Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus

 
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Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Telefonseelsorge Berlin e. V.

   Depression –
   Das einsame Leiden
   Dokumentation der Fachtagung
   7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Geleitwort

     Geleitwort                                                                  3   Liebe Leserinnen und Leser,
     Beiträge                                                                    4   Psychisch krank zu sein ist immer noch ein gesellschaft-
     Depression - Therapie und Prävention                                        5   liches Tabu. In der Leistungsgesellschaft gilt Schwäche
                                                                                     als Makel. Aus Scham und Angst vor Diskriminierung
     Mangelnde Versorgungsstrukturen                                             8   verbergen viele Menschen ihr Leiden.
     Maßlosigkeit und Depression                                                10    Die Depression ist aber längst eine Volkskrankheit, und
     Gesprächsangebot am Notruftelefon                                          12    depressive Einsamkeit führt erschreckend häufig zum
                                                                                      Suizid. Im Jahr 2012 bildet Depression deshalb den
     Stress, Stressfolgen, Depression                                           14    Schwerpunkt unserer Suizidpräventionsarbeit. Wir möch-
                                                                                      ten auf das Leiden im Schatten aufmerksam machen und
                                                                                     zur Enttabuisierung von depressiven Erkrankungen bei-
                                                                                      tragen. Diesem Ziel diente die Informationsveranstaltung
                                                                                     „Depression – Das einsame Leiden“ am 7. Juni 2012.
    Impressum
                                                                                     Gemeinsam mit Fachleuten aus unterschiedlichen Bereichen der
    Herausgegeben vom Vorstand der Telefonseelsorge Berlin e.V., August 2012
                                                                                     Gesundheitsversorgung erörterten wir, wie
    Redaktion: Anselm Lange                                                          Menschen, die an einer Depression erkrankt
                                                                                                                                          Suizid darf nicht als
    Beiträge: Dr. Stephan Köhler, Kristin Werner, Dr. Dirk Bunzel,                   sind, besser geholfen werden kann.
                                                                                                                                       einziger Ausweg aus dem
    Klaus Möllering, Priv.-Doz. Dr. med. Mazda Adli
                                                                                                                                        Leiden gesehen werden
    Fotos: Jörg Kandziora                                                            In dieser Broschüre präsentieren wir die
    Druck: DeineStadtKlebt.de                                                        wichtigsten Beiträge der Referentinnen und
                                                                                     Referenten. Unser herzlicher Dank gilt den Referenten für die ausge-
                                                                                     sprochen interessante Diskussion. Herzlich danken wir der KD-Bank
    Mit freundlicher Unterstützung von                                               Stiftung und der Druckerei DeineStadtKlebt für die Unterstützung so-
                                                                                     wie dem Tagesspiegel, dem Gastgeber unserer Fachtagung.

                                                                                     Martina Kulms | Telefonseelsorge Berlin e. V.

2                                           „Depression - Das einsame Leiden“             Telefonseelsorge Berlin e. V.                                           3
Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Beiträge                                                      Depression - Therapie und Prävention
                                                                  Dr. Stephan Köhler
    Dr. Stephan Köhler
    Charité Universitätsmedizin Berlin
                                                                  Die Entstehung einer Depression ist nicht monokausal, sie lässt sich
                                                                  nicht auf einen einzelnen Grund zurückführen. Zumeist handelt es
                                                                  sich um eine Kombination verschiedener Ursachen. Diese fallen in
                                                                  drei Hauptkategorien: 1) eine genetische Veranlagung, 2) spezifische
    Kristin Werner                                                Persönlichkeitsaspekte, die jemand im Lauf seines Lebens durch
    Kriseninterventionsstation MItte                              seine sozialen Kontakte und seine Erziehung entwickelt hat und
                                                                  3) besondere auslösende Momente, wie bei-
                                                                  spielsweise der Verlust der Arbeit oder eines
                                                                  geliebten Menschen.                                    Depression ist eine
                                                                                                                    potentiell lebensgefährdende
                                                                  Es ist zu unterscheiden zwischen einer An-                 Erkrankung
    Dr. Dirk Bunzel
                                                                  passungsstörung, die den Umgang mit einer
    Soziologe und Coach                                           schwierigen Lebenssituation kennzeichnet und einer Depression,
                                                                  die über einen deutlich längeren Zeitraum wesentlich mehr Kriterien
                                                                  erfüllt. Mindestens 60 bis 70 Prozent der depressiv Erkrankten haben
                                                                  im Verlauf der Krankheit Suizidgedanken bis hin zu Suizidversuchen.
                                                                  Die tatsächliche Suizidrate kann 10 bis 14 Prozent betragen.
    Klaus Möllering
                                                                  Warnzeichen für eine Depression sind häufig Veränderungen in all-
    Ehrenamtlicher Mitarbeiter am Notruf der
                                                                  tagstypischen Verhaltensweisen: all das, was früher Spaß gemacht
    Telefonseelsorge Berlin e. V.
                                                                  hat, ist nunmehr egal. Dazu können Schlafstörungen, Appetitlosig-
                                                                  keit, Konzentrationsstörungen kommen. Wenn sich alltägliche Dinge
                                                                  deutlich verändern, ist ein Nachfragen wichtig. Ein deutliches Warn-
                                                                  zeichen für Suizidalität, für Lebensüberdruss ist, wenn der Leidens-
    Priv.-Doz. Dr. med. Mazda Adli                                druck, der zunächst da ist und manchmal auch kommuniziert wird,
    Charité Universitätsmedizin Berlin                            plötzlich umschlägt und eine gewisse Ruhe einsetzt.

                                                                  Studien belegen, dass ca. 95 Prozent der Suizide auf psychische
                                                                  Erkrankungen zurückgehen. Dies sind Erkrankungen, die an sich gut
                                                                  behandelbar sind. Wir erleben immer wieder, dass Suizidalität, die

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im Rahmen einer depressiven Erkrankung auftritt, nach einer Behand-
          lung dann auch weg ist. Häufig können Menschen nicht einmal mehr
          nachvollziehen, was mit ihnen los war. Eine depressive Erkrankung
          ist wie eine andere körperliche Erkrankung: ein vorrübergehender
          Moment. Das zeigt, wie wichtig es ist, in diesem Moment da zu sein
          – weil er vorrübergehend ist.

          Bleibt eine Depression unbehandelt, so assoziieren sich nicht selten
          zwei weitere Erkrankungen: Angst- und Suchterkrankungen. Angst          die die gleichen Symptome einer Depression machen können: etwa
          kann bereits Teil der depressiven Symptomatik sein, sie kann sich       Schilddrüsen- oder Bluterkrankungen. Auch Medikamente können
          allerdings auch verselbständigen und eine eigenständige Angster-        Nebenwirkungen generieren, die einer Depression ähnlich sind.
          krankung darstellen. Und auch Suchterkrankungen, insbesondere
          die Alkoholabhängigkeit, ist mit Depression häufig vergesellschaftet.   Fortschritte in der Diagnostik erlauben uns eine Differenzierung
          Der Alkoholkonsum erfolgt dann im Sinne einer Selbstbehandlung          in Subformen der Despression und deren Schweregrade. Auch
          mit dem Ziel, sich nicht mehr so viele Gedanken machen zu müssen,       die Therapie ist differenziert. Bei milderen Formen der Depres-
          das Grübeln zu dämpfen.                                                 sion reichen gegebenenfalls Sport, eine Strukturierung des Alltags,
                                                                                  Stressverzicht und Gespräche. Bei einem höheren Schweregrad
          In der Versorgung von depressiv Erkrankten sind niedrigschwelli-        kann der Einsatz von Medikamenten sinnvoll sein. Eine Reihe von
          ge Kontakt- und Gesprächsangebote das Wesentliche. In diesem            sehr effektiven Antidepressiva steht mittlerweile zur Verfügung.
                              Rahmen kann zunächst einmal kommuniziert
                              werden, dass es ein Problem gibt. Gespräche         Schließlich besteht die Möglichkeit einer Psychotherapie, im ambu-
Wesentlich in der Therapie    ermöglichen dem Erkrankten den Zugang zum           lanten wie im stationären Rahmen. In der Psychotherapie stehen viele
   sind Kontakt- und          Gesundheitssystem. Es geht um Hilfestellungen,      wirksame Ansätze zur Verfügung, benannt sei hier nur die Verhaltens-
  Gesprächsangebote           bevor der Erkrankte den Chronifizierungspro-        therapie. Es gibt also verschiedene anwendbare Strategien, abhängig
                              zess durchlaufen und endlich einen richtigen        vom Schweregrad der Depression. Und häufig ist es nicht das eine
          Ansprechpartner gefunden hat. Entscheidend ist hier auch der Haus-      oder das andere, sondern eine Kombination aus verschiedenen Kom-
          arzt. Da beginnt Behandlung im Kontakt. So lassen sich viele schwere    ponenten, die eine wirksame Therapie ausmacht.
          Formen der Depression vermeiden.
                                                                                  Der größte Handlungsbedarf besteht aber an Angeboten, um
          In der Behandlung der Depression gibt es mittlerweile ein umfang-       depressiv erkrankte Menschen den Zugang zum Versorgungssystem zu
          reiches und effektives Spektrum an Möglichkeiten. Zunächst muss         erleichtern. Viel Leiden kann hier gemildert werden. Zudem würde
          ausgeschlossen werden, dass nicht organische Ursachen für die Sym-      ich mir wünschen, dass wir viel mehr tun für die gesellschaftliche
          ptome verantwortlich sind. Dies ist insbesondere auch bei Depressio-    Teilhabe Erkrankter, für deren Reintegration in Arbeitsprozesse und in
          nen im Alter wichtig. Es gibt verschiedene körperliche Erkrankungen,    das soziales Leben.

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Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Mangelnde Versorgungsstrukturen
    Kristin Werner
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                                                                                lässt sich die Suizidalität deutlich verringern.

    Obwohl die Therapeuten-Dichte in Berlin die höchste in Deutsch-             Als nächste Möglichkeit nach der vollstationären Behandlung kann
    land ist, so ist es doch unglaublich schwer, hier zügig einen Termin        eine Tagesklinik sinnvoll sein, in der man beispielsweise von neun
    bei einem ambulanten Psychiater zu bekommen. Die Wartezeit be-              bis 16 Uhr ist, den Rest des Tages aber zuhause verbringt. Manchmal
    trägt häufig acht bis zwölf Wochen. Das ist eine Katastrophe für einen      kann eine ambulante Ergotherapie oder eine
    Hilfe suchenden Menschen, der vielleicht gerade ein besonders kriti-        ambulante Arbeitstherapie helfen, um wieder         Depression ist auch für
    sches Ereignis durchlebt oder der Suizidgedanken nachgeht.                  zu starten und in den Alltag hineinzukommen.            Angehörige eine
                                                                                                                                      besondere Belastung
    Häufig bleibt den Krisendiensten nur                                        Zumeist reagieren Angehörige von depressiv
    die Möglichkeit, die Person an die                                          Erkrankten zu Anfang geduldig und unter-
    Notaufnahme der entsprechenden                                              stützend. Doch irgendwann kommt der Satz: „Jetzt reiß dich doch
    Krankenhäuser zu verweisen, wo                                              mal zusammen, jetzt mach doch mal!“ Doch der depressiv Erkrankte
    der diensthabende Arzt entscheiden                                          kann nicht so, wie die Angehörigen es von ihm wünschen. Erst nach
    muss, ob eine stationäre Aufnahme                                           der Diagnose der Krankheit tritt in gewisser Weise eine Erleichterung
    notwendig ist. Kommt er zu dem                                              ein, denn dann setzen Gespräche ein über das Krankheitsbild und
    Schluss, dass diese nicht notwendig                                         die Möglichkeiten der Therapie. Hilfsangebote für Angehörige sind
    ist, dann ist es für die Person frus-                                       ebenfalls rar, sie beschränken sich im Grunde auf Selbsthilfegruppen.
    trierend, ohne weitere Behandlung
    nach Hause geschickt zu werden.                                             Menschen, die depressiv erkrankt sind, müssen schneller Klarheit
                                                                                darüber erhalten, was mit ihnen los ist. Es ist unzumutbar, dass sie
    Auf unserer Krisenstation versuchen                                         wegen mangelnder Versorgungsstrukturen
    wir, mit den Erkrankten wie auch                                            wochenlang umherirren müssen. Diese Lei-            Die Leidenszeit muss
    den Angehörigen zu sprechen, um                                             denszeit, in der sich neben der Depression            verkürzt werden
    ein besseres Verständnis für die Erkrankung herzustellen: wie kann          auch ein Suchtverhalten zu Alkohol oder an-
    ich Symptome erkennen, welche Medikamente können eingesetzt                 deren Drogen ausprägen kann, muss verkürzt werden, um größere
    werden, usw. Häufig führen wir gleich vor Ort Paar- oder Familien-          Schäden zu vermeiden.
    gespräche.
                                                                                Ich wünsche mir eine offene Sprechstunde bei einem Psychiater,
    Aus meiner Erfahrung heraus sagt der suizidale Mensch meist nicht:          der sich Zeit nimmt für eine ausführliche Anamnese und der dem
    „Ich möchte nicht mehr leben.“ Er sagt viel mehr: „Ich möchte so            Erkrankten eine Sicherheit gibt oder zumindest eine Richtung oder
     nicht mehr leben.“ Wenn man zu ihm eine Beziehung herstellen und           Idee, wo er sich hinwenden kann.

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Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Maßlosigkeit und Depression
          Dr. Dirk Bunzel
                                                                                   Wie kann ich mich abgrenzen, aber dennoch in Kontakt bleiben?
                                                                                   Darüber hinaus bietet Aikido den Vorteil, Prozesse – wie beispiels-
                                                                                   weise eine Therapie – in eine Körperlichkeit zu bringen.
           Wir leben in einer Gesellschaft der Maßlosigkeit. Die Ansprüche an
           andere und an sich selbst werden enorm hochgeschraubt. Menschen
           sind glücklich darüber, dass sie 70 Stunden in der Woche arbeiten.      Die Sensibilisierung in der Wirtschaft ist deutlich gestiegen
           Andere meinen, im Alter von 60 Jahren unbedingt noch Marathon
                                 laufen zu müssen. Das sind Ansprüche, an          Im Wirtschaftsbereich ist die Sensibilisierung für den Themenkom-
                                 denen Menschen früher oder später scheitern       plex psychische Erkrankungen - und insbesondere Burnout - in den
     Realistische Ansprüche      müssen.                                           vergangenen Jahren deutlich gestie-
      an uns selber und an                                                         gen. Unternehmerisch und volks-
         andere stellen          Das Gefühl persönlichen Scheiterns kann           wirtschaftlich ist Depression ein
                                   zu Aggression und gegebenenfalls auch zu        Kostenfaktor geworden. Das zwingt
          depressiven Erkrankungen führen. Wir können nicht stetig jünger,         Unternehmen zu handeln. Es gibt
          flexibler, erfolgreicher werden. Es geht darum, realistische Ansprüche   eine Reihe von Initiativen mit dem
          an uns selbst zu stellen und diese auch an unser Umfeld zurück zu        Ziel, humanere Arbeitsbedingungen
          kommunizieren. Wir müssen lernen, uns abzugrenzen und nein zu            herzustellen.
          sagen, beispielsweise zu unrealistischen und überzogenen Anforde-
          rungen im Job.                                                            Bei der Wiedereingliederung von
                                                                                    Erkrankten hat Burnout durchaus
          Es ist wichtig, in einer Situationen, in der sich jemand überfordert      eine soziale Komponente: Burnout
          fühlt, auf die eigenen Ressourcen zu schauen: was kann ich in mei-        ist längst nicht so stigmatisiert wie
          nem Alter und mit den Kompetenzen, die ich habe, erreichen? Was           Depression. Burnout ist irgendwo gesellschaftlich akzeptiert, insbe-
          ist eine mögliche Entwicklungsperspektive für mich? Dieser Ansatz         sondere im Wirtschaftsbereich. Menschen fällt es leichter zu sagen:
          ist oftmals sinnvoller, als sich zu verrenken, um anderen Verhaltens-    „Ich war ausgebrannt. Doch nun möchte ich wieder Eingliederung
          anforderungen oder Vorgaben gerecht zu werden.                            finden in das Unternehmen.“

          Eine Parallele tut sich hier auf zum Aikido, einer japanischen Kampf-    Menschen müssen nach ihrer Erkrankung die Möglichkeit bekom-
          kunst, in der es nicht darum geht, jemanden anzugreifen oder zu          men, nicht nur wieder ins Berufsleben einzusteigen. Auch in ande-
          überwältigen. Die Kunst besteht vielmehr darin, die Energie des          ren sozialen Bereichen müssen sie teilhaben können. Eine Offenheit
          Gegenübers aufzunehmen und sie abzuleiten, umzulenken. Aikido            muss entstehen, ermöglicht durch mehr Informationen und durch
          rührt an die Fragen: wie kann ich führen ohne zu dominieren?             mehr Wissen über das Krankheitsbild.

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Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Gesprächsangebot am Notruftelefon
          Klaus Möllering
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                                                                                    reich sein, das Problem
                                                                                    zu begrenzen und somit
          Am Notruftelefon erleben wir Menschen in Krisen, zum Beispiel weil        zu vermitteln, dass das
          sie arbeitslos geworden sind, aufgrund von Instabilität in der Familie,   Problem nicht alles im
          weil sie einsam sind, weil sie aus einer ganz anderen Kultur nach         Leben überschwemmt.
          Deutschland gekommen sind und sich damit nur schwer zurecht fin-
          den können. Oft kommen mehrere Faktoren zusammen.                         In Gesprächen mit An-
                                                                                    gehörigen von depressiv
         Bei einigen Anrufern bemerkt man schon vom ersten Wort an eine             Erkrankten kommt eine
         Niedergeschlagenheit, eine Bedrücktheit, die scheinbar das ganze           ganze Breite von Gefüh-
         Leben eingefärbt hat. Hierüber können die Anruferinnen und Anrufer         len zum Ausdruck: Ärger,
         mit uns sprechen – ohne einen Termin machen zu müssen, ohne auf            Frustration, Empörung.
         einer Warteliste zu landen. Wir hören zu, und das kann ein erster          Viel Negatives hat sich häufig angehäuft, verkeilt und verklemmt.
                                wichtiger Schritt in der Lösung einer Krisen-       Dies gilt es im Gespräch zu lösen, um dann mit dem anrufenden
      Am Notruftelefon einen    situation sein.                                     Angehörigen ein wenig zu sortieren, was hinter der Niedergeschla-
     Zugang über Mitgefühl und                                                      genheit stecken könnte. An welcher Stelle der Skala ist derjenige, von
         Sympathie finden         Für viele Menschen ist es allein schon wichtig    dem die Rede ist? Hängt er rum und weiß nicht, was er mit seinem
                                  zu wissen, dass sie uns anrufen können. Auch      Leben anfangen soll, ist er in eine tiefe Starre gefallen, stellt er den
                                  wenn sie das Gesprächsangebot im Moment           Sinn seines Lebens in Zweifel?
          gar nicht annehmen, so gibt es ihnen die Sicherheit, dass sie im Zwei-
          felsfall mit ihrem Problem nicht allein sind. Da ist ein Netz, das sie    Wir versuchen im Gespräch gemeinsam ein Gefühl dafür zu entwi-
          auffangen kann.                                                           ckeln, was diese unterschiedlichen Schweregrade bedeuten könnten.
                                                                                    Ist es vielleicht doch eine Erkrankung? Zumeist geben Anruferinnen
          Den Anrufer anzunehmen, in einer Balance von Verständnis und Halt,        und Anrufer ein eindrückliches Bild der Situation. Wir spiegeln dieses
          darum geht es in Krisengesprächen. Und insbesondere in Gesprä-            Bild häufig nur zurück, ermöglichen dadurch aber manchmal neue
          chen mit Menschen, die dem Suizid nahe sind.                              Sichtweisen.

          Hier muss man in besonderer Weise auf Andeutungen und emotio-             Die Kunst am Notruftelefon ist, nichts zu wollen, nichts zu erzwingen.
          nale Untertöne achten. Mit offenem Herzen zuhören, Raum und Zeit          Wenn es gelingt, im Gespräch von einer halben oder einer Stunde,
          geben. Allerdings darf sich der Telefonseelsorger auch nicht in den       eine kleine Veränderung hinzubekommen, dann ist dies schon sehr
          Strudel hineinziehen lassen.                                              viel Wert.

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Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Stress, Stressfolgen, Depression
          Priv.-Doz. Dr. med. Mazda Adli
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                                                                                       komplexes System entwickelt, das uns erlaubt, uns Gefahrensituatio-
                                                                                       nen anzupassen und notwendige Ressourcen zu mobilisieren.
           Im folgenden Beitrag nähere ich mich den depressiven Erkrankun-
           gen aus der Vogelperspektive. Dabei ist es notwendig, dem Thema                                                       Die Schaubilder illustrie-
           Stress einen großen Schwerpunkt einzuräumen, denn wir wissen                                                          ren verschiedene Stress-
           heute, dass Stress eine äußerst relevante Rolle in der Entstehung von                                                 mechanismen. In einer
           Depressionen einnimmt.                                                                                                normalen Stressreaktion
                                                                                                                                 folgt der Aktivitätsphase,
           Darüber hinaus möchte ich zur Klärung der Begriffe Stressfolge-                                                       die durch den Stressor
           erkrankungen, Burnout und Depression beitragen. Seit ein, zwei Jah-                                                   ausgelöst wurde, eine aus-
           ren ziehen diese Erkrankungen ein großes mediales Interesse auf sich,                                                 geprägte Erholungsphase.
           spätestens seitdem durch diese Erkrankungen offenbar unser Gesund-                                                    Bei einer Dauerbelastung,
           heitssystem und auch unsere Volkswirtschaft unter erheblichen Druck                                                   bei der ein Stressor dem
           geraten sind. Doch wie unterscheiden sich die Erkrankungen, wo gibt                                                   anderen folgt, kommt es
           es Überlappungen?                                                                                                     aber zu keiner ausreichen-
                                                                                                                                 den Erholung.
            Stress – was haben wir uns darunter vorzustellen? Was am Stress ist
            gesund, und wo beginnt Krankheit? Stress ist zunächst einmal eine                                                    Die Stressforschung zeigt,
            unspezifische Reaktion des Körpers und der Psyche auf psycholo-                                                      dass in einer Situation der
                               gische Anforderungen, die wir vor uns haben. Er                                                   Dauerbelastung nach und
 Die WHO sieht Stress          entsteht beim Menschen aus der Erwartung einer                                                    nach unsere Fähigkeit ver-
  als eine der größten         unmittelbar bevorstehenden aversiven Situation.                                                   loren geht, Erholung zu
 Gesundheitsgefahren           Stress fällt umso stärker aus, je mehr wir das Ge-                                                empfinden und wirksam
 des 21. Jahrhunderts          fühl haben, den Anforderungen nicht gewachsen                                                     werden zu lassen. Wir ver-
                               zu sein und keine ausreichenden Ressourcen zur                                                    lernen, das System recht-
            Verfügung zu haben. Die Kernbotschaft ist: Stress entsteht allein im                                                 zeitig „herunterzukühlen“.
            Kopf, nirgendwo sonst. Prävention muss folglich hier ansetzen, um                                                    Die Folge der Erholungs-
            Stressfolgeerkrankungen – einschließlich der Depression – wirksam                                                    unfähigkeit sind verschie-
            zu verhüten.                                                                                                         dene Krankheiten, und
                                                                                                                                 hier insbesondere die Er-
           Stress ist evolutionsbiologisch ein Überlebensvorteil. Stress hilft, dass                                             schöpfungsdepression, der
           wir rechtzeitig eine Gefahrensituation erkennen und darauf reagieren                                                  so genannte Burnout.

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Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Burnout – Versuch einer Definition                                       Das zweite wichtige Modell ist das der beruflichen Gratifikations
                                                                              krisen. Es betont das Missverhältnis zwischen beruflicher Veraus-
     Der Begriff „Burnout“ wurde 1973 vom österreichisch stämmigen            gabung und erfolgter Belohnung. Wir empfinden Stress, wenn das,
     Psychoanalytiker Herbert Freudenberger geprägt. Freudenberger be-        was von Vorgesetzten oder Kollegen zurückkommt, als nicht adäquat
     tonte, dass es sich dabei um kein punktuelles Ereignis, sondern um       für unseren Einsatz angesehen wird. Das kann materieller Natur sein,
     einen Prozess handelt, der sich allmählich entlang des nebenstehen-      wie auch immaterieller, in Form von Lob und Anerkennung. In dieser
     den Phasenmodells entwickelt. Über Jahre entstehen dann Sympto-          Konstellation schnellt der Stressindex nach oben.
     me, die sehr an die Depression erinnern: innere Leere, Angstgefühle
     und schließlich das komplette depressive Spektrum.                       Burnout trifft oft die besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines
                                                                              Unternehmens. Sie haben einen hohen Anspruch an sich selbst, ein
                                                                              hohes persönliches Engagement mit anderen Menschen, identifizie-
        Burn-out Phasenmodell (nach Herbert Freudenberger)                    ren sich mit dem Betrieb, neigen zu Perfektionismus.

       1. Übertriebener Ehrgeiz                                               Die Überlappung von Burnout und Depression wird deutlich, wenn
                                                                              man die Symptome der Erkrankungen vergleicht: gedrückte Stim-
       2. Verstärkter Einsatz
                                                                              mung, Freudlosigkeit, Interessenverlust, Konzentrationsstörung,
       3. Vernachlässigung eigener Bedürfnisse                                Antriebsstörung. Zu diesen psychischen Symptomen kommen häufig
       4. Rückzug                                                                                                        körperliche Symptome
       5. Innere Leere, Angstgefühle, Suchtverhalten,                                                                    hinzu, wie Schmer-
          von jemandem abhängig sein                                                                                     zen, Appetitlosigkeit,
       6. Zunehmende Sinnlosigkeit und Desinteresse                                                                      Störungen oder Verän-
                                                                                                                         derungen des Schlaf-
       7. Körperliche, ggf. lebensbedrohliche Erschöpfung
                                                                                                                         rhythmus, Veränderun-
                                                                                                                         gen der Libido.

                                                                                                                          Burnout und Depres-
     Es gibt zwei bedeutende psychologische Modelle für die Entstehung                                                     sion sind nicht scharf
     eines Burnouts. Das Anforderungs-Kontroll-Modell hebt das Missver-                                                   zu trennen. Burnout ist
     hältnis der Anforderungen, die wir oder andere an uns zum Beispiel                                                   am ehesten ein Subtyp
     am Arbeitsplatz stellen, und den uns dort gegebenen Handlungsspiel-      der Depression. Es kann eine Vorstufe oder eine unterschwellige De-
     räumen hervor. Wir empfinden Stress, wenn wir dauerhaft zu wenig         pression sein. Depression und Burnout unterscheiden sich konzepti-
     Spielraum oder Einsatzmöglichkeiten für unsere Fähigkeiten haben,        onell, aber nicht im Erscheinungsbild.
     wenn wir zu wenig Kontrolle über unseren Arbeitsplatz haben.

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Depression - Das einsame Leiden Dokumentation der Fachtagung 7. Juni 2012 | Tagesspiegel-Verlagshaus
Wie lassen sich Stress und Erschöpfungsdepressionen
             entgegenwirken?
                                                                                        Vorstand der Telefonseelsorge Berlin e.V.
             So banal es klingen mag, dem Sport kommt eine bedeutende the-
             rapeutische und präventive Rolle zu. Es ist eindeutig nachgewiesen,
             dass Ausdauersport wie Walking, Radfahren, Schwimmen dazu führt,           Geschäftsführender Vorstand
             dass sich unsere Stresshormone normalisieren. Durch Sport werden
             Neuronen neu gebildet, er fördert das Nervenwachstum.                      Wolfgang Barthen, Vorsitzender
                                                                                        Peter Karge, stellv. Vorsitzender
             Ein weiterer Schlüssel ist Schlaf, hier erholt sich der gesamte Organis-   Ralf Nordhauß, Schatzmeister
             mus. Wichtig ist allerdings, dass Schlaf umso erholsamer ist, je näher     Martin Deschauer, Schriftführer
             er an unseren Chronotyp (der unsere liebste Schlafenszeit definiert)
             angepasst ist.
                                                                                        Erweiterter Vorstand
             Ein so genanntes „regeneratives Stressmanagement“ ist zentral in der
             Vermeidung von stress-assoziierten Depressionen. Das System muss           Petra Linke
                                   gezielt zur Erholung gebracht werden. Dabei          Sonja Müseler
                                   ist Erholung nicht jeden Tag dasselbe. Die Form      Hans Zimmermann
      Stressmanagement:            der Erholung ist gebunden an die Belastungen,
     Die Form der Erholung         die wir an einem bestimmten Tag erlebt haben.
     der erlebten Belastung        Im Stressmanagement geht es darum zu erken-
            anpassen               nen, genau welche Form und Dauer der Erho-
                                   lung wir zu einer gegebenen Zeit benötigen.          Vorstand der Stiftung Telefonseelsorge Berlin
             Manchmal ist dies Ruhe (Couch; Zurückgezogenheit), manchmal
             Sinnstiftung (eine neue Sprache lernen; Kirche), manchmal Ausgleich        Dr. Christoph Rhein, Vorsitzender
             (geselliges Beisammensein; Spazieren gehen).                               Jürgen Hesse, stellv. Vorsitzender
                                                                                        Sonja Müseler
             Stress ist in ganz zentraler Weise ursächlich für Depression und Burn-
             out. In dieser Erkenntnis steckt ein Arbeitsauftrag an die Medizin,
             aber auch an die Gesellschaft. Über Stress muss neu diskutiert wer-
             den. Und ein neuer gesellschaftlicher Konsens muss gefunden wer-
             den: wie schaffen und wertschätzen wir Arbeit, die psychisch gesund
             hält und nicht krank macht?

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Telefonseelsorge Berlin e.V.
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