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Satellitenträume Aus dem Leben des Leodas Kent
„Schreiben, um Gedanken zu ordnen. Gedanken ordnen, um zu leben. Leben, um zu schreiben – und wieder von vorne.“ Leodas Kent, Schriftsteller. 1. Edition, 2021 © 2021 All rights reserved. Besuchen Sie mich im Internet: www.leodas-kent.de E-Mail: info@leodas-kent.de
SATELLITENTRÄUME Menschen leben in ihrem eigenen kleinen Kosmos. Allein schon deshalb, weil jeder Verstand ein in sich geschlossenes Universum ist. 86 Milliarden Neuro- nen, die nur uns gehören und doch teilweise ein Mysterium bleiben, wie die Sterne am Nachthimmel. Was hinter den Grenzen unserer eigenen Sterne liegt, können wir nur erahnen, auch wenn wir täglich nach ihnen greifen. Ich sehe ins All. Weltall. Mein Kopf- All. Wir sind Astronauten, ohne jemals in den Welt- raum geflogen zu sein. Zweifelsfrei sind wir Pioniere, Entdecker auf dem Fachgebiet unseres Selbst. Doch können wir die große, dunkle Masse in unserem Kopf wirklich jemals begreifen? Kann ich mich selbst ver- stehen? Erkenntnis sammelt man am Abgrund, denn nur dort, wo sich die Grenze des eigenen Universums befindet, reibt es sich mit all den anderen Universen. Unsere Welten treffen sich in Cafés, Kneipen, Discos, in Kinos, in Häusern und in Betten. Man nähert sich gegenseitig an, trifft sich in Raum und Zeit – und immer auf einer Metaebene, die nicht einfach zu ver- -1-
Leodas Kent stehen ist. Was wir Astronauten in den fremden Welten entdecken, lässt uns lieben, lässt uns brennen und manchmal erschüttert es uns auch; im schlimms- ten Fall wie ein Urknall, der in unserem Nerven- system einen Flächenbrand auslöst, bevor die Erschütterung sich weiter bis in unseren Geist hinein frisst. Ein Ort, an dem sich unsere Universen berührt haben, war diese kurze Strecke vom abschüssigen, kleinen Weg direkt an meiner Wohnung bis zur Hauptstraße. Wir gingen diese Strecke jeden Abend Hand in Hand. Der offensichtlichste Grund dafür war der Hund – für das Gehen des Weges, nicht fürs Händchenhalten selbstverständlich. Nach dem Motto ‚erst laufen, dann Haufen‘ musste das Tier nochmal für feine Damen kurz vor dem Schlafengehen. Für mich gab es für den Gang aber einen weitaus weniger banalen Grund: Ich wollte Zeit mit dir verbringen, auch wenn ich stets behauptete, dass ich dich nur begleitete, um dich im Dunkeln zu beschützen. Gefährlich war diese kleine Vorstadt sicher nicht, aber bei dem, was einem am wertvollsten ist, neigt man wohl dazu, übervorsichtig zu sein. Es war völlig verrückt, warst du doch für einige Wochen sowieso zu mir gezogen. Zeit mit dir hatte ich folglich mehr als genug. Tatsächlich war es diese Hauptstraße, denn sie war zu einer Geisterstraße -2-
SATELLITENTRÄUME geworden. Kein Auto war unterwegs. Sie war ein magischer Ort, an dem nur wir beide existierten – und natürlich der kleine Grünstreifen für den Hund. Wir lachten, weil wir uns fragten, was das Tier wohl darü- ber dachte, dass wir ihm seinen eigenen Kot in einem Plastikbeutel hinterhertrugen und manchmal sogar minutenlang mit Taschenlampe die Wiese nach seinen Erzeugnissen absuchten. Dieser Vierbeiner war eben genauso Astronaut wie wir – in einem positiven Sinne und nicht wie Laika, die Hündin, die 1957 im Sputnik 2 in den Erdorbit geschossen wurde und dort verstarb. Ich glaube, wir haben zu dieser Zeit beide sehr oft zu den Sternen aufgesehen und versucht, in die Zukunft zu blicken, die so ungewiss war. Ich wollte unsere gemeinsame Zukunft sehen, du deine eigene. Ganz schleichend hatte ich die Grenze meines Universums überschritten, bis sich mein ganzer Kosmos nur noch um dich drehte. Das ging so weit, dass ich nicht mehr nach den Sternen griff, nach denen ich früher gegrif- fen hatte. Ich griff jetzt nach neuen Sternen. Die Frage war nur, wie lange würde ich mich dort halten können, an dem Ort, an dem mein Universum längst zu Ende war? Wie lange würde dein Kosmos mich mit tragen, bevor ich fallen würde? Eines Abends erschien ein heller, sich konstant bewegender Stern am Nachthimmel. In meiner Klug- -3-
Leodas Kent scheißer-Mentalität wollte ich dir sofort erklären, dass es sich um einen Satelliten handle. Du zeigtest mit dem Finger in den Himmel, weil du einen weiteren sich schnell bewegenden Himmelskörper entdeckt hattest. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich, nach- dem nacheinander noch drei Lichter erschienen. Aneinandergereiht wie eine leuchtende Perlenkette flogen die Objekte über unsere Köpfe hinweg – und es wurden immer mehr. Eines nach dem anderen kamen die Lichter am Horizont zum Vorschein. Würden nach dem Virus jetzt auch noch Aliens unsere Erde erobern? Wir beide staunten nicht schlecht, oder? Ich drückte deine Hand fester. Ich wollte sie nie wieder loslassen. Wenn solche Zukunftszenarien möglich waren, musste doch auch der Traum mit dir Realität sein? Konnten zwei Astro- nauten aus unterschiedlichen Universen zueinander finden? Mein Kopf suchte beim Anblick der leuch- tenden Perlenkette sofort nach der Magie der Welt. Dein Kopf hingegen suchte nur nach einer rationalen Erklärung für das Phänomen. Wir standen dort auf der Geisterstraße, bis das Schau- spiel vorüber war. Dann gingen wir nach Hause und es stellte sich heraus, dass die Perlenkette am Nacht- himmel nur die Starlink Satelliten waren, die von SpaceX in den Orbit geschossen wurden. Was uns -4-
SATELLITENTRÄUME beide betraf, so blieben wir noch ein paar weitere Tage Astronauten, zumindest so lange, bis du fort- fuhrst und nicht mehr wiederkamst. Ende -5-
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