associated with
                                                               flikt besteht.

                                                         28                                                                                        Limmroth V. SARS-CoV-2 sowie COVID-19 … Kompendium ZNS 2020; 22–28
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