Satellitenträume Aus dem Leben des Leodas Kent - Fastly

Die Seite wird erstellt Georg-Thomas Reimer
 
WEITER LESEN
Satellitenträume

  Aus dem Leben
      des
   Leodas Kent
„Schreiben, um Gedanken zu ordnen. Gedanken
ordnen, um zu leben. Leben, um zu schreiben – und
               wieder von vorne.“
                              Leodas Kent, Schriftsteller.

                1. Edition, 2021
           © 2021 All rights reserved.

         Besuchen Sie mich im Internet:
              www.leodas-kent.de

                    E-Mail:
              info@leodas-kent.de
SATELLITENTRÄUME

Menschen leben in ihrem eigenen kleinen Kosmos.
Allein schon deshalb, weil jeder Verstand ein in sich
geschlossenes Universum ist. 86 Milliarden Neuro-
nen, die nur uns gehören und doch teilweise ein
Mysterium bleiben, wie die Sterne am Nachthimmel.
Was hinter den Grenzen unserer eigenen Sterne liegt,
können wir nur erahnen, auch wenn wir täglich nach
ihnen greifen. Ich sehe ins All. Weltall. Mein Kopf-
All. Wir sind Astronauten, ohne jemals in den Welt-
raum geflogen zu sein. Zweifelsfrei sind wir Pioniere,
Entdecker auf dem Fachgebiet unseres Selbst. Doch
können wir die große, dunkle Masse in unserem Kopf
wirklich jemals begreifen? Kann ich mich selbst ver-
stehen?

Erkenntnis sammelt man am Abgrund, denn nur dort,
wo sich die Grenze des eigenen Universums befindet,
reibt es sich mit all den anderen Universen. Unsere
Welten treffen sich in Cafés, Kneipen, Discos, in
Kinos, in Häusern und in Betten. Man nähert sich
gegenseitig an, trifft sich in Raum und Zeit – und
immer auf einer Metaebene, die nicht einfach zu ver-

                         -1-
Leodas Kent

stehen ist. Was wir Astronauten in den fremden
Welten entdecken, lässt uns lieben, lässt uns brennen
und manchmal erschüttert es uns auch; im schlimms-
ten Fall wie ein Urknall, der in unserem Nerven-
system einen Flächenbrand auslöst, bevor die
Erschütterung sich weiter bis in unseren Geist hinein
frisst.

Ein Ort, an dem sich unsere Universen berührt haben,
war diese kurze Strecke vom abschüssigen, kleinen
Weg direkt an meiner Wohnung bis zur Hauptstraße.
Wir gingen diese Strecke jeden Abend Hand in Hand.
Der offensichtlichste Grund dafür war der Hund – für
das Gehen des Weges, nicht fürs Händchenhalten
selbstverständlich. Nach dem Motto ‚erst laufen, dann
Haufen‘ musste das Tier nochmal für feine Damen
kurz vor dem Schlafengehen. Für mich gab es für den
Gang aber einen weitaus weniger banalen Grund: Ich
wollte Zeit mit dir verbringen, auch wenn ich stets
behauptete, dass ich dich nur begleitete, um dich im
Dunkeln zu beschützen. Gefährlich war diese kleine
Vorstadt sicher nicht, aber bei dem, was einem am
wertvollsten ist, neigt man wohl dazu, übervorsichtig
zu sein. Es war völlig verrückt, warst du doch für
einige Wochen sowieso zu mir gezogen. Zeit mit dir
hatte ich folglich mehr als genug. Tatsächlich war es
diese Hauptstraße, denn sie war zu einer Geisterstraße

                         -2-
SATELLITENTRÄUME

geworden. Kein Auto war unterwegs. Sie war ein
magischer Ort, an dem nur wir beide existierten – und
natürlich der kleine Grünstreifen für den Hund. Wir
lachten, weil wir uns fragten, was das Tier wohl darü-
ber dachte, dass wir ihm seinen eigenen Kot in einem
Plastikbeutel hinterhertrugen und manchmal sogar
minutenlang mit Taschenlampe die Wiese nach seinen
Erzeugnissen absuchten. Dieser Vierbeiner war eben
genauso Astronaut wie wir – in einem positiven Sinne
und nicht wie Laika, die Hündin, die 1957 im Sputnik
2 in den Erdorbit geschossen wurde und dort verstarb.

Ich glaube, wir haben zu dieser Zeit beide sehr oft zu
den Sternen aufgesehen und versucht, in die Zukunft
zu blicken, die so ungewiss war. Ich wollte unsere
gemeinsame Zukunft sehen, du deine eigene. Ganz
schleichend hatte ich die Grenze meines Universums
überschritten, bis sich mein ganzer Kosmos nur noch
um dich drehte. Das ging so weit, dass ich nicht mehr
nach den Sternen griff, nach denen ich früher gegrif-
fen hatte. Ich griff jetzt nach neuen Sternen. Die
Frage war nur, wie lange würde ich mich dort halten
können, an dem Ort, an dem mein Universum längst
zu Ende war? Wie lange würde dein Kosmos mich
mit tragen, bevor ich fallen würde?
Eines Abends erschien ein heller, sich konstant
bewegender Stern am Nachthimmel. In meiner Klug-

                         -3-
Leodas Kent

scheißer-Mentalität wollte ich dir sofort erklären, dass
es sich um einen Satelliten handle. Du zeigtest mit
dem Finger in den Himmel, weil du einen weiteren
sich schnell bewegenden Himmelskörper entdeckt
hattest. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich, nach-
dem nacheinander noch drei Lichter erschienen.
Aneinandergereiht wie eine leuchtende Perlenkette
flogen die Objekte über unsere Köpfe hinweg – und
es wurden immer mehr. Eines nach dem anderen
kamen die Lichter am Horizont zum Vorschein.
Würden nach dem Virus jetzt auch noch Aliens
unsere Erde erobern? Wir beide staunten nicht
schlecht, oder? Ich drückte deine Hand fester. Ich
wollte sie nie wieder loslassen. Wenn solche
Zukunftszenarien möglich waren, musste doch auch
der Traum mit dir Realität sein? Konnten zwei Astro-
nauten aus unterschiedlichen Universen zueinander
finden? Mein Kopf suchte beim Anblick der leuch-
tenden Perlenkette sofort nach der Magie der Welt.
Dein Kopf hingegen suchte nur nach einer rationalen
Erklärung für das Phänomen.

Wir standen dort auf der Geisterstraße, bis das Schau-
spiel vorüber war. Dann gingen wir nach Hause und
es stellte sich heraus, dass die Perlenkette am Nacht-
himmel nur die Starlink Satelliten waren, die von
SpaceX in den Orbit geschossen wurden. Was uns

                          -4-
SATELLITENTRÄUME

beide betraf, so blieben wir noch ein paar weitere
Tage Astronauten, zumindest so lange, bis du fort-
fuhrst und nicht mehr wiederkamst.

                     Ende

                       -5-
Sie können auch lesen