Scirocco borderline-europe, Sizilien - Teil 6 - Palermo, 21.06.2021
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Scirocco Seenotrettungsprogramm problemlos zu ko- ordinieren, so der Flüchtlingskommissar der borderline-europe, Sizilien – Vereinten Nationen Filippo Grandi. Teil 6 Nach Aussagen des antirassistischen Forums in Palermo unterstützen etwa 60 siziliani- Palermo, 21.06.2021 sche und internationale Organisationen Scirocco [ʃiˈrɔkko-Schirokko] ist ein südöstlicher, heißer die Arbeit der zivilen Seenotrettung. In ih- starker Wind, der für oftmals nur wenige Stunden Staub und Sand über das Mittelmeer nach Sizilien und Italiens rem gemeinsamen Manifest kritisieren die Norden trägt. Diese Kurzinfo im Zeitalter der Pandemie Nichtregierungs- erscheint ab März 2021 in einem ca. zweiwöchentlichen organisationen Rhythmus. Scirocco ersetzt das Corona Update Italien. die Kriminalisie- rung der Seenot- Politische und soziale Situation rettung und for- Es scheint etwas Bewegung in die seit Jahren dern eine alter- festgefahrene Debatte einer gemeinsamen native, demokra- Europäischen Migrations- und Asylpolitik zu tische und auf kommen. In einem Brief an die Exekutivdi- dem Völkerrecht rektorin der EU-Asylagentur Nina Gregori beruhende Mig- vom 8. Juni 2021 haben die Mittelmeerländer rations- und Asyl- Zypern, Griechenland, Spanien, Italien und politik. Unterzeichnet wurde das Manifest Malta – die sog. Med5 – dem Vorschlag des unter anderem von borderline-europe und Europäischen Unterstützungsbüros für Asyl- der Schwesterorganisation Borderline Sicilia. fragen (EASO) zugestimmt, die EU-Asylagen- tur mithilfe punktueller Mini-Deals zu refor- Der Bürgermeister der Stadt Palermo Leo- mieren anstatt innerhalb des umfassenden luca Orlando traf sich mit Vertreter*innen Einwanderungs- und Asylpakts (wir berichte- mehrerer ziviler Seenotrettungsorganisatio- ten hier). Diesem Vorschlag hatten sich die nen. Er solidarisierte sich mit ihren Einsätzen fünf Küstenstaaten zuvor lange verwehrt. auf See, erinnerte an die Charta von Palermo Doch die EASO ist nur ein kleiner Teil des Pak- aus dem Jahr 2015 und mahnte den „uner- tes. Kontroversere Themen wie die geregelte träglichen Völkermord im Mittelmeer“ in ei- Umverteilung von Geflüchteten innerhalb nem Brief an die EU-Kommissionspräsiden- der EU (wir berichteten hier) bleiben unge- tin Ursula von der Leyen an. Es sollten sich löst: Draghi fordert Unterstützung, andere weitere Politiker*innen gegen die Kriminali- EU-Mitgliedstaaten, insb. die Visegrad-Staa- sierung von NGOs und die Blockade deren ten zeigen nach wie vor kein Interesse an Schiffe positionieren und dann auch dage- der Verteilung geflüchteter Menschen: gen vorgehen. erst Anfang Juni bat die EU-Innenkommissa- Anders als häufig angenommen, hat sich die rin Ylva Johansson um Unterstützung für Ita- Situation auf dem Mittelmeer für geflüchtete lien, da die Zahl der Ankünfte in Lampe- Menschen seit der Amtsübernahme im Feb- dusa saisonbedingt wieder ansteigt. Im Ver- ruar 2021 durch die Mitte-Links-Regierung gleich zum gleichen Zeitraum im Vorjahr ha- unter Draghi/Lamorgese weiter verschlim- ben sie sich zusätzlich verdreifacht. Dabei mert. Das geht aus einem Vergleich doku- wäre die Zahl ankommender Menschen für mentierter Todesfälle sowie aktiver Ret- die Mitgliedsstaaten mit einem staatlichen tungsmissionen auf dem Mittelmeer in der 2
ersten Jahreshälfte 2021 gegenüber den Vor- Die Geo Barents rettete in 7 Einsätzen 410 jahren hervor. Die hohen Todeszahlen liegen Menschen aus Seenot. Zuvor beobachtete unter anderem daran, dass kaum zivile Ret- die Crew des Rettungsschiffes mehrere „In- tungsschiffe auf dem Mittelmeer unterwegs terceptions“ – illegale Zurückweisungen ge- sind: während den humanitären Schiffen un- flüchteter Menschen auf See – die dement- ter der Regierung Conte/Salvini die Einfahrt sprechend nicht von der Geo Barents geret- in italienische Häfen verwehrt und NGOs me- tet und in einen sicheren Hafen gebracht dienwirksam kriminalisiert wurden, wurden werden konnten (wir berichteten hier) sowie die Schiffe unter den Regierungen Conte/La- auffällig viele Drohneneinsätze von morgese und nun Draghi/Lamorgese mithilfe FRONTEX. Die verstärkte Zusammenarbeit von Verordnungen am Auslaufen gehindert. zwischen italienischen und tunesischen Be- Laut Matteo Villa, Forscher am Institut für in- hörden sowie die Drohneneinsätze von ternationale Politikstudien, sei das die le- FRONTEX an den Küsten von Libyen und Tu- galste und formal unabhängigste Form der nesien führen dazu, dass abfahrende Boote Blockade der zivilen Seenotrettung, weil sie frühzeitig registriert und (illegale) „Pull- von der Justiz komme. Darüber hinaus über- backs“ durchgeführt werden. Die Internatio- steigt die Zahl der „Pull-backs“ (Zurückwei- nale Organisation für Migration berichtet in sungen nach Libyen) unter der aktuellen Re- diesem Zusammenhang von über 13.000 il- gierung jene der Ankünfte. Außerdem wur- legalen Zurückweisungen von Geflüchte- den die Beziehungen zu Libyen (weiter) nor- ten seit Anfang des Jahres. Damit sei die An- malisiert – trotz der anhaltenden libyschen zahl der Zurückweisungen bereits nach der Menschenrechtsverbrechen an Land und der ersten Jahreshälfte höher als die des gesam- Völkerrechtsbrüche auf See. ten letzten Jahres. Die SEA-EYE 4 wurde mit der absurden Be- gründung, sie habe zu viele Menschen geret- tet und gefährde damit die Sicherheit der Crew und des Schiffes, im Hafen von Palermo festgesetzt. Immer wieder setzt die italieni- sche Küstenwache zivile Rettungsschiffe fest, da diese angeblich für humanitäre Zwecke falsch zertifiziert seien. Neben der SEA-EYE 4 wurden bereits die Alan Kurdi, die Sea-Watch 3 sowie die Sea-Watch 4 mit dieser Begrün- Hafen von Palermo dung festgesetzt. Rund um die Seenotrettung Nicht nur NGOs sollen vom Retten abgehal- In der letzten Woche ist ein starker Anstieg ten werden. Der Fischer Vincenzo Partinico, an Festnahmen vermeintlicher der 24 Menschen in internationalen Gewäs- „Schmuggler*innen“ („Scafisti“) zu be- sern das Leben rettete, wurde nun ange- obachten. Es ist allerdings unklar, ob die An- zeigt, da er nicht so weit hätte rausfahren zahl der „Schmuggler*innen“ tatsächlich zu- dürfen. „Ich würde es noch tausendmal tun. genommen hat, ob sich die Kontrollen sai- Ich hätte doch nicht einfach umkehren und sonbedingt verschärft haben oder ob ledig- sie auf dem Meer zurücklassen können“, sagt lich mehr Fälle an die Öffentlichkeit gelan- er. gen. 3
Situation der Geflüchteten Der Selbstmord des 20-jährigen Seid Visin, Jalila ist es Ende April gelungen, ihre toten ein Schwarzer Italiener und Fußballspieler in Söhne aus Sizilien zurück nach Hause zu der Jugend des AC Mailand, zeigt die drama- bringen (wir berichteten hier). So wie Jalila tischen Auswirkungen rassistischer Struktu- versuchen auch andere Familien, ihre ver- ren für Geflüchtete und italienische People of missten Lieben ausfindig zu machen. Nun Color gleichermaßen. In seinem Abschieds- haben die Angehörigen von Mamoun, Jasser, brief berichtet Visin von den angewiderten Adel, Mohamed und Ayoub – fünf jungen Blicken anderer Menschen, die er aufgrund Menschen aus Tunesien – beim Polizeipräsi- seiner Hautfarbe täglich erfahren musste. dium und der Staatsanwaltschaft von Mar- sala Vermisstenanzeigen aufgegeben. Die Familien warten seit Februar diesen Jahres Weitere Informationen zur Situation in auf eine Nachricht ihrer Söhne, die sich be- Italien finden Sie in unserem Steiflicht Ita- reits kurz vor der sizilianischen Insel Pantel- lien und unseren vorherigen Corona-Up- leria befunden hatten bevor der Kontakt zu dates auf unserer Homepage. ihnen abbrach. Borderline Sicilia, borderline- europe und das Alarm Phone erhalten im- mer wieder Anfragen von Familien, die nach ihren vermissten Angehörigen suchen. Das Gesundheitsbüro der Europäischen Kontakt Kommission (EDDC) hat ein erhöhtes Infek- tionsrisiko für Migrant*innen gegenüber borderline-europe Nicht-Migrant*innen während der Covid-19- Menschenrechte ohne Grenzen e.V. Pandemie festgestellt und fordert daher ge- https://www.borderline-europe.de/ zielte Maßnahmen zum besseren Schutz die- mail@borderline-europe.de ser Bevölkerungsgruppe. Diese Forderungen jg@borderline-europe.de scheinen jedoch nicht bei den europäischen Regierungen angekommen zu sein. Im Ge- genteil, trotz rechtlichem Anspruch auf die Corona-Schutzimpfung sind in Italien derzeit über 700.000 Ausländer*innen von der Impfkampagne ausgeschlossen, so die Schätzungen von Quotidiano Sanità. In letzter Zeit nehmen rassistische Übergriffe auf Geflüchtete und Migrant*innen wieder zu (wir berichteten hier). Mitte Mai wurde in Catania ein Jugendlicher aus Gambia rassis- tisch angegriffen. Nachdem sich der Jugend- liche verbalen Angriffen entzogen hatte, schoss der mehrmals vorbestrafte Täter auf ihn. Der Jugendliche konnte in das gegen- überliegende Aufnahmezentrum flüchten und blieb glücklicherweise unverletzt. 4
Sie können auch lesen