Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
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Telefonseelsorge Berlin e. V. Depression – Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Geleitwort Geleitwort 3 Liebe Leserinnen und Leser, Beiträge 4 Psychisch krank zu sein ist immer noch ein gesellschaft- Depression - Therapie und Prävention 5 liches Tabu. In der Leistungsgesellschaft gilt Schwäche als Makel. Aus Scham und Angst vor Diskriminierung Mangelnde Versorgungsstrukturen 8 verbergen viele Menschen ihr Leiden. Maßlosigkeit und Depression 10 Die Depression ist aber längst eine Volkskrankheit, und Gesprächsangebot am Notruftelefon 12 depressive Einsamkeit führt erschreckend häufig zum Suizid. Im Jahr 2012 bildet Depression deshalb den Stress, Stressfolgen, Depression 14 Schwerpunkt unserer Suizidpräventionsarbeit. Wir möch- ten auf das Leiden im Schatten aufmerksam machen und zur Enttabuisierung von depressiven Erkrankungen bei- tragen. Diesem Ziel diente die Informationsveranstaltung „Depression – Das einsame Leiden“ am 7. Juni 2012. Impressum Gemeinsam mit Fachleuten aus unterschiedlichen Bereichen der Herausgegeben vom Vorstand der Telefonseelsorge Berlin e.V., August 2012 Gesundheitsversorgung erörterten wir, wie Redaktion: Anselm Lange Menschen, die an einer Depression erkrankt Suizid darf nicht als Beiträge: Dr. Stephan Köhler, Kristin Werner, Dr. Dirk Bunzel, sind, besser geholfen werden kann. einziger Ausweg aus dem Klaus Möllering, Priv.-Doz. Dr. med. Mazda Adli Leiden gesehen werden Fotos: Jörg Kandziora In dieser Broschüre präsentieren wir die Druck: DeineStadtKlebt.de wichtigsten Beiträge der Referentinnen und Referenten. Unser herzlicher Dank gilt den Referenten für die ausge- sprochen interessante Diskussion. Herzlich danken wir der KD-Bank Mit freundlicher Unterstützung von Stiftung und der Druckerei DeineStadtKlebt für die Unterstützung so- wie dem Tagesspiegel, dem Gastgeber unserer Fachtagung. Martina Kulms | Telefonseelsorge Berlin e. V. 2 „Depression - Das einsame Leiden“ Telefonseelsorge Berlin e. V. 3
Beiträge Depression - Therapie und Prävention Dr. Stephan Köhler Dr. Stephan Köhler Charité Universitätsmedizin Berlin Die Entstehung einer Depression ist nicht monokausal, sie lässt sich nicht auf einen einzelnen Grund zurückführen. Zumeist handelt es sich um eine Kombination verschiedener Ursachen. Diese fallen in drei Hauptkategorien: 1) eine genetische Veranlagung, 2) spezifische Kristin Werner Persönlichkeitsaspekte, die jemand im Lauf seines Lebens durch Kriseninterventionsstation MItte seine sozialen Kontakte und seine Erziehung entwickelt hat und 3) besondere auslösende Momente, wie bei- spielsweise der Verlust der Arbeit oder eines geliebten Menschen. Depression ist eine potentiell lebensgefährdende Es ist zu unterscheiden zwischen einer An- Erkrankung Dr. Dirk Bunzel passungsstörung, die den Umgang mit einer Soziologe und Coach schwierigen Lebenssituation kennzeichnet und einer Depression, die über einen deutlich längeren Zeitraum wesentlich mehr Kriterien erfüllt. Mindestens 60 bis 70 Prozent der depressiv Erkrankten haben im Verlauf der Krankheit Suizidgedanken bis hin zu Suizidversuchen. Die tatsächliche Suizidrate kann 10 bis 14 Prozent betragen. Klaus Möllering Warnzeichen für eine Depression sind häufig Veränderungen in all- Ehrenamtlicher Mitarbeiter am Notruf der tagstypischen Verhaltensweisen: all das, was früher Spaß gemacht Telefonseelsorge Berlin e. V. hat, ist nunmehr egal. Dazu können Schlafstörungen, Appetitlosig- keit, Konzentrationsstörungen kommen. Wenn sich alltägliche Dinge deutlich verändern, ist ein Nachfragen wichtig. Ein deutliches Warn- zeichen für Suizidalität, für Lebensüberdruss ist, wenn der Leidens- Priv.-Doz. Dr. med. Mazda Adli druck, der zunächst da ist und manchmal auch kommuniziert wird, Charité Universitätsmedizin Berlin plötzlich umschlägt und eine gewisse Ruhe einsetzt. Studien belegen, dass ca. 95 Prozent der Suizide auf psychische Erkrankungen zurückgehen. Dies sind Erkrankungen, die an sich gut behandelbar sind. Wir erleben immer wieder, dass Suizidalität, die 4 „Depression - Das einsame Leiden“ Telefonseelsorge Berlin e. V. 5
im Rahmen einer depressiven Erkrankung auftritt, nach einer Behand- lung dann auch weg ist. Häufig können Menschen nicht einmal mehr nachvollziehen, was mit ihnen los war. Eine depressive Erkrankung ist wie eine andere körperliche Erkrankung: ein vorrübergehender Moment. Das zeigt, wie wichtig es ist, in diesem Moment da zu sein – weil er vorrübergehend ist. Bleibt eine Depression unbehandelt, so assoziieren sich nicht selten zwei weitere Erkrankungen: Angst- und Suchterkrankungen. Angst die die gleichen Symptome einer Depression machen können: etwa kann bereits Teil der depressiven Symptomatik sein, sie kann sich Schilddrüsen- oder Bluterkrankungen. Auch Medikamente können allerdings auch verselbständigen und eine eigenständige Angster- Nebenwirkungen generieren, die einer Depression ähnlich sind. krankung darstellen. Und auch Suchterkrankungen, insbesondere die Alkoholabhängigkeit, ist mit Depression häufig vergesellschaftet. Fortschritte in der Diagnostik erlauben uns eine Differenzierung Der Alkoholkonsum erfolgt dann im Sinne einer Selbstbehandlung in Subformen der Despression und deren Schweregrade. Auch mit dem Ziel, sich nicht mehr so viele Gedanken machen zu müssen, die Therapie ist differenziert. Bei milderen Formen der Depres- das Grübeln zu dämpfen. sion reichen gegebenenfalls Sport, eine Strukturierung des Alltags, Stressverzicht und Gespräche. Bei einem höheren Schweregrad In der Versorgung von depressiv Erkrankten sind niedrigschwelli- kann der Einsatz von Medikamenten sinnvoll sein. Eine Reihe von ge Kontakt- und Gesprächsangebote das Wesentliche. In diesem sehr effektiven Antidepressiva steht mittlerweile zur Verfügung. Rahmen kann zunächst einmal kommuniziert werden, dass es ein Problem gibt. Gespräche Schließlich besteht die Möglichkeit einer Psychotherapie, im ambu- Wesentlich in der Therapie ermöglichen dem Erkrankten den Zugang zum lanten wie im stationären Rahmen. In der Psychotherapie stehen viele sind Kontakt- und Gesundheitssystem. Es geht um Hilfestellungen, wirksame Ansätze zur Verfügung, benannt sei hier nur die Verhaltens- Gesprächsangebote bevor der Erkrankte den Chronifizierungspro- therapie. Es gibt also verschiedene anwendbare Strategien, abhängig zess durchlaufen und endlich einen richtigen vom Schweregrad der Depression. Und häufig ist es nicht das eine Ansprechpartner gefunden hat. Entscheidend ist hier auch der Haus- oder das andere, sondern eine Kombination aus verschiedenen Kom- arzt. Da beginnt Behandlung im Kontakt. So lassen sich viele schwere ponenten, die eine wirksame Therapie ausmacht. Formen der Depression vermeiden. Der größte Handlungsbedarf besteht aber an Angeboten, um In der Behandlung der Depression gibt es mittlerweile ein umfang- depressiv erkrankte Menschen den Zugang zum Versorgungssystem zu reiches und effektives Spektrum an Möglichkeiten. Zunächst muss erleichtern. Viel Leiden kann hier gemildert werden. Zudem würde ausgeschlossen werden, dass nicht organische Ursachen für die Sym- ich mir wünschen, dass wir viel mehr tun für die gesellschaftliche ptome verantwortlich sind. Dies ist insbesondere auch bei Depressio- Teilhabe Erkrankter, für deren Reintegration in Arbeitsprozesse und in nen im Alter wichtig. Es gibt verschiedene körperliche Erkrankungen, das soziales Leben. 6 „Depression - Das einsame Leiden“ Telefonseelsorge Berlin e. V. 7
Mangelnde Versorgungsstrukturen Kristin Werner eine Alternative bieten kann, einen Ausweg oder ein Begleiten, dann lässt sich die Suizidalität deutlich verringern. Obwohl die Therapeuten-Dichte in Berlin die höchste in Deutsch- Als nächste Möglichkeit nach der vollstationären Behandlung kann land ist, so ist es doch unglaublich schwer, hier zügig einen Termin eine Tagesklinik sinnvoll sein, in der man beispielsweise von neun bei einem ambulanten Psychiater zu bekommen. Die Wartezeit be- bis 16 Uhr ist, den Rest des Tages aber zuhause verbringt. Manchmal trägt häufig acht bis zwölf Wochen. Das ist eine Katastrophe für einen kann eine ambulante Ergotherapie oder eine Hilfe suchenden Menschen, der vielleicht gerade ein besonders kriti- ambulante Arbeitstherapie helfen, um wieder Depression ist auch für sches Ereignis durchlebt oder der Suizidgedanken nachgeht. zu starten und in den Alltag hineinzukommen. Angehörige eine besondere Belastung Häufig bleibt den Krisendiensten nur Zumeist reagieren Angehörige von depressiv die Möglichkeit, die Person an die Erkrankten zu Anfang geduldig und unter- Notaufnahme der entsprechenden stützend. Doch irgendwann kommt der Satz: „Jetzt reiß dich doch Krankenhäuser zu verweisen, wo mal zusammen, jetzt mach doch mal!“ Doch der depressiv Erkrankte der diensthabende Arzt entscheiden kann nicht so, wie die Angehörigen es von ihm wünschen. Erst nach muss, ob eine stationäre Aufnahme der Diagnose der Krankheit tritt in gewisser Weise eine Erleichterung notwendig ist. Kommt er zu dem ein, denn dann setzen Gespräche ein über das Krankheitsbild und Schluss, dass diese nicht notwendig die Möglichkeiten der Therapie. Hilfsangebote für Angehörige sind ist, dann ist es für die Person frus- ebenfalls rar, sie beschränken sich im Grunde auf Selbsthilfegruppen. trierend, ohne weitere Behandlung nach Hause geschickt zu werden. Menschen, die depressiv erkrankt sind, müssen schneller Klarheit darüber erhalten, was mit ihnen los ist. Es ist unzumutbar, dass sie Auf unserer Krisenstation versuchen wegen mangelnder Versorgungsstrukturen wir, mit den Erkrankten wie auch wochenlang umherirren müssen. Diese Lei- Die Leidenszeit muss den Angehörigen zu sprechen, um denszeit, in der sich neben der Depression verkürzt werden ein besseres Verständnis für die Erkrankung herzustellen: wie kann auch ein Suchtverhalten zu Alkohol oder an- ich Symptome erkennen, welche Medikamente können eingesetzt deren Drogen ausprägen kann, muss verkürzt werden, um größere werden, usw. Häufig führen wir gleich vor Ort Paar- oder Familien- Schäden zu vermeiden. gespräche. Ich wünsche mir eine offene Sprechstunde bei einem Psychiater, Aus meiner Erfahrung heraus sagt der suizidale Mensch meist nicht: der sich Zeit nimmt für eine ausführliche Anamnese und der dem „Ich möchte nicht mehr leben.“ Er sagt viel mehr: „Ich möchte so Erkrankten eine Sicherheit gibt oder zumindest eine Richtung oder nicht mehr leben.“ Wenn man zu ihm eine Beziehung herstellen und Idee, wo er sich hinwenden kann. 8 „Depression - Das einsame Leiden“ Telefonseelsorge Berlin e. V. 9
Maßlosigkeit und Depression Dr. Dirk Bunzel Wie kann ich mich abgrenzen, aber dennoch in Kontakt bleiben? Darüber hinaus bietet Aikido den Vorteil, Prozesse – wie beispiels- weise eine Therapie – in eine Körperlichkeit zu bringen. Wir leben in einer Gesellschaft der Maßlosigkeit. Die Ansprüche an andere und an sich selbst werden enorm hochgeschraubt. Menschen sind glücklich darüber, dass sie 70 Stunden in der Woche arbeiten. Die Sensibilisierung in der Wirtschaft ist deutlich gestiegen Andere meinen, im Alter von 60 Jahren unbedingt noch Marathon laufen zu müssen. Das sind Ansprüche, an Im Wirtschaftsbereich ist die Sensibilisierung für den Themenkom- denen Menschen früher oder später scheitern plex psychische Erkrankungen - und insbesondere Burnout - in den Realistische Ansprüche müssen. vergangenen Jahren deutlich gestie- an uns selber und an gen. Unternehmerisch und volks- andere stellen Das Gefühl persönlichen Scheiterns kann wirtschaftlich ist Depression ein zu Aggression und gegebenenfalls auch zu Kostenfaktor geworden. Das zwingt depressiven Erkrankungen führen. Wir können nicht stetig jünger, Unternehmen zu handeln. Es gibt flexibler, erfolgreicher werden. Es geht darum, realistische Ansprüche eine Reihe von Initiativen mit dem an uns selbst zu stellen und diese auch an unser Umfeld zurück zu Ziel, humanere Arbeitsbedingungen kommunizieren. Wir müssen lernen, uns abzugrenzen und nein zu herzustellen. sagen, beispielsweise zu unrealistischen und überzogenen Anforde- rungen im Job. Bei der Wiedereingliederung von Erkrankten hat Burnout durchaus Es ist wichtig, in einer Situationen, in der sich jemand überfordert eine soziale Komponente: Burnout fühlt, auf die eigenen Ressourcen zu schauen: was kann ich in mei- ist längst nicht so stigmatisiert wie nem Alter und mit den Kompetenzen, die ich habe, erreichen? Was Depression. Burnout ist irgendwo gesellschaftlich akzeptiert, insbe- ist eine mögliche Entwicklungsperspektive für mich? Dieser Ansatz sondere im Wirtschaftsbereich. Menschen fällt es leichter zu sagen: ist oftmals sinnvoller, als sich zu verrenken, um anderen Verhaltens- „Ich war ausgebrannt. Doch nun möchte ich wieder Eingliederung anforderungen oder Vorgaben gerecht zu werden. finden in das Unternehmen.“ Eine Parallele tut sich hier auf zum Aikido, einer japanischen Kampf- Menschen müssen nach ihrer Erkrankung die Möglichkeit bekom- kunst, in der es nicht darum geht, jemanden anzugreifen oder zu men, nicht nur wieder ins Berufsleben einzusteigen. Auch in ande- überwältigen. Die Kunst besteht vielmehr darin, die Energie des ren sozialen Bereichen müssen sie teilhaben können. Eine Offenheit Gegenübers aufzunehmen und sie abzuleiten, umzulenken. Aikido muss entstehen, ermöglicht durch mehr Informationen und durch rührt an die Fragen: wie kann ich führen ohne zu dominieren? mehr Wissen über das Krankheitsbild. 10 „Depression - Das einsame Leiden“ Telefonseelsorge Berlin e. V. 11
Gesprächsangebot am Notruftelefon Klaus Möllering Manchmal kann es hilf- reich sein, das Problem zu begrenzen und somit Am Notruftelefon erleben wir Menschen in Krisen, zum Beispiel weil zu vermitteln, dass das sie arbeitslos geworden sind, aufgrund von Instabilität in der Familie, Problem nicht alles im weil sie einsam sind, weil sie aus einer ganz anderen Kultur nach Leben überschwemmt. Deutschland gekommen sind und sich damit nur schwer zurecht fin- den können. Oft kommen mehrere Faktoren zusammen. In Gesprächen mit An- gehörigen von depressiv Bei einigen Anrufern bemerkt man schon vom ersten Wort an eine Erkrankten kommt eine Niedergeschlagenheit, eine Bedrücktheit, die scheinbar das ganze ganze Breite von Gefüh- Leben eingefärbt hat. Hierüber können die Anruferinnen und Anrufer len zum Ausdruck: Ärger, mit uns sprechen – ohne einen Termin machen zu müssen, ohne auf Frustration, Empörung. einer Warteliste zu landen. Wir hören zu, und das kann ein erster Viel Negatives hat sich häufig angehäuft, verkeilt und verklemmt. wichtiger Schritt in der Lösung einer Krisen- Dies gilt es im Gespräch zu lösen, um dann mit dem anrufenden Am Notruftelefon einen situation sein. Angehörigen ein wenig zu sortieren, was hinter der Niedergeschla- Zugang über Mitgefühl und genheit stecken könnte. An welcher Stelle der Skala ist derjenige, von Sympathie finden Für viele Menschen ist es allein schon wichtig dem die Rede ist? Hängt er rum und weiß nicht, was er mit seinem zu wissen, dass sie uns anrufen können. Auch Leben anfangen soll, ist er in eine tiefe Starre gefallen, stellt er den wenn sie das Gesprächsangebot im Moment Sinn seines Lebens in Zweifel? gar nicht annehmen, so gibt es ihnen die Sicherheit, dass sie im Zwei- felsfall mit ihrem Problem nicht allein sind. Da ist ein Netz, das sie Wir versuchen im Gespräch gemeinsam ein Gefühl dafür zu entwi- auffangen kann. ckeln, was diese unterschiedlichen Schweregrade bedeuten könnten. Ist es vielleicht doch eine Erkrankung? Zumeist geben Anruferinnen Den Anrufer anzunehmen, in einer Balance von Verständnis und Halt, und Anrufer ein eindrückliches Bild der Situation. Wir spiegeln dieses darum geht es in Krisengesprächen. Und insbesondere in Gesprä- Bild häufig nur zurück, ermöglichen dadurch aber manchmal neue chen mit Menschen, die dem Suizid nahe sind. Sichtweisen. Hier muss man in besonderer Weise auf Andeutungen und emotio- Die Kunst am Notruftelefon ist, nichts zu wollen, nichts zu erzwingen. nale Untertöne achten. Mit offenem Herzen zuhören, Raum und Zeit Wenn es gelingt, im Gespräch von einer halben oder einer Stunde, geben. Allerdings darf sich der Telefonseelsorger auch nicht in den eine kleine Veränderung hinzubekommen, dann ist dies schon sehr Strudel hineinziehen lassen. viel Wert. 12 „Depression - Das einsame Leiden“ Telefonseelsorge Berlin e. V. 13
Stress, Stressfolgen, Depression Priv.-Doz. Dr. med. Mazda Adli können. In der Evolution hat sich Stress als ein sehr vernünftiges und komplexes System entwickelt, das uns erlaubt, uns Gefahrensituatio- nen anzupassen und notwendige Ressourcen zu mobilisieren. Im folgenden Beitrag nähere ich mich den depressiven Erkrankun- gen aus der Vogelperspektive. Dabei ist es notwendig, dem Thema Die Schaubilder illustrie- Stress einen großen Schwerpunkt einzuräumen, denn wir wissen ren verschiedene Stress- heute, dass Stress eine äußerst relevante Rolle in der Entstehung von mechanismen. In einer Depressionen einnimmt. normalen Stressreaktion folgt der Aktivitätsphase, Darüber hinaus möchte ich zur Klärung der Begriffe Stressfolge- die durch den Stressor erkrankungen, Burnout und Depression beitragen. Seit ein, zwei Jah- ausgelöst wurde, eine aus- ren ziehen diese Erkrankungen ein großes mediales Interesse auf sich, geprägte Erholungsphase. spätestens seitdem durch diese Erkrankungen offenbar unser Gesund- Bei einer Dauerbelastung, heitssystem und auch unsere Volkswirtschaft unter erheblichen Druck bei der ein Stressor dem geraten sind. Doch wie unterscheiden sich die Erkrankungen, wo gibt anderen folgt, kommt es es Überlappungen? aber zu keiner ausreichen- den Erholung. Stress – was haben wir uns darunter vorzustellen? Was am Stress ist gesund, und wo beginnt Krankheit? Stress ist zunächst einmal eine Die Stressforschung zeigt, unspezifische Reaktion des Körpers und der Psyche auf psycholo- dass in einer Situation der gische Anforderungen, die wir vor uns haben. Er Dauerbelastung nach und Die WHO sieht Stress entsteht beim Menschen aus der Erwartung einer nach unsere Fähigkeit ver- als eine der größten unmittelbar bevorstehenden aversiven Situation. loren geht, Erholung zu Gesundheitsgefahren Stress fällt umso stärker aus, je mehr wir das Ge- empfinden und wirksam des 21. Jahrhunderts fühl haben, den Anforderungen nicht gewachsen werden zu lassen. Wir ver- zu sein und keine ausreichenden Ressourcen zur lernen, das System recht- Verfügung zu haben. Die Kernbotschaft ist: Stress entsteht allein im zeitig „herunterzukühlen“. Kopf, nirgendwo sonst. Prävention muss folglich hier ansetzen, um Die Folge der Erholungs- Stressfolgeerkrankungen – einschließlich der Depression – wirksam unfähigkeit sind verschie- zu verhüten. dene Krankheiten, und hier insbesondere die Er- Stress ist evolutionsbiologisch ein Überlebensvorteil. Stress hilft, dass schöpfungsdepression, der wir rechtzeitig eine Gefahrensituation erkennen und darauf reagieren so genannte Burnout. 14 „Depression - Das einsame Leiden“ Telefonseelsorge Berlin e. V. 15
Burnout – Versuch einer Definition Das zweite wichtige Modell ist das der beruflichen Gratifikations krisen. Es betont das Missverhältnis zwischen beruflicher Veraus- Der Begriff „Burnout“ wurde 1973 vom österreichisch stämmigen gabung und erfolgter Belohnung. Wir empfinden Stress, wenn das, Psychoanalytiker Herbert Freudenberger geprägt. Freudenberger be- was von Vorgesetzten oder Kollegen zurückkommt, als nicht adäquat tonte, dass es sich dabei um kein punktuelles Ereignis, sondern um für unseren Einsatz angesehen wird. Das kann materieller Natur sein, einen Prozess handelt, der sich allmählich entlang des nebenstehen- wie auch immaterieller, in Form von Lob und Anerkennung. In dieser den Phasenmodells entwickelt. Über Jahre entstehen dann Sympto- Konstellation schnellt der Stressindex nach oben. me, die sehr an die Depression erinnern: innere Leere, Angstgefühle und schließlich das komplette depressive Spektrum. Burnout trifft oft die besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Unternehmens. Sie haben einen hohen Anspruch an sich selbst, ein hohes persönliches Engagement mit anderen Menschen, identifizie- Burn-out Phasenmodell (nach Herbert Freudenberger) ren sich mit dem Betrieb, neigen zu Perfektionismus. 1. Übertriebener Ehrgeiz Die Überlappung von Burnout und Depression wird deutlich, wenn man die Symptome der Erkrankungen vergleicht: gedrückte Stim- 2. Verstärkter Einsatz mung, Freudlosigkeit, Interessenverlust, Konzentrationsstörung, 3. Vernachlässigung eigener Bedürfnisse Antriebsstörung. Zu diesen psychischen Symptomen kommen häufig 4. Rückzug körperliche Symptome 5. Innere Leere, Angstgefühle, Suchtverhalten, hinzu, wie Schmer- von jemandem abhängig sein zen, Appetitlosigkeit, 6. Zunehmende Sinnlosigkeit und Desinteresse Störungen oder Verän- derungen des Schlaf- 7. Körperliche, ggf. lebensbedrohliche Erschöpfung rhythmus, Veränderun- gen der Libido. Burnout und Depres- Es gibt zwei bedeutende psychologische Modelle für die Entstehung sion sind nicht scharf eines Burnouts. Das Anforderungs-Kontroll-Modell hebt das Missver- zu trennen. Burnout ist hältnis der Anforderungen, die wir oder andere an uns zum Beispiel am ehesten ein Subtyp am Arbeitsplatz stellen, und den uns dort gegebenen Handlungsspiel- der Depression. Es kann eine Vorstufe oder eine unterschwellige De- räumen hervor. Wir empfinden Stress, wenn wir dauerhaft zu wenig pression sein. Depression und Burnout unterscheiden sich konzepti- Spielraum oder Einsatzmöglichkeiten für unsere Fähigkeiten haben, onell, aber nicht im Erscheinungsbild. wenn wir zu wenig Kontrolle über unseren Arbeitsplatz haben. 16 „Depression - Das einsame Leiden“ Telefonseelsorge Berlin e. V. 17
Wie lassen sich Stress und Erschöpfungsdepressionen entgegenwirken? Vorstand der Telefonseelsorge Berlin e.V. So banal es klingen mag, dem Sport kommt eine bedeutende the- rapeutische und präventive Rolle zu. Es ist eindeutig nachgewiesen, dass Ausdauersport wie Walking, Radfahren, Schwimmen dazu führt, Geschäftsführender Vorstand dass sich unsere Stresshormone normalisieren. Durch Sport werden Neuronen neu gebildet, er fördert das Nervenwachstum. Wolfgang Barthen, Vorsitzender Peter Karge, stellv. Vorsitzender Ein weiterer Schlüssel ist Schlaf, hier erholt sich der gesamte Organis- Ralf Nordhauß, Schatzmeister mus. Wichtig ist allerdings, dass Schlaf umso erholsamer ist, je näher Martin Deschauer, Schriftführer er an unseren Chronotyp (der unsere liebste Schlafenszeit definiert) angepasst ist. Erweiterter Vorstand Ein so genanntes „regeneratives Stressmanagement“ ist zentral in der Vermeidung von stress-assoziierten Depressionen. Das System muss Petra Linke gezielt zur Erholung gebracht werden. Dabei Sonja Müseler ist Erholung nicht jeden Tag dasselbe. Die Form Hans Zimmermann Stressmanagement: der Erholung ist gebunden an die Belastungen, Die Form der Erholung die wir an einem bestimmten Tag erlebt haben. der erlebten Belastung Im Stressmanagement geht es darum zu erken- anpassen nen, genau welche Form und Dauer der Erho- lung wir zu einer gegebenen Zeit benötigen. Vorstand der Stiftung Telefonseelsorge Berlin Manchmal ist dies Ruhe (Couch; Zurückgezogenheit), manchmal Sinnstiftung (eine neue Sprache lernen; Kirche), manchmal Ausgleich Dr. Christoph Rhein, Vorsitzender (geselliges Beisammensein; Spazieren gehen). Jürgen Hesse, stellv. Vorsitzender Sonja Müseler Stress ist in ganz zentraler Weise ursächlich für Depression und Burn- out. In dieser Erkenntnis steckt ein Arbeitsauftrag an die Medizin, aber auch an die Gesellschaft. Über Stress muss neu diskutiert wer- den. Und ein neuer gesellschaftlicher Konsens muss gefunden wer- den: wie schaffen und wertschätzen wir Arbeit, die psychisch gesund hält und nicht krank macht? 18 „Depression - Das einsame Leiden“ Telefonseelsorge Berlin e. V. 19
Telefonseelsorge Berlin e.V. Konfliktberatung - Suizidverhütung Nansenstraße 27 12047 Berlin Büro 030 / 613 50 23 Fax 030 / 624 97 41 mail@telefonseelsorge-berlin.de www.telefonseelsorge-berlin.de Spenden-Konto 498 18 105 Postbank Berlin, BLZ 100 100 10 Wir helfen auf die Beine ... 0800 111 0 111 (gebührenfrei)
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